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Full text of "Joseph Roth Werke 1"

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Joseph Roth Werke i 

Das journalistische Werk 
1915-1923 

Herausgegeben von Klaus Westermann 

Mit einem Vorwort zur Werkausgabe 

von Fritz Hackert und 

Klaus Westermann 



Biichergilde Gutenberg 



Lizenzausgabe fiir die Biichergilde Gutenberg, 

Frankfurt am Main und Wien, 

mit freundlicher Genehmigung 

des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Koln 

© 1989 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Koln, 

und Allert de Lange, Amsterdam 

Satz Froitzheim, Bonn 

Druck und Bindearbeiten Pustet, Regensburg 

Printed in Germany 1994 

ISBN 3 7632 2988 4 



INHALT 



Vorwort XXIII 

Herbstwindes Kriegsgeschichten 3 

tJber die Satire 6 

Die Geschichte vom jungen Musikanten 

und der schonen Prinzessin 8 

Selig die Friedfertigen 10 

Toreador 11 

Vom personlichen Stil 12 

Wo die Kartousch singt 13 

Golkonda 14 

DerRegisseur 19 

Film im Freistaat 19 

Menschliche Fragmente 21 

Der Insel der Unseligen 23 

Der Tendenzfilm 27 

Knigge im Film 29 

Wiener Symptome 

Mai und Mais 30 

Kaffeehausfriihling 32 

DieMiilli! 35 

Schuhriemen, bittel 37 

Die Galgenfrist 39 

Barrikaden 40 

Eine Kaffeehausterrasse und noch eine 42 

In und aufier Dienst 43 

Seifenblasen 44 

Konservativ 46 

Die Folgen 48 

Zwei 50 

Divergenzen 52 

Verwirrung 53 

Die heilige Flamme 55 



VIII INHALT 

»AJour« 57 

Interviews mit Strafientypen 58 

Die Muse der Blinden 62 

Das erwachte Kunstgewissen 64 

Der Marktplatz der Kettenhandler 65 

Die Diva 6j 

Dialoge 69 

Die Wanderung des amerikanischen Mehls 70 

Der mifigliickte Putsch 72 

Von BarfufSgangern und Wassertretern j^ 

Vom Abbau der Preise 80 

Fiinfzig Jahre Wiener Sicherheitswache 82 

Die Weifigeldwechselstube 84 

Bruck und Kiralyhida 87 

Noch eine Episode 89 

Die wehrhaften Mannen von Hiitteldorf ' 90 

Die Toten vom Stephansplatz 91 

Alte und neue Berufe 92 

Von Hunden und Menschen 95 

2ur Psychologie der Briefmarke 96 

Das Marchen vom Sophiensaal 98 

Reise durchs Hean2enland 

Die Grenze 100 

Der Anschlufi Deutsch-Westungarns 104 

Sauerbrunn 107 

Odenburg 109 

Zinkendorf oder Nagy-Zenk 1 1 1 

Deutsch-Kreuz 113 

Die Juden von Deutsch-Kreuz und die Schweh-Khilles 115 

Das Kinodrama von Mayerling 116 

Wiener Hoffnungshchter 118 

Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen 120 

Die Zukunftslosigkeit der ehemahgen Hofbiihnen 124 

Ein paar Worte 126 

Sauerkraut 127 



INHALT IX 

Mars oder Venus? 128 

Er entfernt sich 130 

Nur ein Halber 131 

Die Lage in Westungarn 132 

Ein paar Worte (II) 140 

Die Freikarten - zehn Millionen 141 

Der Boxer 142 

Moderne Vehikel 144 

Die Kugel am Bein 145 

Streiflichter 148 

Deutschosterreich 1930 149 

Die Tyrannei der Stunde 152 

Der neue Hofpark 155 

Abschied von der Schaf fnerin 156 

Papier 159 

Typen aus dem Glashaus 161 

Der kleine Sacher 162 

Schonbrunn 165 

»Friward« 166 

Proletarisierung der Hauser 168 

DasJahrderErneuerung 171 

Herbstrevue 173 

Winter 175 

Verschneite Welt 176 

Marionetten 178 

Konsultation 180 

Metaphysik des Budgets 183 

Nikolo 185 

Hausse und Baisse 187 

Die Friihstiickssuppe 189 

Das Taftkleid 191 

Das Waldmannlein vom Stephansplatz 194 

Weltuntergang 196 

Die Rentabilitat der Faulheit 198 

Volkscafe 200 

Kind und Kunst 203 

Das Marchen vom Geiger 205 

Kinder nach Milano 208 



X INHALT 

Das Antlitz der Zeit 213 

Petro Fedorak 215 

Der Kolporteur 217 

Die Bar des Volkes 220 

loojahre 223 

Preishog'lziag'n 225 

Teisinger 227 

Artisten 230 

Die reaktionaren Akademiker 233 

»Plakate« 237 

Der Schleier 239 

Sonntag 240 

Der Onkel aus Osterreich 242 

Pobel 244 

Modellschau 246 

Baisse 248 

Aus der Vogelschau 250 

Tiere 252 

Das Schiefipulver 254 

Alltagsmystik 256 

Die Metamorphose des »Sperrsechserls« 259 

»Versuchsklassen« 261 

Stadtfriihling 264 

Ringelspiel 266 

Sommerzeit 268 

Ausflug 269 

Kriegsgefangenenlager 271 

Praterkino 273 

Die Auferstehung des Geistes 276 

Das Friihlingsschiff 279 

Fenster 281 

Fahrt in den Krieg 283 

Chiromanten 284 

Im Klub der Hunde 285 

Abdul Rahim Miligi 288 

U 35 ^90 

»Die Tragodie eines Gro{Sen« 291 

Diskrete Hilfe 292 



INHALT XI 

Die »Wasserzeichen« von Grofiberlin 296 

Eine Stunde im Schieberbiiro 298 

POLNISCH-RUSSISCHER KrIEG 

Deutsche Truppen bei Rastenburg in Bereitschaft 300 

Eine Unterredung mit General v. Dassel 301 

Unbotmafiigkeit der russischen Armeeleitung? 302 

Jagd auf die fliehenden Polen 303 

Die polnische Nordarmee vernichtet 304 

Zwischen den Armeen 304 

In den Waldern von Augustowo 309 

Rote Kosaken an der Grenze 312 

Ein Tag bei den Bolschewiken 314 

Die Rote Armee 315 

Ein Experiment 322 

Mosaik aus Ostpreufien 323 

Biicher der Revolution 327 

Ministerurlaub in Teutongina 329 

Ein Wohltatigkeitsfest, das Vaterland und ein Baurat 331 

Das Urteil der Geschichte 332 

Die Goldene Krone 333 

Rauchverbot im Speisewagen 335 

Kiichen-Kultur? 335 

Der Nabel der Sittlichkeit 338 

DerNotschrei eines BerufskoUegen 340 

Die Kugel am Bein (II) 341 

Die Dringlichkeitsliste des Wohnungsamtes 345 

»Das Madchen aus der Fremde« 346 

Lebende Kriegsdenkmaler 347 

Sechs Fufi tief 352 

Kabarett »Schall und Rauch« 355 

Einstein, der »Fall« 356 

Irrungen, Wirrungen 358 

Besuch im Jenseits 360 

Wo ist der Schutzmann? 364 

Das Geheimnis der Verkehrsstorung 368 

Drei Viertelstunden von Berlin 369 



XII INHALT 

Sonntag in Mitteleuropa 371 

Bei den Heimatlosen 373 

Trianon-Theater '. . . . 377 

Herbst in Berlin 377 

Abendgang durch Alt-Berlin 378 

»Schall und Rauch« 380 

Der Tempel Salomonis in Berlin 381 

Fliichtlinge aus dem Osten 383 

»Der Tor und der Tod« und »Elektra« 386 

Komodienhaus: »Die Sache mit Lola« 387 

Sowjetausstellung in Berlin 387 

Shakespeare und Dada 389 

Aus der Unterwelt von Berlin 390 

Der Elektrizitatsstreik 393 

Adressenschreiber 394 

Der Herr Hauptmann unter Literaten 396 

Der Klub der armen Tiirken 397 

Spielzeug 400 

1st Berlin ehrlich? 401 

Wartesaal IV. Klasse 405 

Haas-Haye-Ballett 406 

Von Rittern und Rossen 407 

Eine Hundehandlerlist 409 

Der Wochenmarkt der Modelle 410 

Hansi Niese 412 

»Schall und Rauch« (II) 413 

Erwerbsloses Volk 414 

Fenster (II) 415 

Ukrairiomanie 417 

Kredit! 419 

Malvine Biviand, die Tanzerin 422 

Die Welt im Stift 424 

Montmartre in Berlin 425 

»Reigen« 426 

Weihnachten bei den Alten 427 

Lesebuch gegen Weltgeschichte 429 

Ausblicke in das Jahr 1921 432 

Jenseits 439 



INHALT XIII 

Lauter Juxen 442 

Kunstasyl 444 

Yu-Shi tanzt . . . ! 446 

Wenn Berlin Wolkenkratzer bekame 447 

Die Welt ist klein 450 

Indien in Berlin 451 

Der Tod im Zirkus 453 

Was liest der Berliner? 455 

Wenn man Arbeit sucht 458 

Beziehungen 460 

Die Passion 462 

Weltuntergang (II) 463 

Fulda als Weltanschauung 464 

Kinder ohne Heimat 466 

Autoritaten 474 

Nachte in Kaschemmen 477 

Die Prominenten 484 

Ein Professor 486 

Im Dampfbad bei Nacht 488 

Im Laufschritt nach Leipzig 49 1 

Unter franzosischen Fahnen 494 

Die Handbewegung des Biirgermeisters 496 

Literarischer Wedding 499 

Rundgang um die Siegessaule 502 

Alfred Beierle 503 

Hellas 504 

Vorlesungsabend als Protest 506 

Konferenz-Athletik 508 

Das »Raub ernes t« ist ein Patrizierhaus 511 

Das verlorene Indien 513 

Rehabilitierung des deutschen Frlihlings 514 

Eine Stunde Millionar 517 

Im Haus Nr. 21 520 

Der falsche Dionysos 522 

Begnadigung 524 

Unveroffentlichter Autor 527 

Das Plakat 527 

Von Biichern und Lesern 529 



XIV INHALT 

Pathos 532 

Sylt, ein bedauerlicher Vorfall 535 

Venus und Adonis 537 

Stiefelputzer 538 

Beierle und »Gas« 540 

Abende 541 

Jazzband 543 

Lu 547 

Scha-u-ra 547 

Moszkowski und Hildesheimer 548 

Tiere (II) 550 

Marchen 553 

Goethe-Vormittag 554 

Martha KruU 555 

Theater im Urzustand 556 

»Franta Slin« ^ 557 

Rehabilitierung der Schwarzen 558 

Hinter den Kulissen 562 

Spaziergang ^64 

Das Recht auf Oberschlesien 567 

Oberschlesien 570 

Der Regenschirm 573 

Eine Stunde als fliegender Buchhandler 574 

Berhn und Indien 576 

Rabindranath Tagore ^jj 

Der Wiederaufbau des Menschen 580 

Die Welt in der Stadt 583 

Erikas Schamgefiihl 584 

Moderne Ausstellung 586 

Glossomanie 588 

Friihling 591 

Reise nach Kultur-Wien 592 

Vestibiil 595 

Menschen am Sonntag 598 

Das Ende 600 

Die Stimme seines Herrn 602 

Kunst im Ghetto 605 

Unterwelt 608 



INHALT XV 

Das neue Heim 6i i 

Harry Piel im Deutschen Kiinstlertheater 613 

»Der G'wissenswurm« 614 

Feuilleton 616 

Der /ojahrige Kadelburg 619 

Der Mann im Friseurladen 621 

Caruso 624 

Anabasis 625 

Der Passagier 627 

Humanitat 630 

Li-Tai-Pe in Berlin 633 

Die fremde Stadt 636 

Amusement 640 

Buchmacher Klante 64 1 

Nacktheit 643 

Kinder 646 

Reise 649 

Flug nach Dortmund 651 

Nelson-Theater 654 

Heimkehr 655 

Weltgericht 658 

Mondfinsternis auf der Sternwarte 660 

»Satan, Freiheit, Revolution« 661 

Schillerpark 662 

Die Welt ohne Erste 664 

Tiere 665 

Lebensfreuden 667 

Wilde Biihne 670 

»Buch und Bild«-Ausstellung 672 

Begegnungen 674 

Klosterstraf^en-Boheme 677 

Epilog zum »Reigen«-Prozefi (ij<) 

Sieg der Vernunft 68 x 

Glockenspiel 683 

Der »Normalmensch« 684 

Stimmen der Volker 687 

Dollarfieber 689 

Zwei Monumentalfilme 69 1 



XVI INHALT 

Professor Brunner im Horsaal 692 

Der Musterknabe 693 

GroEenwahn 696 

Die Literatur vor Gericht 701 

Abenteurer 702 

Regen 705 

Nackttanze 706 

Der Spruch an der Wand 708 

Weshalb die Liebe erlischt 710 

Melodramatische Wirklichkeit 712 

Die tonende Mauer 715 

Das Testament des Dichters 718 

Die Asyle der Heimatlosen 720 

Ich lerne reden 723 

Welt im Eis 72 5 

Das Gericht in der H5h' 728 

Der Chauffeur Kaiser Karls 729 

Tote Welt 73 1 

Die Warmestube der Emigranten 733 

Riickkehr 736 

Abschied von Castans Panoptikum 737 

Auferstehung 740 

Kostiimball in Moabit 741 

Hellas in der Grolmanstrafie 744 

Marionetten auf der Wanderung 747 

Schatzgraber in der Allee 750 

Sechstagerennen 752 

Die Akademie der Tiere 754 

Ein Schufi Pulver 757 

Die Hoffnung auf »Jenua« 759 

Liebling der Frauen 762 

Fundamt 763 

Wolkenkratzer 765 

Ein Denkmal 768 

Training jd^ 

Karneval 771 

Figaros Turnier 773 

Der Flirst und die Balalaika 775 



INHALT XVII 

Artisten und Friseure 776 

Die Heimkehr des Imre Ziska 778 

Radiophon 780 

Revolution der Kinderreichen 782 

Ubersinnliches 783 

»Ein Volksfeind« 786 

Wunder 787 

6^47 789 

Sadhu Sundar Singh 790 

Der blaue Dienstag 791 

Fahrt an den Hausern 793 

Die Mutter ■j^'^ 

Das Paradies der Jugendlichen 797 

Armenierpsychose 799 

»Balduins Hochzeit« 800 

Die Gezeichneten 801 

Das Lacheln der Weltgeschichte 803 

Der Meister im Museum 805 

Das Ende der Spielklubs 806 

Rummel bis zehn 808 

Sommerspielzeit im Osten 810 

Der Falscher 812 

Der Affe 813 

h-moU-Symphonie 815 

Flug um die Welt 817 

Frau Prompteux 819 

Der Souffleur 821 

Der gefesselte Dichter 823 

Direktor Bernotat 824 

Hotham Brown aus Workington 827 

Sommerliche Wandlung 829 

Der Prinz 831 

Der Mensch im Glaskafig 833 

Auf Brunners Wegen 833 

E. T. A. Hoffmann in der Staatsbibliothek 834 

Der Herr Offizier 836 

Prosa der Verschworung 838 

Ukrajinkustarspilka 840 



XVIII INHALT 

Kaiserbilder 842 

Der Mann aus dem Altersheim 843 

»Fedora« : 846 

Volkische Studenten und volkisches Deutsch 847 

Personlichkeitsrecht 849 

Richard- Oswald-Lichtspiele 8^1 

Sonntagsreiter 853 

Nachruf auf den lieben Leser 854 

Paradoxic 857 

Das Geheimnis von Spandau 860 

Der gut angezogene Herr 862 

Die graue Karte 864 

Kunst des Irrsinns 867 

Wie ich Leipzig sah 869 

Leipziger ProzeS gegen die Eathenau-Morder 

Die Dreizehn 872 

Die Pistole 874 

»Jawoll, Herr Prasident!« 876 

Der Prozefi der Geheimnisse 877 

Staatsgerichtshofluft 878 

Die Zeugen 881 

Die Frau und der Koffer 883 

Der Oberreichsanwalt spricht 885 

Playdoyers in Leipzig 887 

Die Welt mit den zwei Seiten 888 

Die bayrische Richterseele 889 

Kultur-Herbst 890 

Die Bank der kleinen Leute 891 

Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd 893 

Brunner bleibt 894 

Kleiderhandel 896 

Berliner Saisonbericht 898 

Nationalismus im Abort 900 

Die Freuden des Winters 902 

Die Abseits-Menschen 907 

Richard ohne Konigreich 909 



INHALT XIX 

Unser Liebling im Schnee 912 

Die Toten ohne Namen 914 

Der Mann in der Toilette 916 

Der Tempel der Seide 918 

Rehabilitierung »Raffkes« 921 

Preis-Rattenwiirgen 923 

Verkehrte Welt 926 

Das Haus der 100 Verniinftigen 929 

Das Schiff der Auswanderer 931 

Der deutsche Dichter Kantorowicz 934 

Der auferstandene Mensch 936 

Philosophic des Panoptikums 939 

Reisende mit Traglasten 941 

Wie werde ich adlig? 944 

Die Schwarzen im Ruhrgebiet 947 

Ich suche die Einheitsfront 948 

Begegnung mit dem Ictzten Azteken 949 

Die Frauen Nebbe und Klein 952 

Der Klub der Verkannten 954 

Besuch bei Goethe 958 

DerFriihling, dieschonstejahreszeit 961 

Delinquent Schapcr 962 

Die Tanzer Gottes und die Strafienbahn 965 

Berliner Aquarium ^6S 

Ewige Ostern 971 

Das Lacheln der Welt 972 

Der fliegende Buchhandler 973 

Philosophic des Schaufensters 976 

Vcrgebliche Ruhrpropaganda 977 

Zoo im Friihling 979 

In der Boxerakademie 981 

Polizeibericht 983 

Schaffranitz 986 

Der Friihlingszirkus 988 

Sorgen des Kurfiirstendamms 990 

Ruhr-Totenfeier mit Shimmy klang 993 

Friihling an der Drehbank 994 

Stunde im Rummel 995 



XX INHALT 

Die Boxer (II) 999 

Der Feiertag 1000 

Der Mensch auf der Veranda 1002 

Die Parade 1002 

Das Variete der Besitzlosen 1004 

Die fremden Burger 1006 

Der Prozefi vom Normalmenschen 1008 

Ballettprobe im Staatstheater loio 

AnnaWitte 1012 

Die andere Welt 1014 

Mazdaznan 1016 

Beriihmte Hiihneraugen 1018 

Der nachtliche Zeitungsartikel 1020 

Die Todesopfer des Grofistadtmagens 1022 

Riviera in Kagran 1025 

Das Cafe der elften Muse 1028 

Was liest man in Wien? 1030 

»Dieser kleine Mann aus Amsterdam« 1032 

Fahrt auf der »Schleife« 1034 

Restenausverkauf in der Theateragentur 1035 

Theosophische Laienpredigt 1038 

Berlin im Taumel der Verzweiflung 1040 

Die Hochschule der Auslagenarrangeure 1042 

Vormittagsprobe im Zirkus 1044 

Der Lausbub 1046 

iiooo 000 1048 

Das Land der Sonderbiindler 1049 

Frau Sacher entschuldigt sich 1053 

Das osterreichische Reisevisum 1055 

Ebert 1056 

Die Opfer des Herrn v. Kahr 1059 

40 Mann = 6 Pferde 1062 

Reise in Kaffee 1064 

Schweigen im Dichterwald 1068 

Begegnung mit Herrn v. Kaehne 1070 

Der Gesang des Bettlers 1072 

Hotel Kopfiva 1073 

Reise durch Deutschlands Winter 1076 



INHALT XXI 

Berliner Riibensaft 1080 

Der Schrei des Wilden und des Weifien 108 1 

Lemberg in Diisseldorf 1084 

Das Grenzloch von Kerkraade 1086 

Louis Hagen, der Finanzmann des Rheins 1087 

Bei der Armee der Separatisten 1090 

Der blonde Neger Guilleaume 1092 

»Blue lamp room« 1094 

Anhang 1097 

Nachwort 1 109 



VORWORT 



Die erste Ausgabe der Werke Joseph Roths (1956) ist langst zu einem 
gesuchten Objekt von Sammlern und Spezialisten geworden, die 
zweite (1975/76) war rascher vergriffen als erwartet. Gelohnt hatten 
sich also die Anstrengungen des Verlages und des Herausgebers, Her- 
mann Kesten, dem die beiden Nachfolger in der Roth-Edition an die- 
ser Stelle ausdriickHch ihren Respekt bekunden mochten - mit Dank 
fiir die unentwegte Propagierung des Autors. 

Natiirhch ist auch ein halbes Jahrhundert nach Roths Tod der Ge- 
denkanlafi ein pragnanter Zeitpunkt, mit der Pubhkation einer dritten 
Sammlung seiner journalistischen und dichterischen Arbeiten zu be- 
ginnen. Ihr Umfang reicht betrachthch iiber den Bestand der zweiten 
Werk-Edition (4 Bande) hinaus, mit der nach den Forschungen Inge- 
borg Siihemeyers und Wolf R. Marchands schon deutlich wurde: Der 
grofie Romancier Joseph Roth war zeit seines Lebens auch Journahst. 
Und wer, neugierig geworden, in den alten Zeitungen der Jahre zwi- 
schen den Weltkriegen blatterte, der konnte weitere »unbekannte« 
Texte finden, konnte feststellen, wie produktiv und engagiert der 
Journalist Roth war und wie interessant seine Artikel noch heute 
sind. 

Eine Auswahl dieser neugefundenen Arbeiten setzte auch Akzente 
fiir den politischen Journahsten (Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. 
Unbekannte Reportagen und journaHstische Arbeiten 1920-1939. 
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Klaus Wester- 
mann, Koln 1984). Auch wenn erfreuHcherweise immer mal wieder 
ein weiterer Artikel Roths entdeckt wird, so gilt fiir die dritte Edition 
mit den neuen Funden: Das journalistische Werk Joseph Roths liegt 
vor. 

Einige der Texte (aus dem sogenannten BerHner Nachla£) waren zu- 
vor von Friedemann Berger, damals Chef-Lektor des Leipziger Gu- 
stav-Kiepenheuer-Verlages, veroffenthcht worden - zusammen mit 
einigen Erzahlfragmenten (Joseph Roth, Perlefter. Fragmente und 
Feuilletons, Leipzig 1978, 2.Aufl. 1981). Der Titeltext erschien mit 
Bergers Nachwort gleichzeitig auch in einer Ausgabe von Allert de 
Lange/Kiepenheuer & Witsch (Joseph Roth, Perlefter. Die Ge- 
schichte eines Biirgers, Amsterdam/Koln 1978). Auch dieser Text zu- 



XXIV VORWORT 

sammen mit dem bisher nicht veroffentlichten Fragment Jugend und 
den Anfangskapiteln der Erstfassung von Flucht ohne Ende ist in der 
neuen Werkausgabe enthalten. 

In den Anmerkungen finden sich dariiber hinaus exemplarische Pro- 
ben aus verschiedenen Nachlafibestanden sowie jene Gedichte, mit 
denen Roth als junger Student und Kriegsfreiwilliger in Wiener und 
Prager Zeitungen debiitierte. Von der unveroffentiichten Lyrik, die 
sich im Nachlafi befindet, wolke er in spateren Jahren nichts mehr 
wissen. Deshalb bleiben sie hier unberiicksichtigt. 
Unerwartet grofi war in den letzten dreifiig Jahren die Resonanz auf 
die neue Bekanntschaft mit dem Erzahler und Feuilletonisten. In vie- 
lerlei Verlags- und Titelvarianten hatten die Taschenbuch-Auflagen 
Erfolg, Buchgemeinschaften nahmen sich des Autors an, und einzelne 
Titel reizten sogar zu graphisch kostbar illustrierten, bibUophilen Aus- 
gaben. Bald entdeckte der Film den Bildreichtum der Rothschen Er- 
zahlweise, so dafi nahezu alle seiner bekannten Romane und Geschich- 
ten ihre Wirkung nun auch auf Leinwand oder Bildschirm entfalten. 
Und an den feuilletonistischen Gattungs- und Stilmerkmalen, wie 
Roth sie handhabte, scharft heute der journalistische Nachwuchs seine 
Schreibe. 

Kein Zweifel: Von diesem Autor wird Gebrauch gemacht. Zur Verkla- 
rung als Klassiker eignet er sich nur partiell - wie jeder Klassiker -, 
und keine Ideologic bringt seine Werke glatt in einem Kanon unter. 
Diese dritte Sammel-Edition verteilt sie entsprechend dem Unter- 
schied zwischen Feuilleton- und Romanlektiire auf zwei Abfolgen von 
Banden, in denen jeweils die journaHstische und erzahlerische Produk- 
tion chronologisch gruppiert ist. Im Nachwort zu jedem Einzelband 
kommentiert der betreffende Herausgeber den dokumentierten Schaf- 
fensabschnitt des Journalisten oder Erzahlers Joseph Roth. 

Tiibingen/Hamburg, im Herbst 1988 Fritz Hackert 

Klaus Westermann 



1915-19^^ 



HERBSTWINDES KRIEGSGESCHICHTEN 



Die wunderschonsten Geschichten erzahlt mir mein Freund, der 
Wind. Die Leute sagen zwar, es gebe einige Winde. Aber ich weifi es: 
Es gibt nur einen. Der weht von Ost nach West und von West nach 
Ost; von Nord nach Siid und zuriick. Viel Schones sieht er und viel 
Hafiliches: viel Frohes und viel Trauriges. Und nachts pocht er manch- 
mal an meine Fensterscheiben und erzahlt mir Geschichten: 
Ich begleitete einen Zug. Bald vor ihm, bald hinter ihm wehte ich her. 
Und spielte Ball mit den Funken seiner Lokomotive. Und sah hie und 
da durch die Fenster der Wagen. Drin lagen verwundete Soldaten. 
Manche rauchten und plauderten, manche lagen still und ergeben in ihr 
Schicksal da. In einem Abteil lag ein JiingHng. Blondes, krauses Haar 
fiel ihm in die blasse Stirn. Todkrank war er. Atmete schwer. Und 
seine tiefblauen, treuen Augen bUckten matt und glanzlos. Durch die 
Brust geschossen — todgeweiht — 

Der Zug hielt vor einer kleinen Station. Ein Landsturmmann stand 
Wache. Die Verwundeten wurden aus dem Zug getragen. Der Wach- 
posten sah zu dem kranken Soldaten hin. Da- ein Schrei. Ein Jauchzer 
war's, Und er rannte auf den todkranken blonden Jiingling zu. Und 
sah erschrocken zuerst und dann unsaghch traurig in das brechende 
Auge seines Sohnes. - Ich machte mir auf dem kleinen Bahnhof zu 
schaffen. Wirbelte einige Papierfetzen in die Hohe. Und beobachtete 
Vater und Sohn. - Sie blickten sich stumm an. Eine lange, kurze Weile. 
Da tat der Junge noch einen tiefen Atemzug. »Vater!« - hauchte er - 
und starb. 

Sie trugen ihn weg, - Der Alte stand starr und unbeweglich mit seinem 
Gewehr. Ich bauschte ihm den Mantel auf und blies ihm scharf iibers 
steinharte Antlitz. Und wehte zwei Tranen fort - zwei blinkende Va- 
tertranen . . . 

Ich kannte zwei: einen Jager und seinen Hund. Ich traf sie oft im 

Walde. Sie hielten treu zueinander, Waren unzertrennliche Freunde. 

Ich wehte liber ein polnisches Schlachtfeld. Uber viele tausend Lei- 

chen. Und erkannte den Jager. Tot war er. 

Im Walde jagte der Hund umher. Er weifi nichts von Vaterland und 

Heldentod. 



4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Er suchte seinen Herrn . , . 

In einer kleinen deutschen Stadt war ich. Wo es lauschige Winkel gibt 
und murmelnde Brunnen. Wo der Mond in schmale Gafichen iiber 
winklige Giebel schielt. Wo es niedliche Balkons gibt mit lang herab- 
hangenden Barten aus wildem Weinlaub. Wo aus jeder Nische Laven- 
del duftete und Nachtwachterhornton zitterte . . , 
Durchs Fenster blickte ich in eine reine deutsche Stube. Da safi der 
Vater. Seine Brust schmiickte das Eiserne Kreuz. Den Arm trug er in 
der Binde. Er erzahlte. Grofimutter lauschte und die junge Mutter. Ein 
Tochterlein safi auf seinem Knie und betrachtete ihn ehrfiirchtig. Nur 
einer sah sich nicht auf ihn um: sein kleiner Junge. Der rasselte mit 
dem schweren Sabel des Vaters, patschte in die dicken Handchen und 
rief: Ich bin Soldat! Ich bin Soldat! 

In einer schmutzigen Strafie einer polnischen Kleinstadt wirbelte ich 
den Staub auf. Vor der Tiire eines alten, halbverfallenen Hauschens 
wehklagten Weiber, fluchten wild Kosaken. Ein Jude in langer Ka- 
potte mit grauem Bart hing auf einem frischgezimmerten Galgen. 
In einer reichen moskowitischen Stadt bUckte ich durch die Fenster 
eines vornehmen Hauses. Da safien russische Gelehrte bei franzosi- 
schem Wein. Ich horchte: Sie protestierten gegen deutsche Barba- 



In den Vogesen, mitten in dammriger Waldeinsamkeit, ein Helden- 
grab. Ein Holzkreuz darauf und ein Helm auf dem Kreuz. Da batten 
sie einen deutschen Sanger begraben. 

Ein Vogel flog von einem Ast, setzte sich auf die deutsche Pickelhaube 
und schmetterte Jauchzend ein SiegesHed . . . 

Zwei Madel kannte ich, die liebten beide einen Jungen. Schon und 

stolz und stark war er. Als er in den Krieg zog, weinten beide. 

Sie stritten, sooft ein Brief von ihm kam. 

Vor einiger Zeit lasen sie seinen Namen. Tot ist er. 

Nun sind sie Freundinnen. Sie sitzen lange Nachte beisammen und 

erzahlen sich Geschichten - von ihm . . . 



1915-1918 5 

Um die alte Gotterburg Walhalla brauste ich einen machtigen Sang. 
Darin safien die deutschen Helden zu Tische. Neben Siegfried, dem 
Drachentoter, und Dietrich von Bern, Fritz der Grofie, Bismarck und 
Moltke. Auf dem Tisch lag eine Generalstabskarte. Mit ehrfiirchtigem 
Staunen betrachteten sie Siegfried und Dietrich. Moltke deutete auf ihr 
herum und hielt einen Vortrag. Sie sprachen von Hindenburg. Fritz 
der Alte schwieg. Er schnupfte blofi ein bifSchen und brummte zum 
Schlufi: Hm, nicht ubeL- 

Den blauaugigen, blonden Jungen hatte ich gern. Es machte mir Spafi, 
ihn in die Schule zu begleiten, ihm die Kappe vom Kopf fliegen zu 
lassen und iiber sein weiches, welliges Haar zu fahren. Er war das ein- 
zige Kind einer Witwe und der Liebling der Schule. Mit schwerem 
Herzen liefi man ihn ziehen. Er ging in den Krieg. 
Ich wehte iiber ein Schlachtfeld. Uber viele, viele Leichen. Deutsche 
und Franzosen. Es war der Abend nach einer Schlacht. Ein goldener 
Sonnenstrahl huschte iiber die Leichen, suchte sich einen blassen Jun- 
gen aus und blieb auf ihm ruhen, 

Es war mein Freund. Noch einmal fuhr ich ihm liber das weiche Haar. 
Ein Baum, der in der Nahe stand, hatte noch einige welke Blatter. Jetzt 
fuhr ich durch seine Krone und wehte alles raschelnde Laub auf mei- 
nen jungen Freund. 

Gestern war ich in seiner Heimatstadt. Ich bHckte durch die Fenster in 
seine Stube. Seine Mutter saE und schrieb. Die Lampe brannte still und 
traulich. Ich machte mich klein, wurde ein winziger Lufthauch und 
fuhr durch eine Fensterfuge ins Zimmer. Ich streifte den Papierbogen, 
auf dem die Mutter schrieb. Mein lieber Sohn! - stand darauf . . . 
Ich loschte plotzlich die Lampe aus. Die arme Frau erschrak und 
starrte stumm in die Finsternis . . . 

Osterreichs Illustrierte Zeitung, 5. 12. 19 15 



UBER DIE SATIRE 

Eine Plauderei 

Es geht den edelsten und feinsten Dichtungsgattungen wie den feinsten 
und edelsten Menschen: Sie werden verkannt. Verkannt wird das lyri- 
sche Gedicht, verkannt wird die Satire. Aber ist das kleine, lyrische 
Gedicht das winzige und dock so komplizierte, subtile, zarte Erzeug- 
nis dichterischen Herzens, so ist die Satire das reifste Kind dichteri- 
schen Geistes und Gemiites. Die Satire ist leicht, zierlich und meist 
auch elegant - die derbe Satire ist keine Satire und versetzt dabei die 
schmerzlichsten Hiebe, Sie tritt dem Nachbar am Tische des Lebens 
auf die Huhneraugen seiner Empfindlichkeit, und doch fiirchtet man, 
ihr unanstandiges Benehmen vorzuwerfen. Ihr Lacheln kann schmer- 
zen, aber sie lachelt nicht, weil sie Schmerzen bereiten will. Sie ist 
zwecklos, weil sie gottlich ist, aber ihr blofies Dasein wirkt erziehe- 
risch, Sie ist Padagogin ohne padagogische Absicht. Man geht fehl, 
wenn man meint, sie wolle auslachen, Nein, sie lacht, weil sie lachen 
mufi. Ihre mittelbare Folge kann zwar das Verschwinden des Trauri- 
gen sein, ist es aber selten. Ja, eben deshalb lacht die Satire. Die 
Dummheit ist unsterblich wie die Weisheit, die HaElichkeit wird ewig 
leben wie die Schonheit. Man kann die Dummheit nicht toten, wohl 
aber auslachen. Und die Satire lacht sie aus. - Meist aber geht sie nicht 
darauf aus, den Gegner direkt niederzuschmettern oder zu verletzen. 
Denn ihr Gegner ist von seiner Mutter Dummheit unverwundbar ge- 
badet worden, und selbst eine Achillesferse hat er selten. Die Satire 
wendet sich meist an »die anderen« und verspottet den Gegner. Sie hat 
gesiegt, wenn die anderen mitlachen. Der Verspottete ist der Besiegte. 
Denn wer ausgelacht wird, wird nicht gefiirchtet. 
Der Tor ereifert sich iiber das Schlechte. Der Weise lachelt dariiber. 
Zeus ist kindisch, wenn er grollt, aber gottlich ist er, wenn er lachelt. 
Und auch sein Donner ist vielleicht nur sein starkes Lachen iiber die 
bebenden Menschlein. 

Freilich, die Satire ist auch eine Rache. Eine grimmige zuweilen, aber 
stets eine vornehme. Eine Rache, die das Verzeihen gebart. Sie ist die 
Rache der Gotter und der Dichter. . . 

Pathetische Trauer ist menschlich, heitere Seelenruhe ist gottlich. 
MenschHch ist das Trauerspiel, gottlich ist das Lustspiel. Denn bei den 



Gottern gibt es kelne Tragik, wenigstens keine pathetische. Auch die 
»hohe Tragodie« ist nicht pathetisch. Sie ist kein Klagelied. Das seichte 
Pathos ruft Tranen hervor. Der Ernst erstickte sie. Ernst und Heiterkeit 
sind Geschwister. Die »hohe Trag6die« und die Satire - sie sind ebenso 
ernst wie heiter. 

Die meiste Satire findet sich in den beiden grofiten Tragodien der 
Menschheit: in »Hamlet« und »Faust«. 

Hamlet ist »tatenunlustig«, weil er ein »Grubler« ist, heifit es. Aber vor 
allem ist er Satiriker. (Freilich ist jeder Satiriker ein Griibier.) Hamlet 
handelt nicht, weil er sich selber fiirchtet. Er fiirchtet sich, sich selbst 
auslachen zu miissen, wie er die ganze Welt auslacht, Wie er Polonius 
auslacht und den Konig, wie er selbst Horatio auslacht und Ophelia, 
Seine Selbstironie-ein Kleid der Satire— zertriimmert die Gedankenpala- 
ste seines Geistes und I'i&t ihn neue bauen. Seine Selbstironie fiihrt ihn am 
Gangelbande die ersten tappenden Schritte auf dem Wege des Handelns 
und lafit ihn straucheln iiber den Stein des Zweifels. Seine Selbstironie 
macht ihn zum Morder, Dichter, Schauspieler und Racher, aber nicht 
zum kraftstrotzenden Helden. Seine Selbstironie krankelt ihn mit des 
Gedankens Blasse an und hindert ihn an der Erreichung seines Zieles. 
Seine Tragik ist seine Satire. 

Aber selbst abgesehen von der Satire in Hamlets Wesen selbst, wieviel 
Satire in der ganzen Tragodie uberhaupt! Wieviel in den Gesprachen 
Hamlets mit seiner Umgebung, wieviel in der Umgebung selbst! Wieviel 
in den Lehren des Polonius, die er seinem Sohne mitgibt, wieviel in dem 
Tode des Polonius, wieviel in der zweiten Heirat der Konigin! 
Und Faust! Satire in seinem ersten Monologe, im Gesprach mit Wagner, 
in Wagner selbst, im Spaziergang, in Auerbachs Keller, in der Hexenkii- 
che, in Nachbarin Martha und schliefilich in Mephistopheles! Goethe 
zeigt eine ungeheure dichterische Kraft, im Gesang der Erzengel, aber ein 
Lacheln gottlicher Macht, wenn er den Herrn mit Mephistopheles spre- 
chen und diesen dann sagen lafit : » Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern 
und hiite mich, mit ihm zu brechen; es ist gar hiibsch von einem grofSen 
Herrn, so menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen!« 
Die grol^en Kenner der »Hohen und Tiefen« und deren Darsteller sind 
Satiriker. Selbst das Martyrertum ist eine stille, schweigende Satire. 
»Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht« - ist das nicht aus einer 
weisen, lachenden Uberlegenheit heraus und mit einem engelhaften 
Spotte gesprochen?! 



8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Irdisch-Grofie racht sich, indem er lacht, der Himmlische, indem 
er leidet. In dem Lachen jenes, in dem Leiden dieses liegt - Satire. 
So ist die Satire die Rache der Voilkommenen. Die Tochter des Gottes 
Humor und des Menschenkindes Verzweiflung. Wir wissen, solchen 
Mischehen entstammen Halbgotter und Nymphen . . . 

Osterreichs Illustrierte Zeitung, z. i. 191 6 



DIE GESCHICHTE VOM JUNGEN MUSIKANTEN 
UND DER SCHONEN PRINZESSIN 



Es war einmal ein blutjunger Musikant, der fiihrte wundervoU den 
Bogen. Er hatte eine goldene Geige, auf der waren vier Saiten ge- 
spannt. Die eine war aus Eisen, die zweite aus Silber, die dritte aus 
Gold, und die vierte war ein blondes, feines Haar einer Waldelfe. 
Wenn er die erste Saite strich, so klang es wie Sturm und Donner: Die 
Berge bebten von der Gewalt seines Spiels, und die uralten Baume 
rauschten machtig darein. Wenn er die zweite strich, so klang es wie 
der tiefe, vertraumte Ruf eines Waldvogels und wie das silberne La- 
chen einer schonen Frau. Die dritte Saite hatte den vollen Klang der 
keuschen Sonntagsglocken und den feierlichen Ton der Orgel. Aber 
die vierte Saite, die klang am schonsten: Es lag so etwas Wundersames 
darin, Zauberzartes und Sehnsuchtstiefes. Man horte den hellen, feinen 
Sang der Waldelfen beim Mondesreigen. Darein mischte sich die ver- 
liebte Klage der Nachtigall und der jubelnde Triller der Lerche. Wenn 
der junge Musikant jedoch alle vier Saiten abwechselnd strich, so 
lauschten Himmel und Meer, Berg und Wald, Feld und Flur,.. Er 
konnte die lustigsten Walzer spielen und die traurigsten Weisen, und 
alles jubelte mit seiner Geige, und alles weinte mit ihr . . . 
Und in einem fernen, fernen Reiche lebte eine wunderschone Prinzes- 
sin. Die wollte nur denjenigen zu ihrem Manne und zum Konig ihres 
Landes machen, der sie mit seiner Kunst bis ins tiefste bewegen 
konnte. Da waren denn aus aller Herren Lander die grofiten Kiinstler 
und Weisen gekommen, um ihre Kunst zu zeigen und die schone Prin- 
zessin und die glanzende Konigskrone zu gewinnen. Da war einer, der 
baute aus Sonnenglast und Meeresgriin, aus Himmelsblaue und Kri- 



stalltau ein Schlofi, zu dem der Weg iiber den Regenbogen fiihrte. 
Und ein zweiter, der lief mit den Sonnenstrahlen um die Wette. Und 
ein dritter, der konnte Regentropfen in Perlen verwandeln. Und ein 
vierter, der konnte mit den goldenen Sternen Fangball spielen, Und 
ein fiinfter, der strich mit dem Pinsel iiber die Leinwand, und die 
Prinzessin stand da wie lebendig und hold wie Freya, die Gottin der 
Liebe . . , 

Die schone Prinzessin hiefi jeden neuangekommenen Werber drei 
Tage warten und bewirtete ihn kostlich und versprach, ihn zu heiraten, 
wenn sich im Laufe dieser Frist kein neuer Kunstler zeigen wiirde, der 
alle friiheren noch iibertrafe und dem letzten den Rang streitig machte. 
Es kamen jedoch taglich viele Werber, und von diesen iibertraf immer 
der letzte den vongen.- 

In dieses wunderbare Land mit der wunderschonen Prinzessin machte 
sich nun der junge Geiger auf. Es war eine weite und beschwerliche 
Reise. Doch der Musikant brauchte blofi die Saiten seiner Geige zu 
streichen, und die reifiendsten Strome wurden sanft und still, dafi er sie 
bequem durchwaten konnte, die wilden Tiere zahm, dafi sie stehen- 
bheben und lauschten, und der Sturmwind liefi sich besanftigen, wenn 
das blonde Elfenhaar in seinem voUen Zauber ertonte ... So kam der 
junge Geiger ungefahrdet und wohlbehalten in das Reich der seltsamen 
Prinzessin. 

Er war von ihrer Schonheit so eingenommen, da{^ er mit heif^er Glut 
zu spielen begann, Alle waren erstaunt und lauschten entziickt. Der 
Prinzessin selbst gefiel der Geiger und sein Spiel, und es schien wirk- 
lich, als ware nun endlich der Rechte gekommen. 
Der gliickberauschte Musikant mufite auch noch drei Tage warten. 
Doch von den vielen Werbern, die noch kamen, iibertraf ihn keiner. So 
wartete er am dritten Tage sehnsuchtsheifi auf die Nacht, die ihm sein 
Gliick bringen soUte. 

Doch die Sonne stand noch am Himmel, als plotzlich ein schmucker, 
schlanker Ritter erschien und EinlaE begehrte. Er wurde vor die Prin- 
zessin gefiihrt und von ihr um seine Kunst befragt. Da sagte der Ritter, 
er sei der beste Tanzer auf Erden. Er wolle mit der Prinzessin tanzen, 
um ihr seine Kunst zu beweisen. Er brauche bloE schone Musik dazu. 
Die Prinzessin war gerne bereit, liefi den Geiger holen und befahl ihm 
zu spielen.- 
Traurig gehorchte der Geiger. Als sein wunderbares Spiel erklang, 



10 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schwebte der Ritter im Saale umher, die schone Prinzessin im Arme, so 

leicht, dafi er kaum den Boden beriihrte. Als der Tanz zu Ende war, 

hiefi die Prinzessin den Ritter drei Tage warten. Doch auch den Geiger 

hiefi sie bleiben. Sie wollte Musik haben zu ihren Tanzen . . . 

Nun kamen zwar noch viele andere Kiinstler, aber keiner gefiel der 

Prinzessin so sehr wie der leichtfiifiige Ritter. Und als am Abend des 

dritten Tages die ersten Sterne erglommen, wurde mit aller Pracht und 

Herrlichkeit die Hochzeit gefeiert. 

Und zum Brauttanz sollte der Geiger spielen. 

Berauschend und beriickend entquollen die Tone seinem goldenen In- 

strumente. Die Prinzessin und ihr Brautigam drehten sich im wildesten 

Taumel des Tanzes, Da fiel piotzlich die Geige zu Boden und zer- 

schellte klirrend . . . Der Geiger liefi langsam den Bogen sinken . . , Sein 

Gesicht wurde bleich. Seine Augen waren grofi und weit . . . Er tat 

noch einen tiefen Atemzug und war tot. - 

Da stockte der Tanz. Auch der Ritter hielt ein und tanzte nicht mehr. 

Die Prinzessin aber beugte sich iiber den toten Geiger, kiifite ihn und 

weinte, 

Osterreichs lUustrierte Zeitung, 20. 8. 1916 



SELIG DIE FRIEDFERTIGEN 



Vor der fiir die Wiener Kunst zustandigen Instanz, dem Handelsge- 
richt, haben zwei Wiener Dichter, Lindau und Beda, einen Theaterver- 
lag verklagt, weil er eine in Wien mit Recht durchgefallene Operette 
den BerUnern nicht aufdrangen wollte. Als Sachverstandige erschienen 
noch ein Dichter und ein Regisseur, die selbst schon elende Operetten 
erzeugt haben und sich auskennen miissen. Sie bekraftigten, das Text- 
buch sei »mit Geschick gemacht« und die Musik »gewissenhaft gear- 
beitet«. Der Komponist, ein weltfremder Idealist und Musikante na- 
mens Edmung Eysler, erklarte hierauf, selig seien die Friedfertigen, 
und er schlosse sich der Klage nicht an, weil er es sich mit einem Welt- 
hause wie Felix Blochs Erben nicht verderben woUe. Das Gericht ver- 
urteilte sodann das BerUner Publikum, das doch gar nicht angeklagt 
gewesen war, die Operette binnen drei Monaten iiber sich ergehen zu 



I9I5-I9I8 II 

lassen. Haben die preufiischen Konservativen nicht recht, wenn sie 
liber ungehorige Einmischung Osterreichs in die inneren Angelegen- 
heiten Deutschiands klagen? 

Der Friede, 9. 2. 1918 



TOREADOR 



Durch einen angenehmen Zufall bekomme ich illustrierte Zeitschriften 
aus Spanien in die Hand, Man merkt ihnen den Krieg wenig an, es ist 
eine wahre Erholung. 

Blanco y Negro enthait ein entziickendes koloriertes Bild aus dem spa- 
nischen Kunstleben: Der beriihmte Torero Braulio Sanchez, genannt 
El Ceporro, will gern fur einen Intellektuellen gelten und geht heute 
abend ins Schauspielhaus zu einem literarischen Theaterstiick. Er tritt 
in die Loge, gefolgt von einem dienenden Freund, spuckt aus, lafit sich 
nieder, mit dem tiut auf dem Kopf, in einer griinen Weste und mit 
einer roten Krawatte. 

Auf einmal hort die Vorstellung auf, weil ohnedies niemand mehr zur 
Biihne hinsieht. Auf der Galerie lassen die Leute Kopfe, Arme und 
winkende Taschentiicher iiber die Briistung hangen, und eine griine 
Frau mu^ ihr Gatte an den Beinen festhalten, damit sie sich wie eine 
grofie griine Fahne in die Loge des Ceporro hinabhangen kann. Unten 
die feineren Leute in den Nachbarlogen treiben es nicht besser. Eine 
Dame wird ohnmachtig, ein Fierr aus dem Parkett klettert an der Saule 
empor in die bewufSte Loge. Kinder schreien, Operngucker werden 
immer langer, so wird hineingeglotzt. Und auf der Biihne machen die 
Schauspieler Locher in die neuen Kulissen, um den beriihmten Stier- 
kampfer besser zu sehen. Der Souffleur reckt sich aus dem Kasten, die 
Naive wiirde sich iiber die Rampe hinabstiirzen, wenn die dicke Thea- 
termama sie nicht energisch um die Taille packte. Und der Autor steht 
betrubt da und sieht statt seines wunderschonen Stuckes El Ceporro 
an. Kurz, es ist eine fabelhafte Vorstellung, man wird zu FFause viel 
davon erzahlen. Schon steht El Ceporro auf, sagt: »Es ist mir zu fad,« 
Die Billetteure bilden ein Spalier und schreien: »Fioch!« Jetzt kann die 
Literatur weitergehen. 



12 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aus der Glorie, sagt der Text unter dem Bild, lacheln Calderon, Lope 
und Echegaray. 

Ich weifi nicht, was da zu spotten ist, Wie oft schon safi ich im Theater 
und sah mir verstohlen die Logen an mit dem Seufzer: O kame doch 
ein schoner Toreador herein, dafi man einen Grund hatte, von der 
Buhne wegzubUcken! GliickUches Spanien, das sich im Theater noch 
fiir etwas begeistern kann! Bei uns finden Goethe, Schiller und Grill- 
parzer nie einen Grund, aus der Glorie zu lacheln, wenn sie ihren 
Operngucker auf den Zuschauerraum eines Theaters richten. 

DerFriede, 1,3. 19 18 



VOM PERSONLICHEN STIL 



Die Frau eines impressionistischen Novellisten lafit sich einen neuen 

Band ihres Gatten in die Schreibmaschine diktieren. Ihr fiinfjahriger 

blonder Bub hort aufmerksam zu. 

Auf einmal sagt der Bub: »Mama, Ich mochte dir auch so eine Ge- 

schichte diktieren. « 

Und er diktiert ihr die Geschichte »SchHckpark«. Was hier erzahlt 

wird, ist nicht erfunden. Diese seine erste Geschichte hat der fiinfjah- 

rige Dichter genau so diktiert. Sie ist nicht schlechter als andere Ge- 

schichten auch, und sie soil hier nicht wiedergegeben werden, damit 

die Mama sich was auf das talentvoUe Wunderkind einbildet, sondern 

um zu beweisen, wie leicht jedes aufgeweckte kleine Kind einen gewis- 

sen impressionistischen und partikellosen Prosastil nachmachen kann, 

den die Dichter sehr gern fiir hochst personlich halten. 

Dies ist wortlich die Geschichte von dem kleinen Hans M.: 

Schlickpark. 

»Im Schlickpark waren immer viele Buben, die machten Witze, 

Dort war ein Brunnen. Ich ging in Schlickpark, 

Ein Bub ging zum Brunnen, stieg am Brunnen, machte sich nafi, trank. 

Im Schlickpark war auch ein Bergerl, dort saEen die Buben. 

Und gruben « 

Die drei Gedankenstriche hat der Poet ausdriicklich diktiert! 

Der Friede, i. 3. 1918 



wo DIE KARTOUSCH SINGT 



Ich war in der Generalprobe der neuen Lehar-Operette. Ich safi zwi- 

schen meinem Freund, der was von der Musik versteht, und einer 

Dame. 

Ich sagte: Wir woUen sehen, wie sich der Meister Lehar in diesen 

schweren Zeiten kiinstlerisch entwickelt hat! 

Mein Freund, der was von Musik versteht, sah hin und sagte: Er ist 

unberufen dick geworden! 

Die Dame neben mir sah meinen Freund empon an. 

Dann ging der Vorhang auf, und der Chor sang ein herbstHches Lied. 

Der erste Vers lautete, glaube ich: »Es roteln schon die Baume.« Dann 

kam ein Uebes aheres Kindchen, mit einem blonden Zopfchen und 

dem Fingerchen im Miindchen und mit weifien Striimpfchen und zwit- 

scherte wie eine ungarische Lerche. Auch war der Marischka da, pick- 

siifi vor mannlicher Herbheit, und er sang immer: kleine Lerche! 

(aber man mufi das »kleine<( innig betonen); und dann sangen sie beide 
zusammen: — KlapperstbTAitl Die Dame neben mir machte ein Ge- 
sicht wie Marmeladebrot. Ich fragte meinen Freund, der was von Mu- 
sik versteht, wie die Kartousch singt. Er sagte: Sie hat schon ganz hiib- 
sche Beine. Der Marischka aber war mehr von ihrem Singen entziickt 
und schrie: Kleine Lerche! Sie sagte innig: Klapperstorche. 
Dann kam eine andere Dame, ich weifi nicht, wie sie heifit, die konnte 
hingegen singen. Aber sie sagte: dii Konst! - und war eine Woltdame 
und Konstlerin, sehr verfiihrerisch, gewifi die Aphrodite von Neutit- 
schein. Na, sie war halt zehn Minuten lang faszinierend, aber der Ma- 
rischka war doch mehr fiir die kleine Lerche, obwohl die Woltdame 
ein goldenes Zigarettentascherl urns Handgelenk trug, was eine ganz 
neue beriickende Erfindung ist. Half nichts. Das Orchester seufzte: 
Klapperstorche. Dann kamen griinweifirote ungarische National- 
kostiime auf die Biihne, und die Dame neben mir sah mich triumphie- 
rend an. Ich sagte: Das ist ein hiibscher Marsch! Mein Freund, der was 
von Musik versteht, sagte: Ja, er spricht eine interessante fremde Spra- 
che - aber er sagt in ihr lauter Banalitaten! Die Dame sagte: psssst! 
Dann sagte der Marischka wieder: kleine Lerche; und sie ging mit ihm 
in die Stadt, und er erlag dann doch der Woltdame; und an einem 
Aktschlufi saf^ sie betriibt da, und es verklang lyrisch, und am anderen 



14 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aktschlufi safi wieder er betriibt da, und es verklang lyrisch, und die 
Dame wurde weinerlich, nicht einmal der lustige Bauer Tautenhayn 
heiterte sie auf, obwohl zwei beriihmte Librettisten mindestens ein 
Jahr lang iiber jeden Witz nachgedacht hatten. Es war sehr traurig. 
Man dachte an die armen Soldaten im Schiitzengraben, die vielleicht 
sterben miissen, ohne die neue Lehar-Operette gesehen zu haben. 

Der Friede, 5.4. 1918 



GOLKONDA 



O Anuradhapura, vom Urwald Ceylons erdrosselte Konigsstadt, die 
der bunte Dschungel umringelt wie eine mordende Schlange! O 
Steine von Golkonda, schweigende Gerippe im hohen Gras! 
Warum tauchen mir durch den blutigen Nebel hindurch diese Bilder 
auf, die ich vor den entsetzlichen Jahren sah? 

Wir standen zwischen den Triimmern Golkondas, in einer grofien 
Stille. Auf den Baumen hohnten zahnefletschende Affen. Aus den 
unendlichen Ruinen, die einmal Strafien waren, lustige Platze, 
Heimstatten der Burger, ragten aufrecht und unversehrt hohe Kup- 
peln empor, die Graber alter Sultane, und die Minarette der Mo- 
scheen. 

Ein farbiger Fiihrer sagte: Hier sehen Sie, Ladies und Gentlemen, 
die beriihmte Stadt Golkonda, deren Name einmal Glanz und 
Reichtum bedeutet hat. Der Konig von Golkonda, Sahib, hat einen 
Krieg angefangen gegen Machtigere - hier liegt vor ihnen die Stadt, 
die Aurengzib vernichtet hat, Er war ein frommer Fiirst und hat alle 
Kulturdenkmale geschont, die hohen Kuppeln der Sultansgraber und 
die Tiirme der Gotteshauser. Seine Hoheit, der Nizam von Haider- 
abad (-ich dachte: der komische Potentat, in dessen Thronsaal ich 
das Oldruckbild der Paladine WilhelmsL sah und in dessen Mar- 
chengarten die Gipsfigur steht »Bruderchen und Schwesterchen un- 
ter dem Regenschirm«) - seine Hoheit, der Zizam, la£t diese Bauten 
sorgsam unterhalten, weil sie eine Sehenswiirdigkeit sind. Aber es 
war, Ladies und Gentlemen, eine lebendige Stadt, Kinder spielten in 
den Strafien, Manner arbeiteten, Frauen liebten — Man sprach von 



1915-1918 15 

Golkonda, wenn man von Glanz sprechen wollte, von Lebensfreude. 
Jetzt wohnen im Gemauer der Schakal und die Kobra — 
Warum verfolgt mich die Reiseerinnerung? 

Der Frieda, 13. 12. 1918 



I9I9 



DER REGISSEUR 



Der Regisseur ist ein Mann von vielen Gaben, auch Morgengaben, die 
er in der Nacht ausgibt. Er ist glattrasiert wie ein Schauspieler, manch- 
mal ist er es auch wirklich, meist tut er nur so. Er ist ein Maler, der 
nicht malt, ein Komponist, der nicht komponiert, ein Musiker, der 
nicht spielt, ein Priester, der nicht predigt, ein Sanger, der nicht singt. 
In der Hauptsache aber ist er Kritiker, der stets und aus Prinzip kriti- 
siert. Er versteht die Seele des PubHkums, Hest die Gedanken sogar 
derjenigen, die nicht denken, was er dafiir selbst sehr ausgiebig be- 
sorgt. Er kiimmert sich um jeden Schmarrn, den er dem Publikum 
gewissermafien mundgerecht macht, und das ist viel! . , . Er hat ein 
scharfes Auge, das alles sieht, selbst das, was verborgen bleibt, und sein 
Ohr vernimmt den Kulissentratsch, auch wo dieser nicht hinter Kulis- 
sen seine Bliiten treibt. Der Regisseur ist ein Soil im Reiche der Film- 
kunst, allwissend, allsehend, allmachtig, nur leider nicht auch allgiitig 
und allgerecht. Denn das Menschliche, AUzumenschliche ist auch seine 
Achillesferse, und das Ewig-Weibliche zieht ihn haufig in jene Gegen- 
den hinan, die aufier Jupiter kein anderer Gott je betrat . . . 

Die Filmwelt, 7. 3. 19 19 



FILM IM FREISTAAT 



Ein bekannter Kinoschriftsteller erzahlt in einem Buche iiber Filme 
einige echte Zensorenstiickchen und gibt Kinoschriftstellern folgenden 
guten Rat: »Politische Beziehungen sind stets zu vermeiden. Die Be- 
zeichnung >Fiirst< ist verpont, hierfiir ist >Prinz< zu gebrauchen . , ,« 
Die AUgewalt des Rotstiftes erstreckte sich namlich nicht nur auf Zei- 
tungen, Biicher, Broschiiren, Auch die Flimmerwelt des Kinos wurde 
vom Vormarzgespenst der Zensur beherrscht. Die Wirkung des Kinos 
auf das Volk, die ja bei weitem unmittelbar und starker ist als die Wir- 
kung von Zeitungen, wurde von den Vertretern des alten Regimes vol! 
gewertet und richtig eingeschatzt. Auch hinter den Kulissen des Kinos 
stand Tarttiffe mit drohendem Zeigefinger. Ein Kufi konnte unter Um- 



20 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

standen einen g'schamigen Zensor wiitend machen. Ein Ehebruch er- 
schien dem Rotstift zuweilen als eine ungeheure Gefahr fiir die Moral 
des Publikums. Die Darstellung eines allerhochsten Lebens gar bedeu- 
tet ein Riitteln an den Grundfesten des Staates. »Die Bezeichnung 
>Furst< ist verpont . . .« Aber dafiir durfte man »Prinz« schreiben, um 
die Illusion des Marchens zu wahren, als geschahe die Begebenheit im 
Lande. Nirgendswo. Die Wirkung war ja dieselbe, manchmai sogar 
noch starker. Denn wie der Dramatiker, so wurde auch der Kino- 
schriftsteller von der Zensorenkraft, die stets das Bose woUte, aber fast 
stets das Cute schuf, zu Spitzfindigkeiten angeregt, die es ermoglich- 
ten, dem Publikum alles verstandlich zu machen und dem Zensor hin- 
ter dessen Riicken einen Schabernack zu spielen. 
Heute ist natiirlich auch der Kinodramatiker frei. Er darf von »Fur- 
sten« schreiben, soviel ihm behagt, ohne von »Prinzen« sprecheri zu 
miissen. Er darf allerhochste Ehebriiche darstellen, ohne daiS der Staat 
in Briiche ginge. Die ganze verlogene Kinokultur ist zu Ende. Die Ge- 
barde des »Schulter an Schulter« und »wir halten fest und treu zusam- 
men« ist ausgespielt. Ein Erzherzog im Schiitzengraben lafit den Zu- 
schauer heute gleichgiiltig. Eine hohe Frau, die gelangweilt in Kriegs- 
spitalern wandelt, ist unmodern. Und so ist mit Kaiser und Hofstaat 
auch eine Anzahl von Filmen unbrauchbar geworden. Der Film mu8 
Schritt halten mit dem Galopp der Weltgeschichte. So durfte heute 
keiner mehr das Kinodrama als »riihrend« empfinden, in dem ein 
Prinz einem Madchen aus dem Volke einen Heiratsantrag macht. Viel- 
mehr wird heute der Umstand, dafi dieses Madchen den Heiratsantrag 
annimmt, riihren. Ein Zeitalter, in dem Soldatenrate eine Hofbui^ 
durchsuchen, hat kein Interesse mehr an den Bewohnern eines Schlos- 
ses. In Zukunft haben Bolschewiki und Spartakisten die RoUe des un- 
vermeidlichen »Grafen« und »Barons« ubernommen. Die Revolution 
ist die kiinftige Beherrscherin der Kinowelt. Wie die Phrase aus Zei- 
tungen, so wird die verlogene Gebarde aus dem Kino verbannt. Es ist 
zu erhoffen, dafi die Natiirlichkeit auch auf der Leinwand zur Geltung 
kommt. Byzantinismus und Tartiifferie sind gegangen. Ihre Stelle neh- 
men ein: Vernunft und Sittlichkeit. 

So wird auch der Film im Freistaate eine Entwicklung nach aufwarts 
nehmen. Auch er wird eine neue Zeit im wahrsten Sinne des Wortes 
»anschaulich machen«. Die Zeitgeschichte bietet Stoff genug. Revolu- 
tionen und Putschversuche haufen sich wie die Wiener Strafienbahn- 



19 19 ^i 

unfalle. Konige gehen wie vormals Minister. (Ein Gliick, dafi sie nicht 
die Fahigkeit haben, wie diese wiederzukommen.) Mit einer Schnellig- 
keit hetzen einander die Ereignisse, als ware die Geschichte der Gegen- 
wart selbst eine Kinovorstellung. Und genau wie im Kino wechselt 
tiefste Tragik ab mit urkomischer Heiterkeit. Das Leben erfindet Ver- 
wicklungen, Hohepunkte, Peripetien und Katastrophen, wie sie die 
kiihnste Phantasie eines Filmdramatikers nicht ausdenkt . . . Film im 
Freistaat? Vielleicht: Der Freistaat - ein Film?! . . . 

Die Filmwelt, 21. 3. 1919 



MENSCHLICHE FRAGMENTE 

Der Zeitgenosse 

Das war einmal Mensch. Nannte sich Ebenbild Gottes, Krone der 
Schopfung, und wandelte aufrecht und mit den Ful^en durch den 
Staub, aus dem er gemacht war. Er ging freier als der Lowe, blickte 
mutiger als der Tiger und erhob seine Augen zu dem Fluge des Adlers 
und zu den Gestirnen des Kosmos . . . 

Was ist das? Fabeltier, Insekt, Reptil sagenhafter Vorzeit? Der Ober- 
korper waagrecht, die Arme seitlich nach aus warts gebogen, in jeder 
Hand einen Stab, das Gesicht parallel zum StraiSenpflaster: ein Vier- 
fiifiler. Warum steckt es in einer Kleidung, die man den Rock des Kai- 
sers nannte, als dieser noch Direktor der Irrenanstalt: Vaterland war 
und »sein« Rock Zwangsjacke? Warum ist dieses Geschopf nicht nackt 
und behaart wie andere Tiere? Warum fiihrt es nicht ein Mensch an der 
Leine? Warum tragt es am Hals keine Marke? Fiirchtet es nicht den 
Waffenmeister? 

Es ist Mensch! Mensch mit menschUchem Antlitz, mit einem Hirn, das 
denken, phantasieren, erfinden, traumen, arbeiten, wagen, schaffen 
kann! Mensch, aus den Niederungen des Heldentums und der Kano- 
nenfutterage mit gebrochenem Ruckgrat und geborstenen Nerven- 
strangen zuriickgekehrt in die Heimat. Seht, wie er torkelt! Sein Gang 
ist ein Zickzack, mifilungene Karikatur eines Blitzes. Sein schlottern- 
des Gebein scheppert, wenn es an die Mauer stoEt, und zuckt im nach- 
sten Augenblick, wie im Ekel von der steinernen Wand zuriickge- 



22 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schleudert, an den Rand des Trottoirs. Er weifi nicht, was der nachste 
Augenblick ihm in den Weg schickt. Er kennt keinen Weg. Nur eine 
Richtung, vages Traumbild einer »Direktion«, Folge der militarischen 
und unzuverlassig wie diese . . . 

Was ist das? - Fragment, Uberbleibsel eines Menschentums, das ju- 
beln und weinen, herrschen und niederknien, befehlen und flehen 
konnte. 

Im wirren Jammer seines Zickzacks Symbol einer Gegenwart, die mit 
gebrochenem Riickgrat zwischen Revolutionen, Weltanschauungen 
und Gesellschaftsordnungen torkeit. Was bleibt Ihr stehen, Zeitge- 
nossen? Seht! Es ist »Nervenschock und Ruckgratbruch«: Euer Spie- 
gelbild . . . 



Der Gast 

In der Gemeinschaftskiiche sitzen sie an weifi gedeckten Tischen und 
tauschen sich Sattheit vor mit Markenabgabe, Trinkgeldern und Pa- 
pierservietten. Die Gemeinschaftskiiche ist Ruhepunkt im Wirrsal der 
Stunden, Fata Morgana eines Mittagstisches, Vision eines standesge- 
mafien Hungers. Aber einer ist, der hat keinen Ruhepunkt, keine Vi- 
sion, keine Fata Morgana. Er hat nur Hunger. Er kommt tagUch um 
dieselbe Stunde, flackernde Begehr in den Augen, mit der gespenster- 
haften Lautlosigkeit eines vom Grabe Auferstandenen. Er griifit 
nicht, bittet nicht, fordert nicht. Er kommt nur, steinerner Gast mit 
der Menageschale, und sein Kommen ist Drohung und Gebet, seine 
Lautlosigkeit Befehl . . . Fiir eine Weile erstarren die, die an dem 
Traumbild von einem Mittagstische sitzen. Ihr Reden, das den Zweck 
hatte, Gemiitlichkeit des Sattseins vorzutauschen, verstummt. Es gibt 
noch Schlimmeres: Einer ist, der hat keinen Ruhepunkt, keine Fata 
Morgana, keine Vision . . . Er hat nur Hunger. Er ist selbst Hunger. 
Hunger im Korpus eines menschlichen Fragments. Aus diinnen, aus- 
gefransten Uniformarmeln hangen grobknochige, rohe Hande mit 
dick angelaufenen, blauen Aderstrangen schlaff herunter. Hande, de- 
ren Vergangenheit Arbeit und An griff hie£; ihre Gegenwart ist Bet- 
teln. RotblaugeschwoUene Fiifie quellen aus den Triimmern eines zer- 
rissenen Stiefels hervor. Fiifie, deren Vergangenheit Zielschreiten und 
Wanderung war; ihre Gegenwart ist Schleichen. Er kommt jeden 



19 19 23 

Tag. Lautlos und unerbittlich kommt er, der Hunger, gerade, wenn die 
andern dabei sind, ihn zu verleugnen . , . 

Prager Tagblatt, 17. 4. 1919 



DIE INSEL DER UNSELIGEN 

Ein Be such in »St€inhof« 

Da liegt sie, die Gartenstadt der Irrsinnigen, Zufluchtsort an dem 
Wahnsinn der Welt Gescheiterter, Heimstatte der Narren und Prophe- 
ten, Goldregen leuchtet iiber weifiem Kies, Kastanien haben festlich 
leuchtende Knospen angesteckt, und Lerchengeschmetter prasselt nie- 
der aus blauen Liiften. Friedlich im Friihling und blau gebettet ist die 
Stadt mit dem lachelnden Antlitz und dem vergramten Herzen. Die 
Hauser sind alle gleich gebaut und heifien »Pavillon«, haben romische 
Ziffern an der Stirnseite und fest verschlossene Pforten. Um manche ist 
ein Garten gebaut, und dort lustwandeln, sitzen, laufen, stehen die 
Hausbewohner herum. Es ist gerade die Zeit, da sie an die Luft gefiihrt 
werden. Eine Frau halt beide Hande waagrecht vor sich hingestreckt, 
wahrend sie auf und ah geht, rastlos, unermiidhch, immerzu, summt 
sie ein melanchoUsch-monotones Lied. Offenbar glaubt sie, ein Kin- 
derwagerl vor sich herzuschieben. Ein Mann hockt auf dem Boden 
und miiht sich vergeblich, deutliche Kreise in die noch harte Erde zu 
zeichnen. Ein anderer bewegt die Fauste, dreht eine Faust nach innen, 
halt die andere waagrecht und still und verfolgt aufmerksam jede seiner 
eigenen Bewegungen. Aber um andere Hauser ist es still, da ist kein 
Garten, Das Haus der Tobsiichtigen, der Schwerverbrecher und Breit- 
wieser-Kumpane ist dunkel und drauend, hat fiirsorgliche, feste Eisen- 
gitter, durch die von Zeit zu Zeit eine grinsende Menschenfratze her- 
aussieht. Das Haus der Idioten ist dunkel, Triibsinn und Schwermut 
iagern iiber dem ganzen Trakt. Innen aber ist es hell, hat viele Glastii- 
ren, durch die die Sonne teilnahmsvoll ihre Stiefkinder besucht. Besu- 
cher kommen. Frauen, alte, junge, vergramte, heitere, gleichgiiltige 
und bekiimmerte, Alle tragen grofie Taschen, Pakete, Liebesgaben. 
Erst muE man zum Inspektionsarzt, bekommt einen blauen Zettel, 
geht in das betreffende Haus und lautet an. Ein Warter offnet, nimmt 



24 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

den Zettel ab. Dann kommt das Wiedersehen. Manche Kranke sind 
erfreut iiber den Besuch, manche sind verstort, nichts wissen woUend, 
die einen iachen, die andern weinen. Aber fast alle, die ich sah, durch- 
suchen zuerst die Taschen, die meisten freuen sich mehr iiber das Mit- 
gebrachte als iiber den Besuch. 



Hunger 

Jawohl, Hunger. Auch hier hat er seinen Einzug gehalten. Ein schon 
genesener Patient, der jetzt mit dem Schreiben der Krankengeschich- 
t€n seine Langeweile totzuschlagen bemuht ist, erzahlt mir, dafi Hun- 
ger und Unterernahrung oft Geisteskrankheit hervorrufen und dafi 
gerade in letzter Zeit haufig infolge Hungers tobsiichtig Gewordene 
eingehefert werden. Die Nerven haben weniger BlutzufluC, sind nicht 
geniigend »geolt«, und die Raderchen dieser gotthchsten aller Maschi- 
nerien geraten in Verwirrung. Der eine verdachtigt seinen Hausgenos- 
sen, dafi sie ihm das ihm gebiihrende Essen verweigern, um es sich 
selbst zuzufiihren, wird tobsiichtig, schlagt drauflos. Ein anderer ver- 
liert die Fahigkeit zu denken iiberhaupt, starrt triibe vor sich hin: Er ist 
hungrig. Dem ist in der Anstalt freiUch wenig geholfen. In der Friih ein 
fragwiirdiger »Schwarzer«, zu Mittag eine Briihe, Kraut oder Riiben, 
zum Nachtmahl noch einmal Riiben. Erst in den letzten Tagen ist das 
Essen wieder etwas besser geworden. Heute ist gerade ein Fleischtag. 
Es gelingt mir, einen Speisezettel zu bekommen, ich zeige ihn einem 
Patienten. Er schiittelt den Kopf: »Siifikraut?! Ich wei£, es wird wieder 
Sauerkraut werden. Und mit dem Fleisch ist es auch nicht weit her!« 
Aber selbst wenn - es ist nicht alle Tage Fleischtag, es gibt vier Klas- 
sen, und auf die Patienten der vierten Klasse kommt Hunger- statt 
Fleischportion. Ihr Ungliick ist im ailgemeinen das gleiche - ihre Kost 
nicht dieselbe. Ich lasse hier den Speisezettel folgen: 



III. Klasse 



Speisenfolge 
fiir Sonntag, den 12. April 


1919 


Mittags : 


Abends: 


Graupensuppe 

Rindfleisch 

Sauerkraut 


Gulasch 
Haferreis 



19 19 



25 



IV. Klasse 



Militar: 



Pflegepersonen: 



Traktpfleger: 



Graupensuppe Siifikraut 

Gulasch 

Sauerkraut 

Graupensuppe 

Rindfleisch 

Sauerkraut 

Graupensuppe 

Rindfleisch 

Sauerkraut 

Broselnudeln 

Wien, am ii. April 19 19 



Siifikraut 



Gulasch 
Graupen 



Interviews 



Ich habe von einigen interessanten »Fallen« gehort, und ich lasse mich 
bei ihnen anmelden. Ob der Herr Doktor bereit ware, mich zu emp- 
fangen? Jawohl, sehr gerne. Ein groEer blonder Mann, glattrasiert, mit 
ausdrucksvollen Ziigen, sympathischen blauen Augen, empfangt mich. 
»Dr, Theodosius Regelrecht, Advokaturskandidat«. Seinen Namen hat 
er abgelegt, er will iiberhaupt von seiner Familie nichts wissen, er heifit 
»Regelrecht« und damit basta. Er schreibt an seinen Memoiren, be- 
hauptet, viel erlebt zu haben, und ist jedenfalls eine Personlichkeit. 
»Sie gehoren zur Papierverwertungsbranche?« Seine erste Frage ist et- 
was verbliiffend, ich erwidere mit einem kleinlauten »Ja«. »Ich habe 
also die zweifelhafte Ehre«, fahrt er fort, »in Ihnen einen Teil jener 
unmafSgeblichen Meinung zu sehen, die man die >offentUche< nennt? 
Sie sind einer jener >freien Berufe<, die sich infolge eines fatalen Verse- 
hens der Natur nicht am Strich anbieten konnen und es infolgedessen 
iiber oder unter dem Strich tun! Nun, stellen Sie Ihre Fragen?« »Wie 
denken Sie liber die poiitische Lage Deutschosterreichs, Herr Dok- 
tor?* »Deutschosterreich ist ein kaiserloses Kaiserreich, aber keine Re- 
publik, Reichsprasident, Staatskanzler, oder wie das Oberhaupt heifit, 
wiirde sich zum riicksichtslosesten Bolschewismus bekehren um den 
Preis - einer Konigskrone. SamtHche ehemaligen osterreichisch-unga- 



l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

rischen Nationen schliefien sofort Frieden und Donaufoderation, 
wenn man ihnen gestattet, noch einmal an einem Kaiserjubilaumsfest- 
zug teilzunehmen. Samtliche Zeitungen wiirden den Staatsanwalt - ich 
glaube, er hiefi Dr. Mager - mit einem wahren Grubenhundefreuden- 
geheul begriifien, wenn ihnen gestattet wiirde, die Rubrik >Hof- und 
Personalnachrichten< wiedereinzufiihren. AUe Telepathen und Ring- 
kampfer verlieren sofort ihr ganzes Publikum, wenn irgendeine Ho- 
heit noch einmal geruht, vor einem Grinzinger Kriegsspital wieder 
vorzufahren, und die Sehnsucht der Wiener nach der Burgmusik ist so 
uniiberwindhch, dafi sie aus Mangel an dieser Kommunistenversamm- 
lungen abhalten.« »Glauben Sie an den Kommunismus, Herr Dok- 
tor?« »Er kann kommen, aber wenn er kommt, wird er ein Kommu- 
nismus mit einem >goldenen Herzen< sein. Auch in Budapest ruft man 
ja >Eljen KHn!< nur deshalb, weil man nicht mehr >Eljen Kiralyi!< rufen 
kann!« »Glauben Sie an die Wiederkehr der Monarchic ?« »Was ist das 
fiir cine Frage? Kommunismus oder Monarchic - beides ist deutsch- 
osterreichisch, und beide sind nicht. Im iibrigen habe ich mich lange 
genug aufgchaltcn. Bcrichten Sie dem Irrenhaus, das sich >Welt< nennt 
und fiir das Sie schrciben, dafS ich, Dr. Theodosius Rcgclrecht, keines- 
wegs gesinnt bin zuriickzukehren. Ich bin nicht irrsinnig!« 
Damit ging ich. Mein nachster Besuch gait einem wiirdigen, graubarti- 
gen Herrn, der cine bunte Papierkrone auf dem Kopf tragt und sich 
den »letztcn Kaiser« nennt. Offenbar Hest auch er Zeitung, denn er 
ruft immer wieder: »Mich werden sie nicht absetzen!« Seine traurige 
Majestat ist unnahbar, also ging ich weiter. 

Im Korridor eilt ein kleines, diirres Mannchen auf mich zu. »Dr. Rc- 
gclrecht hat mir von Ihnen erzahlt. Ich bin bercit, stche Ihnen zur 
Verfiigung. Ich habe gehort: Die Monarchic ist aufgelost, der Reichs- 
rat nach Hause geschickt, und in der Nationalvcrsammlung hat ein 
Staatssekretar cine Thronrede gehalten in Vertretung des Kaisers, den 
er zu dicsem Zwcck in die Schweiz geschickt hat. Oh, das Ende der 
Welt!« »Sind Sie nicht etwas zu pessimistisch?« »Ich? Im Gegenteil! 
Ich sche nur, daft sich die Welt zu neuer Anschauung bekehrt. Seit Jahr 
und Tag predige ich: >Die Welt steht auf dem Kopf.< Deshalb haben sie 
mich fiir verriickt erklart. Aber jetzt steht sie auf dem Kopf!« »Wie 
sind Sie hergekommen?« »Oh, ganz einfach! Sieben Kriegsanleihen 
hatte ich ruhig mitgezcichnct. Als man mich aber aufforderte, noch 
cine achte mitzumachen, bekam ich einen Lachkrampf und rief : >Die 



19 19 27 

Welt steht auf dem Kopf !< Hatte ich damals, wozu wohl mehr Anlafi 
gewesen ware, einen Weinkr ampf hekommen, man hatte mich einge- 
sperrt. So kam ich hierher und hatte durch einen monatelangen Ver- 
kehr mit Menschen, die reiche und grofie Ideen haben und die man 
deshalb >Idioten< nennt, Gelegenheit, meine Weltanschauung zu ver- 
tiefen. Ich rate Ihnen; Kommen Sie zu uns! Sie sind Schriftsteller, und 
es diirfte Ihnen schon gar nicht schwerf alien ! Denn die Arzte glauben 
einem niemals, daE man verniinftig ist. Ich verzeihe es ihnen: Ihr Stu- 
dium und ihr Verkehr mit KoUegen berechtigen sie zu diesem MiC- 
trauen. Aber kommen Sie zu uns, griinden Sie eine Zeitung. Ich will 
sofort abonnieren. Es soil eine satinsche Wochenschrift sein, und Sie 
brauchen keine Witze zu verfassen! Drucken Sie blofi psychiatrische 
Gutachten nach und behordhche Erlasse! Und jetzt leben Sie 
wohl!« . . . 



Abschied 

Offen gestanden: Er fallt mir schwer. Abend hiillt die Insel der Unseli- 
gen - oder SeUgen? - in blauen Dunst. Nur die Kuppel der von Otto 
Wagner erbauten prachtvollen Kirche glanzt noch heriiben Vielleicht 
hat er recht, der kleine Professor? Ist die Welt nicht ein ToUhaus? Und 
ist es nicht praktisch, sich rechtzeitig ein warmes Platzchen im »Stein- 
hof« zu sichern? Ich werde es vielleicht doch tun. Und - eine Zeitung 
griinden. Ich suche auf diesem Wege Mitarbeiter. . , 

Der Neue Tag, 20. 4. 1919 



DER TENDENZFILM 



Lehrmeister und Tugendblaser sind unsterblich. Da es heutzutage 
nicht mehr angeht, das Biihnendrama mit dem Lesebuch fiir Volks- 
schulen zu verwechseln und in jenem die Moral zu predigen, die fiir 
dieses vor^eschrieben ist, wurde das Kinodrama zur praktischen Pad- 
agogik ernannt, und der Tendenzfilm war da. Das Kino wird als mora- 
lische Schaubiihne betrachtet und ist ein Requisit der Volkserziehung 



28 DER TENDEN2FILM 

wie Rohrstab und Einmaleins. Es ist sehr lehrreich, auch an Vergnii- 
gungsstatten die bosen Folgen einer Teufelssiinde an der Haut eines 
anderen zu erleben, aber eine etwas unangenehme Uberraschung ist es, 
wenn ich zwanzig Jahre nach der Absolvierung der Volksschule mich 
ins Kino unterhalten gehe und dort die Fortsetzung des Lesebuches in 
lUustrationen eriebe. Dafi der Saufer ins Ungluck gerat, seine Familie 
zerstort, der Verbrecher erwischt wird, der Hinterlistige selbst in die 
Grube hineinfallt, der Geizhals verhungert, der Verschwender sich 
aufkniipft u.s.w., sind so allgemein bekannte Tatsachen, trotzdem sie 
so selten vorkommen, dafi ihre Darstellung im Film zu lehrreichen 
Zwecken vollkommen verfehlt erscheint, Wenn mich alle die zucker- 
siifien Geschichten des SchuUesebuches schon geniigend iiberzeugt ha- 
ben, dafi ihr Inhalt keineswegs den Tatsachen des Lebens entspricht, so 
wird eine glatte und plumpe Illustrierung dieser Geschichten iiberfliis- 
sig. Kein erwachsener Mensch wird glauben, dafi in dieser besten aller 
Welten Edelmut und Giite belohnt werden. Aber selbst auf die Gefahr 
hin, die Sittenpolizei an die Filmleinwand zu malen, behaupte ich, dafi 
ein Kinostiick, das hoheren Aufgaben als einer Pseudoerziehung ge- 
recht zu werden versucht, eine viel sittlichere Wirkung ubt denn ein 
tendenzioses Machwerk mit durchscheinender Philistermoral. Es gilt 
vor allem, die Klasse des Volkes asthetisch zu erziehen, und das heifit 
zugleich: moraUsch. Jener siifilich-fade Gefiihlskitsch mit dem Sitten- 
spriichlein als Hohepunkt des »Dramas« und Gipfel der »Kunst«, je- 
ner bekannte Ansichtskartenkitsch mit der goldenen Inschrift: »Ewig 
Dein!« und dem schmachtenden Augenaufschlag einer sentimentalen 
Gartenlaubenhauslichkeit mufi verschwinden. Das Kino mufi sich in 
den Dienst einer verniinftigen Volksaufklarung stellen, die nicht mit 
einem lacherlichen »Kinderschreck« vor die Massen tritt, sondern mit 
Mitteln arbeitet, die auf reife Menschen unmittelbare Wirkung aus- 
iiben. Wenn zu Beginn und wahrend des Krieges die Kinodramen vor 
Vaterlandsliebe und Kaisertreue iiberflossen, so war das nicht weniger 
bewufite Volksverfiihrung als die hochpatriotischen Leitartikel all- 
deutscher Blatter. Uberhaupt ist die Ausmiinzung des Kinowertes in 
Politik oder Parteipolitik Unfug und Unsinn. Es wird kein Zuschauer 
bekehrt und keiner gebessert. Er soil vor allem aufgekldrt werden. 
Und das nur mit Hilfe eines Films, der das Leben weder verzuckert 
noch verfolgt, sondern es getreu in einer wenigstens halbwegs kiinstle- 
rischen Fassung wiedergibt. Erst dann, wenn der Film nur die Tendenz 



19 19 29 

enthalt, die auch das Leben hat, wird jenes Ziel erreicht werden, das 
mit dem sogenannten »Tendenzfilm« nur verfehlt wurde und wird. 
Erziehung, meine Herren Filmautoren, nicht Moralpauke und - wenn 
moglich - Kunst statt Kitsch! 

Die Filmwelt, 2. 5. 19 19 



KNIGGE IM FILM 



Weltentriickt Hegt das kleine deutsch-mahrische Stadtchen, in das 
mich vor wenigen Monaten ein unerbittliches Schicksal und eine lokale 
Schneckenbahn entfiihrt hatten. Das alte Rathaus mit dem etwas 
verungliickt aussehenden gotischen Turm, ein biederes Gasthaus mit 
breitem Eichenbett aus guter, alter Zeit, ein behabiges Kaffeehaus mit 
althergebrachten Stammtischen, die Wande mit wohlmeinenden 
Spriichlein tapeziert - das alles bereitete mich auf ein gemachUches, 
wenn nicht spie{^burgerlich-solides Stadtleben vor, das ich einem uner- 
forschlichen Ratschlufi riicksichtslos konsequenter Gotter zufolge 
einige Wochen lang fiihren sollte. AUein schon der nachste Morgen 
brachte eine Uberraschung. Es gab einen regelrechten Vormittags- 
korso auf dem rechteckigen Rathausplatz, den eine bunte Menge be- 
volkerte. Junge Damen in modernsten Gewandern, Herren und Herr- 
chen in Kleidern nobelster Fasson und grofistadtischen Zuschnitts, 
und selbst ein Herr mit einem Monokel. Man denke: ein Monokel! 
Auch benahm sich die Jugend auf Strafien und in offentlichen Lokalen 
durchaus nicht kleinbiirgerUch-manierlich, sondern mit Schwung und 
einer geradezu akkuratessen Eleganz. Lange dachte ich iiber die 
Griinde dieser Sittenfeinheit in S. nach. Bis mich ein regnerischer 
Sonntagnachmittag ins Kino und damit auf die Losung des Ratsels 
brachte. Ich sah dichtgefiillte Reihen und aufgeregte Premierenstim- 
mung beim PubHkum. Junge Madchen mit gliihenden BUcken. Gym- 
nasiasten mit wiirdevollem Ernst, gespannt den Ereignissen des Dra- 
mas folgend. Jede Handbewegung, Jeder Augenaufschlag des Helden 
oder der Heldin wurde von der zuschauenden Jugend geradezu ver- 
schlungen. Und ich verstand den erzieherischen Einflufi des Kinos auf 
die Jugend dieser Kleinstadt. Plotzlich war ich sehend geworden: Da- 



30 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

her hatten die Frauen dieses kokette Mienenspiel, jenes hoheitsvoU- 
herablassende Kopfnicken, wenn man sie griifite. Das kleine Lauf- 
madel benahm sich wie eine Dame. Die blonde Verkauferin des 
Papiergeschaftes in der Ecke mimte eine Prinzessin. Der Alltag war 
Film geworden. Das niichterne kleine Ereignis - Szene. Und sie selbst, 
all diese kleinen Mannlein und Weiblein, waren Helden und Heldin- 
nen. Asta Nielsen und Henny Porten, Harry Walden und Psylander in 
zehntausend Auflagen. - In Tausenden solcher abseits liegenden Stadt- 
chen mag wohl das Kino die Rolie einer Erziehungsanstalt spielen. 
Eine kiinsdiche Fata Morgana, spiegelt es dem nach der »grofien Welt« 
diirstenden kleinstadtischen Lehrmadel das »Leben« vor, jenes Leben, 
das ihm vielleicht immer unerreichbar bleiben wird. Aber aus schatten- 
haften Gestalten und Geschicken, Szenen und Handlungen in der 
Filmwelt der Leinwand baut sich der kleine Mensch ein zweites zivili- 
siertes, manchmal sogar kultivierteres »Ich«, in dem er aufzugehen sich 
bemiiht und manchmal sogar aufgeht. Was im Jahrhundert des Buches, 
wie R.M. Meyer das 19. Jahrhundert nannte, das Werk der gelesensten 
Modebiicher vollbrachte, im Jahrhundert der Technik vollbringt es das 
Kino. Kiirzer und oft anschaulicher. Das Kino als anschaulich gemach- 
ter Knigge, Oder ein Knigge mit Kinoillustration. - Wie soil ich mich 
benehmen? - Ich werd' mir die Henny Porten anschaun! . , . 

Die Filmwelt, 16. 5, 1919 



Wiener Symptome 



MAI UND MAIS 



Fast hatte ich geglaubt, es ware ein fataler Druckfehler im himmlischen 
Verordnungsblatt, Als der Mai trotz Abschaffung der Sommerzeit 
doch iiber die Welt kam und das Maisbrot auch noch auf den Tisch, 
kostete ich noch einmal das erhebende Gefiihl des Durchhaltens in 



1919 31 

vollen Ziigen und wiirzenden Bissen, schwamm ich in goldgelben Re- 
miniszenzen aus der Zeit, in der man Gold fiir Maisbrot gab, das 
schwer verdaulich war wie ein Kriegsbericht und zwerchfellblahend 
wie ein A-Befund . . . 

Es kommt just zur rechten Zeit: Dieweil Paris Kriegsschliisse diktiert, 
erinnert sich das Wiener Volksernahrungsamt nicht mit Unrecht des 
Mai, der jahrelang »Offensive«, und des Maises, der »Volksnahrungs- 
mittel« hiefi, und unternimmt mit dem letzteren die erstere gegen die 
Wiener Bevoikerung. Keiner weif^, woher er kam, der Mais. Name und 
Art nur kennen wir zur Geniige. Stammt er etwa noch aus den Vor- 
ratskammern des ukrainischen Brotfriedens? Drischt man ihn aus den 
Ahren jener Felder, deren Ahren man zerstampft? Oder ist er eigens 
zuriickbelassen aus jenen Jahren straffster Drosselungen als sinniges 
Maisgeschenk zum Zeichen des Friedensschlusses? Oder als Ab- 
schiedsgrufi einer aus der Kommune scheidenden Partei? Etwa: Im 
Weltkrieg habe ich dein, o Wiener, gedacht. Drum hab' ich dir zum 
Frieden dies dar^ebracht?! . . . 

Es ist jedenfalls ein kunstvoll dramatischer Aufbau in der Wiener Brot- 
versorgung der letzten Wochen zu sehen. Nach dem Hohepunkt des 
WeiEbrotes die Peripetie des Maisbrotes. Allen dramatischen Regeln 
zum Trotz unterbleibt hoffentlich die Katastrophe. Denn dieses gold- 
gelbe Verhangnis ist an und fiir sich schon sinniger Abschluf^ einer 
gastrischen Tragodie, auf gefallenem Vorhang ein Fragezeichen, an Pa- 
ris, ernste Mahnung an iibermiitig gewordene Zwolffingerdarme, 
Schlufiakkord der 42-Zentimeter-Haubitzensymphonie, Punkt und 
Pause hinter der ganz ungeniigend ausgefallenen Hausarbeit iiber die 
grof^e Zeit . . . AUes in allem: ein Wiener Symptom . . . 



Schokolade 

Ich sah eine Rippe um zwei Kronen vierzig in der Auslage. Ein blon- 
des Maderl, barfuf^, Hunger in den blauen Kinderaugen, stand davor. 
Im Anblick der schwarzbraun glanzenden Schokoladerippen wurde 
Fames vulgaris (gemeiner Hunger) zu befliigelter Sehnsucht, gierig 
korperliches Verlangen zu beschwingtem Himmelanstreben, animaU- 
sche Angelegenheit zur rein seehschen. So etwa sieht der Himmel die- 
ses Kindes aus: braun und mit Schokolade tapeziert. Und diese kleine 



32 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Rippe um 2 Kronen 40 ist die Schwelle, liber die man ins Himmelreich 
tritt . . . 

Schokolade! Sie tragt eine Ziircher Marke und ist sicher durch den 
Schleichhandel in die Auslage geschmuggelt worden. Ich aber vergebe 
und vergesse in diesem Augenbiick alien Schleichhandlern der Welt ihr 
Preistreiben flir blofien Anblick. Dem Feinde neben mir ist die Rippe 
die Schwelle zum Himmelreich. Mir - Schwelle am Tor der Zukunft. 
Durch wie viele Lander mit Grenzen, VerzoUungen, Repetitionen, Vi- 
dierungen, Visitationen mu{5te diese Rippe wandern, ehe sie ins Schau- 
fenster des Zuckerbackers Thomas Helferding gelangte! Und nun ist 
sie da: AUer Volkerfeindschaft, Seelenverhetzung zum Trotze, ein 
schwarzbraun glanzendes Zeichen ewiger Volkergemeinschaft! 
Still standen wir da und schmeckten die Herrlichkeiten schlaraffenlan- 
discher Zukunft. Unsere Augen schimmerten in Liebe, Sehnsucht und 
Verehrung. Unser Blick ward Gebet. 

Dann ging ich in den Laden und kaufte eine Rippe. Brach sie sorgfaltig 
entzwei und gab dem barfiifiigen Madchen die Halfte. Und afi die an- 
dere selbst. Und wetteiferte mit dem Kinde im Kindsein . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 18. 5. 19 19 



KAFFEEHAUSFRUHLING 



Er offenbarte sich bisher blofi darin, daf5 die Kaffeesieder Preise trie- 
ben, die tagliche Ausgabe fiir Fruhstuck und Jause in die Hohe schofi, 
im »Schwarzen« lenzlichgeheime Safte goren, die Ausbeutung des Pu- 
blikums ungeahnte BlUten trieb und das Geschaft iiberhaupt/ZoWerte. 
So sieht der Wiener Kaffeehausfriihling aus. In der letzten Woche kam 
noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten« 
besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf 
dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtge- 
flecht oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den 
Gasten gegeniiber bedeuten noch einige Blumentopfe und jene griinen 
Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Friihjahr nur die Kaffeesieder 
kamen. Und somit ist alles fiir die Sonne geriistet, die leider »infolge 



^9^9 33 

Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachnchten« von der Stern- 
warte nicht angekiindigt werden kann und sich ohne zuverlassige Pro- 
gnose nicht recht aus den Wolken hervortraut . . . 
Sieht man diese gottverlassenen Cafeveranden an, so drangt sich einem 
fast unwillkiirlich der Vergleich auf mit nie erfiillten Friedenstraumen, 
verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umge- 
kehrten Tische mit den umgestiilpten Korbstiihlen, die vor Nasse wei- 
nen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ahnlich, in der alles auf 
dem Kopf stiinde, wenn auch nur etwas einen Kopf hatte. Die Luft, die 
man eigentlich von Rechts wegen hier draufien geniefien soUte, ist er- 
fiillt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, 
und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden wiirde, 
halt leider immer noch die Herzen der Menschen krampfhaft um- 
schlossen. So wird, was dereinst Fortsetzung gemachHchen Famihenle- 
bens und gemiitlicher Tarockpartien auf die StrafSe war, heute eine 
recht ungemiithche Verquickung einer ungemiithchen Offenthchkeit 
mit privaten Famihensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur 
mehr ein iiberfliissiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein 
noch ein Verkehrshindernis wie Straf^enbahn, Post, Telephon und an- 
dere »Verbindungsmittel«. Fur Kaffeesieder hat sie allerdings einen 
Vorteil: Sie ermoglicht ihnen, unangenehme Stammgaste, die iiber die 
Preiserhohung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des 
Wortes - an die Luft zu setzen . . . 



Nachtlehen 

Nacht fiir Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht fiir Nacht sehe ich 
dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fahrt der Leichenwagen 
vor, unerbittlich, nlichtern, geschaftsmaf^ig, um diejenigen zu versar- 
gen, die ehemals versorgt waren. Man weif^ wirkiich nicht, was vorteil- 
hafter ist. Es konnte auch ein boshafter Druckfehler sein . . . 
Ein paar Hauser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder 
der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straf^enbahnwagen, 
dessen riickwartige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz tragt. Die 
Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glattge- 
hobelten Holzkasten, die eine verschwommene Ahnhchkeit mit Sar- 
gen haben, hegen die sezierten, gepriiften, durchstudierten Leichname. 



34 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Kasten um Kasten wird in den Strafienbahnwagen geschoben. Vollbe- 
laden mit zu wissenschaftlichen Experimenten hinaufavancierten Lei- 
chen fahrt die Strafienbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz 
schliefilich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gaste 
sich in stummer Liebenswiirdigkeit nicht auf die langst sezierten Hiih- 
neraugen treten . . . 

Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Graber 
geschaufelt? GeheimnisvoU vermummte Manner um ein flackerndes 
Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Stra- 
fienmitte, zwischen den Schienen der Strafienbahn, krempeln das 
ganze Pflaster auf. Schatzgraber etwa? Symbol waren sie dann, Repra- 
sentanz des deutschosterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank 
am Herzen, nach Schatzen grabt und froh ist, wenn es Regenwurmer 
findet, um sie zu verspeisen . . . 

Es sind weder Toten- noch Schatzgraber, sondern Arbeiter aus der 
Reparaturwerkstatte der stadtischen Elektrizitatszentrale, und ihr mu- 
sterloses nachtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Stra- 
fienbahnverbindungen. Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener 
Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern . . . 
Am Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. 
Taghch um die Stunde, zu der, den Lichtsparmafinahmen zufolge, die 
Nacht unerbittUch eintreten mufi, besetzt der Mann seinen Posten. Er 
ist eine Kombination von Salamutschl- und Wiirstelmann, eine Neu- 
bildung ungefahr, den geanderten Umstanden angepafit. Er verkauft 
Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im 
Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine 
frohe Zukunft weist. 

Denn so ist unser »Nachtleben« : Unsere Mitbiirger sterben und wer- 
den eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie un- 
ser Vaterland, die Auferstehung unseres Strafienverkehrs sieht einem 
Begrabnis verzweifelt ahnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein 
irrUchterlierendes Gasolinflammchen, das liber gesalzenem Amerika- 
speck und unerschwingUchen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde tau- 
melt . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 23. 5. 1919 



DIE MULLI! 



Plotzlich geschah es, dafi eine Frau aus einer Ecke des iibervoUen Stra- 
fienbahnwagens den Ruf ausstiefi: »Die Mulli!« Hatte sle: »Es 
brennt!« gerufen, die Aufregung ware viel geringer gewesen. Ich sah 
aus bleichen, bartstoppeliibersaten Mannskopfen gierige Heif^hunger- 
augen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Ha- 
bichtbUcke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, diirr 
und pergamenten wie Dorrgemiise, erstaunt, erschrocken, bebend wie 
vor einem Grofien, Ungeahnten, Schonen und doch Schauerlichen die 
Kopfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen 
der Grofien hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein diinner Strahl, 
weifi und fettgelblich wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens 
bedachtig und gemachUch rann. Die Milchkanne der Bauerin aus Stok- 
kerau war iiber die FiiEe eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Er- 
satzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als 
wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der 
Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spal- 
ten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon safien, hoben die 
FiiEe in die Hohe, aus Angst, in die Milch treten zu miissen. War es die 
Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus 
den Eutern der heiligen Lammer Mahabharathus? Was war das fiir eine 
Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und 
vor der die Leute auf die Banke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? 
Es war die Milch einer gewohnlichen sterblichen Kuh aus den irdi- 
schen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene 
Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit fiir die Grof^en, ein weif^es 
Silbermarchen von ungeahnten Geheimnissen fiir die Kleinen. Es war 
eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da 
die Krone noch einen Nahrwert hatte und die Milch eine Valuta. Es 
war Milch, gewohnliche, aufierordentliche, einfache, gottliche 
Milch... 

Es hat wenig gefehlt und ich hatte das erhebende Schauspiel erlebt, dafi 
gestofSene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anlei- 
hen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter iiberstandene, 
Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von 
ErnahrungsmaEnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden 



36 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

einer Elektrischen glatt und bauchlings ausgestreckt gelegen batten, 
um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hotzendorf geprie- 
sen, die ausgeronnene Milch zu schlecken . . . 



Trara! 

Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das 
Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer 
Ton von wunderbarer Melodic. Es klingt wie das Halali einer Jagd und 
das selige Trara eines Postilions. Es sind die Signale eines Autos; von 
dem ich vermute, dafi es Eigentum einer fremden Militarmission ist. 
Ich sage seinem Besitzer somit offenthch Dank. Das Signal ist hell und 
lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen, Komm mit, 
ruft es, schen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton 
vernebme ich die hellen Stimmen einer europaischen Zukunft: Liebli- 
che Maiennachte mit fliegenden Silberwolklein, Postilion, Abschied 
und Reise ins Marchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Passe iiberfliis- 
sig werden, Visitationen und Requisitionen aufgehoben werden, und 
ich fahre auf einer mondlichtiiberfluteten breiten Strafie durch die ro- 
mische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede 
Einreisebewilligung selbst nach Hiitteldorf-Hacking gelange . . , 



Die Politiky die Mddel und der 
italienische Stern 

Einmal, als die Zeit noch so grofi war, dafi selbst die kleinen Madel sie 
begriffen, waren patriotische Kokarden, Matrosenschleifen mit Na- 
men vaterlandischer Fregatten und Abzeichen, die man an Kriegsblin- 
den- und anderen Festtagen verkaufte, Schmuck und Zierat jener Miz- 
zis, Poldis, Fritzis und Franzis, deren Tagewerk mit Anbruch der 
Nacht begann und in der harmlosen Gesellschaft eines Leutnants in 
Erholungsurlaub vor sich ging. Heute, da eine neue Welt die alten Ko- 
karden unmoglich macht, erweisen sich alle diese kleinen Madel als 
grofie Staatsmanner, die die ^^zeichen ihrer Zeit besser verstehen als 
unsere Diplomaten die Zeichen. Der fiinfzackige italienische Stern in 
jenen Tagen, da die Italiener Katzelmacher hiefien, armseliges 



1919 37 

Schmuckstiick auf dem Rock italienischer Kriegsgefangener, schim- 
mert heute an den Blusen aller Mizzis. Er ist ihr Leitstern geworden, 
der ihnen auf dem Weg in die Hinterstiibchen italienischer Militarmis- 
sionen leuchtet, uns anderen mag er der Stern des Friedens sein, der am 
Himmel der - Geschlechterversohnung glanzt. An alien Ecken und 
Enden der Karntnerstrafie und des Rings taucht er in den Abendstun- 
den auf, und sein Schimmern bedeutet den italienischen Fremden: si 
parla italianol Die Wiener Gemiitlichkeit ist weit von den Mitteln ent- 
fernt, die im heiligen Lande Tirol Anwendung fanden. Der Wiener 
zitiert hochstens frei nach Schiller: An ihrer Brust sind ihres Schicksals 
Sterne . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, i. 6. 1919 



SCHUHRIEMEN, BITTE! 



Sinnbild und Uberrest einer GroEen Zeit, durch Teisingermethoden 
aus AUtagsmaterial schnellstens hergestelltes Heldentum, mit modern- 
ster Prothesenkonstruktion neu angelegtes und repariertes Ebenbild 
Gottes, aufgestellt an der StraEenecke, wo Kriegsgewinn und Jetzt sich 
kreuzen, schwingt ein Etwas von einem Menschen in der durch einen 
gutmiitigen oder boshaften Zufall nicht auf dem Felde der Ehre ver- 
bhebenen Rechten einen Bund Schniirsenkel. Statt auf Beinen, die an- 
dere Schniirsenkelverkaufer auf^er der Bronzenen und dem Karl-Trup- 
penkreuz zum Uberfluft auch noch nach Hause gebracht haben, steht 
dieser auf zwei hosenumschlotterten Prothesen. Mit der Leidenschaft 
jener Verzweiflung, der man es ansieht, daft sie ein Kind der Wiener 
Invalidenfiirsorge ist, schwingt er sein Bund liber den Hauptern ar- 
beits- oder beschaftigungsloser Passanten, schwingt sie siegreich, die 
schwarze Fahne des Elends. Schmettert immer wieder, immer wieder 
sein: Schuhriemen, bitte! in die Menge, als miil^te er diese zum Sturm 
anfiihren. Seine Schuhriemen sind unverfalschter Papierspagat - sonst 
hatte er sich schon langst aufgekniipft. Von friihem Morgen bis in die 
Nacht hinein kann man meinen Schniirsenkelverkaufer sehen. Sein 



38 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Bund bleibt immer gleich grofi, kein Mensch kauft Schniirsenkel aus 
Papierspagat. Aber unermiidlich schreit und fuchtelt dort an der Ecke 
das Fragment eines Menschen herum, flackernden Hunger in der 
Miene, Drohung und Gebet in der Stimme. 1st gar kein Schniirsenkel- 
verkaufer mehr, sondern Mahnbild und Prophet. Sein Schrei wird iiber- 
fahren vom Gekreisch der um die Ecke biegenden Elektrischen, seine 
Handbewegung weggewischt von der Geste des Profitgeistes. Um ihn 
herum feilscht Welt, Weib und Gewinn, Hnkswalzt Wien, die Stadt des 
Blaufuchses und des Kriegsbhnden . . . 



Der General 

Taghch um die Morgenstunde, zu der ein Pfeifendeckel zur Salzsaule 
erstarrte: Exzellenz, ich melde gehorsamst . . ., geht der General die 
Strafie entlang, frisch rasiert und backenbartgepflegt. In seinem Gang 
militarische Knappheit und Pseudozielbewufitsein, in seiner Haltung 
inhaltslose Dressur, Sein Auge noch so blitzblau wie damals, als er vor 
dem Feinde und zwischen beiden eine Brigade stand. Bemiiht, in die 
Zukunft zu sehen, sieht er Vergangenheit. Vergangenheit mit Marsch- 
musik, Donnerhall, Prinz-Eugen-Brucken, Gehorsam und Sklaven- 
sinn. Wenn ein Soldat an dem General vorbeikommt, bemiiht sich der 
Alte, nicht zu sehen. Er will nachsichtig sein und driickt ein Auge zu. 
Aber dann ist Bitterkeit, Leere, gahnender Weltraum, Grenze der Ver- 
nunft. Er war General, weil sie ihn Exzellenz nannten. Er war General 
im Gefiige der Brigade. Er war »komplett«, als ihn die anderen griifiten. 
Er war nie Individuum. Immer ein Bestandteil. Wie ein Knopf, ein 
Kolbenhals, ein Tornister, eine Wasserjacke. Er fand seine Erganzung 
im Gehorsam der anderen. Jetzt ist er Uberrest, Fragment, Brigadier 
ohne Brigade, Stratege ohne Dienstreglement, Herr ohne Diener. Aber 
Herr noch immer, mit der Gloriole einer tragischen Ironie um die Gene- 
ralskappe, standesbewufSt ohne Stand und ehrenhaft ohne Kodex . . . 



DIE GALGENFRIST 



Als ich eines Abends, wie es meine Gewohnheit ist, plinktllch und 
hochst loyal zehn Minuten vor 9 Uhr vor meinem Haustor ankam, war 
es - offen. Die fiir 9 Uhr festgesetzt gewesene Haustorsperre hatte auf 
meinen Tugendwachter, so sich »Hausmeister« nennt, einen so vor- 
trefflichen Eindruck gemacht, daf5 er, der typische Reprasentant alt- 
osterreichisch-gemiitlichen Konservatismus, der trotz Umwalzungen 
und Gotterdammerungen christlichsozial und konservativ gesinnt ge- 
blieben war, angefangen hatte, nicht nur mit der Zeit zu gehen, son- 
dern auch ihr vorauszueilen, Unter der Devise: »Zeit ist SperrsechserU 
hatte er schon um K9Uhr das Haustor geschlossen und Parteien, die 
zwischen ^9 und 9 Uhr kamen, ganz einfach warten lassen, bis es 
neun geschlagen hatte und kein Einwand mehr moglich war. Man war 
eben erst da, nachdem man seine Anwesenheit vom Herrn Hausmei- 
ster bestatigt erhalten hatte, zahlte seinen Obolus und schwamm in 
den Hades seiner gaslichterdrosselten Behausung. So kam es mitunter 
vor, dafi sich einige Mietsparteien vor dem Haustore angesammelt hat- 
ten und dafi ich mich anstellen muKte, um schlafen gehen zu konnen. 
Einmal hatte ich es zwar versucht, einen Haustorschliissel zu bekom- 
men. Ich ging zum Herrn Inspektor und sprach: Herr Inspektor, hal- 
ten zu Gnaden, da wir nun schon einmal in einer freien RepubUk 
schlafen zu gehn gezwungen sind, bitte ich, mir den Haustorschliissel 
zu meiner personlichen Freiheit gegen ein angemessenes Entgelt und 
Trinkgeld ausfolgen lassen zu woilen. - Aber der Herr Inspektor er- 
schrak vor dem Worte: personliche Freiheit und verweigerte mir den 
Schliissel. Also gewohnte ich es mir an, zehn Minuten vor neun Uhr 
nach Hause zu kommen, um erst fiinf Minuten nach neun nach Hause 
kommen zu konnen . . . 

An jenem Abend aber, da ich das Haustor offen fand, war ich in arger 
Verlegenheit. Dem Hausmeister konnte ein Ungliick passiert sein. 
Oder die personliche Freiheit war in der deutschosterreichischen Re- 
publik wirklich eingefiihrt worden. Oder der ganze Magistrat ist me- 
schugge. Oder es sitzen schon Bolschewisten im Gemeinderat. Oder 
das Haus, in dem ich wohne, ist soziaUsiert. Oder das Schlofi ist kaputt 
und funktioniert nicht. Ich zog also mein Sperrsechserl, ging in die 
Wohnung des Hausbesorgers und hub an: Werter Herr Hausmeister, 



40 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ich bitte sehr um Verzeihung, Sie diirften sich heute geirrt haben, da ist 
Ihr Sperrsechserl. »Na« - sagte der Gewaltige - »mir ham uns net geirrt. 
Wir sperren scho um zehne!« 

Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewahrung 
einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der 
neuen Zeit angeblasen? 

Ich komme jedenfalls seit damals erst um - halb elf Uhr nach Hause. Die 
Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann 
sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr 
beginnt der Einlafi. Denn seit die Haustorsperre fiir zehn Uhr festge- 
setzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend 
und seine eben erwahnte Devise beibehaltend, erst um - neun Uhr. . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 15.6. 1919 



BARRIKADEN 



Nein, sie stammen wahrHch nicht erst aus der Zeit der Revolutionen. Sie 
sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines 
gemiitUchen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Stromung, son- 
dern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anbhck 
dieser Barrikaden so emport, ist eben der Umstand, dafi sie der Aus- 
druck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht 
und die, aufgeweicht in einem Viertelhter Heurigen, als sogenannte 
»Gemiithchkeit« von Volkssangern und Feuilletonisten wiedergekaut 
und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler 
der alten osterreichisch-ungarischen Monarchic war, sondern die Tu- 
gend dieses unseres Deutschosterreich, dafi diese seine Tugend alien 
Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklart wird: 
Deutschosterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten 
Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf 
jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der 
Wahringerstraf^e, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen 
beweisen muft, dafi wir zwar ein funkelnagelneuer Staat geworden, aber 
mit alten k.k. Brettern jammerUch gefUckt sind. 



19 19 41 

Wozu steht dieses Brettergeriist immer noch da? In der Nacht verrich- 
ten Hunde und Heurigenmenschen dort ihre Notdurft, und am Vor- 
mittag klebt man dort Plakate auf mk der Ankiindigung von Linkstan- 
zen um Blaufuchse und Rechtstanze um goldene Kalber. Ware es nicht 
verniinftlger, das letztere in der Stille einer Sommernacht und das er- 
stere im Sonnenglanz des Tages zu erledigen? . . . 
Wozu diese Bretterverschalung? Das Institut ist fertig, Plakatsaulen 
gibt's zur Geniige, und fiir Hunde ist auch ein Laternenpfahl gut ge- 
nug. Ich kann mir nicht anders helfen: Ich mufi denken, der Magistral 
bereitet den Putschisten wirkliche, ernstliche Barrikaden vor. Noch 
hat man in der Bohzmanngasse nicht geschossen. Aber warten wir ab, 
bis es erst dazu gekommen ist, und wir werden sehen, wie niitzlich 
jene Bretterwand vor dem Bohzmann-Institut ist. 



Heimgekehrt 

PlotzUch tauchten sie auf, zwei Gestalten in der Karntnerstral^e, Ro- 
binsons oder so was, mitten zwischen Biigelfalten, Crepe de Chine - 
Kleidchen, Lackstiefletten und Telepathen: zwei Gestaken, robust, 
schwer, schmutzig und antediluvial. Bei naherem Zusehen entpuppen 
sie sich als zwei Heimkehrer. Sie waren aus Irkutsk oder aus sonst 
einer Gegend, wo nicht mehr der schwarze, sondern der rote Pfeffer 
wachst, im Sommer vergangenen Jahres aufgebrochen und batten das 
zweifelhafte Gliick gehabt, im Jahre des Herrn 19 19 in ihre Heimat- 
stadt Wien, die Stadt ihrer Traume, zu gelangen. Auf ihren zerfetzten 
Stiefein lagerte der Staub von drei langen, total zerwanderten Jahren, 
und ihre braungebrannten Korper staken in Sacken von einer undefi- 
nierbaren Farbung, die sehr entfernt an Gelbweif^ erinnerte, aber 
ebensogut auch sandige Erde hatte sein konnen. Sie schritten machtig 
aus, sie suchten das Kommando, bei dem sie sich zu melden hatten. Sie 
staunten nicht, sie wunderten sich nicht. Scheinbar war das machtige 
Erleben spurlos an ihnen vorbeigegangen. Ich sprach mit ihnen. Es war 
ihnen gutgegangen in Rutland. Wozu sie heimgekehrt seien? - Weil 
man doch einmal zu Hause sein wolle. Wissen sie, in welches Haus sie 
heimgekehrt sind? Als sie ausgezogen, war die Zeit noch grof^, da sie 
zuriickkamen, ist sie neu. Aber jene haben wir so lang enden lassen, 
daC wir diese nicht alt werden lassen. Und so sind sie, die beiden 



4^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Heimkehrer, heimgekehrt in einer 2eit, deren Neuheit darin besteht, 
dafi sie mit Neuerungen mifilungener Experimente verunstaltet, heim- 
gekehrt in eine Stadt, deren Strafienpflaster die Ehre haben, auf dem 
ebensogut Blut fliefit wie auf den Feldern desselben Namens, heimge- 
kehrt in ein Land, das nicht weifi, was anzufangen, well es iiberall 
aufhort, heimgekehrt zu Menschen, die »Genosse« einander sagen und 
den Revolver in der Hosentasche tragen. Wozu sind diese beiden 
heimgekehrt? Sie wissen es ebensowenig wie den Grund, warum sie 
ausgezogen sind.- 

Josephus 
Der Neue Tag, 22. 6. 1919 



EINE KAFFEEHAUSTERRASSE UND NOCH EINE 



An einem schonen Sommerabend hat ein Ringstrafiencafe nachst der 

Oper zwei Terrassen : 

In der ersteren sitzen erwachsene Kriegsgewinner und schliirfen Eis 

und spielen Buki oder Tarock. Das ist die legale, anerkannte, gesetzlich 

geschiitzte Terrasse. Eine Terrasse mit geselischaftsfahigen und biigel- 

faltengezierten Besuchern. 

Vor dieser Terrasse eine etwas elementare, improvisierte: deren Besu- 

cher ohne Biigelfalten, noch nicht erwachsene Kriegsgewinner, sitzen 

nicht auf Korbstiihlen, sondern teils auf dem Pflaster, teils auf dem 

sehr schwindsiichtigen Rasen unter dem Schatten eines Ringstrafien- 

baumes. 

Und spielen Tarock. 

Es sind Kolporteure der offentlichen Meinung, und es scheint mir not- 

wendig, diese auf das Vergniigen ihrer Verkaufer aufmerksam machen 

zu miissen. 

Denn die Offentlichkeit flaniert achtlos an den zigarettenrauchenden 

tarockierenden Knaben vorbei, und nur, wenn sie im Auto sitzt, lafit 

sie ein Hupensignal vernehmen oder weicht dem spielenden Rudel 

halbwiichsiger Kolporteure aus. 

Man darf die Kleinen in ihrem Vergniigen nicht storen. Es ist ja sozu- 

sagen das Jahrhundert des Kindes. 



19 19 43 

Ein Wachmann steht in der Nahe und wartet aus Berufsgriinden auf 
eine Gelegenheit, einschreiten zu konnen. Da heute ausnahmsweise 
nicht eine einzige Kriegswitwe einen Demonstrationszug iiber den 
Ring veranstaltet, lafit der Wachmann die Kriegswaisen ungeschoren. 
Vielleicht auch, weil er meint, das sei der Anfang der angekiindigten 
Schulreformen: Um den Tiichtigen unter den Knaben freie Bahn zu 
schaffen, lafit man sie vorlaufig, in den Ferien, die Fahrbahn der Ring- 
straEe besetzen. Der Aufstieg der Begabten beginnt damit, dafi diese 
vorderhand auf dem Pflaster sitzen bleiben. Wer die Partie gewinnt, 
hat seine Begabung erwiesen und darf aufsteigen. 
Wie soil man das nennen? Im Zentrum einer Kulturstadt, auf der 
Strafie tarockierende Knaben: eine »Kulturschande«? 
Nun: Schande hatten wir seit eh und je genug gehabt! 
Aber- das erstere?. . . 

Josephus 
DerNeueTag, lo. 8. 19 19 



IN UND AUSSER DIENST 



Das war schon in der Monarchic ein Unterschied: 

Im Dienst konnte man z. B. ein Auge zudriicken. Au£er Dienst durfte 

man sogar beide offenhalten. 

Im Dienst sagte man: Sie und Schweinehund. AuEer Dienst war man 

selbst einer und per du. 

In der Republik gibt es auch: in und aufter Dienst, Sowohl punkto: 

Schweinehund ais zvaii punkto: Auge zudriicken. Bose Zungen sagen, 

in der Republik wurde man sogar beide Augen zudriicken. Aber sicher 

ist nur, dafS wenige beide offenhalten . . . 

Dennoch hielt ein Arbeiterrat auf der Westbahn beide Augen, wah- 

rend er die Reisenden revidierte, offen, und zwar in dem Ubermafi, 

dai$ ein anderer Arbeiterrat, der auEer Dienst war und im Vertrauen 

auf seinen Titel Butter hereinbringen woUte, von dem ersteren ange- 

halten wurde, Zwischen beiden entspann sich folgender Dialog: 

»So, dos geht net.« 

»Oba, was willst?« 



44 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»Nix du', jetz'n bin i im Dienst.« 

»Wannst mir d'Butter wegnimmst, kriagst deine fiinf Kilo bei der 
Mutter net mehr!« 
»Na, dann geh zua!« 

Es hatte sich herausgestellt, dafi der schmuggelnde Arbeiter cine 
Greifilerin zur Mutter hatte, die dem revidierenden Arbeiterrat fiinf 
Kilo Butter in regelmafiigen Zeitraumen so hintenherum abzugeben 
pflegte. Ein boser Zufall fiigte es, daft just dieser Arbeiterrat jene But- 
ter konfiszieren sollte, die ihm selbst hatte zugute kommen sollen. 
Seine eigene Strenge strafte ihn. Sein Ich in Dienst nahm Stellung gegen 
sein Ich aufier Dienst, Der tragische Konflikt war gegeben. Die Kata- 
strophe unterblieb, weil der Anlafi aus Butter bestand. Denn mit der 
Butter ist das so eine heikle Sache: Man darf s'le nicht im Rucksack 
fiihren, man mufi sie aber doch haben - aufier Dienst. Man soil sie 
konfiszieren - im Dienst, Man darf sie nicht fiinfkiloweis bei einer 
Greifilerin beziehen. Man soil sie ihrem Sohn aber wegnehmen. Denn 
dieser fiihrte sie im Rucksack. Sie ware ihm wirklich abgenommen 
worden, wenn jener sie nicht - am Kopf gehabt hatte. - 

Josephus 
Der Neue Tag, 17. 8. 1919 



SEIFENBLASEN 



Ich habe Kinder gesehen, die Seifenblasen aufsteigen liefien. 
Nicht im Jahre neunzehnhundertunddreizehn, sondern gestern. 
Es waren richtige Seifenblasen. Ein Flaschchen vol! Seifenschaum, ein 
Strohhalm, zwei Kinder und eine stille Gasse im Sonnenglanze eines 
Sommervormittags. Die Seifenblasen waren grofie, wunderschone, re- 
genbogenfarbige Kugeln und schwammen leicht und sanft durch die 
blaue Luft. Kein Zweifel: Es waren richtige Seifenblasen, Nicht aus 
den Tiimpeln der Kriegsleitartikel, der Vaterlandspartei, der Presse- 
quartiere aufgestiegene Seifenblasen patriotischer Phraseologie, son- 
dern wunderschone, regenbogenfarbige Seifenblasen. 
Ich denke an die vielen Seifenblasen, die wir platzen sahen, wahrend 
der ganzen langen Zeit, da Kartensystem und Kettenhandel sich der 



19 19 45 

Seife bemachtigt hatten und die Fabrikation der Seifenblasen aus den 
Miindem der Kinder in die Mauler der Siegfriedler und Politiker iiber- 
gegangen war. Da war die Seifenblase des ukrainischen Brotfriedens, 
die Seifenblase von Brest-Litowsk, vom »verjungten Osterreich« und 
schliefilich die vierzehn grofien Seifenblasen Wilsons, die in Versailles 
an Clemenceau anstiefien und zerplatzten. Wir hatten inzwischen die 
gnadige Erlaubnis erhalten, uns an jene Strohhalme zu klammern, mit- 
telst derer die Seifenblasen hergestellt wurden. Oh, es war eine traurige 
Zeit! 

Ich weifi, es werden immer noch Seifenblasen dieser Art aufsteigen. 
Seifenblasen der Weltrevolution, der Proletarierdiktaturen. Aber seit- 
dem ich die echten, die wunderschonen regenbogenfarbigen Seifenbla- 
sen gesehen habe, blicke ich spottisch und uberlegen auf jene. 
Denn die Zeit ist wieder gekommen, da aus Kulturbediirfnissen Kin- 
derspielzeuge werden. Die logische Konsequenz, die daraus zu ziehen 
ist; dafi sich die Politiker nicht mehr mit Kulturbediirfnissen befassen 
sollen. Vielmehr mit dem Dreschen der Strohhalme, die notig sind, 
damit Kinder Seifenblasen erzeugen. 
Nicht Politiker. 



Es wird eingestiegen 

In die Ziige namlich. In die Ziige der Siidbahn, wenn zufallig kein 
Streik ist, Und zwar wird durch die Wartesale eingestiegen. In welche 
Ziige? In die Zuge Nummer 31 und 35. 

In der Sudbahnhalle prangt die schone Stilbliite: »In die Ziige 31 und 
35 wird durch die Wartesale eingestiegen. « Man kann gerade nicht be- 
haupten, daE diese Tafel an Deutlichkeit etwas zu wiinschen iibrig- 
liefie. Wann und wohin die Ziige 31 und 35 abgehen? Natiirlich, wann 
und wohin sie wollen. Hauptsache ist: das Durch-die-Wartesale-Ein- 
gestiegen-werden. 

Wie prachtig sich doch die deutsche Grammatik auf Wiener Verhalt- 
nisse anwenden laEt! Wo erscheint die leidende Form mehr angebracht 
als in der Siidbahnhalle? In Wien streikt man nicht. Es wird gestreikt. 
In Wien verkehrt man nicht. Es wird verkehrt. In Wien fahrt man 
nicht. Es wird gefahren. Hier steigt man nicht ein. Das ist eine physi- 
sche Unmoglichkeit. Es wird in der Menge Tausender Passagiere einge- 



4^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

keilt, erstickt, erdriickt, geohnmachtet, gewartet: schliefSlich aufge- 
macht, geschoben, getragen, gehoben; und zum Schlufi eingestiegen. 
In Anbetracht des betriibenden Umstandes, dafi es nur wenigen ge- 
lingt, alle die leidenden Formen der deutschosterreichischen Gramma- 
tik bis zur letzten, das heifit: eingestiegen werden, durchzuhalten, 
schlage ich folgende Tafel vor: 

»Vor dem Eingestiegen-werden in die Ziige 31, 35 wird durch die War- 
tesale des Siidbahnhofes gestorben.« 

Josephus 
Der Neue Tag, 10. 9. 1919 



KONSERVATIV 



Knapp bevor man in die Lazarettgasse von der Spitalgasse einbiegt, 
befindet sich eine Haitestelle des 5er-Wagens. Ungefahr zehn Schritte 
weiter, ihr gegeniiberliegend, in der Lazarettgasse eine Haitestelle des 
i5er, der durch die Lazarettgasse fahrt. Hier miindet die i5er-Linie in 
die 5er ein, denn beide haben ein gemeinsames Ziel. 
Die Tiicke des Objekts: Spangler fiigte es, daC, wenn ich an der Haite- 
stelle des i5er-Wagens wartete, der 5er-Wagen zuerst kam. Wartete 
ich auf diesen, dann kam bestimmt der 15 er. Ich beschlofi, mich zu 
rachen, und ging zu Fufi. Dann kamen beide Wagen gleichzeitig, 
Seit einiger Zeit ist statt der Haitestelle in der Spitalgasse eine Lein- 
wand zu sehen, auf der mit riesengrofien Buchstaben angekiindigt 
steht: Haitestelle verschoben! Man kann also an einer Haitestelle beide 
Wagen erwarten. Spangler hat die Tiicke ausgeschaltet, indem er die 
Objekte zusammenriickte. 

Nun blieb aber noch die Tiicke jenes Subjekts, das in Wien wegen 
Kohlenmangels vor die Elektrische gespannt ist: die Tiicke des Amts- 
schimmels. Besagtes Subjekt bleibt natiirlich dort stehen, wo die Lein- 
wand in riesengrofien Lettern verkiindet: Haitestelle verschoben! 
Tiefer Sinn aller Wiener Reformen wird hier offenbar. In eine knappe 
Definition gefafit, heifit er: Verschoben ist nicht aufgehoben! Dagegen: 
Auf gehoben ist aufgeschoben! 
Die Haitestelle wurde verschoben. Also bleibt der Wagen stehen. 



19 19 47 

Denn die Haltestelle ist nicht aufgehoben. Aufgeschoben ist dagegen 
die Aussicht, heide Wagen an einer Haltestelle zu erwarten. Nicht auf- 
gehoben ist die Moglichkeit, dafi beide zugleich kommen und man 
infolgedessen zu Fufi geht. Also was ist eigentlich wirklich aufgeho- 
ben? Die Aussicht auf einen Erfolg verschobener Reformen! . . . 



DerSchufl urn Mitternacht 

Ehe ich in die Custozzagasse einbog, ertonte ein Schufi. Es hatte zwolf 
Uhr geschlagen, und ein Schuf5, der der Mitternachtsglocke sozusagen 
auf dem Kloppel folgt, wirkt in der Custozzagasse nicht aufmunternd. 
Ich gestehe meine Feigheit. Ich blieb stehen und suchte nach jenem, 
was man nie findet: einem Wachmann. 

Ich wartete eine Viertelstunde. Als es ein Viertel schlug und ich be- 
rechnet hatte, daf^ derjenige, den der Schu£ getroffen, schon langst tot 
sein und jener, der ihn abgegeben, verschwunden sein mufite, ent- 
schlofi ich mich, in die Custozzagasse einen Blick zu werfen. Ein Blick 
konnte nicht schaden. Ein Blick kann nicht getroffen werden. 
Also warf ich einen Blick. Er fiel auf zwei patrouUierende Stadtschutz- 
leute. Ich war getrostet: Nun ist alles in Ordnung. Der Schwerver- 
letzte in arztlicher Obhut, der Attentater in Gewahrsam. Oh, unsere 
brave Stadtschutzwache! 

Ich beschlof^, die beiden Wackeren zu befragen und ihnen nach Fest- 
stellung des Tatbestandes die Hand zu driicken. Also fragte ich: wie, 
wo, woher? 

Darauf zog der eine einen Revolver und sagte: Tadellos: Dos is a nei- 
cher italianischer! Mir ham ihn scho ausprobiert! 
Und der zweite sagte: Der geht guat! 

Worauf ich ging und iiber den Wandel der Zeiten nachdachte: Nacht- 
wachter, die larmen; die LandstraEe als ScheibenschieEplatz; das Auge 
des Gesetzes, das zielt, statt zu wachen; ein neugegriindeter Sicher- 
heitskorper, der andere Korper in Unsicherheit bringt; italienische Re- 
volver als Beute der Schlacht bei Custozzagasse; und manches andere 
dachte ich. 

Von meiner Angst vor mitternachtlichen Revolverschiissen bin ich ge- 
heilt. Ich denke mir: A neicher italianischer! Josephus 

Der Neue Tag, 12. 9. 1919 



DIE FOLGEN 



Ein Kellner trug eine Tasse Tee iiber die Strafie. Ein dreimal gewendet 
aussehender, herabgekommener Fixbesoldeter kam dem Fruhstiick in 
den Wag und war so uberrascht von dem langentbehrten Anblick, dafi 
er, offenbar aus dem Wunsche heraus, von der Teetasse getrunken zu 
werden, an diese anstiefi und sie dem Kellner aus der Hand schlug, so 
dafi sie aufs Pflaster fiel und klirrend zerschellte. Darob Streit zwi- 
schen dem Kellner und dem Fixbesoldeten. Der Kellner behauptete, 
der dreimal gewendete Herr miisse zahlen. Dieser, dafi eine iiber die 
Strafie lustwandelnde Teetasse offentliches Argernis errege, insbeson- 
dere, wenn die Gefahr besteht, dafi ein Fixbesoldeter ihr begegnen 
konnte. Unter den Wienern, die zur Stunde, da dies geschah, sozusa- 
gen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen, die den Fall der 
Teetasse lebhaft diskutierten. Die einen schrien, der Herr miisse das 
ruinierte Friihsttick bezahlen. Die andern hielten davi^ider, dafi einem 
ruinierten Herrn viel eher ein Friihstiick bezahlt werden miifite. Der 
Streit tobte mit unausgesetzter Heftigkeit etwa fiinf Minuten. Plotzlich 
fiel das Wort »Tepp, bloda« mit dumpfem Knall in das Tosen des 
Streits. Der also Getroffene wich nicht, sondern erhob die Rechte, wog 
sich ein paarmal hin und her und schleuderte schliefilich ein kraftiges 
»Rotzbua!« zuriick. Unter den Wienern, die zu jener Stunde sozusa- 
gen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen: die eine fiir den 
Teppen, die andere fiir den Rotzbua. Der Fall komplizierte sich zu 
einem gordischen Knoten. Da kam seltsamerweise ein Wachmann und 
erklarte beide Schlitzen fiir verhaftet. Die Teetasse, deren Scherben 
noch auf dem Pflaster lagen, hiefi er zuriickbleiben. Der Fixbesoldete 
und der Kellner waren verschwunden. Verhaftet wurden zwei Wiener, 
die sozusagen zur Arbeit geeilt waren. 

Denn so ist der Lauf jedes Wiener Geschehens: Die Ursachen ver- 
schwinden, und die Folgen ziehen sich in die Lange. Scherben hinter- 
lafit jedes Ereignis. Finer zerschlug eine Tasse, und der andere wollte 
sie bezahlt bekommen. Zwischen beiden entspann sich ein Streit. Aber 
die Logik der Wiener Lokalchronik fiigt es, dafi zwei andere verhaftet 
werden. Die Folge der Existenz eines Fixangestellten und einer Tee- 
tasse war ihr Fall, die Folge des Falles ein Rechtsstreit, die Folge des 
Rechtsstreites das Verschwinden seiner Urheber, und da diese nicht 



19 19 49 

mehr waren - mufiten natiirlich zwei andere streiten. Uberfliissig war 
nur der Wachmann. Aber soUte er etwa dort erscheinen, wo er not- 
wendig ist? . . . 



Nein! 

Denn ein Wachmann ist, wie schon sein Tltel besagt, ein Mann, der 
bewachen soil. Nun ware z.B. das Friedrichspalais an der Albrechts- 
rampe zu bewachen. Es enthalt zahlreiche wertvolle Gemalde und an- 
dere Kostbarkeiten. Und solange die Monarchic war und der Erzher- 
zog Friedrich, machte der Wachmann seinem Titel Ehre und stand vor 
dem Friedrichspalais. Ich dachte, das ware eine Ehrenwache. Denn der 
Wachmann vor dem Friedrichspalais schien mir noch - sagen wir: 
wachmannischer - als seine KoUegen. Seine weifien Handschuhe 
hauchten Festlichkeit. Seine Metallknopfe glanzten Wiirde. Seine Hal- 
tung war die eines Kandelabers. Er war gewifi eine Ehrenwache. 
Aber einmal war der Erzherzog Friedrich weg, und der Wachmann 
stand dennoch vor dem Palais. Aha! dachte ich, er bewacht also doch 
die Schatze! 

Seit der Einfiihrung der Republik ist der Wachmann verschwunden. 
Zwar sind ja wertvolle Gemalde und Kostbarkeiten gebUeben. Aber 
Friedrich ist fort! 

Der Wachmann war doch eine Ehrenwache. Warum war er aber auch 
In Friedrichs Abwesenheit auf seinem Posten gestanden? Eben nicht 
als Ehrenwache, sondern als Bewachungsposten. Denn solange Fried- 
rich Erzherzog war und die Monarchie eine Monarchie, mu£te man 
Schatze bewachen. Jetzt, denkt die Behorde, da der Erzherzog - Fried- 
rich ist und die Monarchie Republik heil^t, konnen sie uns gestohlen 
werden. Um sich republikanisch zu erweisen, schaffte sie den Ehren- 
und Bewachungsposten vor dem Friedrichspalais ab. Den Friedrich 
konnte man noch zur Not bewachen. Die Schatze nicht. Wiirde man 
diese bewachen, so wiirden die Leute glauben, man bewache jenen. 
Mit Recht: Denn wann hatte man schon in Wien etwas Wertvoileres 
als einen Friedrich bewacht? Doch nur, nachdem es gestohlen worden 
war! . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 28. 9. 1919 



ZWEI 



Ein Pferd war wieder einmal so unverniinftig gewesen, auf dem holp- 
rigsten Pflaster einer engen Gasse zusammenzubrechen. Es lag keu- 
chend und schweratmend da. Sein Fell war nafi vom Schweifi, und die 
Haare bildeten kleine, feuchte Borstenbiischel. 

Rings um den gestiirzten Gaul stand das »Volk«; ein Konglomerat aus 
Schaulust und Arbeitslosigkeit. Das Pferd schielte mit seinem grofien 
triefenden Auge durch die obere Spalte der Scheuklappe verachtlich 
auf die Menge, die ihm noch seine letzte Stunde verbitterte. Das Volk 
hatte so etwas wie eine Vision vom Tode: »Dos halt's nimmer aus!«; 
»A Stund' no!«; »Recht hat er!« Ein Philosoph sagte: »Das Gescheit- 
ste, was so a Viech heutzutag' machen kann, bei die Futterpreise!« In 
den Mienen der Leute glanzte Bewunderung fiir das Pferd, das die 
Weisheit besafS zu krepieren. Ein hagerer Mensch in einem schwind- 
sUchtigen Rock, dessen Hals innerhalb der Grenzen eines blauka- 
rierten Kragens ratios herumirrte wie ein Federstiel in einem weiten, 
leeren Tintenfafi, bekam allmahlich die Physiognomie des personifi- 
zierten Neides. Er machte unbewufit die Todeszuckungen des Pferdes 
mit und schien jeden Augenblick sich auf das Pflaster hinlegen zu wol- 
len. Die Augen der Umstehenden bekamen alle denselben glasernen 
Schimmen Es war schliefilich nur ein Augenpaar. Die Augen des Vol- 
kes, eines Konglomerats aus Schaulust und Arbeitslosigkeit, aus Hun- 
ger und Neid. Die Augen schillerten bose: Der hat's iiberstanden. 
Warum sind wir keine Gaule? 

Als das Pferd schliefilich seinen letzten Atemzug getan hatte, zer- 
streute sich die Menge, traurig, unsagbar traurig. Nicht liber den Tod 
des Tieres, sondern iiber ihren eigenen Fortbestand. 
Als ich in die nachste Gasse einbog, sah ich ein vor einem Rinnstein 
zusammengebrochenes Wesen. Sein Gesicht hatte die Ziige des Pfer- 
des, das ich soeben sterben gesehen. Aber es war zufaUig ein Mensch. 
Auch »bei die Futterpreise!« im Sterben begriffen. Ringsum war kein 
Atom von »Volk« zu sehen. Nur ein Hund, der sich mehr zum Rinn- 
stein hingezogen fiihlte, schnupperte an dem Knochenhauflein herum. 
Ein Mensch war zusammengestiirzt. Kein Pferd kiimmerte sich um 
ihn. 
Denn die Pferde sind weise und sterben mitten auf dem holprigen Pfla- 



ster, Ein Mensch sucht sich eine stille Strafienecke. Mit Recht; Denn 
wenn er selbst mitten auf dem Ring stiirbe, kein »Volk« wiirde ihn 
beneiden. Dafi ein Pferd stirbt, selbst »bei die Futterpreise«, ist immer 
noch eine Sehenswurdigkeit. Aber daf5 ein Mensch krepiert, ist »bei die 
Futterpreise« schon selbstverstandlich. 



Papier 

Das ist die Materie, die allgewaltig und uniiberwindbar den Leitartikel 
wie eine Fahne iiber dem Jammer unserer Gegenwart schwingt. Letz- 
ter 2 week alien Geschehens ist: auf Papier mitgeteilt zu werden. So 
gewinnt die Mitteilung die Herrschaft iiber die Geschichte. Die Mittei- 
lung macht Geschichte. 

Der Krieg zeitigte eine besondere Erscheinungsform der Mitteilung: 
die aufierordentliche Mitteilung, im Jargon der grofien Zeit »Extra- 
Ausgabe« genannt. Die » Extra- Ausgabe« bewirkte eine Zeitlang Er- 
eignisse, indem sie sie mitteilte. Dann aber wuchsen die Ereignisse der 
Extra-Ausgabe iiber den Kopf. Denn eine hohere Macht, das Presse- 
quartier, schuf die Ereignisse, d.h. den Heeresbericht. Und diesen 
brachte die Extra-Ausgabe, keine aufierordentliche mehr, sondern eine 
ordentliche Mitteilung. 

Dennoch konnten sich die Leute der Macht des Papiers nicht entzie- 
hen. Der Ruf »Extra-Ausabe!« betaubte den Zweifel. Der Glaube an 
das Papier blieb aufrecht bis zum Zusammenbruch des Pressequartiers 
und dem ganz unvorhergesehenen Kopfsprung der Geschichte, der es 
plotzlich eingefallen war, ein Ereignis ohne vorherige Fiihlungnahme 
mit dem Pressequartier zu zeitigen. 

Nun blieb die Extra-Ausgabe aus. Ich hielt sie fiir tot, erledigt, aber 
vorgestern sprang sie wieder, munter und lebendig, mitten im Graben- 
korso aus dem Munde eines Kolporteurs unter die Leute, Sie hatte 
wieder Geschichte gemacht. Sie meldete die Ermordung des Konigs 
von Italien. Und die Leute rissen sich um die Mitteilung. Sie kostete 
achtzig Heller. Aber der Ruf betaubte den Zweifel. Das Papier, das 
fiinf Jahre lang die Menschen belogen und betrogen, hat seine Macht 
nicht eingebufit. Siegreich aus dem Schutt der Vernichtung erhebt sich 
das Papier auf den Schwingen der Extra-Ausgabe. Josephus 

Der Neue Tag, 6, 10. 19 19 



DIVERGEN2EN 

Ohne die Uhr am Stephansplatz ware ich kein Schriftsteller. Die Ste- 
phansturmuhr ist eines meiner unumganglich notwendigen Schriftstel- 
lerrequisiten, Wenn ich schon gar keinen Stoff habe, so gehe ich zu 
meiner Stephansturmuhr. Sie hat immer irgendeine Liebenswiirdigkeit 
fiir mich parat in ihrem Uhrgehause. Ich besuche sie regelmafiig, unge- 
fahr wie man eine ahe Tante besucht, von der man weiK, dafi es nicht 
ganz richtig mit ihr ist, dafi sie aber dennoch irgendwelche Leckerbis- 
sen im Schrankfach hat. 

Es ist immer irgendwas kaputt an der Stephansuhr. Sehr oft steht sie, 
manchmal geht sie falsch, fast immer zuriick, als sehnte sie sich nach 
vergangenen, guten aken Zeiten. Seit einigen Wochen hat sie eine gar 
wunderHche Laune: Ihre linke Gesichtshalfte, dort, wo die Ziffern im- 
mer so wundervoU springen, kiimmert sich einen Schmarrn um die 
rechte, auf der das Ziffernblatt mit den Zeigern angebracht ist. Kiinden 
die Zeiger rechts halb zehn, so sagen die Ziffern links dreiviertel neun. 
Ich glaube, die gute Tante Stephansuhr weifi ganz gut, was sie will. Als 
ein Wiener Symbol fiihlt sie die Verpflichtung, ein Wiener Symptom 
zu werden. Sie kiindet nicht die Zeiten der Stunde, sondern gleich die 
der ganzen Zeit. Sie spielt Verordnung und Erfolglosigkeit, Erlafi und 
Widerruf, Nachricht und Dementi. Sie sagt: Nur nicht alles gleich 
ernst nehmen in Wien ! Es kommt immer ganz anders . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 8. ii. 1919 



VERWIRRUNG 



Der Gasautomat ist ein bescheidenes Mobelstiick. Er birgt sich im 
Vorzimmer, hinter der Tiir, schwarzlackiert und unscheinbar und 
nur mit einem Messingstreifen als schiichterner Verzierung auf der 
Stirn. 

Der Gasautomat hat einen Mund. Eine schmale Ritze. Mit diesem 
Werkzeug pflegte der Automat Sechserln aus Nickel oder Eisen zu 
verschlingen. Die Kochin machte sich immer im Dunkel des Vorzim- 
mers zu schaffen. Sie suchte den Mund des Gasautomaten. Es war ein 
zarthches Verhaknis zwischen der Kochin und dem Gasautomaten. 
Wenn der Automat hungrig war, verdunkelte sich plotzHch das Zim- 
mer. Die Gaslampe begann griinUch-gelb zu schimmern wie einer, 
dem es schlecht wird. Das feinkarierte Netz im Zylinder wurde mit 
alien Faserchen sichtbar wie die Kulisse in der Oper, wenn Gretchens 
Bild am Spinnrad dahinter erscheint. Die Gesichter der Menschen wa- 
ren wie von einem iiberirdischen, seltsam mystisch-griinen Scheinwer- 
fer ubertiincht. Selbst der Kanarienvogel zwischen dem Rhododen- 
dron und der Fensternische begann angsterfiillt zu zwitschern, schlug 
mit den Fliigeln und machte einen Wind. Es war ganz wie bei der 
Sonnenfinsternis. 

Die Damen begannen in den Taschchen zu kramen, die Herren steck- 
ten samtliche greifbaren Daumen und Zeigefinger in die Westenta- 
schen. Irgendwo erschien auf dem Tische ein Sechserl. Die Tochter des 
Hauses verschwand im Dunkel des Vorzimmers. Ein klapperndes Ge- 
rausch zeigte die Vollendung ihres Siindenfalles an. Die Kochin barst 
vor Eifersucht. 

AUes das hat sich nun seit einiger Zeit geandert. Der Mangel an Sech- 
serln veranlafite die Direktion der stadtischen Wasserwerke, die Gas- 
preise zu erhohen. Man miifite nun eigentlich eine Papierkrone in den 
Mund des Automaten stecken. Der aber will von einer Krone nichts 
wissen. Er kann die Valuta nicht verdauen. Er will immer noch nur ein 
Sechserl, das mehr wert ist als eine Krone. 

Friiher pflegte ein Mann mit einem ratselhaften Schliissel und einer 
groCen Biertragertasche zu kommen. Er kniete vor dem Gasautomaten 
und pumpte ihm den Magen leer. AUe Sechserln wanderten in die Ta- 
sche. Die Verdauung des Gasautomaten war geregelt. 



54 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Nun ist die Kasse off en. Der Gasautomat lafit sich betriigen. Es ist eine 
Schmach. 

Man wirft ein Sechserl hinein, der Automat glaubt daran und funktlo- 
niert gewissenhaft. 

Aber dann holt man unten das Sechserl wieder heraus und steckt es 
wieder In den Mund des Automaten. 

Nach einem Monat kommt ein Mann mit einem Bleistift und einer 
Rechnung. Er zahlt am Bauch des Automaten ab, wie oft dieser ge- 
tauscht wurde, und kassiert die Zahl der illusorischen Sechserln in 
Kronenwahrung ein. 

Ein Kubikmeter Gas kostet eine Krone, der Automat gibt ihn aber nur 
fiir ein Sechserl her. Aus Dankbarkeit entlockt man diesem immer wie- 
der sein Geld und zahlt es dafiir in Kronen einem Dritten. Ein Kubik- 
meter Gas kostet also in Wirklichkeit ein Sechserl, das heifit weniger 
als eine Krone. Eine Krone will der Automat nicht, weil ein Sechserl 
mehr ist als eine Krone. 
Oh, welche Verwirrung! . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 27. 11. 1919 



DIE HEILIGE FLAMME 



Ich hatte einen rieslgen Appetit auf eine Pfeife, und, was mehr ist, ich 

hatte eine Pfeife bei mir und in meinem Tabakbeutel gerade genug 

Tabak oder dergleichen, um meine Pfeife zu stopfen. 

Ich stopfte sie. Aber natiirlich hatte ich kein Ziindholz. Ich hielt einen 

bepelzten Passanten an, den ich rauchen sah. 

»Ich bitte um Feuer!« 

Er war sogar ganz Hebenswiirdig, aber er sagte: 

»Ja, Ziindholzeln hab' ich keine net, ich mu£ mir eh schon eine Ziga- 

retten an der vorigen anzunden.« 

Ich erkannte, daf^ er schob, bat ihn aber dennoch, mich meine Pfeife an 

seiner Zigarette anziinden zu lassen. 

Er sagte: »An Ihnerer Stinkpfeifen wer' ich mir meine Khedive ver- 

stankern!« 

Ich seufzte, leerte den Inhalt der Pfeife wieder in den Tabakbeutel und 

dachte: Im Biiro wird der Ofen brennen. 

Ich hatte so einen Appetit auf eine Pfeife. Schon auf der Treppe stopfte 

ich sie mir wieder. Ich dachte: Ich stecke einen Fidibus in den Biiro- 

ofen 

Aber der Ofen war nicht geheizt. 

Ich fragte den Biirodiener: »Habt ihr denn kein Ziindholz, um den 

Ofen anzuzunden?« 

Er sagte: »0 ja, aber kein Heizmaterial.« 

Ich freute mich: »Also, bitte, geben Sie mir ein Ziindholz. « 

Er sagte: »Der Herr Direktor hat mir die Ziindholzschachtel abver- 

langt, weil wir eh nicht heizen konnen.« 

Ich stopfte meine Pfeife und ging zum Herrn Direktor hinein, bat ihn 

um Feuer. 

Der Herr Direktor schrie mich an: »Nachstens werden Sie sich ein 

Hemd bei mir ausborgen wollen. Wertgegenstande wie Fiillfedern und 

Ziindholzer borgt man nicht her.« 

Traurig ging ich und entstopfte wieder meine Pfeife. In der Tiir horte 

ich, wie der Direktor vor sich hinsagte: »Ich habe gedacht, er will 

einen Vorschufi haben. Aber wenn er mich so belastigt — « 

Ich dachte: »Der KoUege Pimplhuber ist immer glanzend mit Rauch- 

material versehen. Vielleicht — « 



56 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich stopfte hoffnungsvoll meine Pfeife und ging zum KoUegen Pimpl- 

huber, Er sagte: »Geh, das ist fad! Eben wollte kh zu dir kommen, ob 

du Feuer hast. Ich wollte dir sogar eine Trabuco dafiir schenken — « 

Ich entstopfte meine Pfeife, stopfte sie aber von neuem und ging zum 

KoUegen Huberdimpfel. Er ist wegen seiner sozialen Anschauungen 

bekannt. 

Der KoUege Huberdimpfel sagte: »Ich habe nur ein Ziindholz, aber 

das will ich briiderlich mit dir teilen. Er brach es in zwei genau gleiche 

Halften und gab mir die untere ohne den Kopf, 

Ich entstopfte meine Pfeife und iiberlegte, Im Cafe Kolossal verkauft 

der Ober Ziindholzer, die Schachtel zu einer Krone zwanzig. Ich habe 

noch vier Kronen im Vermogen. Eine Krone fiinfzig kostet der Tee 

ohne, dreiCig Heller kriegt der Ober Trinkgeld — 

Ich ging ins Cafe Kolossal, bestellte einen Tee ohne, kaufte dem Kell- 

ner eine Schachtel Ziindholzer ab, zog mit einem Seufzer der Befriedi- 

gung Pfeife und Tabakbeutel — 

- und bemerkte, dafi bei dem vielen Stopfen und Entstopfen allmahlich 

mein bifichen Tabak verlorengegangen war. 



Eine Geschichte 

Das ist eine Geschichte ohne Pointe. 

Denn erstens kann man nicht fortwahrend Geschichten mit Pointen 

erzahlen, und zweitens gibt es Geschichten, die keine Pointen haben 

und die dennoch wert sind, erzahlt zu werden, weil sie schon sind. 

Beim Stiefelputzer am Stephansplatz sah ich einen Menschen stehen, 

einen Soldaten. Es war ein Kunde des Stiefelputzers. 

Nun, das ist natlirlich nichts Besonderes. Taglich hat der Stiefelputzer 

am Stephansplatz soundso viele Kunden. Ist das eine Geschichte? 

Aber der Kunde, von dem ich jetzt erzahle, war, wie gesagt, ein Soldat, 

ein Invalider. Ein - Einbeiniger. Hier fangt die Geschichte an. 

Und hier hort sie zugleich auf. Sie enthalt nichts als die Tatsache, dafS 

sich ein Einbeiniger seinen einen Stiefel wichsen lafit. 

Wenn ich wollte, ich konnte sagen, was sich der Einbeinige dabei 

dachte. Etwa: Wie gliicklich, dal5 ich mir einen Stiefel wichsen lassen 

kann. Es soil Leute geben, die das iiberhaupt nicht konnen, weil sie - 

nicht einmal einbeinig sind. 



1919 57 

Aber ich sage nichts. 

Denn diese Geschichte tragt die Pointe schon in sich. Sie ist wie 
eine Nadel, die nur aus einer Nadelspitze besteht. 
Die Geschichte ist ihre eigene Pointe. Josephus 

Der Neue Tag, 21. 12. 19 19 



»A JOUR« 



Die Lebensmittelkarte kennt ihr doch? Es ist ein Karton mit Buch- 
staben und Ziffern. 

Die Buchstaben haben nicht etwa didaktische Zwecke, sondern wer- 
den bei verschiedenen Gelegenheiten mit der Schere ausgeschnitten. 
Zum Beispiel: wenn man stadtische Marmalade oder andere Lebens- 
mittel ausgibt. 

Die Wiener Lebensmittelkarte erkennt man nicht nur daran, daf^ sie 
den Aufdruck »Wien« in der Mitte tragt, sondern - an ihren Lo- 
chern. 

Diese Locher entstehen, wenn man Buchstaben ausschneidet. 
Und aus den Wiener Lebensmittelkarten werden die Buchstaben in 
einer ganz merkwiirdigen Reihenfolge geschnitten. 
Man hat z.B. soeben eine neue Lebensmittelkarte »gefaf5t«. Sie hat 
noch alle Buchstaben und kein einziges Loch. 

Aber da wird stadtische Marmelade angekiindigt. Und zwar »gegen 
Abgabe des Buchstabens: M«. 
Der Buchstabe M ist in der Mitte. 

Und nachstens wird ein anderes »stadtisches« Lebensmittel ausgege- 
ben. Und zwar »gegen Abgabe des Buchstabens: R«. 
Ausgerechnet. 

Man beginnt immer in der Mitte. Den Leitspruch des Wiener Magi- 
strals : In medias res. 

So eine Lebensmittelkarte mu8 man sich dann anschauen. Briissler 
Spitzen sind nichts gegen diese Ajourmuster, 

Ich woUte namlich nur sagen, wie man Wiener Lebensmittelkarten 
agnosziert. Josephus 

Der Neue Tag, 14. 3. 1920 



58 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

INTERVIEWS MIT STRASSENTYPEN 



Kinder der Strafie sind sie. Die Strafie ist ihr Heim und ihr Obdach, ihr 
Ursprung und ihr Ziel. Sie sind es, die der Strafie erst die Physiogno- 
mie verleihen und die Eigenart, sie gehoren zu ihr wie Laternenpfahle, 
Pflastersteine, Rettungsinseln, Plakatsaulen, Obehsken und Warte- 
hauschen. Sie sind das MobiHar der Strafie, von der Fabrik: Leben er- 
zeugt und in die GrofSstadt als Posel verschleudert. Der Burger geht 
taghch an ihnen vorbei, gleichgiiltig und stumpf, weicht ihnen aus wie 
einem Baum am StrafSenrand oder einem Rinnstein und ist angehalten, 
wenn so ein Mobelstiick den Mund auftut oder die Hand. Und doch 
sind diese Denkmaler ewig menschlicher UnzulangHchkeit oder breit- 
hafter Gesellschaft mit Seelen begnadet, auch die Karikaturen Gottes, 
mit Herz und Hirn, mit Schicksal und Erlebnis. Es ist lehrreich, sie 
sprechen zu horen. Bei Interviews dieser Art besteht wenigstens die 
Gefahr des Hinausgeschmissenwerdens nicht. Zu Nutz und Frommen 
einer breiteren OffentHchkeit seien einige hier mitgeteilt: 



Der wohltdtige Settler 

Herr Hirsch Garfunkel stammt aus dem Osten. Als i/jahriger Jiing- 
ling sollte er wegen seiner »schonen Stimm'« Kantor werden. Er aber 
glaubte, das Zeug zum Opernsanger zu haben. Deshalb verliefi er 
heimlich, ohne Wissen der Seinigen, die Heimat und fuhr nach Ame- 
rika, Hier sang er zuerst in einigen Tempeln und verdiente so seinen 
Unterhalt. Aber, wie gesagt: Herr Garfunkel wollte durchaus hoher 
hinaus, und eines Tages ging er zur Biihne. Die Theaterverhaltnisse 
waren ihm fremd, Tratsch, Neid, Ranke der KoUegenschaft, Spott und 
Schabernack vertrieben ihn von der Biihne. Inzwischen hatte er ein 
ausschweifendes Leben gefiihrt und seine Stimme verloren. »In dem 
grof^en Amerika«, sagt Herr Garfunkel, »ist es schwer, so ein Ding wie 
eine Stimm' wiederzufinden,« Deshalb kehrte er nach Europa zuriick. 
In Amsterdam blieb er stecken, denn das Reisegeld fehlte ihm. Am- 
sterdam ist eine alte Judengemeinde, es gibt viele reiche Glaubensge- 
nossen, und Herr Garfunkel wurde bei ihnen, wie er sagt, »Eingeher«. 
Das hei£t: Er ging dort ein und aus. Er war halb Tempeldiener, halb 



1919 59 

Lakai. Damals ging's ihm gut. Es gab Tage, an denen er sechs Mittages- 
sen hintereinander verzehrte. Alles durch sein Ein- und Ausgehen. Da 
starb plotzlich sein Protektor, einer der reichsten Kaufherren der Stadt 
Amsterdam. Herrn Garfunkel war der Aufenthalt verleidet. Er bettelte 
sich einiges zusammen und kam nach Wien. »Wien war damals noch 
eine schone Stadt«, sagt Herr Garfunkel. Er »verkehrte« in Theater- 
kreisen. »Die Schratt« zahlte er zu seinen »Bekannten«, der Schauspie- 
ler Kamineth war »direkt sein Freund«. Von den sogenannten »Kol- 
lektenbrudern« unter den Schauspielern kannte er viele, darunter den 
Schauspieler Benda, Mit der Zeit hatte er sich eine glanzende Klientel 
erworben. Kiinstler von Rang, Graf en, Kammerherrn und Hofrate 
kannten ihn von der Strafie: Jeder entrichtete ihm seinen ZoU. Da erin- 
nerte sich Herr Garfunkel, grof^herzig, wie er immer war, seiner armen 
Briider im Judenviertel. Sein anspruchsloses Leben ermogUchte ihm 
ein Auskommen mit geringen Mitteln. Den Rest verteilte er an die 
Armen. So ward er Wohltater von Beruf, Spender und Bettler in einer 
Person. Was er tagsiiber »eingenommen« hatte, verteilte er am Abend 
den Armen in der Leopoldstadt. Mit der Zeit erweiterte sich die 
»Kundschaft«, wuchs auch seine »Khentel«, und Herr Garfunkel legte 
Biicher an. Doppelte Buchhaltung gehorte nicht dazu: Es waren blofi 
Notizbiicher. Aber genaue Verzeichnisse der Spender und Bediirftigen 
waren alphabetisch angelegt. Das Geschaft florierte. 
Heute steht der wohltatige Bettler vormittags am Graben, nachmittags 
in der Karntnerstrafie und wartet auf die Spender. Er griifit von Zeit zu 
Zeit einen alten Herrn, spricht einige an. Aber das Geschaft geht lange 
nicht mehr so gut, behauptet Herr Garfunkel. »Die Wiener Leut* ha- 
ben einen Geldsack, wo das Herz sein soli, friiher haben sie das Herz 
im Geldsack gehabt«, sagt er. Ja, einmal, das war eine Zeit. Die vor- 
nehmen Herrschaften! Der gottselige Baron Rothschildl Und wie der 
alte Bosedorfer noch gesund war! 

Herr Garfunkel wei{5 nicht, wie alt er ist. Ich schatze ihn auf 80. Sein 
Bart ist silberweifi. Sommer und Winter tragt er zwei lange Rocke. 
Herr Garfunkel ist ein Fragment, ein Rest aus dem Triimmerhaufen 
der alten Monarchic. Wehmiitig schleicht er iiber den Korso . . . 



6o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Mode Nazi 

Oder auch: der Tepp vom Alsergrund. Wer kennt ihn nicht, den iiber- 
langen Nazi mit dem allzu kurzen Spazierstocklein, mit dem er bei 
jedem Schritt auf das Pflaster klopft, dafi es widerhallt! Nazi geht prin- 
zipiell niemals auf dem Trottoir, stets in der Mitte der Strafie, unbe- 
kiimmert von Autos und Elektrischer. Nazi hat zweifellos einen Cha- 
rakterkopf : Liefie er sich seinen Schnurrbart rasieren, er wiirde einem 
Lloyd George zum Verwechseln ahnlich sehen. 
Nazi heifit eigentlich Ignatz B. und entstammt einer guten biirgerli- 
chen Familie. Nazi erzahlte, dafi man ihn aus der Schule entfernt habe. 
Er hat drei Volksschulklassen, er kann auch ein bifichen lesen. In der 
Friih um jUhr steht Nazi auf. Er macht seine Besuche bei seinen 
»Stammkunden«: beim Greisler am Eck, beim Fleischhauer, beim 
Milchhandler, beim Schuster. Er besorgt dem Herrn Doktor vom Zeh- 
nerhaus einen Weg, bekommt sein Trinkgeld. Zu Mittag geht er nach 
Haus. Dann ruht er, geht spazieren. Manchmal unternimmt er Aus- 
fliige in den Prater. 

Ich sprach mit Nazi an einem sonnendurchfluteten Nachmittag im 
Park. Der Narr freute sich iiber die Sonne, uber den blauen Himmel. 
»Schon, Herr Doktor !« rief er. »Kannst du lesen, Nazi?« »Ja, Herr 
Doktor, bifichen!« Er versuchte, ein Schild zu lesen. »Zu Haus«, sagt 
er plotzlich. Nazi ist hungrig. Er steht auf, verneigt sich hoflich, zieht 
seinen Hut. Nazi hat Manieren. 

Ich driickte ihm etwas Kleingeld in die Hand. Nazi sieht mich verwun- 
dert an. Ich reiche ihm die Hand. Nazi uberlegt. Dann schlagt er ein 
und lacht frohUch: » Cuter Herr Doktor !« 

Seinen Stock schlagt er bei jedem Schritt wuchtig auf das Pflaster. Ein 
paar Buben mit Schulranzen laufen ihm nach und rufen: Nazi! ... 
Nazi hat das Odium des Alsergrunder Typentums auf seine hageren 
Schultern genommen, Er tragt seinen Namen wie ein unerbittliches 
Verhangnis . . . 



I9I9 6I 

Kaspar Feitel 

Tax einem grofien Durchhaus »Am Hof« steht Kaspar Feitel seit Jahr 

und Tag. Ein blinder Musikant. In der Linken die Geige, in der Rech- 

ten den Bogen, zwischen den Lippen die Mundharmonika. Er geigt 

und blast: Droben, wo die Sterne stehn . . . 

Kaspar Feitel hat die Sterne nie gesehen. Er ist ein blind Geborener. 

Aus dem Nordbohmischen ist er vor langen Jahren mit seinem Vater 

nach Wien gekommen. Der Vater hatte ein Puppentheater. Damit fuhr 

er durch ganz Mahren, Schlesien, die ungarische Slowakei: Es war eine 

schone Zeit. Kaspar spielte, die »Kasperln« trieben Schabernack. Man 

verdiente viel. 

Eines Tages fuhren sie mit ihren zwei Wagen iiber eine Landstrafie. Sie 

kamen an eine Eisenbahnrampe. Im ersten Wagen safi Kaspars Vater 

mit seinen Puppen, Plotzlich brauste ein 2ug heran. Der Vater wurde 

aus dem Wagen herausgeschleudert, jammerlich zerquetscht. Die 

schonen Puppen waren alle bin. 

Das junge Frauenzimmer, das im Puppentheater als Kassiererin ange- 

stellt war, wurde Kaspar Feitels Frau. Friiher arbeitete sie in einer 

Dampfwascherei. Jetzt ist s\t zu alt. Ja, wenn sie auch ein Instrument 

spielen konnte! Aber sie kann nun einmal nichts. 

Kaspar Feitel hat nicht viel. Seine Frau bringt ihm eine Suppe mit Ha- 

ferreiskornern in einem irdenen Topf. Feitel zieht einen Blechloffel aus 

einer Rocktasche. Friiher einmal konnte man vom Backer in der Wil- 

lingerstrafie zwei schone Semmeln umsonst bekommen, erzahlt Frau 

Feitel. Jetzt nicht einmal eine Brotrinde. Kaspar Feitel hungert biswei- 

len. 

Einmal, es ist gar nicht so lange her, hatte Kaspar fast sein Gliick ge- 

macht. Er horte die Leute vorbeigehen. Plotzlich fiel etwas auf das 

Pflaster. Es klang wie das Aufklatschen einer Brief tasche. Kaspar Feitel 

horte zu spielen auf. Er lauschte angestrengt. Leute gingen vorbei. 

Hatte einer schon die Brieftasche aufgehoben? 

Da tritt ein Wachmann auf ihn zu. »Segn's«, sagt er, »da Hegt vor Ihna 

a Brieftasch' mit zweitausend Kronln!« 

»Ich bin ja blind«, entschuldigte sich Kaspar Feitel. Ich gebe ihm eine 

Krone und sage adieu! 

Kaspar nickt nur und spielt: Droben, wo die Sterne stehn . . . 

DerNeueTag, 19.5. 1919 



DIE MUSE DER BLINDEN 

Ein BesHch in der Blindenausstellung »Hohe Warthe<( 

Ein Haus mit hallenden Wandelgangen und Stiegen; mit hohen Gema- 
chern, deren Wande mit Bildern und Spriichen tapeziert sind; ein Hof 
mit rauschenden Kastanienbaumen und freundlichen Kieswegen. Und 
Blinde, Blinde. In den Ecken stehen sie vereinzelt oder zu zweit und 
halten sich an den Handen. Erloschene Augen, blicklos in Ewigkeiten 
gerichtet. Schnuppernde Nasen, tastende Hande, zag-vorsichtig schlei- 
chende, tappende Fiifie. Wesen wie aus fremden, sittsamen Welten. 
Mit fremden Gebarden und unverstandlichen, uniibersetzbaren Bewe- 
gungen. Woher nehmen sie, denen Sonnenlicht eine Sage, Maiengriin 
eine Legende, die Fahigkeit, Ungeschautes zu gestalten, Ungesehenes 
nachzuahmen, Nieerblicktes zu fassen? 

Ein Saal, der Priifungssaal, ist fiir die Ausstellung bestimmt. Es ist we- 
nig und doch unendlich viel, was da dem Besucher geboten wird. Ein 
paar modellierte Tier- und Menschenkopfe in Ton; Kinderspielzeug, 
Hauschen, Tiirme, Schaukelstiihlchen, Sesselchen, Tischchen; Biir- 
sten, Schuhbiirsten, Kleiderbiirsten, kleine, grofSe, schwarze, weifie; 
ein Pavilion aus Korbgeflecht mit Lehnstiihlen, Tischen; ein Nahtisch- 
chen; Uhren, Blusen; Tiicher; woUene, gestrickte, gehakelte, genahte. 
Das ist alles. Das Auge des Sehenden ist leicht satt und miide. In zehn 
Minuten ist alles »besichtigt«, was der Schopfer selbst nicht gesehen. 
Diese Ausstellung verlangt von dem Besucher nicht »Anschauen« al- 
lein. Vorstellung ist notwendig. Eindringen in Welten, Nachschop- 
fung, Nachschaffung vom ersten Augenblick. Vom Entstehen bis zur 
Voilendung. Man mufi - blind werden, die Augen schliefien und versu- 
chen, Angesehenes schauen zu woUen. Getastetes, Nur-Gefiihltes 
nachzuschaffen. Und langsam lernt man begreifen, welche Fiille von 
Flei£, Anstrengung, Begabung, Emsigkeit in diesen leichten, gebrech- 
lichen, zarten Dingen liegt. Dort jener Pferdekopf, ist er nicht von der 
Hand eines Meisters modelliert? Wie ist das - »gesehen«? Nein. Es ist 
gar nicht gesehen! Nur miihsam getastet, gefiihlt, gefafit und erfafit. 
Hier sind Maler, die ohne Augen geboren, doch Maler geworden sind; 
Lieblichkeit und Zierlichkeit iiberall: in den miihsam zusammenge- 
pickten Hauschen und Tiirmchen, Staketenzaunchen und Briinnlein. 
So ist alles. Fiir sehende Augen geschaffen, fiir gefallig verweilende 



19 19 63 

Blicke zusammengestellt. Gibt es tiefere Tragik als eine Ausstellung 
von Blinden fiir Sehende veranstaltet? Sie, deren Augen ewig erlo- 
schen, laden zum Schauen ein! Man kommt und steht und geht gleich- 
miitig vorbei an Werken, die man fiir Dinge achtet. Ihr Sehenden, geht 
nicht vorbei, verweilt! Es sind keine Dinge, die ihr schaut! Es sind 
Werke, Taten, Weken, Ewigkeiten! 

Eines riihrt mich besonders. Es lag vergessen in einer Ecke, versteckt, 
und es kostete einige Miihe, es herauszuziehen. Es war eine Art Turm, 
aus ineinandergeschachtelten einfachen Ziindholzschachtelchen zu- 
sammengebastelt, muhsam ineinandergeschoben. Eine Arbeit, wie sie 
jedes achtjahrige Kind zustande bringt. Jedes sehende Kind! Wieviel 
Miihe, wieviel rastlose Arbeit, Ineinanderschachteln und Wieder-Aus- 
einandernehmen, Probieren, Tasten, Versuchen, Hoffnung, Stolz, 
Enttauschung, Verzweiflung fiir ein blindes! 

Immer werde ich an diesen rohen Turm aus Ziindholzschachteln den- 
ken. Ich werde die kunstvollen Schnitzereien, die komphzierten Uh- 
ren, die geflochtenen Korbstiihle vergessen. Nur jenen armseligen, 
wackligen Turm aus gewohnlichen Ziindholzschachteln werde ich se- 
hen, fiihlen, wie ein armes Kinderhandchen sich an ihm zur VoUen- 
dung emporarbeitet. Er ist nicht das VoUendetste, aber das Riihrendste 
an dieser Ausstellung, deren Darbietungen zuweilen vergessen ma- 
chen, dafi Hande Blinder sie geschaffen. 

Im Korridor begegnen mir ein paar ZogUnge. Sie halten sich an den 
Handen, schieben sich langsam die Wande entlang. Tasten, tappen, 
stolpern, Aber eine gewisse Festlichkeit haben sie in den ewig suchen- 
den Mienen, eine Feier liegt iiber dem Hause. Stolz und Freude liber 
die Ausstellung und die vielen Fremden, die schauen kommen, was sie, 
die Zoglinge, nie schauen werden. Und ich denke an den armseligen, 
wackligen Turm aus gemeinen Ziindholzschachteln . . . 

Der Neue Tag, 23. 5. 19 19 



DAS ERWACHTE KUNSTGEWISSEN 



Was ist ein Museum? - ein »Inschtitut«. Was ist ein Kunstwerk? - ein 
G'spaC. Und was ist ein Kiinstler? - ein »Individium« . . . 
Der Wiener fand voUste Befriedigung seiner Schaulust in der Biihnen- 
kunst. Was ging ihn die Malerei an, wenn sie sich nicht mit Griinzeug- 
warenschildern befafite? Ein Bildhauer ist ein Tepp! Die Hausmasterin 
hot's g'sogt! - Weitab von Ringelspiel, Grottenbahn, Riesenrad, »ich 
mocht' noch amol in Grinzing sein«, Gschwandiner, Kaisergarten, 
HoUodrioh und Duliah liegt das Kiihle, Vornehme, Reserviert-Unver- 
standliche. Jenseits der Grenze der Vernunft herrscht eine volksfremde 
Kunst, eine Kunst ohne BiihnenturL Irgendein Reifes hat die G'schicht 
angelegt. Fiir G'studierte, versteht sich. Und das Wertvollste am Hof- 
museum ist der Burgschendarm gewesen . . . 

Soil man weinen oder lachen? Seitdem die Friseure am Sonntag ge- 
sperrt haben, geht der Wiener, wenn er sich fern von Krieg und 
Kriegsgeschrei halt und nicht mit Pflastersteinen vor dem »Wiener 
Journal« fiir den Anschlufi kampft, ins kunsthistorische Museum. Er 
schaut sich die von den Italienern requirierten Bilder an. Um die Bild'l 
in den Inschtituten scherte sich keiner. Fiir die gerauhten Kunstschatze 
schlagen die Herzen alien 

Die Leute stellten sich an. Denn: Kannte man nicht, was man besessen, 
so will man wenigstens kennen lernen, was man verliert. Neugier und 
Emporung befliigeln selbst den Schritt des kunstfremdesten Spiefibiir- 
gers. Seht jenen Herrn dort mit dem biederen Habig und dem unver- 
meidlichen Regenschirm! Safi er nicht stets um diese 2eit beim Rok- 
kenbauer und unterhielt seine Stammtischgenossen iiber Wiilson? Was 
scherte er sich um Museen? Geniigte ein Panoptikum nicht voUends 
seinen musealischen Bediirfnissen? Heute ist er Kulturtrager, dem der 
Feind einen Kulturschatz rauben will, der Idealist, dem man das Ob- 
jekt seines Ideals, der Cornet, dem man seine Fahne, der Priester, dem 
man seinen Altar, das Volk selbst, dem man sein Nationaleigentum 
nimmt . . . 

Kataloge, unniitzes Papier, das in Stolen an der Kasse auflag und das 
ein Fremder hochstens kaufte - heute sind sie »gangbare Artikei« wie 
Starke und Backpulver. Der GreifSler vom Eck kauft sich gleich meh- 
rere, erstens um sich iiber die gefahrdeten Bilder zu informieren, zwei- 



19 19 65 

tens von wegen der Diiten. Die Zimmervermieterin vom zweiten Stock 

spricht erregt auf ihren »Herrn Doktor« ein: Jessas, do Bilder! . . . Im 

Angesicht der bedrohten Kunst erwacht der Nationalstolz wie Anno 

Domini 19 14, und irgendwo in einer Ecke der Bildergalerie flattert das 

Wort auf: Katzlmacher . . . 

Soil einer weinen oder lachen? Hat sich »das Volk« besonnen? 1st 

»Kunst« ihm kein hohler Begriff mehr? WeiiS es, was es verliert? 

Ich hore den Optimisten: »Nur in der Stunde der Gefahr zeigt sich der 

erfreuliche Zusammenhang zwischen dem Fiihler der Nation und der 

Ewigkeitsschopfung ihrer Kunst. Freuen wir uns und versuchen wir, 

das endlich aufgeriittelte Kunstgewissen der Wiener wach zu erhal- 

ten!« 

Und den Pessimisten: »Zu spat! Hatte die Bevolkerung den Wert ihres 

Besitzes auch nur geahnt, der Schrei der Emporung iiber den schmach- 

voUen Raub ware laut durch die Welt geschallt und hatte das schnode 

Beginnen vereitelt. « 

Und der Historiker: »Es ist seit jeher charakteristisch fur die Masse, 

dafS ihr Sinn fiir die geistigen Giiter der Nation nur dann erwacht, 

wenn die fremde Hand sich nach ihnen ausstreckt. Vielleicht ist es 

nicht einmal zu spat! Auch die Ganse schnatterten erst im letzten Au- 

genblick und retteten doch das Kapitol!« 

Ich aber, der Zyniker, sage: »Es is' a Hetz'!« . , . 

Der Neue Tag, 25. 5. 1919 



DER MARKTPLATZ DER KETTENHANDLER 



Hier ist der Ursprung des Ubels. Hier rundet sich das erste GUed der 
endlos langen Kette. Hier kauft man die Lebensmittel »aus erster 
Hand«. Von hier aus ergiefit sich der diinne und ach so kostbare Strom 
von Milch, Eiern und Butter in die Strafien und wenigen Hauser der 
Stadt. Wo das ist, will ich nicht verraten. Ich mochte mich der Lynch- 
justiz der Kettenhandler doch nicht ausgesetzt wissen. Nur soviet sei 
gesagt: Es ist ein Bahnhof, fast im Innern der Stadt, ein idyllischer 
Bahnhof, der wie eine grof^e gelbe Katze gemachlich im Sonnenschein 
schlummert, ein Bahnhof, dessen Ziige gar nicht allzu weit und natiir- 



66 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

lich auch nicht allzu piinktlich in die Welt abgehen. Zweimal des Ta- 
ges, am Nachmittag und am Abend, versammeln sich die Schleich- 
handier Wiens vor den Toren der Halle. Ziige kommen mit landlichen 
Reisenden, Kleinbauern, Grofibauern, Bauernkindern, Bauerinnen in 
bumen Kopftiichern. Jeder Passagier tragt Rucksack, Milchkanne und 
Eierkiste. AUsogleich kommt Bewegung in die harrende Menge. Ein- 
zelne Gestalten losen sich aus der dunklen Masse, naherii sich dem 
Ausgang, treten an die Ankommlinge heran. Oh, die Schleichhandler 
haben Manieren! Sie griifien hoflich, halten wahrend der Ansprache 
den Hut in der Linken und betasten mit der Rechten liebevoll den 
Rucksack der Passagiere. So schiichtern ist kein Gymnasiast, wenn er 
den angeschmachteten Backfisch anspricht, und ich glaube, die Herren 
Schleichhandler haben Herzklopfen, Mit Herzklopfen allein gewinnt 
man allerdings nicht das harte Herz eines Landmanns, und deshalb 
haben die Schleichhandler wertvoUe Dinge in Jacken und Taschen. Ta- 
bak kommt zum Vorschein. Da wiirde der Herr Scheuchenstuhl Augen 
machen! Tabak in alien Arten und Abarten, in Packungen verschieden- 
artigster Fasson. Pfeifentabak aus Herzegowina, Tiirkischer und Persi- 
scher, Agyptischer, Memphis, Diana, Trabucos, Portoricos und alle 
offiziell langst totgemeldeten Zigarrensorten. Der Handel entwickelt 
sich, man wird lebhaft. Dort in der Ecke redet ein Mann auf ein Bauer- 
lein ein, unermiidlich, immerzu, drangt es an die Wand, redet mit 
Handen und Fiifien. Demosthenes ist ein Zwerg dagegen. Wahrend 
seine nimmermiiden Lippen einen Schwall von Redensarten, iiberzeu- 
genden, drohenden, gebietenden, flehenden Worten hervorsprudeln, 
sind seine Hande fortwahrend damit beschaftigt, Zigarren, Schnupftii- 
cher, Seidenborten, Strumpfbander, Broschen, Halskragen, Manschet- 
ten dem eingeschiichterten, verwirrten, betaubten Bauerlein unter die 
Nase zu halten. SchlieElich »hat er ihn«. Willenlos, schlaff, ganz im 
Bann des flinken Handlers, lafit er sich von diesem in ein gegeniiberUe- 
gendes Haustor drangen. Nach fiinf Minuten kommen beide zum Vor- 
schein. Das Bauerlein mit seinem schlaff gewordenen Rucksack, ohne 
Eierkiste, mit einer leeren, scheppernden Milchkanne. Der Schleich- 
handler geschaftig, flink, trocken, ohne einen Blick mehr fiir sein Op- 
fer. Er stiirzt sich aufs neue in die Menge, und bald hat er eine junge 
Bauerin bei der Schiirze erwischt. Sie will sich losreii^en, sie will nichts 
verkaufen, sie hat die Lebensmittel ihrer Schwester gebracht. Es hilft 
nichts. Mein Schleichhandler ist unerbittlich. Er halt sein zappelndes 



19 19 6/ 

Opfer fest, da gibt*s kein Loskommen. Mit einem Zauberring aus ame- 
rikanischem Double mit einem giftgriinen Stein hat er es ihr angetan. 
Das Haustor verschlingt sie. 

Seht hin! Dort streiten zwei Handler um die wuchtige Gestalt eines 
biederen Landmannes. Es kommt sogar zu Faustschlagen, die aber 
wirkungslos abprallen von der dicken Bauernjoppe des Streitobjekts. 
»Ich hab' den Herrn vor Ihnen gesehen!« wiitet der eine Handler. 
»Aber ich hab' ihn aufgehalten!« kreischt die sich iiberschlagende 
Stimme des zweiten. Sie zerren an der plumpen Massigkeit des Bauern 
herum, der fest steht, als hatte er Wurzel gefafit im Strafienpflaster. Es 
ware ihm ein leichtes, die zwei hadernden Mannchen abzuschiitteln, 
aber die Geschichte macht ihm offenbar SpafS, er hat die Augen einge- 
kniffen und schmunzelt schlau und boshaft. SchUefilich haben sich 
beide Parteien geeinigt. Sie kaufen alles zur Halfte. Der Bauer kichert: 
Jetzt wird er sie beide drankriegen. 

Aufier den beruflichen Schleichhandlern haben sich natiirlich auch 
passionierte Liebhaber des Berufes eingefunden, Dilettanten in der 
Kunst des Kettenhandels oder schiichterne Debiitanten, Frauen haben 
Hemden, Leintiicher, die sparliche Tabakfassung ihres Mannes heraus- 
gebracht, Manchem gelingt's, ein halbes Dutzend Eier zu ergattern. 
Nach einer Stunde etwa zerstreut sich die Menge. Die, denen es gelun- 
gen, stoiz und siegesbewufit. Die andern, miide, verstaubt, eingefallen, 
sehen aus wie Soldaten auf einem »strategischen« Riickzug. 
Wo das ist? Wie gesagt, vor einem Bahnhof in nachster Stadtnahe. 
Mehr mitzuteilen ist gefahrlich fiir den Verrater und iiberfliissig fiir 
den Leser. Wer von den Lesern Schleichhandler ist, weifi es. Wer's 
nicht ist, braucht's nicht zu wissen. Die Polizei aber, die Polizei glaub' 
ich - na, red' mer Ueber von was anderem! . . . 

Der Neue Tag, 25. 5. 19 19 



DIE DIVA 



Sie ist sozusagen die Achse, um die sich eine ganze kleine groEe Welt 
von Filmkunst- und Kitsch, von Kinodramaturgie und Regie, von 
Klatsch und Intrige, Kabale und Liebe dreht. Sie ist Ruhepunkt in der 



68 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

kreisenden Bewegung der Nervositat und Uberspanntheit, Ursache 
und Endzweck von spannenden Romanen und Schlagern der Saison, 
Film- und Fixstern in einem. Sie ist grofi oder mittelgrofi, blond, braun 
oder schwarz, sehr schon oder nur hiibsch, aber immer reizend, mit 
dem Schleier der Anmut um Elfenbeinhiiften, die sie leider niemals im 
Film zeigt, sondern stets nur in Zimmern der Verschwiegenheit, deren 
Wande nicht einmal Ohren haben diirfen. 

Nicht mehr von ihrem Privatleben. In der Kunst geht sie natiirlich 
nicht nach Brot, sondern nach Riesengagen, das heifit: Besagte Gagen 
gehen eigentlich nach ihr oder ihr nach. Sie lafit sich »nichts gefallen«, 
im Gegenteil: Ihr gefallt nichts, am wenigsten der Regisseur. 
Sie wahlt sich ihre Rollen selbst, die ihr extra auf den Leib geschrieben 
werden, ohne dafi der bedauernswerte Autor auch nur einen Schimmer 
von demselben erblickt hatte. Sie tyrannisiert KoUegen, KoUeginnen, 
Autoren, Operateure, und keiner w^agt, ihr zu widerstehen, weil sie aus 
mehr als einem Grunde eben - unwiderstehlich ist. Sie hat Gliick im 
Grofien wie im Kleinen. Neben ihr verblafit die Konkurrenz. Sie 
braucht blofi einen Schritt nach vorn zu tun, und ihre mitagierende 
KoUegin steht im Schatten. Denn das Licht eines weibHchen Film- 
sterns hat die sonderbare Eigenschaft, nur sich selbst zu beleuchten 
und andere zu beschatten. 

Sie ist unzuverlassig wie ihre Taschenuhr. Ihrer Launen wegen miissen 
zehn Proben abgesetzt werden, und die elfte kommt nur dann zu- 
stande, wenn die Diva sich vergiEt und zufallig rechtzeitig erscheint. 
Ein Auto steht ihr natiirlich jederzeit zur Verfiigung. Begleitung 
ebenso, doch soil sie manchmal auf die letztere verzichten und mit dem 
Chauffeur vorliebnehmen. Doch das ist unkontrollierbar. Man beginnt 
iiberhaupt sehr leicht in Klatsch zu verfallen, wenn man von einer 
Kinodiva spricht. Weshalb ich aufhore. Nach dem beruhmten Grund- 
satz: Wenn's am besten schmeckt . . . 

Die Filmwelt, 30. 5. 1919 



DIALOGE 



Du schreibst »Streiflichter« in der »Filinwelt?« - Ja. 

Fiirchtest du dich denn nicht? Wovor denn? Nun, Streiflichter be- 

leuchten fatale Situationen und konnen dich selbst einmal treffen, 

wenn du gerade in einer fatalen Situation bist. 

Das kann niemals sein! Meine Streiflichter beleuchten nur die andern. 

Bin ich selbst in einer fatalen Situation, so schreib* ich nicht. 

Dann schreibst du nicht? 

Nein ! Dann bin ich eben - anderwarts beschaftigt . . . 

Du hast ja ein furchtbar unmoraHsches Kinolustspiel geschrieben! 

Ja, und zwar, um die Moral des Kinopublikums zu heben. 

Wieso? Durch ein unmoraHsches Stiick? 

Ja, eben! Die Zuschauer sind gezwungen, iiber die Unsittlichkeiten des 

Stiickes zu lachen, und vergessen dariiber, selbst welche im Halbdun- 

kel des Raumes zu begehen. Das heifit man: ridendo castigare mores: 

Durch Lachen die Sitten verbessern . . . 

In jedem Kino steht ein Feuerwehrmann hinter den Logen. Kann der 

Apparat wirklich so leicht Feuer fangen? 

Der Apparat nicht, aber die Zuschauer. . . 

Es ist merkwiirdig, dafi ich im Kino so oft Verhaltnisse ankniipfe. Und 
bin doch sonst so sprode! Kannst du mir sagen, weshalb ich mich dort 
so leicht verliebe? 

Ja, weil die Liebe blind ist: Im Kino sieht sie wenig - aber um so mehr 
- fiihlt sie . . . 

Kann man in einem Kinodrama einen Helden einen Monolog sprechen 
lassen? 
Gewifi! 

Man hort aber doch nicht! 

Aber man sieht ihn! Im Kinodrama wird ein Monolog - mit den Han- 
den - gesprochen . . . 

Schreckhch! Ich soli ein Kinodrama schreiben, und mir fallt gar nichts 
ein! 



JO DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Nun, ich bin haufig in der Lage! 

Was tust du dann? 

Ich schreib' - eine Operette . . . 

Die Filmweit, 30. 5. 1919 



DIE WANDERUNG DES AMERIKANISCHEN 
MEHLS 

Eine Fahrt mit einem Entente-Lebensmitteltransport von 
derAnkunft his zum Konsumenten 

Es ist keiner von den grofien Bahnhofen, in denen Fernziige die Rei- 
senden in fremde Lander fiihren. Ein Mann mit einem Rucksack, drei 
oder vier Eisenbahnarbeiter, ein Telegraphenbeamter, eine Bauerin mit 
einer Milchkanne. Das ist der »Verkehr«. Aber ein heiliges Geheimnis 
ist um diesen Bahnhof, und wer es weifi, dem steht das Herz still und 
leuchten die Augen in frommem Respekt: Es ist einer der Bahnhofe, in 
die das amerikanische Mehl oder Getreide einlauft. 
» United States Food Administration for U.S. Grain Corporation Desti- 
nazione: Vienna: Matzleinsdorf. Adriatica. Societd Anonima di Spedi- 
zione Trieste. « 

So lautet der Zettel an den Waggons mit der kostbaren Fracht. Von 
Triesty Venedig und Genua aus wird das Mehl ver laden. GraZy Villach 
und Innsbruck sind die Umladestationen. An der Grenze iibergibt die 
aus Entente- Manns chaft bestehende Bewachung die Waggons in die 
Obhut der deutschosterreichischen Volkswehr. Mit den Waggons sind 
6 Mann mit einem Feldwebel aus Schdrding angekommen. Die Wag- 
gons sind plombiert, die Schlosser mit Draht umwunden. Trotzdem 
kann es geschehen, dafi erbrochene Waggons ankommen. Fiir jeden 
unversehrt einlangenden Waggon zahlt die Kriegsgetreideverkehrsan- 
stalt im Auftrage des Staatsamtes fiir Volksernahrung eine Pramie an 
die Bewachungsmannschaft. 

Solch ein amerikanischer Lebensmitteltransport erfreut sich eines be- 
sonderen Entgegenkommens von seiten der Beamten und Bahnarbei- 
ter. Er wird behandelt wie ein fremdlandischer Gesandter etwa, wie 



19 19 71 

die personifizierte Liebenswiirdigkeit unserer Feinde. Ein liebevoller 
Blick aus dem sonst so strengen Amtsauge des Herrn mit der roten 
Amtskappe begleitet den Waggon, wenn er langsam die Station ver- 
lafit. Die beste der Lokomotiven hat die Ehre, seine Fiihrung zu iiber- 
nehmen. Von der Begleitmannschaft bewacht, von segnenden und ehr- 
furchtsvoUen Blicken geleitet, tritt er seine stolze Fahrt zum Lagerhaus 
der Stadt Wien an. 

Man sieht geradezu unsichtbare Triumphpforten. Fast hort man die 
gar nicht gehaltenen Begriifiungsreden. Das Lagerhaus der Stadt Wien, 
urspriinghch Maschinenhalle der Ausstellung vom Jahre 1873, hat eine 
eigene Lokomotive, die zum Empfang des amerikanischen Getreides 
hinausgeschickt wird. Die Lokomotive des Bahnhofs Matzleinsdorf 
wird abgekuppelt, die des Lagerhauses iibernimmt die Fiihrung. Aber 
das ist nicht gewohnhche Handhabung, das ist nicht gemeine Eisen- 
bahnarbeit. Der Vorgang der Ab- und Ankupplung gewinnt symboH- 
sche FeierUchkeit, und iiber dem triiben Grau alltaghchen Geschehens 
Hegt ein Schimmer, ein blauer Glanz wie aus den Hafen des Adriati- 
schen Meeres, von denen aus die teuren Giiter ihre Fahrt in unser 
Hungerland genommen . . . 

Kohler und Jaffes heifien die zwei Gewaltigen. Sie verkorpern die Ex- 
positur der Kriegsgetreideverkehrsanstalt im Lagerhaus. Sie haben eine 
Art rasche Bedachtigkeit in ihren Handlungen und eine Gabe, die ich 
die Gleichzeitigkeit nennen mochte. Sie stehen am Telephon, diktieren 
Auftrage, schreiben zugleich Anweisungen, befehlen den Biirofrau- 
leins mit den Augen und stolen mit dem FuEe die Tiir auf, um die 
Bedienerinnen zu rufen. Kaum ist der Waggon eingerollt, khngelt das 
Telephon, Das amerikanische Mehl ist da. Herr Kohler winkt. Und ein 
Schwarm von Weibern der K. & V.-Expositur rennt durch die Fluren 
des Lagerhauses, stolpert iiber aufgestellte Dezimalwaagen, steigt iiber 
Schienen, Bretter und Waggons. Die Begleitmannschaft verlafit den 
Transport. Der Waggon wird aufgemacht. Die Frauen steigen ein. 
Sacke, weiEe, silberweil^e Sacke hochaufgeschichtet an den Wanden, 
auf dem Boden des Waggons. Aus jedem Sack nehmen die Frauen eine 
Handvoll Mehl oder Getreide in die mitgebrachten Kuverts und eilen 
damit in die Expositur. 

Hier wird der Inhalt des Waggons festgestellt und der Zentrale der 
Kriegsgetreideverkehrsanstalt mitgeteilt. Soundso viel Weizenmehl, 
Jutesacke, offene, gute, unversehrte oder zerrissene. Und telephonisch 



72 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

erfolgt die Verteilung. Ein Teil wird eingelagert. Fiir die Backer und 
kleinen Konsumenten. 

Und dann, ja, dann kommt der grofie Tag. Automobile, grofie, 
schwere Lastautos, zweispannige Wagen, Karren, die von Zughunden 
geschleppt werden, Handkarren, vom »Back« selbst oder seinem weifi- 
gekleideten Gehilfen gefiihrt. Alle stehen sie in Reihen und Doppelrei- 
hen vor den Magazinen des Lagerhauses, bereit zum Empfange des 
amerikanischen Mehls, Da sind grofie Fabriken und die kleinsten Bak- 
ker. Die Sacke werden abgeladen. Noch tragt jeder der Sacke den Zet- 
tel: 

»The Great Southern Flour Mills Limited, Narogin, West Australia. « 
Hort! Hort! Westaustralien ! Die Grenzen sind gefallen, und West- 
australiens nahrhafte Griifie liegen hochaufgeschichtet auf dem Karren 
des Wiener »Backen«. 

Nicht auf die grofien Autos aus den stolzen Fabriken setze ich mich, 
auch nicht auf die zweispannigen Wagen. Ich spannte mich vor einen 
kleinen Karren eines kleinen Backers und zog redlich mit. Und als ich 
in die Werkstatte kam, verbreitete sich marchenweifier Schimmer in 
der Stube, Das Mehl wurde ausgeschiittet. Schneeweifies, »griffiges« 
Mehl, wie der Meister sagte. Und wie ich so vor dem weifien Haufen 
stand, packte mich die Riihrung. Und ich zog ergriffen den Hut und 
erwiderte den Grufi einer feindlichen Welt . . . 

Der Neue Tag, 8. 6. 1919 



DER MISSGLUCKTE PUTSCH 

Yersuchte Bestechung der Wache 

Die Verhaftung der Kommunisten auf Anordnung 
der Entente vorgenommen? 

Wie die Pari. Korr. von unterrichteter Seite erfahrt, wurde die Ver- 
haftung der Kommunisten in der Pulverturmgasse ebenso wie die 
Festnahme von 50 Soldaten der ungarischen roten Armee, die mit Ma- 
schinengewehren Sonntag friih am Ostbahnhof einlangten, auf Veran- 
lassung der Entente beziehungsweise der franzosischen Militdrmission 



19 19 73 

vorgenommen. Es wurde der osterreichischen Regierung bekanntgege- 
ben, dafi die Entente die Verhaftung der Kommunisten selbst vorneh- 
men werde, falls die Wiener Regierung die notwendigen Mafinahmen 
nicht selbst treffen wiirde. 



Wie es gemacht werden sollte 

Die »Arb.-2tg.« berichtet: 

»Was am Sonntag tatsdchlich heabsichtigt wurdcy geht aus den nachfol- 
genden >Direktiven< hervor, die an die sogenannten Initiativ-Komitees 
(I. K.) gesendet wurden. Diese I. K. bestehen nahezu bei jedem Batail- 
lon der Volkswehr; sie haben iiber die kommunistischen Volkswehr- 
leute diktatorische Gewalt, und ihre Hauptaufgabe liegt darin, die 
Volkswehr zh kommunistischen Aktionen mitzureiflen. An diese Ini- 
tiativ-Komitees sind nunfUr den Sonntag von den >Revolutiondren Sol- 
datenkomitees< folgende Direktiven gegehen worden: 

Rnndstampiglie: 
Revolutiondres Soldatenkomitee 
D,-0. Sekretariat. 
Direktiven 
Was macht das LK. f 
Wenn der Befehl zum Ausriicken kommt 

a. und die Soldaten auf Kampf zwischen Proletarier und Polizei sto- 
fien^ so entfaltet der dazu schon jetzt vom LK. bestimmte Genosse die 
rote Fahne und ruft ein Hoch auf die Diktatur aus. Die anderen Ver- 
trauensmdnner stimmen begeistert ein, setzen alles daran, um die 
ganze Abteilung mitzureijlen, und sie schliefien sich den Arbeitern an. 
Seite an Seite mit den BrUdern im Arbeitsrock kdmpfen die Volkswehr- 
leute gegen den gemeinsamen Feind, ob es sich um Polizei, Offiziersba- 
taillone oder reaktiondre Studenten handelt. 

b. Und wenn die Soldaten auf geb dude sturmende Proletarier stoflen, 
so entfalten sie (wie bei Punkt a) die rote Fahne, rufen >Hoch!<, schlie- 
fien sich an die Arbeiter an, und das Gebdude wird Hand in Hand mit 
dem Proletariat genommen. Die Abteilung besetzt das betreffende Ge- 
bdude und handelt laut Punkt c; 

c. und die Abteilung den Auftrag erhdlt, irgendein Gebdude usw. zu 
besetzen, ohne auf Kampf ende usw. zu stoflen, dann hissen sie die rote 



74 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Fahne auf dem Gebaude und verlangen, dafi das Kommando iiber die- 
ses Gebmde in die Hande eines zu ernennenden Gebdudekomitees 
iibergehty das zu gleichen Teilen aus Kommunisten und Sozialdemo- 
kraten (Soldatenrdte oder Mannschaft, aber keine Offiziere!) zusam- 
mengesetzt ist. « 

Bitte fortwdhrend Berichte schickenl Besonders nach jeder wie immer 
gearteten Aktion. 

Danach wird man liber die letzten Absichten dieser »Waffenkundge- 
bung« am Sonmag wohl nicht mehr im unklaren sein. Man wollte sich 
selbstverstandlich nicht mit einem theoretischen »Hoch auf die Dik- 
tatur« begniigen, sondern die Volkswehr veraniassen, mit den Putschi- 
sten gemeinsame Sache zu machen, und sie verfiihren, die verschiede- 
nen »Gebaude« mitbesetzen zu helfen. An welche Gebaude da gedacht 
wurde, wird natiirlich ebenfalls nicht zweifelhaft sein; man hoffte, sich 
auf diese Weise in den Besitz all der Gebaude zu setzen, in denen die 
staatliche Macht konzentriert ist. Mit anderen Worten: Die eigent- 
lichen Veranstalter dieses Sonntags, das sogenannte »Direktorium«, 
hatten den Vorsatz, die gegenwartige republikanische Verfassung zu 
stiirzen und an ihre Stelle ihre eigene Macht, die Macht der ungari- 
schen Machthaber, zu setzen. Das mufi man fest im Auge halten, wenn 
man liber die Festnahme des kommunistischen Direktoriums - denn 
nur auf dessen Festnahme und insbesondere seines eigentUchen Dik- 
tators, des Ungarn Bettelheim, war es abgesehen - in der Samstagnacht 
das richtige Urteil fallen wird. 

Wie im gestrigen Blatte mitgeteilt wurde, ist durch die Erhebungen der 
Polizei festgestellt worden, dafi die Wiener Kommunistenflihrer von 
der ungarischen Gesandtschaft in der Bankgasse zahlreiche Betrage, 
darunter Summen bis zu einer Million Kronen, erhalten haben. Nun- 
mehr berichtet die »Arb.-2tg.«, dafi in den letzten Tagen der ungari- 
sche Gesandte Szobel mit Polizeibeamten der unteren Rangklassen in 
Verbindung zu treten versuchte, um sie zum Anschlujl an die Kommu- 
nisten zu bewegen, Szobel legte den Polizeibeamten nahe, ihre Stellung 
in der Raterepublik hiedurch zu festigen, und sprach davon, dafi ihm 
auch ein Vertrag von looooo Kronen fiir jeden Beamten nicht zuviel 
ware. 

Von uns eingeholte Erkundigungen haben die voile Bestdtigung dieser 
Meldung ergeben, wenn auch im Hinblick auf die noch nicht abge- 
schlossene Untersuchung von den in Betracht kommenden Steilen eine 



I9I9 75 

gewisse Zuriickhaltung bewahrt werden mufi, Soviel aber kann gesagt 
werden, daft die Personlichkeit, derer sich die Kommunisten zwecks 
Annaherung an die Poiizei bedienten, durchaus kein Agent provoca- 
teur gewesen ist, sondern im Gegenteil der kommunistischen Partei 
sehr nahesteht. Die Affare ist nur durch die Unbestechlichkeit der Poli- 
zeibeamten aufgedeckt worden, und zwar knapp vor dem Sonntag, 
und war ein Beweis dafur, daft diesmal von den Kommunisten Ernst 
gemacht werden soUte. Dafi es sich um niedere Polizeibeamte gehan- 
delt hat, die bestochen werden sollten, hat in der Hauptsache gewisser- 
mafSen taktische Griinde. Man woUte sich eben nur der Polizeiinspek- 
toren vergewissern, damit die Besetzung offentlicher Gebaude, der 
Strafien usw. von der Wachmannschaft nicht mit Waffengewalt verhin- 
dert werden sollte. - Die genauen Vorgange werden vorlaufig noch 
geheimgehalten und diirften erst nach Beendigung der ganzen Unter- 
suchung zur Kenntnis der OffentHchkeit gelangen. 



Eine Erkldrung der Wiener ungarischen Gesandtschaft 

Zum Zusammenhang mit dieser Angelegenheit ersucht uns die Presse- 
Abteilung der ungarischen Gesandtschaft um folgende Feststellung: 
»Gegeniiber der anscheinend amtlichen Mitteilung der Wiener Poiizei^ 
wonach der politische Bevollmdchtigte der ungarischen Rdteregierung 
Polizeibeamten der unteren Rangklasse looooo Kronen in Aussicht ge- 
stellt hdttey stellt die Gesandtschaft festy dajl diese Behauptung jeder 
tatsdchlichen Grundlage entbehrt. 

Wahr ist hingegeuy dafi diese Beschuldigung des Polizeiprdsidiums eher 
den Wunschen der Poiizei als den Tatsachen zu entsprechen scheint, 
denn es steht fest, dafi das Polizeiprdsidium Agents provocateurs be- 
stellt und in die Gesandtschaft geschickt hat, die aber dort sofort als 
solche erkannt wurden.« 

In den Kreisen der PoHzeidirektion wird diese Behauptung der Ge- 
sandtschaft mit Entriistung zuriickgewiesen^ und es kann keinem 
Zweifel unterHegen, wem die unparteiisch denkende Offentlichkeit 
mehr Glauben schenken wird: der Beschuldigung der ungarischen Ge- 
sandtschaft, die den Stempel inneren Widerspruchs an sich tragt, oder 
den amtlichen Feststellungen unserer PoHzeidirektion, die sicherUch 



76 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

keinen Anlafi und kein Interesse hatte, die blutigen Vorfalle des Sonn- 
tags herbeizufiihren. Im ubrigen wird der Untersuchungsausschufi, 
den der Kreisarbeiterrat eingesetzt hat, bereits heute abend seinen Be- 
richt iiber die bisherigen Ergebnisse des Verfahrens erstatten, und 
dann wird sich ja zeigen, welcher Wert den Erklarungen der Gesandt- 
schaft beizumessen ist. 



Schatzkammer und Banken werden zuerst hesetzt! 

Es ist iibrigens sehr bezeichnend fiir die Absichten der Kommunisten, 
dafS bei dem Putsch in erster Linie jene Gebaude besetzt werden soil- 
ten, die grofie Werte bergen. Die Schatzkammer in der Hofburg und 
die Gebaude der Banken soUten vor alien Dingen gesichert werden . . . 
Wie mitgeteilt wird, wurden in der Pulverturmgasse im Besitze der 
Kommunisten zwanzig Maschinengewehre, zwei Autos mit Munition 
sowie genaue Plane vorgefunden, nach welchen die »Besetzung« hatte 
vorgenommen werden soUen. 

Denn zu diesen »Direktiven« stimmt die gleichzeitig erlassene Auffor- 
derung: »}eder Volkswehrmann hat die Pflicht, mit der Waffe in der 
Hand an dieser DemonstrMion teilzunehmen.« Das famose Direkto- 
rium, dem jener Bettelheim die Ordres von Budapest iiberbrachte, 
plante, woUte und bereitete einen Putsch zur Beseitigung unserer repu- 
blikanischen Verfassung vor! 



Die Sonntagsopfer 

Nun liegen sie alle, die Opfer ihrer Uberzeugung, der Verfiihrung oder 
des blinden Zufalls, in offenen Sargen in dem Hause der Wissenschaft, 
die sie sezieren will. In dem kleinen Kellerraum des Instituts fiir ge- 
richtliche Medizin und Pathologie in der Sensengasse liegen sie Schul- 
ter an Schulter sozusagen, junge und altere, Kopfschiisse, Bauch- 
schiisse. Menschen, die von der Fata Morgana einer Erlosungsidee in 
die Horlgasse getrieben, dort den Tod finden mufSten. Hier scheiden 
sie sich nicht ihrer politischen Uberzeugung nach in radikale und ge- 
mafiigte. Hier gilt nur: agnosziert oder unbekannt. Die agnoszierten 
Leichen wandern in den Seziersaal, und der »lehrreiche Kopfschul5« 



19 19 77 

begegnet bei den Horern lebhaftem Interesse. Der Hdrsaal des Prof. 
Haherda ist voUer als je, nur well man gehort hat, dafS die Leichen vom 
blutigen Sonntag zur Erorterung gelangen soUen. Die unbekannten 
Toten aber barren weiter im dunklen Kellerraum der Freunde oder 
Verwandten, die kommen sollen, um sie zu agnoszieren. 
Viele, viele Leute drangen sich in dem engen Raum, vor der Leiche 
eines kleinen Knaben steht eine Frau und weint, weint unaufhorlich, 
ihr magerer Korper bebt, ihre spitzen Schultern zucken. Zwei Manner 
wandern von Leiche zu Leiche. Sie suchen einen Angehorigen, der seit 
Sonntag nicht mehr nach Hause zuriickgekehrt ist. In alien offentli- 
chen Krankenhausern haben sie nachgefragt, zum SchlufS sind sie auch 
hierher noch gekommen. Aber nirgends ist der Gesuchte. 
Eine weinende Frau erzahlt, ihr siebenjahriges Maderl sei am Sonntag 
weggegangen und nicht mehr zuriickgekommen. Welche Uberwin- 
dung einer Mutter, ihr Kind in der Sezierkammer suchen zu gehen! . . . 
Auch Neugierige gibt es, die ihre Wonne darin finden, sich angruseln 
zu lassen von den grof^en Unbekannten und, wenn eine Gansehaut sie 
iiberzieht, zufrieden im stillen zu denken: Welch Gliick, dafi ich nicht 
dabei war! . . . 

Zwei weiCgekleidete Diener kommen und heben die agnoszierten To- 
ten aus den Sargen, legen sie auf bequeme Kastenbretter, sachhch, 
trocken, niichtern und geschaftsmafiig. Seltsames Gefiihl, das einen da 
iibermannt: Als diese Menschenkorper lebten, hatte sich die Politik 
ihrer bemachtigt. Nun sie tot sind, okkupiert sie die Wissenschaft, als 
batten diese beiden Machte ein Biindnis geschlossen, demzufolge sie 
gegeneinander Menschen wie Schnittwaren austauschen. Nirgends 
kommt einem so stark der Gedanke der VergangUchkeit wie hier in 
dem niichternen Hause, wo die Ideale seziert werden und jedes Hero- 
entum schlieElich auslauft in ein Experiment zu Prlifungszwecken. 
Vielleicht tate es gut, wenn ein paar jener Unverantwortlichen, denen 
letzten Endes doch allein die Blutschuld zuzuschreiben ist, sich hier 
die Erfolge ihrer »Tatigkeit« anschauen wollten: Da liegen jene tot, die 
starben, weil sie glaubten, ein besseres Dasein zu erreichen. Und wah- 
rend diese numeriert, obduziert, zerschnitten und gepriift werden, 
sind die Schuldigen weiter darauf bedacht, arme, verhetzte Menschen- 
seelen von der Bierbank der Politik auf den Seziertisch der Wissen- 
schaft zu befordern ... 

Der Neue Tag, 17. 6. 1919 



VON BARFUSSGANGERN UND WASSERTRETERN 



Man mufi den Leuten ihr Vergniigen lassen: Die einen suchen in der 
Telepathie ihr Heil und spielen Einschlafen oder Ratselraten; die ande- 
ren versammeln sich beim Kartenspiel, um sich ebendaselbst zu zer- 
streuen; die dritten steigen auf die Berge, um abzustiirzen. Aber habt 
ihr schon etwas von Barfufigdngern und Wassertretern gehort? Diese 
erheben das zum Vergniigen, was mir zum Beispiel gar keines ist, son- 
dern das Gegenteil. Meine im Jahre 19 17 als garantiert echter Pappen- 
deckel erstandene Stiefelsohle gibt mir haufiger, als mir in Anbetracht 
des harten Pflasters erwiinscht, Gelegenheit, fast barfufi zu gehen und 
im Wasser zu treten, wenn es regnet. Ein Vergniigen aber war mir 
diese Wassertreterei niemals. Nun aber solhe auf einmal aus der Not 
eine Tugend gemacht werden konnen?! . . . 

Es kam so: Am Donnerstag flatterte eine Einladung auf meinen 
Schreibtisch, mittels welcher mich der Verein der Barfufiganger und 
Wassertreter hoflichst einlud, am Sonntagvormittag einen zweistiindi- 
gen Spaziergang, verbunden mit Wassertreten, in der angenehmen Ge- 
sellschaft der MitgUeder des Vereines mitzumachen. Ich atmete auf: 
EndHch war das Problem, das mich seit Monaten beschaftigte und mir 
meinen Schlaf raubte, gelost, das Problem: Wie barfufi laufen, ohne 
Aufsehen zu erregen und ohne den verachtlichen Blicken ebenso gut 
besohlter als besoldeter kommunistischer Agitatoren ausgesetzt zu 
sein? Ich hatte eine Gemeinschaft gefunden, innerhalb derer zernssene 
Stiefelsohlen nicht als Beweis galten fiir moralische Minderwertigkeit 
und keine gesellschaftliche Katastrophe bedeuteten. Im Gegenteil: Ich 
durfte stolz sein auf die Mangelhaftigkeit meiner Fufibekleidung und 
meine unfreiwillige ewige Barfufiwanderung durfte Verdienst und 
Vorzug sein. 

Ich beschlofi also zu gehen. Ich kam, sah und wanderte. Ich ward 
miide, meine Sohle schmerzte, ich watete, badete, »wassertrat«, ich 
machte alles mit. Im Geiste, natiirUch im Geiste, In Wirklichkeit war 
ich nur Zuschauer. Was ich sah, sei hier erzahlt: 
Alle Lodenhiite Wiens waren herangeflogen. Alle ManschettenroU- 
chen von Deutschosterreich und Umgebung batten sich versammelt. 
Es hatte den Anschein, als hatten sich alle griinen Janker der Welt 
Rendezvous gegeben. Alle kornblumenblauen Gesinnungen waren da. 



19 19 l^ 

Diese Menschen sahen alle einander zum Verzweifeln ahnlich. Es roch 
nach Moos, Waldesgriin, chrisdich-germanischem Schonheitsideal und 
deutscher Treue. Rucksacke am Riicken, den Wanderstab in der Rech- 
ten, aus Hauspantoffeln und alten Galoschen kunstvoU ge- und ver- 
schnittene Sandalen an den Fiifien und den Gott, der Eisen wachsen 
liefi, im Herzen, also ausgeriistet wurde der Barfuf^marsch angetreten. 
Was sag' ich? Angetreten?! Fast hatte ich cine der wichtigsten von den 
heiligen Handlungen vergessen: das Stiefel- und Sandalenausziehen. 
FiifSe kamen zum Vorschein. Zehen, grofie, kleine, verwachsene, ge- 
rade. Beine: diinne, muskulose, fleischige, schmalzige und krampfgea- 
derte. Es war direkt wie bei Teisinger. Nur gemiitlicher. 
Man wanderte. In Doppelreihen, im Gansemarsch, in Achterreihen, 
einzeln und in Gruppen. Kneippscher Geist schwebte iiber den Gefil- 
den, Bilz' Sanatorium erschien als Fata Morgana in der Luft. Die Ge- 
sichter strahlten in iiberdimensionalen Wunderkurerfolgen. Man wan- 
derte auf der Landstrafie, im Strafiengraben, im Gras, durch den Wald. 
Wenn ein Kiesei schmerzte, eine Fichtennadel stach, verbifi man den 
Schmerz und heuchelte dionysische Lust. Manche tappten noch vor- 
sichtig, andere, Abgehartete, zur Meisterschaft Erkorene, schritten fe- 
ste druff. Staub wirbelte auf. Wohliges Patschen der Fiifie war ver- 
nehmbar. 

Und dann, dann kam das Wichtigste, Erfiillung und Endziel aller 
Siichte, teuerstes aller Symbole, gralheiligste Handlung: das Wasser- 
treten. Hosen rutschten in die Hohe. Wurden aufgeroUt, langsam, 
bedachtig und mit GenuE. Und man stieg in den seichten Bach. Vor- 
sichtig erst, weil die Kiesei gar so riicksichtslos waren. Man trat mehr 
Kiesei als Wasser. Die Stocke wurden vorausgesandt. Machten Reko- 
gnoszierungsziige. Dann kam erst Bewegung in die platschernden 
Gruppen. Man sprach mit leuchtenden Augen, verziickten Gesichtern. 
Unausgesprochene »Ahs« der Befriedigung schwammen in der Luft. 
Man wassertrat mit Eifer, Liebe, Seele und Fuf^en. 
Auch Zuschauer gab es. Aufier mir Ausfliigler, Gassenbuben, Neugie- 
rige, Hohnische, Satirische, Witzige, Gegner und Anhanger, Uber- 
zeugte und bald Gewonnene. Debatten entspannen sich. Fiir- und Wi- 
derreden. Aber die erlauchte Gemeinde der Wassertreter erledigte ihr 
Geschaft mit Stolz und Stoizismus. Mit solcher Miene wandelte Sokra- 
tes iiber die Platze Athens, safi Diogenes in seiner Tonne. 
Dann ging es welter. Sonne und Staub trockneten, was Wasser genafit 



8o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hatte. Die zwei Stunden begannen sich infolge der Hitze auszudehnen. 
Und in dem Bewufitsein, dafi ich den Erfolg der Wunderwanderwas- 
sertreterei doch nicht erleben wiirde, ging ich nach Hause. Ging auf 
meinen zerrissenen Sohlen barfufi, aber doch nicht so, dafi die Leute es 
sahen. Kein Mensch hielt mich fiir einen Barfufiganger, Aber es war 
wirkhch kein Vergniigen. Ich lasse es den anderen . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 6. 7. 19 19 



VOM ABBAU DER PREISE 



Ein sogenannter »letzter energischer Versuch« zum Abbau der Preise 
wurde vom Zentralverband der deutschosterreichischen Staatsbeam- 
tenvereine beschlossen. Worin eigendich dieser letzte energische Ver- 
such bestehen soil, ist nicht bekannt. »Scheitert dieser letzte Versuch« 
- so heifit es in der Resolution - »dann lehnen wir jede daraus zu 
ziehende Schlufifolgerung ab.« Es ist so ziemiich das einzige, was den 
Leuten ubrigbleibt: Schlufifolgerungen abzulehnen. Die Folgen des 
Wuchers und der Preissteigerungen mufi man leider auf sich nehmen. 
Dafiir werden sie von den zu ihrer Beseitigung berufenen Faktoren - 
abgelehnt . . . 

Schon glaubt man, die gelobte neue Zeit hatte dem Kettenhandel die 
Gotterdammerung gebracht. Man wendete Anziige zum vierten und 
fiinften Male und entdeckte, dafi jedes Ding, wenn man nur will, mehr 
als zwei Seiten habe. Man wartete mit der Anschaffung der dringend- 
sten Bedarfsgegenstande, und der aus der Blockade wie aus dem Dorn- 
roschenschlaf durch den Frieden langsam, ach, nur zu langsam wach- 
gekiifite Mitteleuropaer entdeckte erstaunt und plotzlich, dafi seine 
eigene Lage sich in dem Mafie zu heben begann, wie die Preise in den 
Schaufenstern sanken. Wer so dringend Hosentrager brauchte, dafi er 
jeden Augenblick Gefahr lief, in eine Katastrophe hinabzurutschen, 
begniigte sich Ueber mit einem Papierspagat, mittelst dessen man sich 
ohnehin nicht gefahrlos aufkniipfen konnte, und wartete auf das »Sin- 
ken« der Hosentrager. Zerfetzte Uberzieherexistenzen wurden ge- 
flickt, und selbst aus den Triimmern einer Krawatte wurde noch eine 



I9I9 8I 

kunstvolle Schleife gekniipft. Man wartete und wartete. Man hoffte auf 
den Friedensschlufi. Die Behorden taten, was sie sonst zu tun pflegen: 
Sic versprachen den »Abbau der Preise«. Aber sie versprachen nicht 
nur, sie taten auch noch, was sie sonst zu tun pflegen - sie hielten 
nicht. Denn wahrend zwei, drei Wochen hindurch tatsachlich eine Re- 
duktion der Preise zu bemerken war, ein Meter Stoff 40 bis 50 Kronen, 
Striimpfe 12 bis 15 Kronen, Herrensocken sogar 7 Kronen, ein Paar 
Lederschuhe schon 120 bis 150 Kronen kosteten, klommen die Preise 
im Laufe der ietzten Woche mit einer ungeahnten Geschwindigkeit die 
Hohenleiter empor und bleiben nicht nur auf einer der hochsten 
Sprossen - nein!-, sie bemiihen sich, noch immer ho her und ho her zu 
steigen, um schliefiUch in den himmlischen Wolken unerreichbaren 
Kriegsgewinnertums den sehnsiichtigen BHcken festbesoldeter All- 
tagsmenschen zu entschwinden. Stoff e kosten heute schon 150 bis 200 
Kronen, Herrensocken 20 bis 30 Kronen, Schuhe 250 bis 270 Kronen, 
Einzig sogenannte Luxuslebensmittel, die leider aus der deutschoster- 
reichischen Verzweiflung einer arg rationierten Gegenwart heraus zu 
Notwendigkeiten geworden, sind verhahnismalSig biUiger, Daf^ je- 
mand heute Schokolade ifit und an zerrissenen Stiefelsohlen krankt, ist 
langst nicht mehr paradox. Aber paradox ist die Tatsache, daf5 jemand 
im Monat 150 Kronen fiir Luxusfahrten mit der Elektrischen ausgeben 
kann und das Doppelte haben miifite, um sich ein Paar Stiefel anzu- 
schaffen und sich iiberfliissige Reifen zu ersparen. Barfuf^ und zer- 
schhssen fahren wir mit einem 60-Heiler-Fahrschein der Endstation 
des Unterganges entgegen . . . 

Warum diese urplotzUche Steigerung? Eine Laune der Kettenhandler? 
Eine gottUche Eingebung der Wucherer? Miissen wir zusehen, wie sie 
uns aussaugen und untatig bleiben wie die Behorden? Der Zentralver- 
band der deutschosterreichischen Staatsbeamtenvereine hat einen 
»letzten, energischen Versuch« unternommen. Wann tun es die ande- 
ren? Es wird vielleicht nichts iibrigbleiben, als die »Schlui^folgerungen 
abzulehnen«. Aber man wird sich wenigstens gewehrt haben, ehe man 
dazu verurteilt wird, die Folgen - nicht ablehnen zu konnen. 

Der Neue Tag, 6. 7. 19 19 



FUNFZIG JAHRE WIENER SICHERHEITSWACHE 



Wien ist wohl eine der ganz wenigen Grofistadte, in denen die Polizei 
einen organischen Bestandteil der Bevolkerung bildet, aus dieser her- 
aus- und mit ihr zusammengewachsen. Die sprichwortlich gewordene, 
in der letzten Zeit leider zu den arg rationierten Artikeln zahlende 
Gemiitlichkeit hatte selbst dem »Wachter« den Stempel ihres Lachelns 
aufgedriickt, und eine Wiener Amtshandlung war stets umflossen von 
Glorienschein einer gutbiirgerlichen Behaglichkeit. In Wien zwinkerte 
manchmal das Auge des Gesetzes gutmiitig bei Anlassen, die in Berlin 
z.B. schon zumindest ein strenges Blicken verursacht hatten. Das 
ebenso beriihmte wie beriichtigte osterreichische »Hinterturl« konnte 
sich infolgedessen haufig leicht und glatt in den Angeln bewegen. Aber 
weder daraus soil der Polizei ein Vorwurf gemacht werden noch auch 
aus dem Umstande, dafi dieselbe Wiener Polizei gerade in den letzten 
Wochen, sicherlich gegen ihren Willen, rigoroser, als es ihre Art ist, 
werden mufite. Beweist doch das erstere, dafi »Dienst« nicht Herzlosig- 
keit bedingt, und das zweite, dafi die Strenge zur richtigen Zeit ange- 
wendet wird. Und so verdient es unsere Polizei, dafi ihrer heute, da sie 
das fiinfzigjahrige Jubilaum ihres Bestandes feiert, gedacht werde. 
Der unter dem Schriftstellernamen t/. Tartaruga bekannte Polizei- 
Oberkommissar Dr. Ehrenfreund hat iiber Auftrag des Polizeiprasi- 
denten einejubilaumsschrift verfaEt, die textlich und bildlich besondere 
Anerkennung verdient. Interessant und mitunter sogar spannend ge- 
schrieben, bildet dieses Buch als Lektiire eine Quelle der Unterhaltung 
und Belehrung zugleich. In dem Kapitel »Historische Entwicklung des 
Wiener Sicherheitsdienstes« gibt Tartaruga einen knapp zusammenge- 
fafiten und dennoch genauen und ubersichtHchen Uberblick iiber das 
Schicksal der Wiener Polizei von ihren ersten Anfangen. Man erfahrt, 
dafi just am 13. Mai Anno Domini 1444 der Stadtrat eine sogenannte 
»Biirgerpolizei« einfiihrte »uber lebhaften Wunsch der von allerlei Ge- 
sindel beunruhigten Vorstadte«. Etwa hundert Jahre spater, im Jahre 
1547, entstand die Wiener »Tag- und Nachtwache«, die sich aus 60, sage 
und schreibe: sechzig Landsknechten zusammensetzte. Diese Lands- 
knechte mit Sabel, Spiefi, Fahne, Hellebarde und den unvermeidlichen 
iiberdimensionalen Waffensteinstiefeln bildeten den einzigen Sicher- 
heitsschutz der Stadt. Aus der im Jahre 1776 errichteten Militarwache 



19 19 83 

bildete sich dann die sogenannte »Rumorwache« heraus, deren spafiiger 
Name symbolische Bedeutung gewinnt, wenn man erfahrt, daf5 besagte 
Wache mehr Rumor zu erzeugen als zu verhindern imstande war. Die 
Militarwache aber war lange nicht so gemiitlich, wie es unsere heutigen 
Wachieute sind. Ihre Brutalitat war gef iirchtet, aber dem Spott der damals 
noch zu Spott aufgelegten Wiener Bevolkerung entging diese Militarwa- 
che denn doch nicht, denn ihre mangelhafte Ausbildung und ihre Un- 
kenntnis der Gesetze brachten sie nicht selten in ebenso unangenehme 
wie tragikomische Situationen. Auch gehorte es seltsamerweise zu ihren 
Obliegenheiten - sogar Strafienlaternen zu putzen, und man kann sich 
vorstellen, dafi einem Wiener Backer^ehilfen oder Schusterlehrling aus 
dem achtzehnten Jahrhundert ein um die Reinhaltung der Strafienbe- 
leuchtungskorper lebhaft, aber ungeschickt bemiihter Militarwachmann 
mit Sabel und Gewehr unmoglich Respekt einflofien konnte. So ging 
denn das Militarwachkorps einem langsamen, aber sicheren Ende entge- 
gen, und als 1867 der damalige Polizeidirektor Strobach von der Pariser 
Weltausstellung zuriickgekehrt war und auf Grund seiner Studien, die er 
am Pariser Sicherheitsdienst gemacht hatte, der Regierung die Schaffung 
einer Art »Sergeante de ville<( in Wien beantragte, wurde am 2. Februar 
1869 mit »Allerhochster Entschliefiung« eine »k.k. Sicherheitswache« 
geschaffen. Unter den fiir diese Wache Assentierten befanden sich Stu- 
denten, Militars, Privatbeamte, verarmte Geschaftsleute, Berufsmusiker, 
allerdings auch halbe Analphabeten mitunter. Dennoch entwickelte sich 
die »k. k. Sicherheitswache« allmahlich zu einem einheitlichen, straff dis- 
ziplinierten Organisationskorper. 

Das und noch manches andere erfahrt man aus dem Buche Tartarugas. 
Heute ist der Wachmann eine so selbstverstandliche Erscheinung im 
Wiener StraEenleben, dafi er fiir den Passanten eben nichts anderes ist 
als ein Bestandteil der Stral^e, wie eine Plakatsaule, eine Strafienbahnhal- 
testelle, ein Wartehauschen, ein Laternenpfahl. Man geht an ihm vorbei 
und sieht ihn nur, wenn man im Begriffe ist, nach einer mysteriosen 
Vorstadtstrafte zu fragen oder unter die Rader eines italienischen Autos 
zu geraten. Wer tiefere Ursachen und Zusammenhange kennenlernen 
will, moge sich aus der Jubilaumsfestschrift orientieren. Man wird da 
mit einem guten Stiick Alt- Wiener Lokalgeschichte bekannt, hort man- 
ches interessante Ereignis und amiisiert sich zwei Stunden lang iiber die 
kostliche Naivitat alter »wohlweiser Stadtvater«, ai^ert sich wohl auch 
iiber manche Vorkommnisse, die dem modernen Wiener beweisen, dafi 



84 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

seine Verwandtschaft mit den Schildbiirgern keineswegs eine neuzeitli- 
che Errungenschaft ist. Die Wiener Sicherheitswache konnte das Jubi- 
laum ihres funfzigjahrigen Bestandes nicht besser begehen als durch die 
Herausgabe dieses Werkes. Es ist in Josef Deublers Verlag erschienen 
und verhaltnismafiig billig zu erstehen. Der Historiker findet darin 
wertvoiles Material, der Liebhaber kostliche Anekdoten, der Biir^er 
eine angenehme Lekture, und selbst »dar Weana« findet hier, was er 
stets sucht: a Hetz!.. . 

Josephus 
Der Neue Tag, 17. 7. 1919 



DIE WEISSGELDWECHSELSTUBE 



Mifitrauen steht an der Schwelle und empfangt dich: Du kannst ein 
Spitzel sein, ein Konfident, ein Zutrager, ein Spion. Ein Fremder bist du 
jedenfails: Du hast einen reinen Kragen an, und dein Benehmen riecht 
verdachtig nach Mitteleuropa. Deine Hande fuchteln nicht durch die 
Luft, deine Augen zwinkern nicht Hstig, erkokettieren kein Geschaft- 
chen, deine Brusttasche ist normal an deinen Busen geheftet und steht 
keine Viertelmeile von der Hiille deines Ich ab. Du hast nichts Verhetz- 
tes an dir, nichts Polizeiwidriges, nichts Wildmafiiges, nichts Schlaues. 
Vor dem Auge des Gesetzes zuckst du mit keiner Wimper, und keiner 
deiner Finger riihrt sich, ein Hintertiirl zu offnen. Was willst du also, 
Anstandiger, gesetzlich Geschiitzter und Gesetze Schiitzender unter 
gesetzlich Schutzlosen und dem Schutz der Gesetze Entronnenen? Was 
suchst du, Geachteter, unter den Geachteten? Du Vollwertiger unter 
Minderwertigen? Du Gewaschener unter Schmutzigen? Kulturmensch 
in Kulturlosigkeit? Du Gewissenhafter im Reiche der Gewissenlosig- 
keit? Du mit Skrupeln Behafteter im Bezirke der nachkriegerischen 
Moral infanity? Siehst du: Du bist ein Fremder, und deshalb steht das 
Mifitrauen an der Schwelle des kleinen Kaffeehauses in der Bankgasse 
und empfangt dich . . . 

Ich weifi eine Zeit, da war dieses Kaff eehaus noch ein harmloses »Tsche- 
cherl«, und seine armselige Existenz bestritt es von dem Erfrischungs- 
bediirfnis der Diener der ungarischen Gesandtschaft. Es erweckte den 



19 19 85 

Anschein, als ware es eigens fiir die Zwecke der Gesandtschaft einge- 
richtet und zu nichts anderem fahig, als dem Neuigkeitsbediirfnis der 
Unterbeamten mittelst Zeitungen und dem zeitweiligen Durste der 
Stammgaste und Likorstamperln entgegenzukommen. Freilich! Damals 
kannte die Zeit noch kein Wei£geld, sondern gute osterreichisch-unga- 
rische Wahrung, und die Gesandtschaft in der Bankgasse hatte von dem 
gemeinsamen Oberhaupte der Monarchic noch nicht die Berechtigung 
erhalten, durch die Kanale Wiens den Kommunismus in die Banken 
einzufiihren. Die Gesandtschaft woUte mehr reprasentieren als zweifel- 
hafte Prasente machen, sie hatte keine Passe zu vidieren, sondern den 
Dualismus, und ihr Wirkungskreis war noch beschrankter als der Hori- 
zont ihrer heutigen Uberwacher. Damals war das Kaffeehaus in der 
Nahe ein beliebter naher Ausflugsort fiir Hintertiirsteher und -offner, 
und manches harmlose, ganz harmlose kleine Geschaftchen wickelte 
sich zur allgemeinen Zufriedenheit der beteiligten vier Augen und der 
unbeteiligten zwei des Kaffeesieders ab. 
Aberheute!... 

Wie gesagt: Das Mif^trauen steht schon an der Schwelle und empfangt 
dich: »Suchen Sie wen?« Nein, ich suche niemanden, aber ich hiite mich, 
es zuzugeben. Natiirlich suche ich jemanden. »Haben Sie >weil^es<?« 
»Kaufen Sie >weiftes<?« Der Spekulationsgeist verachtet auch die Erfin- 
dungen Bela Kuns nicht und handelt selbst noch mit den Fabrikaten der 
Holle. Hier in der Wechselstube in der Bankgasse gibt es wahrhaftig noch 
Menschen, die Weifigeld kaufen. Ohne Drohungen, ohne Gewaltanwen- 
dung, ohne Ukas der Rateregierung. Ihr alle WeifSgeldbeladenen, aus 
Ungarn Kommenden, verzweifelt nicht! Einen blauen Lappen fiir zehn 
Kilogramm. Weifipapier kriegt Ihr immer noch! Ihr konnt Euer Weifi- 
geld loswerden, vollkommen loswerden, leichter als jene, die Euch damit 
begnadet! Oh, gabe es doch auch eine Wechselstube in der Bankgasse, in 
der man Volksbegliickungsideen eintauschen konnte gegen Nahrungs- 
mittel und zehn Kilogramm Kun gegen ein MilUgramm Vernunft! , . . 
In dem »Tschecherl« sitzen: 

Slowakische Bauerinnen mit bunten, ockergelben Blumentiichern; rus- 
sische Vaganten mit schwarzen hochgeschlossenen Hemden und wilder 
Anarchic in struppigcm Haupthaar; kleine Schieber mit blaukarierten 
Hemdkragen und grof^en Glaskugcln in giftgriinen Krawatten; polni- 
sche Juden mit Geschaftsgeist in Augen winkeln und seidcncn Kaftans; 
ungarische Bauern mit jenem Ausdruck namenloser Stierheit, die 



86 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

menschliche Wesen unbedingt erlangen miissen, wenn sie zehn Jahr 
lang Paprika fressen und plotzlich keinen Schnaps trinken diirfen; 
Hausierer mk Briefpapier, in dem Blaugeld steckt; Agenten und Spe- 
kulanten; Agitatoren und Makler; kleinere Waffenstiilstandsgewinner, 
die auf einen Krieg hoffen und darauf, nicht ihn, sondern durch ihn zu 
gewinnen; verzweifelte Kunsegenbeladene, die um einen blauen Pap- 
penstiel ihr hart erworbenes Weifigeld herzugeben bereit sind. 
Das sind die Besucher. Hie und da, wie zur Entschuldigung vor dem 
draufienstehenden Wachmann, zeigen sich die Umrisse einer Kellne- 
rin, die eine in einem Glase »Soda-Himbeer« schwimmende spanische 
Fliege an einem beliebigen Tisch serviert. An der Wand hangt eine 
Nummer des »Faun«, die noch vor dem Kriege entstanden, hier Mufie 
findet, sich zu iiberleben. Ein »Neues Wiener Journai«, das mindestens 
acht Monate alt und noch so naiv ist, vom »Endsieg« wissen zu wollen, 
dient dazu, Weifigeld und Blaugeld unberufenen Augen zu entziehen. 
Das Klosett und die Telephonzelle erfreuen sich des lebhaftesten 2u- 
spruches. Im ersteren werden Geschafte geheimer abgewickelt als in 
diplomatischen Salons, und die Telephonzelle diirfte die einzige in 
ganz Deutschosterreich sein, in der Verbindungen glatt und ohne Hin- 
dernisse hergestellt werden. Ein Handtuch, das in der Nahe der Kassa 
ein ebenso schmutziges wie nutzloses Dasein nicht fiihrt, sondern ge- 
radezu hangt, gibt Zeugnis davon, dafi hier Hande nicht haufig in Un- 
schuld gebadet werden. Im Dunst und Staub lebt eine Kiiche in sorglo- 
ser Vergessenheit, und ein halbzerbrochener, miihsam gekitteter Topf 
bildet eine kostbare Reminiszenz . . . 

Aus all dem quirlt der Geist des Kommunismus und des Handelns, 
sprudelt die Geldgier und frohlockt der Betrug. Hier ist der Ort, an 
dem der Gegensatz der Rassen und Nationen verschwindet. Hier kann 
es sein, dafi eine slowakische Bauerin einem polnischen Juden um den 
Hals fallt. DaE ein Rotgardist einen Wucherer ans Herz driickt. Wer 
an der Menschheit verzweifelt, gehe in das »Tschecherl« in der Bank- 
gasse und richte sich auf. Wenn die Internationale des proletarischen 
Gedankens versagt, wenn die Internationale des Geistes in Ohnmacht 
Hegt - nun, es lebt immer noch die Internationale des Weifigeldes und 
der Spekulation!. .. 

Der Neue Tag, i8. 7. 1919 



BRUCK UND KIRALYHIDA 



Bruck-Kiralyhida hatte einmal einen Bindestrich. 
Da kam der Umsturz, loschte den Bindestrich weg, und damit war die 
Doppelmonarchie kaputtgegangen. 

Ware der Bindestrich geblieben, so hatten wir vielleicht heute noch 
den Duahsmus. 

Der Bindestrich war in Wirklichkeit eine Briicke, die, iiber die Leitha 
geschlagen, Diesseits und Jenseits miteinander verband. Der Verkehr 
iiber die Briicke war ein vollkommen unbehinderter. Diesseits spra- 
chen die Leute Deutsch und Ungarisch, jenseits sprachen sie Unga- 
risch und Deutsch. Diesseits prunkten sie schwarz-gelb, jenseits schil- 
lerten sie in griin-weifi-rot. Diesseits fiihlten sie kaiseHich, jenseits ki- 
raly. Das waren die Unterschiede. Sonst gab es nur sehr geringe, kaum 
wahrnehmbare. Hier wie dort waren die Kinder blond, braun oder 
schwarz, aber immer schmutzig. Hier wie dort waren die Geschafts- 
leute klug, praktisch und niichtern. Hier wie dort konnte man das 
Geld auf ebenso leichte wie schmerzlose Art loswerden. Und man 
wurde es los. In der ganzen Monarchie nicht leichter als in Bruck- 
Kiralyhida. 

Wahrend des Kriegs gab es in Bruck eine Strafanstalt, die sich »Offi- 
ziersschule« nannte und die Aufgabe hatte, aus Einjahrigen »mit 
Knopf« privilegierte HaftUnge mit Anspruch auf Gage und Fahnrichs- 
portepee zu machen. Taghch marschierten die Zoglinge dieser Anstalt 
iiber die Briicke. Damals bedeutete die Briicke noch jenen Ort, wo sich 
Osterreicher und Ungarn Schulter an Schulter beriihrten, um so fiir 
das offizielle gemeinsame Vaterland zu kampfen und zu sterben. Die 
einen fiir den Kaiser, die anderen fiir den Konig. Damals waren beide 
einer. Jetzt ist eines zwei. Der Bindestrich ist weg! . . . 
Nein! Wenn man eigentlich genauer hinsieht, ist der Bindestrich noch 
da. Er heifit nur anders. Er ist ein Scheidestrich geworden. Statt zu 
binden, trennt er. Um es mit einem Wort zu sagen: Es ist eine Grenze. 
Der Bindestrich ist besetzt. Diesseits von deutschosterreichischen 
Gendarmen, jenseits von Rotgardisten. UnheimHches Gefiihl, so in der 
Nahe der Briicke zu stehen. Der Herzschlag setzt fiir eine Sekunde 
aus. Das Ende der Welt. Anfang des Chaos. Grenze der Vernunft. 
Oder der Unvernunft? . . . 



00 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Grenzverkehr ist lebhaft. Man tauscht Geld, Waren, Ideen aus. 
Um einen billigen Ausgleich herzustellen, hat die deutschosterreichi- 
sche Regierung genauso viele Polizeiagenten hergeschickt wie die un- 
garische Agitatoren. Man vertragt sich ausgezeichnet und verkehrt in 
denselben offentlichen Lokalen. Um einander besser beobachten zu 
konnen, spielt man miteinander eine Partie Billard. 
Es gibt allerdings auch Bourgeois. Ungarische Kapitalisten. Nur sie 
sind von den Agitatoren schwer zu unterscheiden. Sie sind genauso 
elegant, sprechen genauso Ungarisch, haben Brieftaschen von gleichem 
Umfang und gleichem Kubikinhalt. Sie trauen sich nur nicht iiber die 
Grenze und warten auf den Sturz der Kun-Diktatur in Ungarn. Die 
Agitatoren warten auf die Proletarierdiktatur in Deutschosterreich. 
Das ist der ganze Unterschied . , . 

Auch die Entente ist vertreten. Durch vier England er. Unteroffiziere 
mit 100 Kronen taglich Gehalt. Nur einer spricht Deutsch, Deshalb 
sind die vier den ganzen Tag beisammen. Sie essen die gleichen Spei- 
sen, trinken die gleichen Getranke, kaufen die gleichen Waren. Des- 
halb eben, weil nur der eine Deutsch spricht. Diesem fiigen sich die 
anderen. Denn es ist unbequem und unengHsch, viel zu sprechen und 
zu gestikuheren. Das besorgen die Ungarn desto ausgiebiger. Diese 
sprechen alle Deutsch. 

Wenn man sich nicht in acht nimmt, kriegt man in Kaufladen, Kaffee- 
hausern, Hotels usw. eine Zwanzigkronennote in lauter Zweikronen- 
noten gewechsek, deren Seriennummern alle mit einer Sieben begin- 
nen. Es ist eine bose Sieben. Das Geld ist Kun-Geld, also wertlos. Man 
tut am besten, es einem ahnungslosen, aus dem Innern Deutschoster- 
reichs kommenden Reisenden als Trinkgeld anzuhangen. 
Wie gesagt, es ist etwas beangstigend in Bruck. Denn man teilt hier die 
Menschen in zwei Kategorien: in solche, die einen blaukarierten, und 
in solche, die einen weilSen Hemdkragen haben. Die ersteren sind Poli- 
zeispitzel, die letzteren kommunistische Agitatoren. Die einheimi- 
schen Manner tragen iiberhaupt keinen Hemdkragen. So wird man als 
Fremder mifitrauisch betrachtet. Entweder man ist Spitzel oder Agi- 
tator, oder man entschlief^t sich, ohne Hemdkragen zu gehen. Dann 
wird man vom erstbesten Gendarmen verhaftet und ist aller Sorge ent- 
hoben. 

Seltsame Stadt! Als ich mich in der Nacht in dem zu kurzen Bett an- 
standig ausstrecken wollte, traumte ich, daf^ ich mit der Nase an den 



19 19 ^9 

Bindestrich anstofie, just dort, wo er von Rotgardisten besetzt ist. Ich 

roch Bela Kun, erwachte schweifitriefend und konnte nicht mehr 

schlafen. 

Nie mehr gehe ich nach Bruck an der Leitha. Seitdem es nicht mehr 

Bruck-Kiralyhida heifit, ist es ungemiithch. Und das nur wegen des 

Bindestrichs. 

Es ist schade um den Bindestrich . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 20. 7. 1919 



NOCH EINE EPISODE 



Unlangst treffe ich eine alte Freundin, die ich lange nicht gesehen habe. 
Wie meine Hosentaschen habe ich sie seinerzeit gekannt. Um diese alte 
Bekanntschaft wieder aufzufrischen, sind wir zusammen ins Kino ge- 
gangen. Begreiflich! Als Kinobesucher zweiter Kategorie nach P.O. 
Filmplausch Nr. 7 habe ich nun bald festgestellt, dafi meine Freundin 
noch immer eine entziickende Person ist, von bestrickenden Lebens- 
formen und entgegenkommendem Benehmen. Wie ich mich also in- 
tensiv mit der Konstatierung ihres Charakters befasse, werfe ich zufal- 
Hgerweise einmal einen BUck auf die Leinwand. Was sehe ich?? Ist's 
mogUch? - Wenn ich nicht noch im letzten Moment auf die Seite ge- 
sprungen ware, hatte mich der Schlag getroffen. Ist's Tauschung, ist es 
Wahrheit? Ist's Zufall, ist's Bestimmung? Ist es eine Mahnung des 
Schicksals?? Ich sehe in einer StraEenszene im Gedrange meine Frau! 
Meine Frau, wie sie leibt und lebt und mir einen Blick zuwirft . . . einen 
Blick!! Ob dieses BUckes errotet meine rechte Wange (meine Frau ist 
linkshandig), und meine Rippen ziehen sich schmerzlich zusammen. 
Und ich fiihle in meinem Innern ein sehnsiichtig Beben, ein machtiges 
Streben, ein furchtbar Erleben, eine Ahnung von kommenden Dingen 
durchzieht meine armen Gebeine und 

vom Madchen reifit sich stolz der Knabe, 

der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang, 

und mit des Geschickes Machten 

ist kein ew'ger Bund zu flechten . . . 



90 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Das ist der Eumeniden Macht, 

die richtend im Verborg'nen wacht . , . 

Die Filmwelt, 25.7. 19 19 



DIE WEHRHAFTEN MANNEN VON HUTTELDORF 



Die Republik Hiitteldorf-Hacking ist cine Stunde Strafienbahnfahrt 

von Wien entfernt. Sie unterscheidet sich von anderen deutschoster- 

reichischen Landesteilen nur dadurch, dafi sie noch keine Einreisebe- 

willigungen an Wiener erteilt. Ob dieser Umstand die Schuid daran 

tragt, dafi in der Republik Hiitteldorf die letzte Zeit hindurch so viele 

Einbriiche geschehen, ist noch nicht festgestellt. 

Jedenfalls geschehen sie. 

Und die PoUzei war wehrlos. 

Aber die Biii^er von Hiitteldorf woUten es nicht sein. Also beschlos- 

sen sie eines Tages, sich zu bewaffnen und eine Biirgerwehr zu bilden 

zum Schutze ihrer Habe. Es stellte sich heraus, dafi alle Burger Waffen 

hatten und keiner einen Waffenpafi. Aber da die Polizei auch von den 

Einbrechern keine Waffenpasse gefordert hatte, fragte sie auch bei den 

Biirgern nicht danach. 

Die Biirgerwehr der Republik Hiitteldorf besteht also. Vorlaufig aus 

einem Komitee. Aber das ist das wichtigste. 

Sie tragt keine Uniform. Nur Waffen. Was einer gerade hat. - Unter 

Umstanden ist es auch ein Kiichenmesser. 

Die wehrhaften Manner von Hiitteldorf gehen um die neunte Abend- 

stunde auf Patrouillengange aus. Zu zweit. Sie wechseln jede Nacht ab. 

Wer gerade keinen Dienst hat, schlaft entschieden besser, seitdem er 

weifi, dafi Nachbar Miiller heute nicht schlafen kann. Das ist eine 

wohltuende Beruhigung. 

Boshafte Hiitteldorf er erzahlten mir, dafi sie in der ersten Nacht, da 

die Biirgerwehr Dienst machte, gesehen hatten, wie zwei gelaufen 

seien. 

Und es soUen keine Einbrecher gewesen sein. 

Andere behaupteten: Der erste, der sich zur Biirgerwehr gemeldet 

hatte, sei - kein Hiitteldorfer Biirger gewesen, sondern ein Angehori- 



19 19 91 

ger einer anderen Klasse, der sich selbst in Sicherheit vor der Polizei 

bringen woUte. 

Das sind lose Zungen. Man mufi nicht alles glauben. 

Denn die Hiitteldorfer Burgerwehr- bewehrt sich.- 

Vorlaufig. - 

Josephus 
DerNeueTag, 26.7, 1919 



DIE TOTEN VOM STEPHANSPLATZ 



Wer hatte geahnt, dafi man in dieser gemiitlichen Stadt liber Leichen 
gehen konne? Kaum fiinfzig Zentimeter unter dem Holzpflaster liegen 
Kiefer, Schadeldecken, Wirbelknochen. Oben ist ein Standplatz fiir 
Autos und Einspanner. Fiinfzig Zentimeter darunter modern die Ge~ 
beine der Ahnen, oben klingt das hochdeutsch-kultivierte Dulioh der 
Frequentanten des »Nachtfalters«. Sie wissen nicht, daft ihr Gesang 
liber einen gepflasterten Friedhof weht . . . 

Die sonderbarsten Dinge geschehen in dieser Stadt: Man reifit ein Pila- 
ster auf und feiert ein Wiedersehen mit seinen Ahnen. Ein paar vergra- 
bene Pfund Gold batten uns wahrlich mehr geniitzt. So haben wir Ge- 
legenheit, unser historisches, palaontologisches, anatomisches Wissen 
zu bereichern. Kein Wiener lafit sich diese Gelegenheit entgehen. Sie 
kommen in Scharen: Fiakerkutscher, Autotaxichauffeure, Hotelpor- 
tiers, Herren mit Privatgelehrtenhabitus und Schulkinder. Ein Herr 
mit Schlapphut und einer iiberdimensionalen Botanisiertrommel 
klaubt im SchweiEe seines Angesichts die Zahne seines Urgrofivaters 
zusammen und halt hierauf, von der Schar begeisterter Zuseher um- 
drangt, einen schon aber sehr freien Vortrag iiber Vindobona, die ro- 
mische Griindung. Schon in den Romerzeiten sei hier ein Friedhof 
gewesen. Schauer rieselt durchs Gebein: Wie, wenn jener Unterkiefer 
gar nicht der des Schwiegervaters meiner Urgrofimutter ist, sondern 
einem biederen romischen Legionssoldaten gehort? . . . 
Die Pflasterer allein haben nicht die geringste Pietat gegeniiber diesen 
wertvoilen Funden. Was woUen diese Knochen hier? Sie storen nur. 
Uberreste eines ver^angenen Geschlechts, was hindert ihr da magi- 



92 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

stratlich anbefohlenen Fortschritt der Zivilisation? Wozu die Mah- 
nung an eine alte Vergangenheit, da Wien im Begriffe ist, einer neuen 
anheimzuf alien? . , . 

Oder ist es eine andere Mahnung? Mir scheint: Da die Lebenden ster- 
ben, erwachen die Toten. Bei der Belagerung Wiens durch die Tiirken 
- erzahlt ein Herr, der es wissen muf5 - hatte man keine Zeit gehabt, 
die Leichen vorschriftsmafiig zu begraben, sondern hatte sie nur ver- 
scharrt. Das also waren die Gebeine jener Kampfer. Bei der Veranstal- 
tung einer wienerischen Kulturtat melden sich die alten Verteidiger der 
Stadt. Man soUte die Gebeine fein fiirsorglich zusammentragen und ein 
Mausoleum errichten. 

Jedenfalls kann jeder, der sich die Miihe nimmt, in Alt- Wiener Chro- 
niken nachzulesen, erfahren, dafi der Wiener »Stefans-Freydhoff« noch 
vor 100 Jahren bestanden hat. Sooft der Stephansplatz eine Umpflaste- 
rung erlebte, wurden Knochen gefunden, 

Josephus 
Der Neue Tag, 31. 7. 19 19 



ALTE UND NEUE BERUFE 



Auf dem Umweg iiber die Berufe des Heldentums und des Durchhal- 
tens einer grofien Zeit sind manche Uberlebende bei der Notwendig- 
keit angelangt, ihren friiheren Beruf aufzugeben und einen neuen, den 
Um-, Zu-, Mifi- und Ubelstanden der Gegenwart angepafiten zu er- 
greifen. Die Folge dessen ist, daE die neuen, in den Strafien ausgeiibten 
und also im wahrsten Sinne des Wortes »freien« Berufe das durch 
Licht- und Fioffnungsiosigkeit stark verdiisterte StrafJenbild Wiens 
um ein Betrachtliches verandert haben. Altvertraute, erbeingesessene 
und -gestandene Strafientypen, Reprasentanten einer gemiitlichen 
Vorvergangenheit, personifizierte Jugenderinnerungen verschwinden 
vom arg vernachlassigten Pflaster wie das »Gott erhalte« aus dem Le- 
sebuch und beweisen den Radikalismus der deutschosterreichischen 
Revolution griindlicher, als es samtliche Ubersiedlungen iiberfliisig ge- 
wordener Mit- und Habsbiirger in das bessere Diesseits eines blocka- 
defreien Auslandes vermochten. 



19 19 93 

Manche Veranderungen im Wiener Berufsleben voUzogen sich lang- 
sam, kamen weniger plotzlich und uberraschend. Als die Zeit immer 
grofier und die Maroni immer kleiner wurden, begann sich der Selten- 
heitswert von Kartoffeln und faulen Apfeln darin zu aufiern, dafi diese 
Volksaushungerungsmittel in den Kesseln der einstigen Maronibrater 
zu schmoren anfingen und um den Preis einer betrachtlichen Vermo- 
gensabgabe zu erstehen waren. Traurige Uberreste in verlassenen Stra- 
fienecken zeugen heute noch von einer halbvergangenen, halb im Ver- 
gehen begriffenen Maronibraterherrlichkeit und muten wie vergessene 
Kaiserbilder in konservativen Amtskanzleien an. Aber viele andere Be- 
rufe sind mit einer Spuriosigkeit und einer Fixigkeit verschwunden, die 
selbst einem minder widerstandsfahigen Bankkassier Ehre gemacht 
hatten. Es gab »Krowoten«, die Tonpfeifen, Tiirschlosser, Streichholz- 
schachtelbehalter, Korallen und Glasperlen feilboten. Heute sind das 
keine Bedarfsgegenstande mehr: Korallen und Glasperlen bieten mit 
aktivem und passivem Wahlrecht geschmiickten Mitbiirgerinnen kein 
Vergniigen mehr, sic erhohen nicht den Reiz einer Frauenversamm- 
lung und konnten konfiszierungsliisternen Mitmenschen unverzeih- 
liche Enttauschungen bereiten. Streichholzschachtelbehalter sind 
inhaltslos wie Safes und Wahlreden und uberflussig wie eine Soziah- 
sierungskommission. Tiirschlosser sind seit den Requisitionen der 
Volkswehr unzeitgemafi und Tonpfeifen ungebrauchlich, seitdem wir 
nach den falschen Pfeifen derer tanzen miissen, die uns vor- und auf 
uns pfeifen. Die »Krowoten« selbst aber sind Bundesgenossen der 
Entente geworden und wollen uns keine Waren mehr anbieten . . . 
Auch der sogenannte »Fetzenbauer« ist dahin, seitdem' die Stadter mit 
ihren letzten Fetzen sich zum Bauer selbst bemiihen und den Ruck- 
sackverkehr ans telle des Fremdenverkehrs eingebiirgert haben. Der 
»Rastelbinder« lebt ein poetisches Dasein nur noch selten auf den 
Brettern, die eine verkehrte Welt bedeuten, der »Galamutschlmann« 
ist sagenhaft wie seine Ware, der Dudelsackpfeifer ist in seiner bohmi- 
schen Heimat voUauf damit beschaftigt, seinen nach frischerworbenem 
Patriotismus diirstenden Mitbiirgern »Kdo domov mHJf« vorzuspie- 
len, und auf seinen weissagenden und Lose ziehenden Papagei konnen 
wir, angesichts des Uberflusses an Telepathen, verzichten . . . 
Und damit sind wir auch schon bei den Berufen unserer neuen Zeit 
angelangt: Menschen, die die weit weniger wichtigen Ursachen und 
Zusammenhange eines Weltkrieges niemals aufzudecken imstande wa- 



94 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ren, verbliiff en heute durch die Fahigkeit, mit ausgesuchter Raf finiertheit 
verborgene Stecknadeln zu finden, erraten sogar die Gedanken eines 
gedankenlosen Publikums und verdienen mehr, als sie zum Leben beno- 
tigen, durch Massensuggestion und Fernhypnose. Die wie Piize aus dem 
Boden der offentlichen Meinung nach dem Platzregen der Revolution 
schiefienden Tagesblatter und Zeitschriften beschaftigen eine Menge 
Kolporteure, mannliche, weibliche, alte, junge, die in samtlichen Ton- 
skalen die disharmonischsten Nachrichten posaunen oder floten. Den 
Kolporteuren verwandt sind die Zettelverteiler der poiitischen Parteien, 
der Versammlungs- und Bauchredner. - Auf einer hoheren gesellschaftli- 
chen, aber um so zweifelhafteren moralischen Stufe stehen die poiiti- 
schen Agitatoren, die ihr Gewissen um ein Linsengericht verlauten und 
dem Volke dann jene politische Uberzeugung beizubringen versuchen, 
die sie selbst nicht besitzen. - Sehr beliebt ist der Schleichhandlerberuf, 
auch ohne besondere Fahigkeiten leicht zu erfassen: Man sei am besten 
ein »Mindestbemittelter«, »fasse« in der Bekleidungsstelle Kleidungs- 
stiicke, gebe sich den Anschein eines harmlosen Hamsterers und fahre 
aufs Land. Man tausche dort die »erworbenen« Kleidungsstiicke in 
efibare Werte um und verkaufe sie in der Stadt zu den vom behordlich 
autorisierten Kettenhandlerkaffehaus festgesetzten Preisen. Man be- 
treibe die oben beschriebene Arbeitsweise mit Geduld und Ausdauer, 
und man ist - Schleichhandler. Noch leichter ist freilich der » Ansteller«- 
Beruf: Man stehe womoglich schon um 4Uhr friih auf, gehe vor eine 
beliebige Pafistelle und stelle sich dort an. Zwei, drei Stunden spater 
kommen Reisende, die nach Kiralyhida oder Lundenburg woUen. Man 
gehe an die Verzweifelten heran und iiberlasse ihnen um ein maf^iges, aber 
angemessenes Entgelt seinen Stehplatz. Es ist das sicherste Mittel, ohne 
grofiere Anstrengung seine 50 Kronen taglich zu verdienen . . . 
So wird den veranderten Verhaltnissen Rechnung getragen und bleibt der 
rationierte Brotkartenerwerb auch in der neuen Zeit alien denen gesichert, 
die mit der Arbeitslosenunterstiitzung nicht ihr Auskommen finden. Die 
»Krowoten« sind Kolporteure geworden und hausieren mit der offentli- 
chen Meinung, die prophezeienden Werkelmanner wurden abgelost von 
Telepathen, die bei Ronacher »arbeiten«, die Maronibrater heizen als 
Agitatoren den Kessel politischer Leidenschaften. Tiichtige Praktiker ha- 
ben sich den neuen Verhaltnissen angepafit und iibersetzen zeitgemafi: 
Tempora mutantHr mit : Konjunkturen andern sich . . . Josephus 

Der Neue Tag, 31. 7. 1919 



VON HUNDEN UND MENSCHEN 



Zu den vielen Stra£enbildern des Wiener Kriegselends hat sich seit 
einigen Tagen ein neues gesellt: 

Ein vom Krieg zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch - Inva- 
lide mit Riickgratbruch - bewegt sich auf eine fast unerklarliche Weise 
durch die Karntnerstrafie und kolportiert Zeitungen. Auf seinem mit 
dem Trottoir eine Horizontale bildenden gebrochenen Riicken sitzt - 
ein Hund. 

Ein wohldressierter, kluger Hund, der auf seinem eigenen Herrn reitet 
und aufpafo, daf5 diesem keine Zeitung wegkommt. Ein modernes Fa- 
belwesen: eine Kombination von Hund und Mensch, vom Kriege er- 
sonnen und vom InvaUdenjammer in die Weh der Kartnerstrafie ge- 
setzt. 

Ein Zeichen der neuen Zeit, in der Hunde auf Menschen reiten, um 
diese vor Menschen zu bewachen. Eine Reminiszenz an jene grofie 
Zeit, da Menschen wie Hunde dressiert und in einer sympathischen 
Begriffskombination als »Schweinehunde«, »Sch. . .hunde« usw. von 
jenen benannt wurden, die selbst Bluthunde waren und so nicht ge- 
nannt werden durften. 

Eine Folge des Patriotismus, der die aufrechten Ebenbilder Gottes ab- 
hangig machte von vierfiifiigen Geschopfen, die niemals den Seelenauf- 
schwung besa^en, Heldentum und Kanonenfutterage zu bilden, und 
hochstens zur Sanitat assentiert werden durften. An der Brust des In- 
vahden baumelt ein Karl-Truppenkreuz. Am Halse des Hundes hangt 
eine Marke, 

Jener mit dem Karl-Truppenkreuz ist ein Leidender. Dieser mit der 
Marke ein Tatiger. Er bewacht das Leid des Invaliden. Er bewahrt ihn 
vor Schaden. Das Vaterland und die Mitmenschen konnten ihm nur 
Schaden zufugen. Dies en hat er es zu verdanken, dafi jener ihn 
bewacht. Oh, Zeichen der Zeit! Ehemals gab es Schaferhunde, die 
Schafherden, Kettenhunde, die Hauser bewachten. Heute gibt es Men- 
schenhunde, die Invahde bewachen miissen, Menschenhunde als 
Folgeerscheinung der Hundemenschen. Wie eine Vision wirkte auf 
mich dieses Biid: Ein Hund sitzt auf einem Menschen. Ein Mensch ist 
froh, von diesem Hunde abhangig sein zu konnen, da er sich erinnert, 
wie er von anderen abhangig sein mufite. Gibt es Traurigeres als diesen 



96 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Anblick, der ein Symbol der Menschheit zu sein scheint? Ringsum 
lustwandelt der Kriegsgewinn mit der Telepathie, und in der Mitte 
ein berittener Hund! Inferioritat der menschlichen Rasse, Superion- 
tat der tierischen. Wir haben es herrlich weit gebracht durch diesen 
Krieg, in dem die Kavallerie abgeschafft wurde, damit Hunde auf 
Menschen reiten konnen! . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, i. 8. 19 19 



ZUR PSYCHOLOGIE DER BRIEFMARKE 

Ein Besuch in der Briefmarkenborse 

Was ist eine Briefmarke? Eine illustrierte Begleiterscheinung des 
Weltpostvereines, ein sine qua non der Korrespondenz, eine raffi- 
nierte Erfindung des Staates, ein Vorwand, um den weiland Unterta- 
nen und gegenwartigen Burgern die »Porto« genannte »unmittelbare 
Steuer« abzuknopfen, ein Verkehrshindernis, das einen ganzen Ab- 
stempelungsbeamtenapparat erfordert, eine iiberfliissige Tradition, 
ein Symptom der Reaktion und des Monarchismus, der sich nicht 
haufig genug abkonterfeit sehen konnte, kurz, etwas ganz Uberhol- 
tes wie Postkutsche und Postilion. Aber dennoch ein Ding, das 
eines gewissen Zaubers fiir naive Gemiiter nicht entbehrt, ein Mittel, 
an dessen Ein- und Verkauf sich der Spekulationsgeist jener Mittel- 
schiiler friih iibt, die Meister werden wollen in Hausse und Baisse, 
eine Ware, die auf Jedem Erdenfleck Geltung und Geldwert hat, auf 
dem zwei Menschen miteinander korrespondieren. Aber aufierdem 
noch mehr: Die Briefmarke ist eine Art kommerzielles Heihgtum 
und eine Kombination von Geschaftsgeist und Wissenschaft. Die 
Briefmarkenkunde ist das Kind des Forschertriebes und der Schie- 
bung, eines der vielen Anhangsel der Geographic und der Ge- 
schichte, eine Beschaftigung der Liebhaber und Partout-Sammler. 
Als die Spekulation entdeckte, daf^ die Naivitat der Liebhaberei Zin- 
sen tragen konne, ward der Briefmarkenhandel in die Sphare des 
weltumspannenden Kommerziums gehoben und die Briefmarke ein 
Artikel der Kecskemeter Reisenden. Heute macht man in Brief mar- 



19 19 ^l 

ken wie in Butter, Gliihlampen, Rindern und Stoffen. Ja, es gibt sogar 
so etwas wie eine Brief markenborse . 

Einmal wochentlich findet die Briefmarkenborse statt. Das Kaffee- 
haus, in dem ich sonst friedlich ein Nachmittags-Soda mit Himbeer zu 
schlucken pflegte, ist kein Kaffeehaus mehr. Der Dreh hat das Tarock 
bezwungen, die Geste des Profits die Gemiitlichkeit weggewischt. Es 
wimmelt von Menschen. An alien Tischen und Tischchen kleben sie 
wie Briefmarken in Albumblattern. Hochaufgeschichtet liegen Map- 
pen auf den Stiihlen. Die drei grofien Billardtische sind mit Marken 
austapeziert, Alliiberall wird geschatzt. Dieses Schatzen vollzieht sich 
in der Weise, dafi ein womoglich grower und breitschulteriger Mann 
eine ganz kleine, diinne, dreieckige Marke von Panama hochst vorsich- 
tig zwischen zwei ziemlich umfangreichen Fingern halt, zum Lichte 
hebt, hin und her dreht, die Augen zwinkernd zudriickt und schlief^- 
hch in eine grofie schwarze Mappe fiirsorgHch einpickt. 
Die Briefmarkenborsenbesucher rekrutieren sich aus alten und jungen 
Briefmarkenhandlern. Da werden die Alten jung und die Jungen alt. 
Seht mir den kleinen blonden Jungen an im Matrosenanzug! Der hei- 
lige Geist des Profites hat Altklugheit in seine Ziige geritzt, und das 
Kainszeichen des Bruderb luff ens tragt er auf seiner Stirne. Hier seht 
ihr das normale Embryo des kommerziellen Genies: Sachkenntnis, 
Kuhlheit, Taktik und Trickversiertheit. Aber dort jener kahle Grau- 
schadel! Das Objekt, mit dem er handelt, hat ihn unter seine suggestive 
Macht gebracht: Er hat eine naive Freude an der Kleinheit seiner Ware 
und wird zum Quartaner im AnbUck der bunten Papiersachelchen. 
Diese Briefmarkenmenschen umschlingt alle ein gemeinsames, gehei- 
mes Band, Ein bif^chen Freimaurerlogenluft weht in der Borse. Die 
Handler erkennen einander schon an den Augen. Es sind eigentiimH- 
che, irisschillernde Augen mit der Fahigkeit, sich voUkommen zusam- 
menzuziehen, so dafi die Pupille verschwindet. Was bleibt, ist nur das 
Spiegelbild des Kaisers von China. Es sind Augen, die die gesamte 
Staatenkunde mit den Physiognomien der gewahlten und gekronten 
Haupter der Erde getrunken haben. 

Ein Fremder, der zur Borsenzeit in das Kaffeehaus tritt, begegnet na- 
tiirlich allgemeinem lebhaftem Mifibehagen. Was willst du hier, du 
Flofunfahiger? Kannst du dich auch anstandig benehmen in der Ge- 
sellschaft des Emirs von Afghanistan und Sr. Majestat des Mikado von 
Japan? Verstehst du, den Wert eines Poststempels vom zwolften 



^S DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Zwolften 1912 2u schatzen? Weifit du auch, was eine Marke aus Te- 
heran bedeutet? 

Es flimmert plotzlich in der Luft: Palmen, Kolibris, Wiiste Gobi und 
Sahara, Rauschen der Nilkatarakte und Karl Mayischer Buchblatter. 
Hier ist der Kniff eine Vernunftsehe eingegangen mit der Sehnsucht 
nach Exotien. In dem Bediirfnis, Briefmarken zu sammeln, steckt die 
komprimierte Landstreicherlust des sefihaft gewordenen Zivilisier- 
ten . . . 

Eine eigentliche Sefihaftigkeit ist das heutzutage allerdings nicht mehr. 
Der Zerfall der alten Monarchic bereichert die Briefmarkenalbums der 
ganzen Welt. Oh, jahrzehntelanger Traum aller Brief markenhandler 
ist in Erfiillung gegangen: Alle im Reichsrate vertreten gewesenen 
Konigreiche und Lander konnen nun in einer Mappe vertreten sein. 
Es hat sich ein lebhafter Markenverkehr entwickelt: spekulationseifrig, 
wie die moderne Jugend nun schon einmal ist, reist sie, alien Grenz- 
hindernissen zum Trotz, durch Tschechoslowakien nach Polen, Ru- 
manien, der Westukraina und - verdi'ent. 

Der Umsturz hat den Briefmarkenhandel zu einer neuen Bliite ge- 
bracht. Der Profitgeist schlagt Kapital aus dem Pleitegang der Staaten. 
Die Briefmarke ist gestorben. Es leben die Briefmarken! 

Josephus 
Der Neue Tag, i. 8. 1919 



DAS MARCHEN VOM SOPHIENSAAL 



Marchen ereignen sich mitten im Getriebe des Werktags der grauen 
Niichternheit der simplen Ereignisse. Die Geschichte des Sophiensaals 
konnte auch ganz gut wie ein Marchen beginnen: Es war einmal . . . 
Also: Es war einmal ein Festsaal, der war wie ein Gedicht oder, noch 
besser, der Saal der Sale, der Hohefestsaal. Er strahlte im tausendfalti- 
gen Glanze der Lichter, und auf seinen Parkettboden wirbelten die 
zartesten weifien Halbstiefelchen an zartesten weiEen Damenfiifichen, 
Es gab keinen vornehmen Ball, der nicht in jenem herrUchsten aller 
Sale stattgefunden hatte, und Prinzen und Fiirsten und sonstige Mar- 
chen- oder Kinodramenpersonlichkeiten waren seine gewohnten Be- 



19 19 99 

sucher. Und was das Marchenhafteste war: Dieser Festsaal war eigent- 
lich gar kein Festsaal. Nein! Er war- eine Badeanstalt. Eine zwar nicht 
ganz einfache, aber immerhin: eine Badeanstalt. Natiirlich nur im 
niichternen Schein des sommerlichen Alltags. Alljahrlich aber kam 
Prinz Karneval dahergeritten, klopfte mit seinem Glockenstabchen 
dreimal an das Tor der Sophiensale, und plotzlich trocknete das Bassin 
vollkommen aus, wie seinerzeit das selige Rote Meer, und siehe da: 
Am Grunde des vertrockneten Sees leuchteten und lockten die bestge- 
wichsten Parkettboden. Da ward aus der Badeanstalt plotzHch ein 
Ballpalast. Die vornehmsten Wiener Balle wurden dort veranstaltet. 
Das allerfeinste Publikum - es war noch zu jener Zeit, da es ein feines 
Publikum gab - bewegte sich in seinen Raumen mit gemessener Grazie 
und stilvoUer Eleganz. 

Aber einen Schmerz noch konnte der Ballpalast nicht verwinden: Da 
gab es einen alten Kaiser namens Franz Joseph, dessen Hoflinge be- 
haupteten, der Sophiensaal, der herrlichste aller Ballsale, der Hohefest- 
saal, das Gedicht von einem Festsaal, besafSe nicht die geniigende 
»Feuersicherheit«. Denn Hofmenschen sind bose Leute und trockene 
Patrone und haben nichts anderes zu tun, als bei einem Ballpalast nach 
- Feuersicherheit zu fragen. Also Hefien sie den alten Kaiser nicht hin- 
gehen, und der Sophiensaal war sehr traurig iiber seine Hofunfahig- 
keit . . . 

Dennoch geschah einmal ein Wunder, und der alte Kaiser kam. Es 
geschah aus Anlaf^ der dritten internationalen Kochkunstausstellung. 
Da war der gute Sophiensaal getrostet und feierte wieder seine heiteren 
Feste. 

Aber da nun einmal das Gliick alles Schonen und Guten auf Erden 
nicht vollkommen sein kann, muf^te es sich der Sophiensaal gefallen 
lassen, dafi sich just in seinen Raumen eine tragikomische Geschichte 
ereignete : 

Franz Joseph war wieder einmal in den Sophiensaal gekommen, zu 
einem Fest, das kaufmannische Kreise veranstaltet hatten. Ein Herr 
vom Komitee hatte die ebenso ehrenvoUe wie schwierige Aufgabe, die 
Anwesenden dem Kaiser vorzustellen. Der gute Mann entledigte sich 
seiner Arbeit mit so viel Anstand, daft er einem Anstand nicht entgehen 
konnte. Er stellte namlich der Reihe nach alle Personlichkeiten folgen- 
dermafien vor: »Herr Damian Zipfl - Se. Majestat, der Kaiser; Herr 
Moritz Kohl - Se. Majestat, der Kaiser; Herr Valentin Tauberich - Se. 



100 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Majestat, der Kaiser« und so fort in nicht enden wollender Folge. Aber 
selbst ein Kaiser kann ungeduldig werden, und da Franz Joseph zu 
jener Zeit noch ein gut Stiick Humor gehabt haben diirfte, liefi sich die 
so oft wiedergekaute Majestat etwa folgendermafien vernehmen: »Es 
wird schon genug sein! Nennen Sie mir nur die Herren. Ich glaube, 
mich durften doch die meisten schon kennen . . .« 
Solche und ahnliche Geschichten erlebte der Sophiensaal in reicher 
Folge, Bis plotzlich die bose Konkurrenz des Konzerthaussaales auf- 
tauchte und den Glanz der Sophiensale um ein Betrachtliches herab- 
minderte. Da nun aber gar der Krieg ins Land zog, da war es mit aller 
Pracht vorbei: Der Sophiensaal wurde ein simples Rekonvaleszenten- 
heim. In seinen Raumen roch es nach Kampfer und Jodoform, und 
statt der Walzerklange flatterten irre Seufzer kranker Menschen durch 
alle Winkel des Palastes . . . 

Nun meldet ein trockener Aktiengesellschaftsbericht: Bei der am 30. 
v.M. abgehaltenen 78. General versammlung unter dem Vorsitze des 
Prasidenten Oberbaurates Ferdinand Dehm waren 479 Aktien und 95 
Stimmen vertreten. Das Objekt wird im Herbst dieses Jahres seiner 
alien Bestimmung zugefiihrt. Der Verlust von 49971 Kronen 47 Heller 
wird auf neue Rechnung vorgetragen. 

Also schliefit das Marchen vom Sophiensaal mit einem schonen Aus- 
blick. Man konnte ganz gut enden: Es wird einmal . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 3.8. 19 19 



Reise durchs Heanzenland 



DIE GRENZE 

Doktor Valentin Langensack, mein Geographieprofessor, pflegte im- 
mer zu sagen, es gabe zwei Arten von Grenzen: natiirliche und politi- 
sche. Und dann folgte mit unfehlbarer Sicherheit die Frage: »Welche 
sind die natiirlichen, welche die politischen?« 



19 19 10 1 

Berge, Fliisse, Seen, Hiigelketten sind die natiirlichen. Die politischen 

sind doppel- oder dreifarbige Holzrampen, Schilderhauschen, Finanz- 

wachter in natura. Auf der Karte dargestellt als Punkte, Striche, Linien 

usw. 

Als Doktor Valentin Langensack - Gott habe ihn selig! - noch lebte, 

gab es nur zwei Arten von Grenzen. 

Nun, da er tot ist, gibt es zwar immer noch politische Grenzen, aber 

langst keine natiirlichen mehr, sondern unnaturliche. 

Auch sind die politischen Grenzen nicht mehr Punkte, Striche, Linien 

usw., sondern Schikanen, Leidenswege, Passionen, Golgathas, Kreuzi- 

gungen: mit einem Wort: Visitationen , . . 

Man kann auf verschiedene Weise nach Deutsch-Westungarn gelan- 

gen: iiber Ebenfurt oder durch den Wald, auf Schmugglerpfaden oder 

iiber Wiener-Neustadt. 

Ich wahlte Wiener-Neustadt. 

Am Ringplatz ist die Polizeidirektion, und hier beginnt die unnatiirli- 

che Grenze. Denn seltsamerwelse geniigt ein vorschriftsmafiiger 

deutschosterreichischer, mit alien Visa versehener und mit alien unle- 

serlichen Unterschriften samtlicher Polizeirate und -kommissare der 

Welt vollgeschmierter Paf^ nicht, um die Grenze zu iiberschreiten. 

Man mui^ sich auEerdem noch eine Grenziiberschreitungsbewilligung 

in Wiener-Neustadt holen. Und das ist der Anfang der Grenze. 

Diese selbst liegt eine halbe Stunde hinter Wiener-Neustadt. 

Es ist Abend, und da ich leider kein Schleichhandler bin, habe ich die 

Absicht, am Moi^en die Grenze zu iiberschreiten. 

Um aber in Wiener-Neustadt iibernachten zu konnen, mu£ man in 

Mattersdorf geboren sein. Ausgerechnet in Mattersdorf. Das erfuhr ich 

im Hotel Central, wo ich demiitig fragte, ob ich ein Zimmer haben 

konne. Darauf erhielt ich keine Antwort. Nichtsdestoweniger wartete 

ich. An der Grenze gilt das Sprichwort: Keine Antwort ist nachstens 

eine Antwort. 

Vor mir stand ein Herr und fiillte einen Meldezettel aus. Dann ver- 

schwand der Herr, und ich nahm seinen Platz ein. Vor mir lag sein 

Meldezettel. 

Ein Stubenmadchen kam, las den Meldezettel und sah mich an. Dann 

sagte sie mit spontaner HerzHchkeit und Riihrung in der Stimme: »Ich 

gebe Ihnen Nr. 52. Aber nur, weil Sie aus Mattersdorf sind.« Worauf 

ich schwieg und mit dem Stubenmadchen auf Nummer 52 ging. 



102 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Als ich meine Sachen abgelegt und den Tiirschliissel eingesteckt hatte, 
zog ich meinen Revolver und sagte sehr liebenswiirdig: »Fraulein, ich 
bin gar nicht aus Mattersdorf. Der Meldezettel ist von einem anderen 
Herrn.« 

»So«, sagte sie, »dann hatte ich Ihnen das Zimmer nicht gegeben.« 
»Sie werden es nicht bereuen«, erwiderte ich, steckte den Revolver ein 
und gab ihr eine Zehnkronennote. 

Also kam ich zu einem Zimmer in Wiener-Neustadt, ohne in Matters- 
dorf geboren zu sein. Gliick mu8 man haben! . . . 
Am Morgen ging ich eine halbe Stunde lang, ehe ich die eigentliche 
Grenze erreichte. Es fiihrt zwar ein Geleise direkt von Wiener-Neu- 
stadt nach Sauerbrunn, aber der Zug verkehrt nicht. Erstens, weil es 
eine unnatiirliche Grenze ist, zweitens, damit die Reisenden ihre Kof- 
fer schleppen konnen. 

An der Grenze stehen sechs Gendarmen und ein Polizeispitzel. Einer 
der Gendarmen besieht sich den Pafi, ein zweiter tastete mich ab und 
fragte: »Haben Sie keine Ware?« 

Wie naiv! Ich bin doch neugierig, ob ihm ein Schmuggler schon je 
gestanden hat, dafS er Ware mithabe. 

Nichtsdestoweniger sage ich vorschriftsmafiig: »Nein!«, worauf ich 
passiere. 

Zwanzig Schritte weiter versucht ein analphabetischer Rotgardist 
einen Pafi zu buchstabieren. Das dauert lange. Ausgerechnet an mei- 
nem Pafi will der Gute Deutsch lesen lernen. Ich mu8 ihm zwei Ziga- 
retten geben, worauf er jeden Versuch zu studieren auf- und mir den 
PaE zuriickgibt. 
Driiben beginnt NeudorfL 

Neudorfl ist die Introduktion vom Heanzenland. Dieses Diminutiv 
»Dorfl« verstehe ich nicht recht. Es sollte Neudorf heifien. Das Dorf 
besteht aus einer einzigen Strafie, die unglaublich lang und zu beiden 
Seiten von weifien Hauschen bestanden ist. Es ist Sonnabend und gro- 
8es Reinemachen. Blonde Kinder spielen im Strafiendreck. In einem 
fernen Gehoft grunzt behaglich ein Schwein. Ein Hahn spaziert in der 
Strafienmitte. Zwei Enten patschen in einem Tiimpel. 
Da Neudorfl gar nicht die leiseste Absicht hat aufzuhoren, beschlieEe 
ich, es eigenmachtig zu unterbrechen, und betrete ein Gasthaus. Der 
Wirt ist ein Ungar, die Frau eine Deutsche. Ein Knecht ist ein Deut- 
scher, eine Magd Ungarin. Der Wirt ist sehr gut zur Magd, die Wirtin 



19 19 103 

zum Knecht. Wahl- und Stammesverwandtschaft, Liebesromane und 
Eheskandale an der Grenze. 

Nach einem Viertel Rotwein beginnt wieder Neudorfl. Ein Bauerlein 
kommt aus der Kirche. Ich frage nach dem Herrn Pfarrer. »Den hat 
der Schlag trofFn, gestern«, sagt er. »Lebt er noch?« »Jo, oba lang 
nimma. Auf den Kun Bela wor der so zurnig gwest, und jetzt'n hat ihn 
der Schlag trofPn!« klagt der Bauer. »Freun Sie sich, dafi der Kun weg 
ist?« »Oba freih. Dos war nimma zum Aushalten gwest. « »WIssen Sie, 
dafi sie jetzt zu Deutschosterreich gehoren?« »Noch net! Oba's 
kummt scho! Kummen So von Wean?« »Ja.« »Ah, ah, von Wean«, sagt 
er schmunzelnd, und seine Auglein leuchten. 

Hinter der Kirche hat endHch Neudorfl aufgehort. Links ist Waldheim 
am Lichtenwerd. Ein Gasthaus. Drin sitzt ein deutschosterreichischer 
Gendarm in voller Ausriistung. Was macht der hier? Doch nicht schon 
Okkupation? Um Gottes willen! Nein! Waldheim am Lichtenwerd ist 
namUch - wieder Deutschosterreich! Nun sage mir einer, das ware 
keine unnatiiHiche Grenze. Ein deutschosterreichischer Hemdzipfel 
liegt zwischen Ungarn und Ungarn. Und auf dem Hemdzipfel ein 
Gasthaus, und im Gasthaus ein Gendarm! Welch eine seltsame 
Grenze! 

Gleich hinter dem Gasthaus beginnt der Wald. Im Walddunkel steht 
ein Mann mit einem Revolver und ruft: »Hande hoch!« Auf diesen 
Anruf bin bleiben vier ungarische Rotgardisten stehen, die gerade nach 
Waldheim woUten. Der Polizeiagent tastet sie ab, kommandiert: »Vor- 
warts! Marsch!« und fiihrt sie in das Innere des Waldes. Es ist doch ein 
bifichen unheimhch an einem Orte, an dem ein Land noch nicht auf- 
hort und ein zweites noch nicht beginnt. 

Wer die Gelegenheit sucht, sich zu argern, kann den Rest des Weges 
neben dem Eisenbahngeleise bis Sauerbrunn zuriicklegen. Welch scho- 
nes Geleise! Wie leicht konnte da ein Zug verkehren! Und man miii^te 
nicht »Hande hoch!« rufen und brauchte keinen Gendarmen zu sehen, 
und es ware iiberhaupt viel behagUcher! 

Aber nein! Grenzen sind nun einmal unbehaglich. Ja! als mein Geogra- 
phieprofessor noch lebte und sie nur in politische und naturhche ein- 
teilte, war die Sache freilich anders! 
Nun aber, da er tot ist, gibt es nur noch unnatiirliche . . . 

Der Neue Tag, 7. 8. 1919 



DER ANSCHLUSS DEUTSCH-WESTUNGARNS 



Odenburg, am 7. August 
Solange Bela Kun regierte, stand es zweifelios fest, dafi eine eventuelle 
Abstimmung iiber den Anschlufi Westungarns an Deutschosterreich 
zugunsten Deutschosterreichs ausfallen wiirde. Der Kommunismus 
fand gerade in Deutsch-Westungarn am spatesten Eingang, und der 
zahe Konservativismus der westungarischen Bauernschadel machte der 
Budapester Rateregierung mehr zu schaffen als die politischen Um- 
triebe der gestiirzten Magnaten und Junker. Bald bewaffneten sich 
deutsche und kroatische Bauern in der Umgebung OdenhurgSy fest 
entschlossen, die Rotgardisten nicht nur nicht in die Dorfer zu lassen, 
sondern auch die Stadt Odenburg zu iiberfallen und zu erobern. Die 
Bauern legten Schiitzengraben an und verteidigten sich vierzehn Tage 
lang gegen die Rotgardisten. Erst vor der Artillerie mufiten sie wei- 
chen. Die einziehenden Rotgardisten hielten strenges Gericht: Ein 
Pfarrer wurde standrechtHch erschossen, ein paar Bauern aufgehangt, 
einige zu lebenslanglichem Kerker verurteilt. Die am Leben und in der 
Freiheit blieben, verbargen ihren Hafi auch weiterhin nicht und warfen 
die kommunistischen Agitatoren zum Dorfe hinaus. Der Terror der in 
der Gegend herumvagabundierenden Rauber, die die Organisation der 
»Leninbuben« bildeten, die ewigen Requisitionen, Alkohol- und 
Tanzverbote der Rateregierung, nicht zum geringsten Teil auch ihre 
Geldmifiwirtschaft erweckten in den Bauern das Verlangen, Ungarn 
Lebewohl zu sagen und den Anschlufi an das sprach- und stammver- 
wandte Deutschosterreich zu suchen. Selbst die magyarischen Bauern 
Westungarns antworteten, als man ihnen vorhielt, dafi sie der deutsch- 
osterreichischen Regierung die gesamten Viehbestande wiirden auslie- 
fern miissen, dafi sie lieber den Deutschosterreichern ihre Kiihe als an 
Bela Kun ihren ganzen Besitz geben woUten. In Kapuvar, einem rein 
magyarischen Dorfe, sagte mir ein Deutsch radebrechender Bauer, mit 
dem ich iiber den Anschluf^ sprach, dafi alle Magyaren im Falle eines 
Anschlusses nach zwei Monaten Deutsch gelernt haben wiirden. 
Mit dem Sturze der Rateregierung zog neue Hoffnung in die Gemiiter 
der Deutsch-Westungarn ein. Zwar ist im Lande noch herzlich wenig 
von einer Anderung der Situation zu spiiren. Die elenden Eisenbahn- 
und Postverbindungen in Ungarn verhindern eine rasche Durchfiih- 



19 19 105 

rung der neuen Regierungserlasse, und wahrend zum Beispiel in Buda- 
pest das Alkoholverbot langst aufgehoben ist, kann es passieren, dafi 
ein Schankwirt in Wieselburg vor das Revolutionsgericht gestellt wird, 
well er einem Reisenden ein Stamperl Schnaps verkauft hat. Die Or- 
gane der Rateregierung halten sich immer noch in den Amtsstuben 
Deutsch-Westungarn fast. Sie hoffen, ihre Dienste wurden auch von 
einem anderen Regierungssystem geschatzt werden, und auf eine Ge- 
sinnungsanderung mehr kommt es ja gar nicht an. Das ganze Ge- 
schmeifi der Detektive und Lockspitzel lungert immer noch auf alien 
Bahnhofen herum und verhaftet mit einer unnachahmlich geschickten 
Anpassungsfahigkeit den Verhaltnissen entsprechend sowohl jene, die 
fur, als auch jene, die gegen die Rateregierung sich laut aufiern. Die 
Rotgardisten uberfallen immer noch wehrlose Juden auf offener 
Strafie, um Blaugeld zu requirieren - auch Taschenuhren sind unter 
Umstanden Blaugeld - temporamHtantur-S^iXztl, Rotgardisten und 
Macher in Volksbegliickung bleiben . . . 

Trotz alledem ist die Stimmung: Warten wir ab! Man weif^ ganz gut, 
dafi die rein soziaHstische Regelung nicht von Dauer ist, und hofft. Der 
Glaube: Extra Hungariam non est vita halt jeden ungarischen Burger 
ohne Unterschied der Nationalitat in seinem starken Bann. Extra- 
Hungariam non est vita - in Deutschosterreich werden wir krepieren! 
Also: Warten wir ab! . . . 

Denn der westungarische Bauer hat kein Nationalgefiihl. Es ist hoch- 
stens ein Stammesgefiihl und nicht einmal das ganz. Der verachtet den 
Fremden, ob dieser ein Budapester oder ein Wiener ist. Er begreift, 
dafi er kulturell hoher steht als sein Nachbar, der Magyare oder der 
Krowot. Er will seinen Erlafi in deutscher Sprache haben. Nicht so 
sehr, weil er die deutsche Sprache liebt, sondern justament, weil man in 
Budapest mit ihm Ungarisch sprechen will. Er will seinen deutschen 
Lehrer haben: Der Bub soil Deutsch lernen, wie er es selbst gelernt 
hat. Instinktmafiig, triebhaft, ganz, ganz dunkel fiihlt er sich vielleicht 
eins mit dem ganzen Deutschtum der Welt. Bewufit kommt es nie zum 
Ausdruck. Das Schicksal des grofien Deutschen Reiches krankt ihn 
nicht. Was ist ihm Berhn?! Einen Norddeutschen hafit er, weil er ihn 
nicht versteht. Er weifi nicht einmal, ob er selbst Deutscher ist. Ich 
habe etwa fiinfzig Bauern gefragt: »Sie sind Deutsche ?« Zwanzig von 
ihnen sagten: »Na, mir san Ungarn.« Die anderen dachten angestrengt 
nach, um schlie^hch zaghaft zu stottern in der Angst, vielleicht doch 



I06 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nicht richtig verstanden zu haben: »Ja, mir reden deutsch!« Das ist es: 
Sie sprechen mehr deutsch, als sie es sind. . . 

Nationalehre? Volkszugehorigkeit? Das gilt den wenigsten etwas. 
Braucht der Bauer von Deutsch-Kreuz seinen Goethe? Er braucht sein 
Geld, seinen Boden. Wenn Goethe morgen zu ihm kanie und ihn um 
ein Nachtquartier bate, er wiese ihn ab. 

Die Vorteile fiir Deutschosterreich Hegen auf der Hand. Was aber kon- 
nen wir den Westungarn bieten ? 

Das ist der springende Punkt: Wir konnen ihnen wenig geben und 
doch unendHch viel! Eben das, was ihnen fehlt: den Zusammenhang 
mit der deutschen Kultur. Was sie vom Deutschtum haben, ist nicht 
viel mehr als Abstammung, Sprache und Sitte. Aber es fehlt der Zu- 
sammenhang mit der grofien deutschen Geistesgemeinschaft. Von 
deutscher Kultur kann in diesen Gegenden keine Rede sein. Es ist blofi 
deutsche Ordnung, deutsches Gemiit und deutsche Sitte. Aber das ist 
gerade nicht wenig. Wir konnten den Deutsch- Westungarn noch dazu 
den Glauben geben, dafi extra Hungariam nicht nur vita ist, sondern 
sogar hoheres Leben. Nicht nur Korn und Weizen und guter Wein 
und Gulasch und Paprika. Extra Hungariam gibt es noch ganz andere 
Dinge . . . 

Nur diirfen wir nicht gewaltsam bekehren. Es wird sicherlich zur 
Volksabstimmung kommen. Es ist schwer anzunehmen, dafi die Un- 
garn nicht Gewalt oder List anwenden wurden. Schon Ende April die- 
ses Jahres wurden neunhundert stockmagyarische Studenten in das 
Komitat Odenburg gebracht, damit sie die Abstimmung beeinflussen. 
Ohne eine miHtarische Besetzung des Landes durch eine neutrale 
Macht wird die Abstimmung kaum vor sich gehen konnen. In Buda- 
pest werden von der augenblicklich bestehenden Regierung eventuelle 
Investitionen in Deutsch-Westungarn lebhaft abgelehnt. Man rechnet 
nicht mehr ganz mit diesen Komitaten. Es liegt also vieles an der Be- 
volkerung, manches an uns. Sie mogen fiir uns stimmen. \FzV werden 
sie herzlich aufnehmen! 

Der Neue Tag, 8.8. 19 19 



SAUERBRUNN 



Sauerbrunns charakteristischste Eigenschaft ist die Finsternis. 

Die Einheimischen und die Kurgaste haben ein Sehvermogen wie Eu- 

len, denn sie wandern mit einer erstaunlichen, erfreulichen Sicherheit 

durch die verschlungensten, finstersten Pfade des Kurparks und wissen 

die Lage der gerade nicht seltenen Tiimpei und Dreckhaufen so genau 

auswendig, dafi sie trockenen Lackstiefels nach Hause gelangen. 

Sauerbrunn hat kein Benzin und kein Petroleum, und die Elektrizitats- 

werke stehen still. 

Von Zeit zu Zeit siehst du den fernen Schimmer einer Taschenlampe, 

die ein beneidenswerter Wanderer aus einer zivilisierten Gegend mit- 

gebracht hat, und wehmiitig denkst du an die Segnungen einer fernen 

Kultur. 

In Wiener-Neustadt hat man mir gesagt, ich wiirde in Sauerbrunn 

schon ein Zimmer finden. 

Ich fand nicht einmal ein Hotel. 

Also suchte ich nach einer Sauerbrunner Personlichkeit. Man wies 

mich an den Herrn Apotheker. 

Der Apotheker safS im Kreise seiner Familie friedlich beim Abendkaf- 

fee. Mein Klopfen scheuchte die ganze Gesellschaft aus der Ruhe. Ich 

stellte mich vor und bat um ein Nachtquartier. 

Ja, sagte die Frau Apotheker, sie hatte schon vier Zimmer, aber keine 

Bedienung. 

»Ich brauche blofi eines«, sagte ich, »und bediene mich seibst.« 

Darauf konne sie nicht eingehen, sagte sie. 

Ich merkte, wie sich die Guten vor mir fiirchteten. Einen Tag vorher 

hatte der Apotheker erschossen werden sollen, weil ihn Szamuely 

einer reaktionaren Gesinnung beschuldigte. Es gelang dem Apotheker 

zu fiiichten. Nach dem Sturz Kuns kehrte er zuriick. Nun konnte ich - 

wer weifi - ein Spitzel, ein Spion, gar ein Bruder Szamuelys sein. 

Ich suchte also nach einer anderen Personlichkeit und fand den Leiter 

des Sanatoriums, Dr. K. 

Dieser geleitete mich ins Direktorium und lief^ mir, indes zwei Rotgar- 

disten, »Bajonett auf«, mich bewachten, eine Anweisung ausstellen. 

Ein dritter Rotgardist schrieb auf ein Zigarettenpapier: »Ujvidek- Villa, 

ioK«. 



I08 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dann ging ich ins Kaffeehaus. 

Das Kaffeehaus besteht aus einem Garten mit Drahthindernissen. 

Wenn man diese iiberwunden hat, gelangt man auf eine Terrasse, 

auf der ein paar Tische und Stiihle stehen. An einlgen Tischen sitzt 

die »Gesellschaft« und spricht iiber die PoHtik. In grofien dunkel- 

griinen Flaschen stecken kleine, armselige Kerzenstumpfchen. Es 

sieht aus wie in einer Offiziersmesse, drei Kilometer hinter der 

Front. Man bestellt einen weifien Kaffee, mufi sogleich eine Krone 

fiinfzig bezahlen. Da ich Zigaretten wiinsche, nimmt mir der Ober 

gleich zehn Kronen ab und bringt mir keine. Statt dessen loscht er 

nach fiinf Minuten den Kerzenstumpf aus und schickt mich nach 

Hause. 

Ich tappe durch dichte Finsternis, halte das Zigarettenpapier mit 

der Quartieranweisung krampfhaft in der Hand und zerschlage mir 

den Schadel an samtHchen Baumen des Kurparks. 

Plotzlich fiihle ich etwas Weiches und iiberzeuge mich durch vor- 

sichtiges Tasten, dafi ich auf einen weibUchen Korper gestoKen bin. 

Endhch eine Abwechslung. Die faden Baume! 

Ich frage nach der Ujvidek- Villa. 

Ja, Ujvidek- Villa: geradeaus, dann rechts zweihundert Schritte, und 

links ist die Villa. 

In der Finsternis kann ich meine Rechte von der Linken und beide 

nicht von meiner Nase unterscheiden. Ich weifi nicht, was gerade- 

aus, was rechts und was links ist. 

Schliefilich hore ich Mannerstimmen. Es wird deutsch gesprochen. 

Ein Mann bietet sich als Fiihrer an. Er bekommt meine letzte Zi- 

garette. 

Vor der Ujvidek- Villa bleiben wir stehen, und mein Mann ruft ir- 

gendein Zauberwort. Darauf wird ein Kerzenstumpf sichtbar, da- 

hinter ein Mensch in Hemd und Unterhosen, der mich in Empfang 

nimmt. 

Ich erlege lo Kronen und bekomme in einem Zimmer, in dem vier 

Rotgardisten schlafen, ein Militarbett. 

Da ich keine Streichholzer hatte, konnte ich nicht feststellen, ob es 

Wanzen oder Lause waren. Flohe waren es nicht . . . 

Um 4Uhr morgens stand ich auf und ging durch das schlafende 

Sauerbrunn. Es ist sehr dreckig und ungepflegt. Die Villen sind 

traurig und niedergeschlagen. 



19 19 109 

Sauerbrunn war friiher nur ein Kurort. Jetzt ist es historisch: Szamuely 
liegt hier begraben, der grofie Morder Tibor Szamuely. 
Da ich zum Bahnhof komme, bemerke ich, dafi Sauerbrunn gar nicht 
Sauerbrunn ist, sondern »Savanya-Kut«. So sieht es aus . . . 

Der Neue Tag, 8. 8. 1919 



ODENBURG 



Ich wiirde ein grofies Tor errichten als Eingangspforte und mit riesi- 
gen, weithin sichtbaren Lettern dariiberschreiben: Nomen est omen! 
Denn nie sah ich eine Stadt, zu der der Name besser pafite. 
In Odenburg stehen alle Uhren. Ich glaube: die Uhren streiken. Denn 
Ungarn wollte der europaischen Zeit um eine ganze Stunde vorausei- 
len, und die Rateregierung fiihrte, um die konservativen Bauern zu 
argern, die Sommerzeit ein. Die westdeutschen Komitate kiimmerten 
sich nicht darum: In alien deutschen Dorfern zeigen die Turmuhren 
die mitteleuropaische Zeit. 

Auch die Odenburger Uhren sahen ein, daf^ Ungarn, statt der Zeit um 
eine Stunde vorauszueilen, um ein paar Jahrhunderte zuriickgeblieben 
war. Da sie aber die kommunistischen Machthaber der Stadt furchte- 
ten, gingen sie nicht mitteleuropaisch, sondern blieben stehen. So weifi 
man in Odenburg nie, wieviel es geschlagen hat: auch poHtisch nicht. 
Denn Budapest ist weit, und die neuesten Nachrichten nehmen den 
kleinen Umweg iiber Wien, um nach Odenburg zu gelangen. 
Odenburg hat 50000 Einwohner und halt sich also fur berechtigt, eine 
elektrische Strafienbahn vom Siidbahnhof zum Raaber Bahnhof und 
zuriick pendeln zu lassen. Die Elektrische tragt keine Nummer, keine 
Tafel, sondern die Aufschrift: »Kauft Milka-Suchard!« Aber die Auf- 
forderung vermag keinen dariiber zu belehren, ob der Wagen zum 
Raaber oder zum Siidbahnhof fahrt. Das wissen nur die Einheimi- 
schen, und die gehen infolgedessen zu Fuf^. 

Bis zehn Uhr vormittags sind die Kaffeehauser offen. Man bekommt 
eine Portion »Vor6s Ujsag« und dazu einen Fingerhut Schwarzen. 
Wenn man Blaugeld hat, kann man sich den Sport, will sagen: die 
Sport um eine Krone achtzig leisten. 



110 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Als Rest bekommt man ein paar Papierschnitzel mit buntem Auf- 
druck. Es sind keine Briefmarken, sondern Geld. Ungarisches Geld. 
Im »Deutschen Haus« kann man eine Anweisung auf Quartier und 
Essen bekommen. Da die Amtsstunden um neun Uhr beginnen, 
kommt der kommunistische Beamte schon um halb elf. Er hat einen 
glanzend pomadisierten Schadel und tadellose Biigelfalten. Er sagt dem 
Tiirsteher »Genosse« und »Ala solgaja!«, worauf der an der Tiir ste- 
hende Genosse zusammenklappt wie ein Patent-Taschenmesser. Denn 
in Odenburg sind alle Menschen gleich. 

Die Quartieranweisungen werden hier zur Abwechslung nicht auf 
weifiem, sondern auf rotem Zigarettenpapier ausgestellt. 
Wenn man aber speisen will, so geht man nicht dorthin, wohin man 
gewiesen wurde, sondern in einen kleinen nichtsozialisierten Betrieb. 
Die kleinen Betriebe wurden bekanntlich nicht sozialisiert und be- 
kommen infolgedessen so viel Zuspruch, daf? sie beim besten Willen 
nicht klein bleiben konnten. Dagegen wurden die grofien, sozialisier- 
ten Betriebe kleine Tohuwabohus. 

In den nichtsozialisierten Betrieb kommt auch der Herr Stadtkom- 
mandant, von Beruf Buchdruckergehilfe und im Kriege zum Stabsfeld- 
webel avanciert. Jetzt tragt er Offizierskappe und -bluse, weiKe Hose, 
Sporen und eine Reitgerte. Wenn er das Gasthaus betritt, springt das 
ganze speisende Odenburg auf. Denn in Odenburg sind alle Menschen 
gleich . . . 

»Der Odenburger Proletarier« enthalt vier Seiten amtlicher Kundma- 
chungen in miserabelstem Deutsch und hat vierundzwanzig Redak- 
teure, von denen nur einer Journalist von Beruf ist. Die anderen sind 
Setzergehilfen. In der Zeitungsdruckerei wird das Odenburger Stadt- 
geld gedruckt. 

Der friihere Herausgeber und Chefredakteur ist in keiner Gewerk- 
schaft organisiert und verhungert langsam, aber sicher. Er hat eine Mo- 
natsgage von 450 Kronen, die »Redakteure« bekommen 4000 Kronen 
monatlich. 

Der Obmann des Deutschen Gaus residierte in Odenburg. Er hiefi 
Geza Zsombor und gab sich fiir einen Deutschen aus. Er paktierte mit 
den Anschlufifreunden, verriet diese bei der Rateregierung, und es ge- 
lang ihm, nach Paris zur Friedenskonferenz zu kommen, wo er bald 
den Anschlufi betrieb, bald zu verhindern suchte. Geza Zsombor 
wohnt jetzt in Wien und wartet auf weitere Konjunkturen . . . 



19 19 m 

Von 10 bis 6 Uhr taglich kannst du in Odenburg verhungern, ohne dafi 
sich jemand um dich kiimmert, wenn du nicht organisiert bist. 
Ich ging in ein beliebiges Privathaus und bat um Essen. Ich bekam Brot 
und saure Milch und sprach mit einer ungarischen Dichterin, die uber 
den Sturz Bela Kuns klagte. Es gibt auch ehrliche Kommunisten in 
Odenburg. Sie sind entweder Dichter oder Narren oder beides. 
Odenburg hat auch etwas Schildamafiiges wie jede Kleinstadt. Ein Jun- 
ges Madchen aus Odenburg - so ging die Sage - sei in Wiener-Neu- 
stadt verhaftet und eingesperrt gewesen. Das Madchen kam in ihre 
Heimatstadt und wurde von alien ehrlichen Odenburgern boykottiert. 
Sie mufite nach Wien fliichten. Jetzt wird sie wahrscheinlich ausgewie- 
sen und den Schildbiirgern von Odenburg erbarmungslos ausgeliefert. 
Denn Schildbiirger und Schildbiirger halten fest zusammen: die von 
Wien und die von Odenburg . . , 

Unheimlich ist Odenburg in den Abendstunden, wenn die Rotgardi- 
sten spazierengehen. Sie haben das Recht, Passanten anzuhalten und 
zu visitieren. Und unter »Blaugeld« versteht man: Uhren, Ringe, Ziga- 
rettendosen usw. 

Am Abend verhefi ich Odenburg und wanderte in die Umgebung; 
denn ich hatte blof? eine Taschenuhr. . . 

Der Neue Tag, 8.8. 19 19 



ZINKENDORF ODER NAGY-2ENK 



Wenn man nach Zinkendorf gelangen will, kommt man nach Nagy- 

Zenk. 

Aber wenn man Gliick hat in Nagy-2enk, kann man hie und da auch 

Zinkendorf zu sehen kriegen: 

Wenn du eine groEe Kotlache siehst und darin walzt sich mit behagli- 

chem Grunzen ein fettes Schwein; 

wenn du an schwarzen Kindern vorbeikommst, die mit stiller Wollust 

Gesicht und Nacken mit Pferdemist bestreichen; 

wenn in einem offenen Pferdestall eine Bauerin ihre Notdurft verrichtet; 

wenn in einem Gasthaus ein Schweinehandler mit gerotetem Gesicht 

seinen Tischnachbarn anspeit; usw. usw., 



112 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

dann bist du in Nagy-Zenk . . . 

Aber wenn du ein weifies Hauschen mit einem Gartenbeet davor siehst 
und hinter den Fenstern weifie Gardinen; 

wenn du einen Bauern siehst, der seine Pfeife raucht und ein Hausgerat 
blank putzt; 

eine Frau, die einen trampelnden, schreienden blonden Jungen in einen 
Wasserkiibel zwangt; 

bliitenweifie Ganse in einem kleinen, abgegrenzten Teiche platschern; 
usw. usw., 

dann bist du in Zinkendorf. 

Zinkendorf ist stockmagyarisch und hat eine Zuckerfabrik, die fiir 
Deutschosterreich von grofiem Nutzen ware und natiirlich von Deut- 
schen verwaltet wird. Die deutschen Arbeiter - 14 oder 15 Familien - 
wohnen in Nagy-Zenk und bilden Zinkendorf. 

Am Sonntagabend kommen der Burgermeister und die Gemeinderate 
ins Wirtshaus und sprechen iiber den Sturz der Rateregierung. AUe 
trinken zehn- und zwanzigmal Briiderschaft. Zum Schlufi kiissen sie 
sich, indem sie sachte unter den Stammtisch gleiten. 
Der Wirt hat schneeweifie Hemdsarmel und lacheh iiberlegen. Er 
wischt sich den Schweifi und gurgelt jedesmal, sooft er einschenkt, 
einen Viertel Rotwein hinunten 

Nach funfzig Vierteln wirft er die Gaste hinaus. Das ganze mannhche 
Nagy-Zenk torkelt die breite Landstrafie entlang. 
Und findet erst Montag friih nach Hause. 

Als ich am Gemeindeamt vorbeiging, sah ich draufien einen Ochsen 
stehen. 

Ich nahm das fiir einen harmlosen Zufall und ging hinein, mit dem 
Burgermeister zu sprechen. 

Aber nur der Schreiber, der beim Militar gedient hatte, konnte 
Deutsch und sprach mit mir. 
Wie er sich den Anschluf^ vorstelle? 

Anschlufi? Ja, wenn Deutschosterreich an Ungarn eine Entschadigung 
zahle, konne man von Anschlufi reden. Denn Deutschosterreich sei 
schuld am Kommunismus, denn alle Juden kamen aus Deutschoster- 
reich . . . 

Der Neue Tag, 9. 8. 1919 



DEUTSCH-KREUZ 



In Deutsch-Kreuz war Tanz- und Polterabend. 

Die weiten Gehofte leer, und nur die Alten waren zu Hause geblieben. 

Von Zeit zu Zeit kamen ein Kind oder ein GroEvater des Weges daher 

und erzahlten, dafi »Marie-T'res« ein Sacktuch wiinsche. 

In Deutsch-Kreuz ist die Institution der Parkettboden nicht bekannt. 

Man tanzt vielmehr im Hofe, und eine Ziehharmonika liefert die no- 

tige greuliche Musik. 

Die Madchen, alle weifi gekleidet und mit schwarzen Kopftiichern, 

stehen in dichten drei Reihen hintereinander im Hofe, die Burschen 

stehen auf der anderen Seite, aber eher in Gruppen, viel zwangloser 

und freier. Manche sitzen drin in der Schenke und tun einen anstandi- 

gen Zug. Auf einmal geht der Spektakel los: 

Aus der mifigestimmten Ziehharmonika flattert ein tiefer Ton auf, wie 

ein schwerer, plumper Vogel versucht er, eine Weile in der Luft zu 

bleiben, und fallt dann schwer und plumpsend zu Boden. 

Diesem Ton folgt ein heller, junger, es klingt wie ein Hahnenschrei, 

und auf dieses Zeichen stiirzen Burschen ohne Hiite und in Hemdsar- 

meln aus der Schenke. Im Nu sind die Weiber vergriffen. Der Bursche 

halt das Madchen nicht etwa an sich geprefit, sondern hat beide Arme 

um ihre Hiifte geschwungen. Der Oberarm bleibt holzern, steif und 

fest, so dafi das Madchen in einem Abstand von etwa zehn Zentime- 

tern von seinem Korper entfernt bleibt. 

Der Tanz ist voUkommen kunstlos und besteht aus monotonen Drehbe- 

wegungen. Man dreht sich so lange, als der Ziehharmonikamensch will, 

denn es gilt als Schimpf, friiher aufhoren zu miissen. Man dreht sich in 

dem engen Hofe, in dem es zum Ersticken heif^ ist, bis man im eigenen 

Schweifie ertrinkt. Der Boden ist naf^ wie nach einem Platzregen. 

Da ich ins Wirtshaus trete, singen die Leute gerade ein heanzerisches 

franzosisches Gstanzel: 

Von da Nah und von da Fean 

Lod' ma olU ein, an jedn gseg ma gean. 

Ochzig Hella is Eintrittsgold 

Des wegn is a nit gfolt. 

Denn wou spiilt d'Neuhausa Musi 

Dou is a Hetz, a Gschpusi. 



114 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Man entdeckt an mir Kragen und Krawatte, halt mich fiir einen kom- 
munistischen Agitator, und feindselige Stille tritt plotzlich ein. Der 
Wirt poltert los: 
»I kenn' Ihna gar nicht!« 

»Das macht nichts! Sie sollen mich kennenlernen!« 
»Was woUen S' denn?« 

»Was zu essen und einen Wein! Und schlafen mocht' ich hier!« 
»2' essen hob i selber nix, und schlofn konnen S' net. An Wein konnen 
S' habn, wenn So Blaugeld han.« 

Ich han Blaugeld und trinke einen Wein. Weil ich mit einer Hundert- 
kronennote zahle, kommt ein Rotgardist plotzlich auf mich zu und 
nimmt mir dreihundert Kronen ab, worauf ich mich schleunigst aus 
dem Staube mache. 

Hundertkronennoten darf namlich niemand besitzen, es sei denn ein 
Rotgardist, 

Nun aber kannst du in Deutsch-Kreuz drei Stunden lang herumwan- 
dern und findest kein Quartier und kein Brot. Du bist ein Fremder 
und wirst verachtet. Kragen, Krawatte und Hochdeutsch verraten 
dich. Entweder bist du ein Spion der Szegediner, so hat man Angst. 
Oder du bist ein Agitator Kuns, so hafit man dich. Du kannst verhun- 
gern. Zumal, da sowohl der Herr Pfarrer als auch der Herr Notar ir- 
gendwo beim Tarock sitzen. 

Plotzlich sehe ich die Grofie Mohrengasse auftauchen. 
Hausierergesichter, typische Leopoldstadt. Eine Judengruppe. Sie re- 
den hochdeutsch mit den Handen. Ihre Bewegungen halten die Mitte 
zwischen Bedachtigkeit und Leidenschaft. Sie reden Leitartikel iiber 
Bela Kun. Bleiche Pogromangst spukt um sie herum. 
In Deutsch-Kreuz sind sie zu Hause. Da ich einen um Quartier bitte, 
lafit er mich durch einen rothaarigen, sommersprossigen Judenjungen 
nach dem Hause eines Glaubensgenossen fiihren. Ich bekomme Brot 
und Eier und ein Bett. Ich telle das Zimmer mit einer gelahmten Grofi- 
mutter, dem Ehepaar und zwei hiibschen, schwarzaugigen Tochtern. 
Am Morten erlege ich nicht weniger als funfzig Kronen in Blaugeld 
und wandere weiter. 
Aber iiber die Juden in Deutsch-Kreuz mu8 ich noch erzahlen. 

Der Neue Tag, 9.8. 19 19 



DIE JUDEN VON DEUTSCH-KREUZ UND DIE 
SCHWEH-KHILLES 



Mitten in Deutsch-Kreuz eine Filiale der Leopoldstadt. 
Siebzig jiidische Familien wohnen seit tausend Jahren im Deutsch- 
Kreuzer Getto. Denn sie wohnen alle zusammen, in einer grofien Hau- 
sergruppe hinter den weiten Gehoften der reichen Bauern, und fiihren 
ein eigenes Leben. 

In der Mitte steht der Tempel, mindestens ein paar Jahrhunderte alt. 
Links vom Tempel wohnt der Rabbiner, ein Mann in mittleren Jahren 
mit blondem Bart und einem schwarzen Samtkappchen auf dem 
Haupte. Er sitzt an einem langen Tisch und um ihn herum seine Jun- 
ger. Judenburschen im Alter von sechzehn bis zwanzig. Sie lernen Tal- 
mud, alle durcheinander, in ihren monotonen Sing-Sang klingt nur von 
Zeit 2u Zeit der grelle Schrei der Ziehharmonika vom Wirte driiben. 
Ich will mit dem Rabbi iiber die Gemeinde sprechen. Er driickt mir die 
Hand und bittet mich um Verzeihung: Er habe leider keine Zeit. Ich 
mochte zum Kultusvorsteher Herrn Lipschiitz gehen. 
Herr Lipschutz ist ein Mann um die Funfziger, 1st auch schon in Bu- 
dapest und, als er noch jung war, sogar in Wien gewesen und hat Ma- 
nieren. 

Er bittet mich in den »Salon«. Ein dunkelrot gehaltenes Zimmer, lauter 
Pliisch und Samt und verstaubte Nippessachen, Tintenfasser, Vogel, 
Hunde aus Bronze auf der Konsole. Der Stuhl, den er mir anbietet, ist 
leider durchgedriickt, und ich rutsche in eine Versenkung, aus der ich 
mich mit vieler Miihe wieder hinausrette, um fortab am Stuhlrand sit- 
zen zu bleiben. 
Herr Lipschutz erzahlt mir: 

Vor vielen Jahren seien die Juden aus Osterreich vertrieben worden 
und waren zum Fiirsten Esterhazy gekommen. Dieser habe ihnen sie- 
ben Gemeinden, die sogenannten »Schweh-Khilles«, angewiesen. Es 
sind lauter deutsche Gemeinden. In einigen haben die Juden voile 
Autonomic und sogar eigene Biirgermeister. Die Juden sprechen ein 
reines, fehlerloses, etwas hartes Deutsch und vertragen sich ausge- 
zeichnet mit der Bevolkerung. Die deutschen Bauern machen einen 
strengen Unterschied zwischen »Budapester« und »unseren« Juden. 
Das Haus des Herrn Lipschutz ist einstockig, mit einem grofien Hof. 



u6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Er ist der reichste Jude in der Gemeinde, und sein Name ist weit und 

breit bekannt, 

Der Kan tor, der vor ungefahr 50 Jahren noch im Deutsch-Kreuzer 

Judentempel die Gebete sang, hiefi Goldmark. Sein Sohn war der be- 

riihmte Komponist Goldmark, der aus einem Deutsch-Kreuzer Juden- 

jungen ein Mann von Weltruf ward. 

Die Gemeinde zahlt auch den ungarischen Romanschriftsteller und 

spateren Sektionschef Alexander Doczi recte Dux mit Stolz zu ihren 

Sohnen. 

Die Juden von Deutsch-Kreuz und den Schweh-Khilles beschaftigen 

sich nur mit ehrlichem Handel und werden von der christHchen Bevol- 

kerung sehr geschatzt. Sie haben sich rein und unvermischt erhalten, 

und aus ihren Gesichtern klagte das jahrtausendealte Leid Ahasvers. 

Sie kennen keinen Tanz, kein Fest und kein Spiel. Nur Beten und Wei- 

nen und Fasten. Die Deutsch-Kreuzer Juden fasten zweimal in der 

Woche und beten den halben Tag lang. 

Der Tempeldiener kommt morgens und abends an jede Tiir, klopft mit 

einem Hammer und ruft die Juden zum Gebet. 

Ich besah mir den Hammer: Er ist schon ganz klein, schwarz, fettig 

und »abgeklopft«. Er mag so alt sein wie die Gemeinde. 

Manchmal wachst ein Judenjunge heran, hat Begabung und Gliick und 

wird ein Goldmark oder Doczi. Aber nur manchmal. 

Die meisten leben und sterben, wo sie geboren sind. 

Das ist die Geschichte der Juden von Deutsch-Kreuz und der 

»Schweh-Khilles«. 

Der Neue Tag, 9. 8. 1919 



DAS KINODRAMA VON MAYERLING 



So war es nicht gemeint! 

Aufhebung der Zensur, Abschaffung der Priiderie, Verschwinden Tar- 
tiiffes: alles sehr schon. - Aber auf eine Freiheit, die in den Kloaken 
verlassener Palaste herumrumort und den Kanalraumer abgibt, der un- 
ter den k.k. Uberresten immer noch etwas herausschniiffelt, was unter 
republikanischen Umstanden einem freien Volke als Gaumen- und 



19 19 117 

Sensationslust reizendes Kitschknackwiirschtel vorgesetzt werden 
konnte, konnen wir dankend verzichten. Dieser Film»dichter«, der 
sich mit Geierfangen auf den Aas gewordenen Zar stiirzt und einen 
dreitausendfiinfhundert Meter langen »Stoff« verfilmt, um republika- 
nische Abende mit Hintertreppengestank unter Perolinspritzenbeglei- 
tung zu fiillen, ist ein Symptom jener billigen Sorte von Freiheit, die 
die Monarchic nur zu dem Zwecke abgesetzt hat, um ungestdrt in de- 
ren verwanzten Matratzengriiften stobern zu konnen. Diese Freiheit 
begniigt sich nicht damit, die »erste Gehebte Kaiser Karls« in der 
Karntnerstrafie um den Preis von zwanzig Hellern zu kolportieren, 
sondern sie findet auch Filmunternehmungen, die - auch cine Art Re- 
volutionsgewinner - aus dem grofien Reinemachen das Ungeziefer 
aufklauben und es in die Sphare des Kinoheldentums erheben. 
Nach dem ausgiebigen Regen der Revolution sind - besonders aus dem 
Berliner Boden - die Schimmelpilze der neuen Filmunternehmungen 
dunkelster Schattierung reichHch empor^eschossen. Das Kronprinz- 
Rudolf-Drama, das allem Anscheine nach sich zu einem Gerichtssaal- 
drama auszuwachsen beginnt, ist ebenfalls das Produkt einer solchen 
Filmunternehmung. In der grobsten, geschmacklosesten Weise werden 
Vorgange und Personen des ehemaligen Kaiserhauses dargestellt, 
Nicht der Umstand, dafi z.B. Kaiser Franz Joseph als hilfloser Greis 
dem Publikum vorgefiihrt zu werden die zweifelhafte Ehre hat, ist be- 
dauernswert, Aber dafi es Leute gibt, die darauf spekuheren, daE ein 
Kronprinz Rudolf in Unterhosen und Nachthemd, dafS eine angehei- 
terte Prinzengeliebte und ein zweifelhafter Tiirsteher auch ein republi- 
kanisches Publikum zur Kassenfiillung verleiten werden, ist traurig 
und zu verurteilen. Dai5 in einem Wiener groEeren Filmunternehmen 
hergestellte Mayerlingdrama halt sich immer noch auf der Hohe - oder 
Flache - iiblicher Filmdramatik. Es ist objektiv, sachlich und nur mit 
der gewohnten Sentimentalitat verbramt und in einem Kitschakkord 
ausklingend. Aber »Kronprinz Rudolf«, ein Erzeugnis des wildesten 
Berliner Westens, miif^te unter alien Umstanden verboten werden. Al- 
lerdings - seit den Umsturztagen funktioniert die polizeiliche Uber- 
priifungsstelle nicht mehr so genau, und ohne auf jene sicherlich un- 
wahren Geriichte hinzuweisen, die wissen wollen, dafi man sich's auch 
da »richten« konne, mufi doch mit allem Nachdruck betont werden, 
daE hier eine arge Nachlassigkeit geschehen ist. 
Frau Windisch-Grdtz und ihr Vertreter, Herr Dr. Bell, haben, wie man 



Il8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aus Fachkreisen erfahrt, alle Aussicht, schon in erster Instanz durchzu- 
dringen. Das Kronprinz-Rudolf-Drama wird aller Wahrscheinlichkeit 
nach verboten werden. Dafi die Filmzeitschriften dennoch das Drama 
unentwegt weiter ankiindigen, hangt damit zusammen, dafi die Berli- 
ner Fabrik, die sehr viel Geldmittel zur Verfiigung hat, sich's angele- 
gen sein lafit, die Kinobesitzer vorlaufig fiir den Ankauf zu gewinnen 
und soviei Vorschiisse wie mdglich einzustecken, ehe der Prozefi zur 
Kenntnis der weiteren Offentiichkeit gelangt. Es ist im Interesse des 
guten Geschmacks und der Offentiichkeit zu wunschen, dafi das Ver- 
bot in Kraft tritt, aber auch die polizeiliche Priifungsstelle, die solche 
Auswiichse grober Geschmacklosigkeit und riider Spekulation in Zu- 
kunft zu verhindern hatte. 

Ob man Kinofreund oder -gegner ist: An Kinokitsch und »spannen- 
der« Kriminalromantik haben wir nachgerade genug. Dafi nun auch 
die Revolution ein Anlafi zur Entladung niedrigster Masseninstinkte 
sein soli, miissen wir uns strenge verbitten. Ob es dem Kino gar so viel 
niitzt, wenn ein Drama statt auf der Filmleinwand auf der Schmutzwa- 
sche des Hauses Habsburg vorgefiihrt wird?! . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 12. 8. 19 19 



WIENER HOFFNUNGSLICHTER 

Die Nachtbeleuchtung der Wiener Cafes 

Sie brannten gestern zum erstenmal und offenbarten eine gewisse 
Eigenschaft, von der man in guter Gesellschaft nicht gern spricht, Um 
deutlicher zu werden: Sie dufteten nicht . . . 

Also, die Sache begann so: Um loUhr stellte ein Mann ein Gefafi auf 
einen Tisch, Ein Gefafi, das man ebensogut fiir eine Handgranate wie 
fiir eine vorsintflutliche Lampe aus dem Tempel der Astarte von Sidon 
aus dem Jahre 700 v. Chr. halten konnte. Dazu kam eine Leiter, wie sie 
Zimmermaler zu beniitzen pflegen. Die Musik brach ab. Eistassen 
blieben unausgeloffelt, Schwarze wurden kalt. Unter allgemeiner an- 
dachtiger Aufmerksamkeit bestieg der Mann die Leiter. Ein Kellner 
reichte ihm die Lampe. 



19 19 119 

Nach fiinf Minuten erschien am oberen Lochrand des Gefafies ein Et- 

was. Der Ober sagte, das ware ein Docht. 

Und alle glaubten es. 

Der Mann auf der Letter brannte ein Streichholz an. Es verlosch. Ein 

zweites. Ein drittes. Ein viertes. Ein flinftes. Eine ganze Schachtel. 

Der Ober brachte ihm eine neue. 

Ich zahlte: Beim zweihundertzweiunddreifiigsten fing jenes Etwas, 

von dem ein offenbar phantasiebegabter Kellner gesagt hatte, es ware 

ein Docht, zu brennen an. Ein blaues Flammchen flackerte. Es war 

kein Zweifel: Die Azetylenlampe war da. Wiens neueste Kaffeehaus- 

errungenschaft. Wiens Nacht- und Hoffnungslicht . . . 

Es drohte jedesmal auszuloschen. Es war beleidigt. Konnte die noch 

brennenden protzigen elektrischen Lichter nicht vertragen. Weshalb 

das Fraulein an der Kasse »Ausloschen!« kommandierte. 

Und eh' man sich's vers ah, war's fins ten 

Nur die blauen Flammchen brannten an einigen Tischen und zwei an 

der Decke. Es war wie im Bergwerk. Eine undefinierbare Gestalt ging 

von Tisch zu Tisch. Es war der Herr Direktor. Er sagte nicht: Erge- 

benster! Auch nicht: Habe die Ehre! Und nicht: Kiiss' die Hand! . . . 

Er rief: Gliick auf! 

Die Musik intonierte: In der Nacht, in der Nacht. . . An meinem Hn- 

ken Nachbartisch erwachte die Liebe. Es war wie im Kino. Einfach 

zum Kiissen . . . 

Nur der Mond storte. Ausgerechnet Vollmond! Durch keinerlei Koh- 

lennot gedrosselter Vollmond. 

Infolgedessen begann die Musik: Droben, wo die Sternlein stehn . . . 

Als ich zahlen woUte, fand ich im Lichte der Azetylenlampen den 

Ober nicht. Er war seinerseits damit beschaftigt, Gaste zu suchen, de-. 

ren Verschwinden der erste Segen der neuen Lichtquellen war . . . 

Auf meinem Rundgang durch die Stadt beobachtete ich die herrlichste 

Silvesterstimmung. Diese neuen Lampen! Irgendwo horte ich Cham- 

pagnerpfropfen knallen. Man begriijSte das neue Licht. 

Am Ring saf^ Goethe und zitierte: Mehr Licht! . . . 

Im Cafe Zentral leuchteten die Geistesblitze zur Geniige . . . 

Im Scheine dieser schrieb ich das Obige . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 13. 8. 1919 



VON EINEM, DER AUS20G, DAS 
GRUSELN ZU LERNEN 

Ein BesHch in den Katakomhen hei St. Stephan 

Es sind zwei Moglichkeiten: 

Entweder man geht in die Katakomben nach vorheriger Vorbereitung, 
d.h. Lektiire unterschiedlicher wissenschaftlicher, kulturhistorischer 
Schriften. Oder aber man macht sich unvorbereitet auf den Weg, ohne 
Kulturgeschichte betrieben zu haben, und kommt dabei auf die Rech- 
nung seiner Phantasie. Denn alle Jene wissenschaftlichen Broschiiren 
sind nur geeignet, dem unbefangenen, d.h. befangenen Wiener die 
Freude am Gruseln zu verderben. Sie erzahlen z.B. mit einer unglaubli- 
chen Kiihnheit, die Pestgrube sei keine Pestgrube und der liebe 
Augustin lage auf dem Zentralfriedhofe. Der Sarg, der aus sozfaler Fiir- 
sorge fur die Angestellten und Fiihrer von St, Stephan eigens im Kata- 
kombengang stehen gelassen wurde, behaupten die Schriften, ware gar 
nicht der Sarg des S.RJ, Principis Celsissimi Emerici und in jener halb- 
zerbrochenen, verrosteten Urne lage gar nicht das Eingeweide der letz- 
ten Mefinerin, sondern irgendeine ganz vulgare Menschenleber. Die 
Katakomben hatten gar keine Untergeschosse, gar keine Geheimnisse, 
sondern seien ganz einfache steinerne Cafes fiir Menschenleichen, die 
langst ausgeraumt worden seien. Kurz, diese Wissenschaft leuchte mit 
der allerietzten, modernsten Quarzlampenkonstruktion in die dunkel- 
sten Winkel schauerlicher Volksphantasie, und der Spuk flieht vor ihr 
wie der Gottseibeiuns vor einem dreimal wiederholten Paternoster. 
Ich rate keinem, derlei Biicher zu lesen. Sie nehmen einem die Freude 
an der »Hetz« und versetzen dem Lokalpatriotismus einen Tritt auf 
dessen empfindhche Hiihneraugen. Was soil man mit Blichern anfan- 
gen, die den heute noch deuthch am Boden der Katakomben zutage 
tretenden Kalk - ich schwore, daf^ es Kalk ist, echter, weifier Kalk! - 
nicht als Beweis fiir die Existenz der Pestgruben ansehen und die selbst 
dem lieben Augustin nicht seine seUge Ruhe lassen! Selbst dem lieben 
Augustin nicht! 

Nein, man gehe lieber mit ein bif^chen Herzklopfen in den ersten 
Stock der Sakristei, an Monumenten, Steinsplittern, Heihgenkopfen, 
Biisten, Steinkreuzen vorbei, in jene Kanzlei, wo ein Mann in blauer 



I9I9 121 

Schiirze und Hemdsarmeln mit einem bedrohlfchen Zirkelzeug her- 
umhantiert, und lasse sich, unwissenschaftlich, unbelesen, laienhaft, in 
jenes Buch eintragen, wo alle Besucher sorgfaltig registriert werden. 
Man wird hierauf fiir den nachsten Tag bestimmt, Punkt 5 Uhr friih 
mufi man sich einfinden. Wenn man wirklich einmal piinktlich gewe- 
sen ist, ist der Mann, richtig, noch nicht da. Er heifit Franz Lube und 
fiihrt seit zwolf Jahren die Besucher durch die Katakombengange. Er 
ist es gewohnt, dafi die Leute auf ihn warten. 

Nach einer Viertelstunde kommt er mit einer vierdochtigen Mefikerze, 
die in einem riesigen Leuchter steckt und den Auftakt zur SchauerHch- 
keit bedeutet. Von Rechts wegen sollte jetzt das Gruseln beginnen. 
Ade, blauer Himmel und Sonnenschein! Wir steigen zu den Toten in 
die Unterwelt. Wir werden uns angrinsen lassen von Totenschadeln 
und mit Monchsskeletten per du sein. Und wenn - was immerhin 
moglich ist - mich unten ein zufalliger Schlag trifft, so sehe ich die 
Erde nimmermehr. Es mufi Ja auch gar nicht ein Schlag sein. Das Ge- 
wolbe kann einstiirzen, ein Pfeiler in Triimmer gehen, oder gar - 
schreckhchster aller Schrecken! - der liebe Augustin springt aus seiner 
Pestgrube und fangt an, mit mir herumzuwirbeln, und wir tanzen 
schnurstracks ins Jenseits hinein. Also: Es tut mir leid, dafi ich mein 
Testament nicht gemacht habe. 

Links die kleine Nische mit dem steinernen HeiUgenbild. Da ist ein 
Gitter, dessen Tor in den Angeln kreischt, ein verrostetes Schlol^, in 
dem sich der machtige Schliissel nur achzend bewegen kann. Dann 
wird die Eichplatte aufgehoben, und der Abstieg beginnt. 
Franz Lube mahnt zur Vorsicht. Das gehort somit zum Geschaft. Die 
Stufen sind ordentlich, man kann gar nicht ausrutschen, selbst wenn 
man wolite. Aber Lube mahnt zur Vorsicht. Vorsicht ist hier die Mut- 
ter des Gruselns . . . 

Die Mefikerze wirft unsteten Schein, als wolite sie sagen: Gruselt's 
dich? Da steht ein schwerer uralter Sarg mit der Inschrift »In hac 
tumba iacet cadaver Celsissimi S. R. I. Principis; Emericus obiit Pie Die 
XXV. Febmarii Anno M,D, CLXXXV.« 

Und ein zweiter Sarg, in dem, wie Herr Lube aus ganz bestimmter 
Quelle weilS, zwei Kinder des Gesandten von Brasilien ruhen soUen. In 
der Ecke ein Haufen von Schadeln und Totengerippen. Alle neben-, 
iiber-, untereinander. Feinde, Freunde. Gleichgiiltige, Fremde. Ver- 
ganglichkeit alles Irdischen! 



122 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

An der sogenannten »Rutschen« vorbei kommst du zur Pestgrube. Die 
»Rutschen« ist ein Loch, durch das aufier dem Tageslicht auch Staub 
und Larm und Abfalle der Strafie in die Stille der Katakomben dringen. 
Die »Rutschen« soil einstmals dazu gedient haben, minderbemittelte 
Leichen, wie man heute sagen wiirde, auf eine billige Art zu bestatten. 
Sie wurden einfach hinuntergeschupft wie beim Kegelspiel. Herr Lube 
sagte mir, daf5 der Wiener Ausdruck »der is auf der Rutschen« von 
daher stamme. »Der ist auf der Rutschen« sagt man von einem, mit 
dem es schon stark abwarts geht. 

Das wichtigste ist natiirlich die Pestgrube. Michael Unkner, der Toten- 
graber vom St. Stephansfreithoff, wurde bestochen. Roger Acacia, der 
Prinz von Dachem, und die anderen Lanzettenritter stiegen in das 
dritte Stockwerk der Katakomben, und zwar durch den Keller eines 
Nachbarhauses. Dort verteilten sie die Lanzetten und den Peststoff an 
die Verschworer, und so wurde die Pest nach Wien eingeschleppt. Die 
Pestgrube soil nun mehrere Stockwerke tief gewesen sein und viele 
viele Tausende Opfer in ihrem Schofie bewahren. 
Heute ist natiirlich vom unteren Stockwerke nichts mehr zu sehen. 
Vielleicht hat jene Mistrefi Trollope recht, wenn sie behauptet, der Zu- 
gang zu dem unteren Stockwerke sei unter keinen Umstanden gestat- 
tet, mit drei Schlossern verschlossen, und die drei Schllissel befanden 
sich: der eine beim erzbischoflichen Ordinariat, der zweite bei Hofe, 
der dritte beim Wiener Magistrat. Wer*s glaubt, wird selig. 
Wissenschaftlich festgestellt ist nur, dafi die Katakomben in der zwei- 
ten Halfte des ij.Jahrhunderts entstanden sind. Die Halle unter der 
Sakristei der Stephanskirche soil erst im Jahre 1718 erbaut worden 
sein. Auch die sogenannten »neuen Gruften« existieren erst seit spate- 
rer Zeit, und die Wissenschaft beweist klar und unwiderleglich, daf5 die 
Pestgrube keine Pestgrube ist, weil die Pestkrankheit 1679 und 1713 
gewutet hat, also lange vor dem Entstehen der »Pestgrube«. Vielmehr 
weifi ein Schriftstiick aus dem Jahre 1768 zu berichten, daE in diesem 
Jahre die Notwendigkeit es erheischte, dafi der k. Hof- und gem. Stall- 
Maurermeister Christian Alexander Oerdtl dem Wiener Bischof den 
Vorschlag »wegen machung Einer ganz neuen Krufften unter dem 
alldort herumbgehenden Freythoff« unterbreitete. Denn der Sarge und 
Gebeine lagen viel in den alten Raumen herum. So wurde denn die 
Schaffung einer neuen Krufften bewilligt. Dafi aber diese Gruft heute 
noch Kalkspuren aufzuweisen hat, ist dadurch erklarlich, dafi ein Ak- 



1919 123 

tenstiick vom 28. April 1732 die Leichen mit Kalk zu bestreuen anord- 
net. Dennoch hielt sich der Glaube an die Pestgrube bis tief in das 
i9.Jahrhundert hinein aufrecht. Der bekannte Wiener Arzt Johann 
Wilhelm Managetta lehrt, daft »von etlichen Hexen und Zauberinnen, 
erst wann sie gestorben und begraben seyn, die Pestilenz erregt 
werde.« 

Als 1873 die Wiener Hochquelleitung voliendet worden war, stieg, da 
die Hausbrunnen aufter Gebrauch blieben, der Grundwasserspiegel so, 
dafi die Stephansgriifte eine starke Feuchtigkeit aufzuweisen batten 
und der Moderge'ruch ein unhaltbarer wurde. So wurde denn die Rau- 
mung der Katakomben vorgenommen. Heute sind sie vollkommen 
leer. 

Nein! Beim besten Willen! Ich kann nicht das Gruseln erlernen. Das 
kommt vielleicht davon, daft ich so belesen bin und ein biftchen Latein 
entziffern kann und daft mich der liebe Augustin so belustigt. Fast 
hatte ich vergessen, von dam zu erzahlen: Kam er da trotz Seuche und 
Pestilenz ganz besoffen am Stephansfreithoff vorbei, stolperte und fiel 
in die Pestgrube. Ob er dort eine oder drei Nachte geschlafen habe, ist 
nicht festgestellt. Jedenfalls: Das Wunder geschah, und der liebe Au- 
gustin stand eines Tages frisch und niichtern von den Toten auf, um 
sich in die nachste - Schenke zu begeben . . . 

In dreiviertel Stunden ist die Wanderung zu Ende. Wenn man wieder 
einmal oben steht, loscht Herr Lube die Meftkerze mit Daumen und 
Zeigefinger aus, legt die schwere Eisenplatte iiber die Offnung und laftt 
den schweren Schlussel wieder im Tiirschloft achzen. 
Drauften bin ich wieder. 

Wahrend ich durch die einbrechende Dammerung iiber den Stephans- 
platz gehe, rempelt mich jemand an. Es ist ein lustiger Patron. Er hat 
eine Schellenkappe auf, ein kurzes Hoschen und rote Seldenstriimpfe 
an. Ein Narrenzepter schwingt er in der Hand. 

Kein Zweifel: Es ist der liebe Augustin. So, als ob er eben von der 
Pestgrube aufgestanden ware. Und da er seine alte, gute Schenke »Zum 
krumben Esel« nicht wiederfindet, summt er melancholisch: Alles ist 
hin!... 

Josephus 
DerNeueTag, 15.8. 19 19 



DIE ZUKUNFTSLOSIGKEIT DER 
EHEMALIGEN HOFBUHNEN 



Die »Machtigen der Erde«, die Staat, Kirche und den lieben Gott ok- 
kupiert hatten, erstreckten ihre Expansionsbestrebungen auch auf die 
Gebiete der Kunst. Unter dem Regenschirm ihres Protektorats blieben 
Kunst und Wissenschaft trocken. Was sie draufien vor dem Tore hor- 
ten, liefien sie im Saale widerhallen, auch wenn sie nicht immer so billig 
davonkamen wie bei Goethe. Der Konig sprach, und zehntausend 
Schmarotzer liefen. Gottbegnadete Sangerinnen schlossen Herzens- 
und Borsenbundnisse mit Herren von Gottes Gnaden. In den letzten 
Jahrzehnten hatte keines Medizaers Giite mehr der deutschen Kunst 
gelachelt. Aber Vertreter der deutschen Kunst und die sich dafiir hiel- 
ten, lachelten der Giite ihrer Medizaer zu. Kunstler entfalteten Knopf- 
loch- und Redeblumen am Strahl von Fiirstengunst. Dennoch ware es 
Unrecht, denjenigen, die bisher geherrscht hatten, ihre Verdienste um 
die Kunst abzustreiten. In Zeiten, in denen die Fiirsten noch Herrscher 
waren, waren die Hofe Zufluchtsort und Obdachlosenheim fiir das 
von der Spiefibiirgermoral mit Kettenhunden gehetzte »fahrende 
Volk«. So entwickelten sich Protektorat und Mazenatentum, das sich 
mit der Zeit auswuchs zu driickender Hofzensur, Aufzucht des Dilet- 
tantismus und Tartiifferie. Jetzt aber, da die gewissen »Mauern ge- 
fallen« sein sollen und das befreite Volk die bis nun fiir Offiziere 
bestimmt gewesenen Galerien der »Burg« sturmen darf, steht man 
plotzhch vor der traurigen Tatsache, dafi die Wiener Hoftheater 
eine - Vergangenheit haben. Denn ihre Zukunft ist durch den Mangel 
an - Geld gefahrdet. 

Mit jener Leichtigkeit, die den Wiener stets gekennzeichnet - nicht 
ausgezeichnet - hat, wird heute von der Schliefiung der Hoftheater 
gesprochen, als handelte es sich um die Liquidierung des Kriegsmini- 
steriums oder einer Spirituszentrale. Der Schrei nach erhohter Brotra- 
tion ist gewifi berechtigt. Aber dafi in einer Stadt der Laube^ Sonnen- 
thaly Kainz die grofie Masse des Publikums zwischen Schleichhandel 
mit telepathischen Seancen und der Thronrede eines Staatssekretars, 
zwischen Rucksackverkehr und Fremdenverkehr taumelt und dariiber 
vergessen hat, dafi Wien einmal die grofite deutsche Biihne besessen, 
beweist nur, dafi die deutsche Biihnenkunst nur durch eine fatale Tra- 



19 19 1^5 

gik des Zufalls ihre Bliitezeit ausgerechnet in einer Stadt erleben 
mufite, die seit jeher mehr Gliick als Verstand hatte. Man begreift lang- 
sam, aber sicher die Hohlheit der Feuilletonphrase vom »Wiener Thea- 
terblut«, und man miifite eigentlich staunen iiber die Gleichgiiltigkeit, 
mit der Kriegsgewinner und Hausierer, Mazen und geistiger Proleta- 
rier die Kunde von der Zukunftslosigkeit der Wiener Biihnen entge- 
gennehmen, hatte man sich das Staunen in dieser Stadt der unbegrenz- 
ten Moglichkeiten und der nicht nur vom Kahlenberg begrenzten Ho- 
rizonte nicht schon langst abgewohnt. In einer Stadt, in der ein Ge- 
meinderat den Antrag auf Schliefiung der Theater damit begriindet, 
dafi die Bevolkerung »in solchen Zeiten kein Theater brauche«, und 
dafiir dem Wehrmann im Eifer einen Ehrenposten im Neuen Rathause 
als sichtbares Zeichen fiir die Vernageltheit kiinftiger Sitzungen zusi- 
chert, darf einen nichts mehr iiberraschen. Die Hof theater sind eben 
ein Luxus, einer demokratischen Republik unwiirdig, und wer trotz 
Soziahsierung und Gleichberechtigung noch immer kiinstlerische Be- 
diirfnisse hat, kann sich eine Fahrt auf dem Riesenrad erlauben oder 
dem Watschenmann im Prater eine »abihau'n« . . . 
Wenn aus den ehemaligen Hoftheatern wirkUche Nationaltheater wer- 
den sollen, so mui5 eben die ganze Nation, so man die »theaterfreu- 
dige« heifit, mitsteuern. Die Kriegsgewinner dieses Landes diirfen 
nicht umsonst gelebt haben! Von der allgemeinen Vermogensabgabe 
mufi eben das Notwendige fiir die Erhaltung der Kunst abf alien. Die 
Behorden miissen sich klar werden, daE der Sperrung der Safes nicht 
die Sperre der Theater folgen diirfe. Wenn Wien ein »Kulturzentrum« 
werden soil, so geniigt die schonste Biirgermeisterrede nicht. Pflege 
der Biihnenkunst muf^ erste und oberste Pflicht der gesamten Bevolke- 
rung werden! Praterbuden und Wiener Strafienbahn werden die Frem- 
den schwerlich anlocken. Heute, da die Kunst nicht mehr unter dem 
Protektorate der Herrscher steht, darf sie unter dem Protektorate der 
Freiheit nicht nach gekiirzten Brotkartenrationen gehen . . . Und das 
Volk ist dafiir verantwortlich. 

DerNeueTag, 17.8. 1919 



EIN PAAR WORTE 



Nehmen wir einmal an, einer hiefte Hubermayer und ware aus Wien 
und Lebensmitteldiktator in Amerika. Und kame nach New York. 
Er wurde sich vornehmen, drei Tage zu blelben. 
Am ersten Tage schaut er sich die City an. Und am Abend schreibt er 
dariiber seiner Frau. 

Am zweiten Tag beginnt er an den Zweck seines New Yorker Aufent- 
haltes 2u denken. 

Und am dritten reist er ab, weil er weder Gulyas noch Pilsner vorfand. 
Gestern war Hoover in Wien. 

Er fuhr vom Bahnhof in das Gebaude des Verkehrsamtes in der Gisela- 
strafie, und er stieg, bafi verwundert und zornig iiber den Zeitverlust, 
miihsam das vierte Stockwerk hinauf. Symbolisch fiir das Verkehrs- 
amt: Es verkehrt kein Lift. 

Zum Gliick hatte Hoover ein Auto fiir die Fahrt nach dem Hotel Bri- 
stol. Sonst ware er mittelst Strafienbahn in jenem Zustande zum Mit- 
tagessen angelangt, in dem ein solches iiberfliissig wird. 
Um 4Uhr nachmittags war Hoover wieder in der Giselastrafie und 
arbeitete bis sieben. Die Wiener Herren waren sehr ungehalten. Um 
halb acht fangt die Vorstellung im »Apollo« an. 
Wahrenddessen antichambrierten Journalisten. Hoover gewahrte so- 
gar Interviews. 

Um sieben Uhr war Hoover fort. Ohne im »Apollo« gewesen zu sein. 
Er hatte die Karntnerstrafie nicht gesehen und seiner Frau nicht ge- 
schrieben. 

Er hatte gar nicht angefangen, an den Zweck seines Wiener Aufenthal- 
tes zu denken. 

Aber er hat ihn sichtlich erfiillt. 

Allerdings: Er heifit nicht Hubermayer und ist nicht aus Wien. 
Er heif^t Hoover und ist aus Amerika. 

Aus dem Lande der unbegrenzten Moglichkeiten kam er in eine Stadt 
der unbegrenzten UnmogUchkeiten. 

Josephus 
Der Neue Tag, 19. 8. 19 19 



SAUERKRAUT 



St. Marx, am 19. August 1919 
Ihrem ganz besonders schmackhaften Sauerkraut hat die Stadt Magde- 
burg ihren Ruf zu verdanken. Dort und in Krefeld wird es fabrikmafiig 
erzeugt und merkwiirdigerweise gegessen, noch ehe es faul ist. Aussa- 
gen glaubwiirdiger Reisenden zufolge riecht man in der ganzen Umge- 
bung von Magdeburg auch nicht ein Atomchen Sauerkraut. Magde- 
burg steht trotzdem in dem Rufe, die erste Sauerkrautstadt Europas zu 
sein. 

Wien wollte es der Stadt Magdeburg gleichtun und kam irrtiimlicher- 
weise statt in den Ruf eines guten Sauerkrauts in den Geruch eines 
schlechten. Zu den mannigfachen Sehenswurdigkeiten Wiens ist auch 
noch eine Riechenswiirdigkeit gekommen: das Sauerkraut der Ge- 
meinde. 

In St. Marx stinkt es zum Himmel. Es ist das einzige in Wien und 
Umgebung, das, wenn man es sich zum Ziele erwahk hat, auf geradem 
Wege zu erreichen ist. Als ich einen Markthelfer fragte, wo das 
schlechte Sauerkraut Uege, gab er mir den guten Rat, nur immer der 
Nase nach zu gehen. Ich wiirde es schon bestimmt finden. 
Dennoch ist es nicht leicht, zum Sauerkraut zu gelangen. Es wird be- 
wacht wie alles, was bei uns nicht gut riecht, und das ist viel. Erst als 
ich mich fiir einen Schweinehandler ausgab, HefS man mich in den Kel- 
ler. Das ist sozusagen die Magenhohle von Wien. Und das Sauerkraut 
gehort zu unseren - Innereien. 

An der Kellertiir empfangt mich morderischer Gestank. Mein Beglei- 
ter trostet mich zwar, dafi auch gutes Sauerkraut stinke. Aber an die- 
sem Gestank rieche ich deutlich mehr als gutes Sauerkraut: auch gute 
Verwaltung ... 

Wie wird das Sauerkraut hergestellt? Ein Kenner erklart mir den Vor- 
gang: Das Kraut (Weif^kohl) wird gehobelt, mit sehr viel Salz gemengt 
und in ein Fa£ gedriickt. Das FaB wird hermetisch verschlossen und 
das darin verwahrte Kraut der Garung liberlassen. So entsteht Sauer- 
kraut. 

Wie laf^t man Sauerkraut faul werden? Indem man Juristen mit Le- 
bensmittelressorts beteilt nach dem Grundsatz; Wem Gott Sauerkraut 
gibt, dem schenkt er auch noch die Nase dazu. Und indem man der 



128 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Anschauung huldigt, dafi Lebensmittel, die von einer Gemeinde ange- 
kauft werden, von dieser nicht friiher ausgegeben werden diirfen als zu 
dem Zeitpunkte, da sit selbst in den Geruch kommen, von der Ge- 
meinde angekauft worden zu sein . . . 

Dieser Vorgang ist die patentierte Erfindung der Wiener Gemeinde- 
verwaltung und wird selbst von der Magdeburger Sauerkrautfabrika- 
tion nicht iibertroffen. 

Sachverstandige in Kriegsausriistung behaupten, dafi sich nun eine 
giinstige Gelegenheit biete, die vielen zwecklos herumliegenden Gas- 
masken zu verwenden: Jene Schweine, denen das Sauerkraut als Speise 
zugedacht ward, sollen vor Antritt der Mahlzeit mit Gasmasken beteilt 
werden. 

Eine grofie Sorge bleibt nur noch bestehen und ist ebensowenig aus der 
Welt zu schaffen wie das Sauerkraut: Soviel Schweine hat ganz 
Deutschosterreich gar nicht . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 20. 8. 1919 



MARS ODER VENUS? 



Mars und Venus haben ein »Gspusi« miteinander. 
Sie korrespondieren miteinander, und zwar nicht auf gewohnlichem 
Briefpapier und auch nicht durch die Post. Denn das erstere ist ziem- 
lich kostspielig geworden, und auf die letztere kann man sich bekannt- 
lich nicht verlassen. Also haben sie die drahtlose Telegraphic gewahlt, 
Eine englische Zeitschrift weifi, wie uns ein Privattelegramm aus Rot- 
terdam meldet, mitzuteilen, daE Marconi drahtlose Signale aufgefan- 
gen habe, »die unmoglich von einer Station auf unserem Planeten aus- 
gesendet sein konnen. Sie konnen, wie er meint, einzig und allein vom 
Mars oder von der Venus stammen. Es ist den Sachverstandigen der 
Marconi-Gesellschaft unmogHch gewesen, die »Zeichen zu deuten«. 
Da nun einmal Zeichen nicht zu deuten sind, so sind wir auf Vermu- 
tungen angewiesen: Die nachstUegende Annahme ist die, dafi Mars 
und Venus an ihre alten, schon aus der Mythologie bekannten Bezie- 
hungen wieder angekniipft haben. War damals der trojanische Krieg 



19 19 1^9 

Veranlassung ihrer dicken Freundschaft, warum sollte es jetzt nicht 
der Weltkrieg sein? . . . 

Oder aber es ist moglich, daC entweder auf dem Mars oder auf der 
Venus cine grofie Zelt herrscht und jene Zelchen, die uns zugeflogen, 
das Fragment eines Kriegsberichtes sind. Dieser konnte etwa lauten: 
Unseren Truppen gelang es nach heifien Kampfen, die Hohenstellung 
Kote 393 im Sturm zu erobern und den Briickenkopf zu besetzen. 
Schulter an Schulter mit unseren wackeren Brlidern aus Liliput und 
Avalun gelang es uns, den Feind aufs Haupt zu schlagen. 
Oder es konnte auch sein, daf5 Mars oder Venus sich nach dem Befin- 
den ihrer ahen Base, der Mutter Erde, erkundigen, die sich ja augen- 
■ blickhch in Rekonvaleszenz nach der schweren Krankheit des Welt- 
krieges befindet. Also etwa: Liebe Cousine, wie geht es Ihnen? Ihr 
Befinden ist uns ganz unverstandlich. Entweder haben Sie noch Krieg, 
oder haben Sie keinen? Denn: fiir das erstere spricht sowohl die Blok- 
kade der einzelnen Lander als auch die der vielen Gehirne. Fiir das 
letztere aber die mannigfachen Friedenskonferenzen, auf denen Frie- 
densbedingungen diktiert warden, die bei uns kein Mensch versteht. 
Auch die Angelegenheit: Weltrevolution ist uns noch unklar. Haben 
Sie also die Gute, liebe Base, uns durch Ihren Herrn Sohn Marconi 
einen Bericht iiber Ihr Befinden zukommen zu lassen. Mit vielen Grii- 
fien und den aufrichtigsten Wiinschen fiir Ihr Wohlergehen, Ihre Vet- 
ternschaft: Mars und Venus. 

Wir soUten doch versuchen, eine Antwort in den Weltraum hinauszu- 
lassen, Vielleicht gelingt es uns eher, eine Verstandigung mit einem 
fremden Planeten zu erzielen als zwischen den Volkern der Erde . . . 
Vorausgesetzt natiirlich, dafS jene Meldung aus Rotterdam kein Gru- 
benhund ist, der von der Spalte einer irdischen Zeitung aus - den Mars 
und die Venus anbellt . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 21. 8. 1919 



ER ENTFERNT SIGH . . . 



Wohnungseinbrecher sind bekanntiich verlafiliche Leute. Besonders 
wenn sie der beriichtigten »Schmkoplatte« angehoren. Das Vertrauen, 
dessen sich diese bei der Wiener Behorde erfreut, hatte zur Folge, dafi 
eines ihrer Mitglieder, der Hilfsarbeiter Wilhelm Prinz, gestern ohne 
jede Begleitung im Gerichtssaale erschien, wo er sich wegen verschie- 
dener sehr verwegener Einbruchsdiebstahle zu verantworten hatte. Als 
ware das Delikt eine Ohrfelge, eine unbezahlte Zehnkronenschuld 
oder eine Ehrenbeleidigung. So ganz ohne jede Begleitung erschien der 
ehrsame biirgerliche Wohnungseinbrecher Prinz, EhrenmitgHed des 
hochachtbaren Vereines: Schinkoplatte, vor einem hohen Gerichts- 
hofe. 

Der Verteidiger tat im SchweiEe seines Angesichts das Moghche, Aber 
Einbruchsdiebstahle sind nun einmal nicht ungeschehen zu machen. 
Selbst dann nicht, wenn sich der Einbrecher bis zur Verhandlung auf 
freiem Fufie befindet. Als nun Herr Prinz zu riechen begann - Einbre- 
cher haben bekanntiich eine gute Nase -, dafi die Geschichte fiir ihn 
schlimm und er selbst im schweren Kerker enden konnte, hatte er den 
guten Einfall, jenen freien Fufi, auf dem er sich, dank der Liebenswiir- 
digkeit der Behorden, bis dahin befunden hatte, iiber die Schwelle des 
Verhandlungssaales zu setzen und nicht mehr wiederzukommen. Um 
ihm das Verschwinden zu erleichtern, hatte der Gerichtshof das Einse- 
hen gehabt, die Verhandlung zu unterbrechen. Als diese wieder aufge- 
nommen wurde, bemerkte man, dafi der Angeklagte zu seinen vielen 
Einbriichen noch sozusagen unter den Augen der Richter ein - Aus- 
brechen zugefiigt hatte. 

Der hohe Gerichtshof war sehr erschrocken: Wie, wenn sich der Herr 
Prinz etwa beleidigt gefiihlt hatte und infolgedessen, ohne ein Wort zu 
sagen, weggegangen ware? Auf keinen Fall schickte es sich aber, die 
Verhandlung in Abwesenheit der Hauptperson weiterzufiihren. Die 
Verhandlung wurde daher wegen Ausbleibens des Angeklagten auch 
ausgeschieden und, um diesen zu versohnen, eine steckbriefliche Ver- 
folgung angeordnet. 

Herr Prinz aber soil sich in den Stammklub der »Schinkoplatte« bege- 
ben haben. Es heifSt, daf5 er entschlossen ist, die Freiheit seines FuEes 
nicht mehr leichtfertig aufs Spiel, d.h. auf den Boden des Landesge- 



19 19 ^l 

richtes zu setzen und erstens: noch die Absicht hat, einige geiungene 
Einbriiche auszufiihren; zweitens: nicht eher eine Vorladung in den 
Gerichtssaal anzunehmen, als bis er die Zustimmung erhalten hat, 
dafi er freigesprochen werde. 

Der Gerichtshof aber - heifit es - ist damit beschaftigt, ein Entschul- 
digungsschreiben an Herrn Prinz abzufassen. Nur damit ihm dieses 
zugeschickt werden konne, soil der Steckbrief ausgegeben worden 
sein. 

Josephus 
Der Neue Tag, 29. 8, 1919 



NUR EIN HALBER 



Eins ist bekanntUch keins. Ein Halbes ist noch weniger als nichts. Ein 
halber Liter Wein aber ist ein Nichts zur unendlichen Potenz. 
Nach einem halben Liter Wein kann man nicht einmal von einem so- 
genannten »Schwips« sprechen, Geschweige denn von einem Rausch. 
Nach den Grundsatzen der Philosophie kann man sich ein Nichts 
nicht vorstellen. Nun stelle man sich einen Ungarn mit einem halben 
Liter vor, .. 

Im Jahre 1241 pflanzte Konig BelalL die ersten Weinstocke aus Mo- 
rea im TheifSgebiete an. Seit dem Jahre des Herrn 1241 pflegen die 
Ungarn mehr als einen halben Liter Wein zu trinken. Im Jahre des 
Herrn 19 19 verbietet Ministerprasident Friedrich den Ungarn, mehr 
als einen halben Liter Wein zu trinken. 

Eine Meldung des Budapester Telegraphen-Korrespondenzbureaus 
besagt: 

Budapest, den i%. August 19 19. Eine Regierungsverordung uber den 
Weinkonsum bestimmt, dafi in offentlichen Lokalen einer Person nur 
ein halber Liter Wein verabreicht werden darf. 

Die Ungarn machen schlimme Zeiten durch: Erst verbot Bela Kun 
iiberhaupt das Trinken. Der Blutrausch Tibor Szamuelys muf^te der 
gesamten Bevolkerung geniigen. Nun kommen die frommen Fried- 
richschriften mit einem noch schlimmeren Verbot: nur ein halber Li- 
ter. Das ist schlimmer als nichts. 



132 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ein Trost besteht: In dem Verbot ist nur von »offentlichen Lokalen« 

die Rede. Und es gibt in Ungarn auch geheime. 

Neugierig bin ich nur, ob auch die verbietenden Herren das Verbot 

einhalten werden. Ich fiirchte namlich sehr - wie schon die Ungarn 

einmal sind: Sic gehoren zu Jenen, die einen halben predigen und - 

etwas dariiber trinken. 

Denn den Ungarn nur einen halben Liter vorschreiben, dazu mufi man 

zumindest - nicht niichtern sein . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 30. 8. 1919 



DIE LAGE IN WESTUNGARN 



Keine besondere Stimmung fiir den Anschlufi 
- Schikanierungen durch die Soldateska - 
Pogromstimmung und Kampfbereitschaft, 
geschiirt durch die Feldbacher Offiziere 
Obwohl die Ungarn wufiten, dafi der Anschlufi des uns von der En- 
tente zugesagten deutschen Teiles von Westungarn ganz unabhangig 
von unserem und ihrem Verhalten fiir oder gegen den Anschlufi ohne 
Volksabstimmung und unter dem Diktat der Entente erfolgen wiirde, 
hatte die ungarische Propaganda dennoch keinen Moment nachgelas- 
sen. Es waren alle mogUchen Mittel angewendet worden. Man bat, 
versprach, schmeichelte. 

Der Nationahtatenminister Bleyer hatte selbst das Land bereist, und 
seine volkstiimhche Erscheinung - er sieht wie ein wohlhabender un- 
garischer Landwirt aus - hatte nicht wenig dazu beigetragen, dafi die 
Bauern in Scharen zu den Versammlungen stromten und sich von 
Bleyer wirklich uberzeugen lieEen. Die ungarische Gentry, jene ganze 
Clique von Magnaten und GroEgrundbesitzern, die den Sturz der 
Kun-Regierung vorbereiten halfen und ganz ungeheure Geldmengen 
zur Erhaltung und Ausrlistung des ungefahr 25 000 Mann zahlenden 
Freiwilligenheeres Lehars zur Verfiigung gestellt hatten, zahlte auch 
weiterhin Unsummen fiir die Propaganda. Der Kaplan Johann Huber, 
politischer Beirat des Nationalitatenministers Bleyer, selbst ein Sohn 



19 19 133 

deutscher Eltern und mit der Psychologic des deutschen Bauers in 
Westungarn genau vertraut, schwitzte in Budapest bei der Abfassung 
jener Unmenge von Plakaten, Flugschriften und Werbezetteln, die ein 
bis zwei Wochen lang ganz Westungarn iiberschwemmten. In riesigen 
Lettern prangte zum Beispiel folgendes Plakat an alien westungari- 
schen Hauserfronten: 

Eine grofie Gefahrfur 

Westungarn 

ist die geplante 

Besetzung durch die Wiener Volkswehry 

welche eine sogenannte Proletarierarmee ist und einzelne Bataillone 

ausschliefilich aus Bolschewiken bestehen. 

Sie haben durchgesetzt, dafi 

Bela Kun samt Mordgesellen nach Osterreich fliichten und in einer 

Sommerfrische in Saus und Braus leben konnen. 
Die Wiener Volkswehr fiihlt mit den ungarischen Mord-Bolschewiken 

briiderlich, ihr Einmarsch in Ungarn wiirde 
die Freilassung alter verhafteten Bolschewiken und sofortige Entwaff- 
nung unseres MilitdrSy Gendarmerie^ Polizei und gesamten Burger- 

schaft hedeuten. 
Die Bevolkerung ware abermals den Raub- und Mordgeliisten jener 
Menschen preisgegeben, welche in viereinhalb Monaten Westungarn 
ausgeraubt, das Volk gequalt und zahlreiche Morde begangen haben! 

Volk von Westungarn ! 

In zwolfter Stunde grofiter Gefahr raffe dich auf zur Abwehr gegen 

den Einmarsch der Wiener bolschewistischen Volkswehr! 

Mit briiderlichem GruK 

der Ausschufi fiir einfreies Westungarn , 

Odenburg, Szechenyiplatz 2 

Der deutsche westungarische Bauer ist von Natur eher mif^trauisch als 
leichtglaubig. Aber iiber die Tatsache, dafS Bela Kun in einer deutsch- 
osterreichischen Sommerfrische lebt, kommt er nicht hinweg, und 
seine ehrliche Einfalt erzittert bei dem Schimmer von einem Gedan- 
ken, der Bolschewismus konnte wiederkehren. Die Flugzettel des Vor- 
bereitungskomitees fiir den »Kulturbund von Deutsch-Westungarn« 
sahen in Form und inhaltlicher Farbe den Veroffentlichungen des Ka- 



134 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

plans Huber sehr ahnlich. Von einem Anschlufi sprach auch dieser 
Kulturbund nicht. Einer dieser Flugzettel hat folgenden Wortlaut: 
»Deutsche, wacht auf ! Endlich ist die Zeit herangeriickt, in der wir uns 
offen und frei fiir unsere deutsche Muttersprache bekennen diirfen, in 
der wir deutscher Kultur unbeengt und unbeeinflufit dienen konnen 
und wollen. 

Wir wollen keine andere Politik verfolgen als nur die deutsche, die 
arische, denn in ihr sehen wir unsere Zukunft. Das Vorbereitungsko- 
mitee.« 

Man sieht, es trieft genauso von Christentum wie die Veroffentlichun- 
gen Friedrichs, Bleyers und Lehars. Dieser Flugzettel verrat keine Un- 
zufriedenheit mit der magyarischen Herrschaft. Er ist im Gegenteil ein 
Jubelschrei aus vom Kommunismus befreiter deutscher Kehle. Geza 
ZsomboTy der Mann mit den Chamaleoneigenschaften, der wieder als 
Gouverneur in Odenburg residiert trotz seiner arg kompromittieren- 
den Vergangenheit, hatte den Auftrag bekommen, in Budapest Sub- 
ventionen zum Zwecke der Bestechung der deutschen Zeitungen in 
Westungarn zu sammeln. Ob es gelungen ist, ist natiirlich nicht be- 
kannt geworden. Jedenfalls erschien kurze Zeit darauf die von den un- 
garischen Herren sehr propagierte »Christliche Odenburger Zeitung«, 
die fiir Friedrich und das ungarische Vaterland schwarmte und es als 
die einzige Pflicht des deutschen Bauers bezeichnete, gut christhch und 
ebensogut ungarisch zu bleiben. Oberst Lehar verteilte Waffen an die 
westungarische Bauernschaft. Diese Waffen sollten ein Zeichen des 
Vertrauens bedeuten und waren eine Aufforderung, sich gegen ein 
eventuelles Eindringen der »bolschewistischen« Volkswehr zu vertei- 
digen. Der westungarische Bauer war geblendet von dem Glanz der 
goldenen Portepees und Versprechungen. Er glaubt an Ungarn, Er 
mifitraut Deutschosterreich. Dem Deutschosterreich mit der »judi- 
schen« Regierung, Gegen die Deutschen wurden keine Gewalttaten 
veriibt. Verhaftet wurden nur Kommunisten und Juden. Da halfen die 
Deutschen redlich mit. Die ungarischen Herrschaften waren viel zu 
klug, um Terror gegen den deutschen Bauer auszuiiben. Die Nachrich- 
ten, die dariiber hierhergelangten, waren falsch. 



19 19 135 

Dr. Gregorius 

Dem Oberstleutnant Dr. Gregorius, einem Siebenbiirger Sachsen, 
wurde von einer Korrespondenz der Vorwurf gemacht, dafi er An- 
schlufifreunde verhaften und in Ketten legen lasse. Ohne den Dr. Gre- 
gorius zu kennen, traf ich zufallig mit ihm zusammen. Ich lernte in 
ihm einen Menschen von fanatischem Rechtsgefiihl kennen, einen phi- 
losophisch geschulten Denker und einen Vegetarier, der kein Huhn 
speisen kann, weil er gegen jeden Mord ist. Ich unterhielt mich mit ihm 
zwei Stunden lang iiber Christus, die Entwicklung der Menschheit und 
die Rassenzucht. Dieser Mensch soil jemanden in Ketten gelegt haben! 
Ganz abgesehen davon, dafi es in ganz Sauerbrunn, wo Dr. Gregorius 
Kommandant ist, keine einzige Handschelle gibt! Dr. Gregorius hat 
wohl Verhaftungen vorgenommen, aber in Fesseln gelegt hat er kei- 



Wer ist ein Kommunistf 

Ein Kommunist ist jeder, der ein ausgesprochen jiidisches Aussehen 
hat. Die aus dem Feldbacher Lager an die Grenzorte kommandierten 
Offiziere sind fanatische Judenfresser. Dafi sic in ihrem Judenhasse, 
der eigentlich Kommunistenhafi ist, es sich nicht nehmen lassen, hie 
und da Priigel auszuteilen oder ganz ruhig zuzusehen, wie Ennshruder 
von der Eskorte niedergeknallt wird, ist nur natiirlich. Denn diese 
Feldbacher sind ein eigenes Volkchen mit eigenen Sitten und Weltan- 
schauungen. Sie verachten nicht nur jeden Zivilisten, sie verwechseln 
ihn sogar mit einem Juden und diesen mit einem »Kommunisten«. Ih- 
nen gegeniiber sind die Zivilbehorden machtlos und die Stabsoffiziere 
ohne Einflufi. Im Kupee horte ich, wie sich ein Feldbacher Unterleut- 
nant riihmte, bei der Ermordung Ennsbruders mit dabeigewesen zu 
sein, und wie er auf die Vorwurf e eines Stabsoffiziers nur trotzig erwi- 
derte: AUe miisse man so hinmachen. Aus diesem westungarischen Mi- 
litar entwickelt sich allmahlich eine Soldateska, und aus den Offizieren 
werden Landsknechte. Es sind Leute, die selbst Unsagliches von Tibor 
Szamuely gelitten haben und die ein unausloschUcher Blutdurst im- 
merfort qualt. Allmahlich wachsen sie auch Lehar selbst iiber den 
Kopf und den alteren, besonnenen Stabsoffizieren. 



136 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Bevolkerung und derAnschlufl 

So kommt es, dafi, was die deutschnationale Propaganda und die 
»Furstenfelder Nachrichten« nicht zustande brachten, die Feldbacher 
Offiziere taten. Juden und Arbeiter mochten gerne nach Deutsch- 
osterreich. Die Bauern nicht sehr gern. Auch die christHch-deutsche 
Stadtbevolkerung nicht. In Sauerbrunn verkaufte gestern ein Kolpor- 
teur die Extra- Ausgabe mit der Nachricht, dafi der Anschlufi durch- 
gefiihrt wiirde, und die deutsche Frau rang verzweifelt dariiber die 
Hande: »Bela Kun kommt wieder ins Land!« 

Die Bauern kiimmern sich in ihrer eisernen Ruhe um den Friedensver- 
trag gar nicht. Sie gehen ruhig ihrer Feldarbeit nach und lassen sich 
Zeit bis Sonntag. Dann wird man dariiber sprechen. Und wenn Bela 
Kun wirklich kommen soUte, so hat man dagegen ja Mittel. Hilflos ist 
man nur gegeniiber dem unerbittHch eintretenden Preisriickgang. 
Denn der Ochs wird - wenn der Anschlufi kommt - bilHger werden. 
Der Bauer nicht um ein Haar besser. . , 

Auch die paar tausend Zigeuner, die wir mitbekommen, kiimmern sich 
um den Anschlufi nicht. Ich glaube, sie werden in Deutschosterreich 
zu einem Problem werden. 



Pogrome 

Man hat das Christentum zu Agitationszwecken gepachtet. Da man 
die notige Liebe nicht aufbringen kann, um sein Christentum zu be- 
weisen, bringt man den notigen Hafi auf und widerlegt es. Noch nie ist 
mit dem Namen Christi schandlicherer Mifibrauch getrieben worden 
als jetzt in Ungarn. Der spanischen Inquisition konnte man wenigstens 
die Naivitat des Mittelalters zugute schreiben. Aber dieser neuzeitliche 
Antisemitismus ist politische Geschafts- und niemals Uberzeugungs- 
sache. Wenn es wahr ist, dafi man die Kultur eines Volkes danach ab- 
schatzt, wie es seine Juden behandelt, so miifite man die ungarische 
Kultur nicht sehr hoch einschatzen. Zum Gliick ist wenigstens, was 
Westungarn betrifft, die Judenhatz, wie iibrigens auch bei uns, nur der 
Zeitvertreib der Halbgebildeten, der PseudointeUigenz. Die Behorden 
und jene Stellen, die man die »mafigebenden« nennt, tun das Moglichcj 
um Ausschreitungen zu verhindern. Der Mob befriedigt seine bestiali- 



19 19 137 

schen Geliiste in derselben Weise wie unter der Kommunistenherr- 
schaft. War die Losung friiher: Bourgeois! so heifit sie jetzt: Jud! Die 
grofie Bauernschar aber stromt ihren ganz wilden Hafi, von christlich- 
sozialen Leitartikelfedern aufgestachelt, gegen den Kommunismus aus. 
Und Kommunismus heifit: Judenschaft! So sagt Herr Lingauer, der 
Herr Chefredakteur und Leitartikelschreiber. 

Solange dieser Herr Lingauer nicht im Lande weilte, war es ruhig. 
Kaum war er zuriickgekommen, so setzte er sich an den Schreibtisch 
und machte in Judenhatz. Das Land soUte christlich warden. Es wurde 
christlichsozial, d. h. antisemitisch. Die Offiziere, die sich massenhaft 
in die neugebildete Lehar-Armee meldeten, bestanden zum grol^ten 
Teile aus Opfern des Kommunismus. Entweder aus Gefliichteten und 
in die Heimat Zuriickgekehrten oder aus jenen, die von den Kommu- 
nisten in der unmenschlichsten Weise gepriigelt, ausgehungert, ge- 
qualt, mifihandelt worden waren. Der junge Fahnrich, der vom Leben 
nicht mehr kannte als das Dienstreglement und die Bestandteile des 
Gewehres, dessen Gehirn Gelenksiibungen kontrolUerte start der 
Funktionen des Denkens, dessen Seele unbeschwert war von Proble- 
men und dessen Auge wohl die Fahigkeit besafS, mit dem Feldstecher 
feindliche Schleichpatrouillen, aber niemals Ursachen und Zusammen- 
hange zu erkennen, sah in seinen Peinigern nicht Kommunisten, son- 
dern Judenbengel. Ein siebzehnjahriger Judenjungling war es, der 
einem auf dem Boden Hegenden, zu Tode mil^handelten Offizier noch 
fiinf Revolverschiisse nachsandte. Ein Jude, der die junge Frau eines 
Oberleutnants so lange schlug, bis sie taub wurde. Das alles spielte sich 
vor der Feldbacher Internierung ab. Von daher kommen die Offiziere 
der Leharschen Armee. Sie sehen in jedem Juden einen Kommunisten 
und in jedem Kommunisten ihren personHchen Todfeind. Die junge- 
ren unter den Offizieren glaubten, sich an Tibor Szamuely am besten 
dadurch zu rachen, dafi sie ihn nachahmen. Die alteren Offiziere sahen 
ein, dafS Gewalt nur Gewalt erzeugt, und haben Angst vor dem Ruf 
des »weiEen Terrors«. Sie bemiihen sich ehrhch und aufrichtig, Ge- 
wahtaten gegen Juden zu verhindern. Aber da es in der Lehar-Armee 
viel mehr Fahnriche als Stabsoffiziere gibt, kann nicht hinter jedem 
Fahnrich ein Stabsoffizier stehen. Lehar schreibt Befehle und Erlasse. 
Aber eindringlicher als Erlasse sind die Leitartikel, die Herr Lingauer 
schreibt. 
Allerdings kann den Juden vieles vorgeworfen werden: Sie treiben un- 



138 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

erhorten Schleichhandel, hamstern Blaugeld und was sonst noch der 
unangenehmen Dinge mehr sind. In Karszthey begingen die Juden den 
groben Fehler, einen ihrer angesehensten Mitbiirger, Bela Berenyi, mit 
einer Bitte an Vazsonyi nach Budapest zu entsenden und die - rumdni- 
sche Besetzung zu verlangen. Bela Berenyi wurde verhaftet, dann zwar 
wieder freigelassen, aber Herr Lingauer triumphierte. 



Wer ist Lingauer? 

Ein etwa 45Jahriger Mann, grofi, schlank, mit einem interessanten 
Schmifi im Gesicht, erklarter Damenfreund und -liebling. Sohn eines 
osterreichischen Beamten, der in der Bachschen Ara nach Ungarn ge- 
kommen war. Lingauer wurde Journalist, Redakteur des »Vasvar Me- 
gye« und gehorte alien Parteien an. Er war Mitglied der Freimaurer- 
loge von Steinamanger, machte Schulden, liefi sie sich von der Loge 
bezahlen und mufite infolgedessen austreten. Seit damals machte er in 
Antisemitismus. Jetzt ist Lingauer mehr Herr in Westungarn als Lehar 
oder der Bischof. Es gibt wohl keine Leharbuben, wohl aber Lingauer- 
buben, junge Feldbacher Offiziere, die sich allabendlich damit vergnii- 
gen, Pogromlieder im Kaffeehaus zu singen. Pogromlieder sind auch 
die meisten Leitartikel Lingauers. Diese Leitartikel bilden den Ge- 
sprachsstoff in ganz Westungarn bei Juden und Antisemiten. Sie bilden 
Gesprachsstoff und Veranlassung zu Schikanen jeder Art. Die jiidi- 
schen Reserveoffiziere, die sich in die Biirgerwehr gemeldet batten, 
wurden beim Einzug Lingauers und der Feldbacher »aus FamiUen- 
riicksichten beurlaubt«. Die sogenannte Husarenkaserne wurde ge- 
fiirchteter Schauplatz von Judenpriigeleien. Die HauptroUe spielte da- 
bei der Herr Hauptmann 



Zolan alias Hirschler 

Dieser gab sich fiir einen ungarischen Edelmann und Antisemiten aus 
und war einer der gefiirchtetsten Rohlinge. Er war natiirlich ein dicker 
Freund Lingauers, attackierte und schikanierte Juden, wo er sie traf, 
und ohrfeigte eines Tages einen jiidischen Kellner im Kaffeehaus. Da- 
bei schimpfte er wUtend auf die Juden. Auf diesen Larm hin trat plotz- 



19 19 139 

lich ein Gast auf ihn zu und begriifite ihn mit folgenden Worten; »Wie 
geht's, Herr Hirschler?« Es stelite sich heraus, daf5 Hauptmann Zolan 
Hirschler geheifien hatte und der Sohn eines jiidischen Kaufmannes 
war. Seit jener Szene war Hauptmann Zolan verschwunden. 



Westungarische Existenzen 

Westungarn ist heute ein Land von politischen Abenteurern, sabelras- 
selnden Offizieren und verprligelten Juden. 

Fiir Deutschosterreich ist die starke antisemitische Stromung jedenfalls 
von Schaden wie alles, was Unruhen hervorzurufen geeignet ist. Es 
wird gelten, gut aufzupassen. Ich habe selbst bei vielen Bauern Ge- 
wehre und Munition gesehen. Die Waff en batten die Bauern von Lehar 
erhalten, damit sie als Burger- und Bauernwehr gegen die noch etwa 
im Lande befindlichen und einen eventuellen Putsch planenden Kom- 
munisten kampfen konnen. Ein hoher ungarischer Funktionar sagte 
mir: »Wenn wir uns zuriickziehen, so lassen wir den Bauern die Ge- 
wehre. Die werden sie gegen - andere kehren.« Das heif^t: Die Bauern 
werden gegen die deutschosterreichische »Judenregierung« losziehen. 
Eine Entwaffnung der Bauernschaft wird also notwendig sein. Das 
»Christliche Odenburger Tagblatt«, dessen heutiger Leitartikel den 
schonen Titel tragt: »Der Bauer, der starke Pels in der roten Flut« und 
in dem Satz gipfelt: »Nur der Bauer. . . als Hiiter der vaterlichen Erde, 
der deutsche und ungarische BaHer« - dieses hochpatriotisch-unga- 
risch-patentiert-christliche Blatt wird gewifi, wie alle die andern seines 
Kalibers, auch in Deutschosterreich nicht aufhoren, zu hetzen und zu 
schiiren. Gefahrlicher als Gewehre sind die Leitartikelfedern. 
Die Feldbacher Offiziere werden die Besetzung um jeden Preis zu ver- 
hindern trachten. Ihre Existenz hangt an Westungarn. Die Entente 
wird eingreifen miissen, denn sie hat uns das Land zugesprochen. 

Der Neue Tag, 5.9. 19 19 



EIN PAAR WORTE (II) 



Wir sind also, Gott sei Dank! so weit, daf5 eine Behorde off en zugibt, 
»nichts anderes zu tun, als was jeder einzelne fiir sich und zahlreiche 
Industrien fiir ihre Arbeiter tun«. Die Tabakregie gibt kund und zu 
wissen, dafi sie Tabakfabrikate gegen Lebensmittel fiir ihre Arbeiter 
eintauscht, damit diese - Tabakfabrikate herstellen konnen, Dafi es nur 
»verschwindende Mengen« sind, tut nichts zur Sache. Es handelt sich 
nicht darum, der Tabakregie ein Verfehlen nachzuweisen, sondern um 
die Feststellung der Tatsache, daf5 Deutschosterreich besteht, trotz der 
Strenge des Friedensvertrages. Und um den Beweis, dafi Osterreich 
nicht untergegangen ist. Dieser Beweis ist mit der VeroffentHchung der 
Kundmachung voll erbracht. Dennoch ist ein Fortschritt nicht zu 
leugnen: Die Behorden selbst geben zu, osterreichisch zu sein. Ehe- 
mals pflegten sie zu behaupten, dafi nur wir es seien, und uns dafiir zu 
strafen. Ehemals war die Behorde mustergiiltig, Heute sind wir es. 
Friiher batten wir uns nach ihr zu richten. Heute richtet sie sich nach 
uns. Friiher mufiten wir, d,h. jeder einzelne, nichts anderes tun, als 
was die Behorde gestattete.- Heute tut die Behorde nichts anderes, als 
was jeder einzelne tut. Wer ist schuld? Doch nicht wir. Aber auch 
nicht die Tabakregie. Denn ihre Arbeiter miissen ess en, um Zigarren 
erzeugen zu konnen, also erzeugen sie diese, um essen zu konnen. Die 
Tabakregie ist eine Behorde und hatte die Pflicht, mustergiiltig zu sein. 
Aber sie ist eine osterreichische Behorde, und »Osterreich«, jener Be- 
griff »Osterreich«, der Verwirrung bedeutet, zwingt sie eben, das zu 
tun, was jeder Osterreicher tut: die behordlichen Vorschriften nicht zu 
beachten. Der Schleier ist gefallen, und sichtbar wird die Ohnmacht 
der Behorde. Nicht ihr Verschulden. Sondern ihr Osterreichertum. 

Josephus 
DerNeueTag, 11.9. 1919 



DIE FREIKARTEN - 2EHN MILLIONEN 



In der gestrigen Stadtratssitzung berichtete Biirgermeister Neumann 
iiber eine Besprechung des Verkehrsausschusses des Wiener Kreisar- 
beiterrates. Dieser beschwert sich liber das Freikartenunwesen bei der 
Wiener Strafienbahn und teilt mit, dafi der Verdienstentgang der Stra- 
fienbahn im letzten Halbjahr zehn Millionen betragt. 
2ehn Millionen verliert die Strafienbahn, d. h. verlieren wir alle, die wir 
keine Freikarten bekommen. Vierundzwanzigtausendfiinfhundert 
Freikarten werden auf Grund von Stadtratsbeschliissen zugestanden: 
der Polizei, der Feuerwehr, den Kriegsinvaliden, sonstigen »kruppel- 
haften Personen«, Wohitatigkeitsinstituten, Journalisten, Schiilern und 
Lehrlingen. Aufierdem fahren Gemeinde- und Bezirksrate umsonst, 
Waisenhauszoglinge und siebentausend Volkswehrmdnner. Man be- 
greift, dafi die Polizei, die Invaliden, die Waisenhauszoglinge Freikar- 
ten erhalten. Aber bei der Feuerwehr stockt man schon. Fahrt ein Feu- 
erwehrmann im Dienst zu einer Loschaktion etwa in der Straf^enbahn? 
Miissen Gemeinde- und Bezirksrate zu ihren Sitzungen umsonst be- 
fordert werden? Was fiir »Wohltatigkeitsinstitute« sind es, die Freikar- 
ten bekommen und die Wohltatigkeit des Stadtsackels in Anspruch 
nehmen, um Wohltatigkeit auszuiiben? Warum fahren siebentausend 
Volkswehrmanner umsonst? 

Zehn Millionen Kronen in einem Halbjahr fiir Freikarten sind ein Lu- 
xus. Man gebe lieber noch ein paar MiUionen drauf, und alle jene, die 
in die Kategorie der Begiinstigten fallen, konnen mit Autos - zumin- 
dest aber mit Sonderautobussen - herumfahren und brauchen sich 
nicht totquetschen zu lassen. Man versteht die Verteuerung der Stra- 
fienbahnfahrten. Ich zahle sechzig Heller, um das Defizit der Strafien- 
bahnverwaltung zu decken. Weil sie Begiinstigungen ausiibt, notigt sie 
mich, auf der Plattform ihres Altars geopfert zu werden. Die StraEen- 
bahnschaffner sind unzufrieden, die Motorfiihrer sind unzufrieden, 
die Bevolkerung ist unzufrieden, und alles nur, damit vierundzwanzig- 
tausendfiinfhundert Menschen zufriedengestellt werden. 
Nun, diese Debatte iiber die Freikarten ist eine wienerische Angele- 
genheit, und in keiner Stadtratssitzung der Welt ware eine Strafien- 
bahnverwaltung diskutabel geworden, bei der ein Defizit von zehn 
Millionen durch die Locher ihres Verstandes herausschaut. Damit aber 



142 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aus der wienerischen eine ^rwienerische Angelegenheit werde, teilte 
Dr. Kienbock mit, dafS dieselben Arbeiterrate, die so mannhaft gegen 
das Freikartenunwesen auftreten, selbst um Fahrpreisbegiinstigungen 
angesucht haben. Dadurch wird die Wiener Stadtratssitzung zu einem 
Schildbiirgerstuckchen. Die Arbeiterrate, erklarte sodann Stadtrat Dr. 
Weigl, seien mit ihren Ansuchen um Begiinstigungen abgewiesen wor- 
den, batten sich mit der Strafienbahnerorganisation in Verbindung ge- 
setzt und bei dieser Gelegenheit von dem Freikartenunfug erfahren. 
Pflichtgemafi batten sie es dann zur Anzeige gebracht. 
Aus dem Mangel an geniigenden Kenntnissen in Grammatik und 
Rechtschreiben wird ein Rat mit einem Rad verwechselt und aus der 
Eigenschaft des letzteren, sich zu drehen, auf die Notwendigkeit des 
ersteren, fahren zu miissen, geschlossen. Und die ganze Angelegenheit 
und die zehn Millionen waren nicht zur Kenntnis der Offentlichkeit 
gelangt, wenn die Strafienbahndirektion sich nicht gegen ihr Prinzip 
versiindigt hatte. In einem Falle versagte sie den Raten das Recht auf 
freie Fahrt. Hatten diese das Recht erhalten, sie hatten vermutlich ge- 
schwiegen. Aber in Wien ist das immer so: Erst wenn einem recht 
geschieht, fiihlt er sich verpflichtet, das Unrecht aufzudecken. Ware 
den Arbeiterraten Unrecht geschehen, d.h., hatten sie die Freikarten 
erhalten, so ware es recht geblieben. Ein Gliick, daC die Strafienbahn- 
verwaltung nicht konsequent ist und keine Prinzipienfahrerin . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 18. 9. 19 19 



DER BOXER 



Es ist sehr feierlich in der Pause. Fiinfzehn Minuten lang halt alle Welt 
den Atem an, wahrend numerierte Kellner einkassieren. Wenn dann 
ein magischer Reflektor gegen die Biihne losgelassen wird, blast alle 
Welt den Atem aus. Der Atem wird Stimmung und verdichtet sich 
mahhch zur Weihe. Einfach: Bayreuth! Dariiber ist nicht zu streiten. 
Als Beweis zitiere ich wortlich jenes Pfffft!, das als zu Buchstaben kri- 
stallisierte Begeisterung Rauch und Schweifi ben-apollinischer Atmo- 
sphare durchschneidet. 



19 19 143 

Wenn der Vorhang aufgeht, sitzt mein Kollege von der Sportrubrik, 
sonst ein ganz harmloser Mensch, mit drei Herren an einem Tisch auf 
der Biihne und hat knapp vor seinem Bauche eine Art Trommel han- 
gen. Das wirkt imposant. Ein schlanker, glattrasierter Herr in einem 
zweifellosen englischen Jackett und einer iiberzeugend gelben Weste 
mit Perlmutterknopfen erklart von der Rampe herab in einem garan- 
tierten Englisch-Deutsch, das geradezu nach Seesalz schmeckt, Be- 
ginn, Wesen und angeblichen Zweck der Boxerei, Dann stellt er einen 
neuen Boxer vor, in dem er die »Ouehre« hat. Der Mann macht einen 
deprimiert-feierlichen Eindruck, etwa wie ein Konfirmand. Ein Smo- 
king halt ihn mit einem Knopf gefesselt. Die Armel laufen ohne Uber- 
gang plotzUch in zwei ganz iiberwaltigende Fauste aus. Der Mann im 
Smoking verschwindet. Der Englander verschwindet. Mein Kollege 
mit der Trommel verschwindet. Die ganze Biihne verschwindet. Ich 
sehe nur Fauste. Eine Stimme stellt die Fauste vor. Sie heifien: Harry 
Schwarz. 

Die Fauste bewegen sich nach hinten, offenbar die Folge einer Verbeu- 
gung des unsichtbaren Menschen, den sie reprasentieren. Die Biihne, 
der Englander, ein begrenztes Viereck, mein Kollege mit der Trommel 
werden sichtbar. Ein Mann in einem gebliimten Bademantel kommt, er 
wirft den Mantel ab. Lorgnetten, habt acht! Er steigt auf eine Waage. 
Fiinfundsechzig! Der zweite. Siebenundsechzigeinhalb! Der Englan- 
der triumphiert. 

Die Boxer setzen sich. Manner in Hemdsarmeln facheln mit Uberzeu- 
gung und Handtiichern auf die Boxer los, massieren mit Franzbrannt- 
wein und Andacht. Die Boxer sitzen unbewegUch-erhaben wie indi- 
sche Gottheiten. 

Ganz unvermittelt schlagt mein Kollege von der Sportrubrik auf die 
Trommel: Gong! Die Boxer werden wiitend. Zinnoberrote, behand- 
schuhte Fauste tanzeln, schwenken, stofien, schieben, sausen durch die 
Luft. Zickzack und kreuz und quer. Dann erfolgt ein belles Drohnen, 
wie wenn ein Pflasterstein auf eine Dachrinne fiele. Es ist nur ein 
Brustkasten. Sein Besitzer taumelt mitsamt seinem musikalischen In- 
strument. Mein Nachbar konstatiert: solar plexus. Plotzlich wirbeln- 
zwei rote Fauste um einen armen Kopf. Die Folge ist eine Watschen. 
Es ist ein Swing. 

Mein Kollege schlagt auf die Trommel: Gong! - Pause.- 
Noch einmal: Gong! Die Materie entladt sich. Irgendwo blutet eine 



144 ^^S JOURNALISTISCHE WERK 

Nase. Und noch eine. Die Nasen bluten gleichgiiltig. Waren es Nasen- 
stiiber? Nein! Es waren: upercuts. Stoische Nasen! 
Briinstige Operngucker recken sich liistern. Ein molliges Kichern kol- 
lert durch den Saal. Immer aber, wenn es am spannendsten und blutig- 
sten wird, schlagt mein KoUege auf die Trommel: Gong! Welch ein 
Mann!,.. 

Irgendwann nach dem achten oder neunten Gong erfolgt ein fiirchter- 
licher Krach. Ein Kampfer stiirzte hin wie eine gefallte Ofenbank. In- 
folge des Herzklopfens der Zuschauer zittert das Bier in den Glasern. 
Der Englander zahlt: Oueins, zouei, drei . . . Der Boxer riihrt sich 
nicht. Unwiderruflich tot. Schad um den jungen Mann! 
Bei »zehn« springt er auf. Bravoklatschen brandete um seine blutende 
Nase. Sieger und Besiegter stehen vereint da. Beide verneigten sich. 
Riihrendes Bild der Grofimut und Versohnung. Es schreit nach einem 
Dichter! 

Nach drei Kampfen spielt die Kapelle einen Marsch unter Begleitung 
eines lebhaften Stuhlriickens. Die Begeisterung lost sich im Gesprach. 
65 gegen 67/1. Wie erschiitternd! 

Im Kaffeehaus driiben trink' ich dann ein Soda mit. Plotzlich schwan- 
ken Fauste herein. Dann werden Menschen alimahlich sichtbar. Ein 
Mister redt weanerisch. Mizzi will a Floschenbier. Siebenundsechzig- 
einhalb setzt sich, ohne Umstande, an meinen Tisch. Seine Fauste re- 
den englisch: upercut, swing. Und sein Auge iibersetzt: a Watschen, 
dafi dir obarinnt . . . 
Ich rufe: Zahlen!!! 

Josephus 
Der Neue Tag, 23. 9. 1919 



MODERNE VEHIKEL 



Der Fortschritt der Wiener Kultur, der nur deshalb so langsam ist, weil 
er wegen der Kohlennot die Elektrische nicht beniitzen kann und also 
zu Fufi gehen mu6, ist schUefilich miide geworden und hat den Krebs- 
gang angetreten. Die Erfolge seiner neuen Gangart erscheinen deuthch 
sichtbar im Rahmen des Wiener Strafienbildes anno neunzehnhundert- 



19 19 145 

neunzehn. Selbigen Jahres ward namlich die Elektrizitat als Beforde- 

rungsmittel fiir untauglich befunden, und allerlei Vehikel aus vorvori- 

gen Jahrhunderten sind aus den Schatten der Vergangenheit in das ge- 

drosselte Tageslicht der heiteren Gegenwart hineingeroUt. Auf der 

Wiener RingstraCe sind zum Beispiel folgende Fahr^^wgelegenheiten zu 

sehen: 

ein Stellwagen aus dem Jahre siebzehnhundertundeins, der bis nun in 

den Archiven der Gesellschaft fiir Altertumsforschung von seinen wei- 

ten Fahrten geruht hatte; 

eine »Wagenburg« aus der Zeit des dreifiigjahrigen Krieges, in der nach 

durchaus verlafilichen historischen Dokumenten der gottselige Wal- 

lenstein selbst gesessen ist, als er im Jahre 1634 eine Zusammenkunft 

mit seinen Offizieren im Pilsner Hauptquartier hatte; 

ein zweiradriges Kabriolett, das Marie Antoinette bei gewissen Aus- 

fahrten hochstpersonlich gelenkt haben soil; 

eine Diligence^ in der Metternich eine Reise nach Karlsbad unternom- 

men hatte. 

AuCerdem noch: Zeiserlwagenruinen aus der Zeit Bauernfelds und 

Sch winds; zertriimmerte Postkutschen; Streifwagen mit improvisier- 

ten Sitzgelegenheiten aus Papierersatz. Schubkarren und Sanften feh- 

len noch. 

Eine praktische Neuerung waren Pendelleichenwagen vom Schotten- 

tor zum Zentralfriedhof. Die Passanten wiirden um den Preis von 

sechzig Hellern - gewift nicht zu teuer - auf den Friedhof hinausbefor- 

dert und konnten sich dort alsogleich halblebendig begraben lassen, 

um dem Wiener Winter leicht und schmerzlos zu entgehen. 

Die Behorden seien hiermit darauf nachdrucklich aufmerksam ge- 

macht! 

Der Neue Tag, 23. 9. 1919 



DIE KUGEL AM BEIN 



Fiinf Jahre lang waren wir eingezwangt in verlogene Begriffe. Das Va- 
terland war Kerker, die Pflicht eine Handschelle, und Kerkermeister 
war die Phrase. Das Schliisselloch war verstopft mit einem Leitartikel. 



146 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Durch das Gitter unserer Stacheldrahte blickend, sahen wir wieder 
nur Kerker. Es war eine Welt aus Vateriandern. Man war Staatsbiir- 
ger, eingeriickt, Held, Haftling. Das Vaterland fiihrte jeden im 
Munde und der Magistral in Evidenz. Moglichkeiten waren zwar 
vorhanden. Es konnte geschehen, dafi ein Wunsch, ein Wille starker 
ward als das System. Aber der Rapport war die Barriere, deren 
Uberwindung erst Erfiillung verhiefi. Die Freiheit war in Urlaube 
eingeteilt und auf Urlaubscheine in Rationen erhaltlich, Es gab keine 
personliche Freiheit. Es gab nur Gebiihrenurlaube und solche aus 
dringenden Familiengriinden. Bis die Revolution kam und sozusagen 
die Kerker sprengte. 

Dennoch woliten wir im Kerker bleiben. Es hatte ja sein konnen, dafi 
die Grenzen der neuentstandenen und der alten Staaten Eintrittspfor- 
ten mit Willkommensgriifien fiir nachbarliche Gaste werden. Die 
Grenze hatte in der Hauptsache den Zweck haben konnen, iiber- 
schritten zu werden. Jetzt hat sie den, eingehalten zu werden. Mog- 
lichkeiten sind Ja vorhanden. Es kann geschehen, dafi ein Wunsch, ein 
Wille starker wird als das System. Man kann Grenzen unter Umstan- 
den auch iiberschreiten. Aber nicht grundsatzlich. Es sind keine 
Grenzen mehr. Es sind - Rapporte . . . 

Unsere Generation hat die Notwendigkeiten des Militarismus ins Zi- 
vile ubersetzt. Der Tag dauert immer noch von der »Tagwach« bis 
zur »Retraite«. Aufierhalb dieser Grenzen des Tages gelten nur Er- 
laubnisscheine. Starker als alles Eisen, das im Kriege verschossen 
wurde, erwies sich die Materie, die unser Zeitalter beherrscht: das Pa- 
pier. Die Legitimation mit Fingerabdruck. (Das Lichtbild ist nur aus 
Griinden der Tradition und BequemHchkeit iiblich.) Von der Galeere 
der grofien Zeit sind wir gliicklich an den Strand des AUtags gesetzt. 
Aber wir schleppen immer noch die Kugel am Bein mit: den Pafi. 
Unter hundert Menschen sind kaum fiinf, die nicht einen Pafi in der 
Brusttasche fuhrten. Ein Stiick Vaterland. Die Behorde, eine Institu- 
tion zur Verbreitung von Wirrnis und Schikane, will wissen, wer ich 
bin. Ich straube mich dagegen. Alles in mir, was wert ist, Ebenbild 
Gottes zu heifien, lehnt sich gegen die Zumutung auf: alle Zufallig- 
keiten meiner Vergangenheit in der Brusttasche fiihren zu miissen. 
Ich bin ich. Unabhangig von Vaterstadt, Zustandigkeitsort, Aufent- 
halt. Nicht, was mich von den anderen unterscheidet, darf ich mit mir 
fiihren, sondern was mich ihnen gleichmacht. Dafi ich im Jahre 



19 19 147 

soundso in der Stadt soundso geboren bin, macht mich erst lebensfa- 
hig. Ich bin nichts anderes als Pafibesitzer, vom Pafi besessener Staats- 
burger. 

Friiher war ich wenigstens Held. Ich trug das Gewand des Hafthngs, 
aber in der Uberzeugung, daC es der Rock des Kaisers und ein Ehren- 
kleid sei. Dieses nun mufite ich ablegen. Gebheben aber ist mir die 
Nummer Jener Zelle, die ich fiinf Jahre bewohnte: der Pafi. Er macht 
mich nicht zum Helden. Er berechtigt mich nicht zu hohen Ansprii- 
chen. Er hat nichts mit meinem irregefiihrten Ideahsmus zu tun. Er 
verrat nicht einmal meine Heimat. Er konstatiert nur jene Sorte von 
Heimat, die durch Polizei, Bezirkshauptmannschaft, Magistrat repra- 
sentiert wird und keine Heimat ist, sondern ein papierener, stempelbe- 
sater Begriff : Staatsbiirgerschaft. 

Der Pafi beweist nicht, dafi ich - ich bin. Er beweist, dafi ich irgendein 
Ich bin. Dafi ich Staatsbiirger bin. Mein Staat ersuchte durch eine In- 
schrift auf meinem Pafi alle Behorden, mich ohne Schwierigkeiten pas- 
sieren zu lassen. Das Gegenteil ist die Wirkung. Man miifite glauben, 
eine Gesandtschaft, also eine Behorde, diirfte mit einiger Aussicht auf 
Erfolg eine Grenzkontrollstelle, also auch eine Behorde, um eine Ge- 
falligkeit bitten. Die GrenzkontroUe tut das Verkehrte von dem, 
wo rum sie ersucht wird. Ich zweifle an der Ehrlichkeit meines Staates. 
Jene Bitte ist eine Tiicke, eine Hinterlist, um mich hineinzulegen. Wie 
konnte ich nur annehmen, dafi ein Staat, der mich drei Tage lang auf 
ein Visum warten lafit, es mit mir gut meint? Sie stecken zusammen, 
alle beide: der Staat und die GrenzkontroUe. Sie wollen mich vernich- 
ten. Der Pafi ist ein Uriasbrief. 

Ich straube mich mit Recht gegen meine Vernichtung. Ich lehne mich 
auf. Ich will mir meine Vergangenheit nicht vidieren lassen. Meine 
Physiognomic gehort ganz mir. Gott hat sie mir geschenkt. Wie 
kommt man dazu, das Ebenbild Gottes durch einen Kautschukstempel 
zu verunzieren? Ist das nicht Gotteslasterung? 

Aber die Behorde behauptet, dafi der Pafi nur zu meinem Guten da sei. 
Ich konnte namlich nicht Schriftsteller, sondern eine Art Verbrecher 
sein. Der Pafi iiberzeugt die Behorde, dafi ich nur Schriftsteller bin. 
Also pradestiniert zum Schikaniertwerden. Alle, die mit mir die glei- 
chen Anlagen fiir die Passion haben, sind also mit Passen ausstaffiert 
und sozusagen anstandige Menschen. Warum werden sie, gerade sie, 
also immer des Gegenteils verdachtigt? 



148 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Weil die andern - auch Passe haben. Und zwar noch mehr Passe. 

Hochstapler haben fiinf Passe, Schmuggler zehn, politische Abenteu- 

rer zwanzig. 

Aber diese Passe sind nicht Beschwer. Sie bedeuten im Gegenteil voile 

personliche Freiheit. Ein Haftling, der zwanzig Zellen zugleich be- 

wohnt, sitzt in keiner. 

Nur wir, die Harmlosen, sind die Opfer des Systems. Wir hatten Sta- 

cheldrahte aus Eisen, nun haben wir solche aus Papier. Jene konnte 

man zerstoren, diese zerstoren nur uns. Sie sind scheinbar schwach, 

harmlos; man kann ihnen nichts nachsagen, nichts anhaben. Aber sie 

sind tiickische Verrater unserer Vergangenheit und verbittern uns un- 

sere Gegenwart. 

So konnte eine Revolution zwar staatliche Selbstandigkeit schaffen. 

Aber teuer erkaufen mit personlichen Freiheiten. Sie konnte uns von 

der Galeere befreien. 

Aber die Kugel am Bein schleppen wir mit durch unsere Tage, die 

erfiillt sind von Sehnsucht nach Feme und Wunderland. Die Kugel am 

Bein, den PaE. 

Der Neue Tag, 28. 9. 1919 



STREIFLICHTER 



Das moderne Kino hat das alte Puppentheater verdrangt, aber manche 
Theaterpuppen heriibergenommen. 

Wie gliicklich ist doch der Filmschauspieler: Er darf liber das Pubh- 
kum die Wahrheit reden, wahrend dieses glaubt, er spiele ihm eine 
Llige vor . . , 

Ein Kinobesitzer macht nie gldnzende Geschafte, hochstens flim- 
memde . . . 

Der einzige Unterschied zwischen dem wirklichen Leben auf Erden 
und dem vorgestellten auf der Leinwand ist nnr der: Die Erde ist rund, 
und die Leinwand ist flach. 



1919 149 

Am 7. Tag woUte sich der liebe Gott nicht mehr anstrengen. Deshalb 
ruhte er am Vormittag, am Nachmittag erschuf er die Sonntagsvorstel- 
lungen: Sie sind auch danach. 

Der erste Sensationsfilm der Welt hiefi: Auszug der Juden aus Agyp- 
ten . . . 

Als dem lieben Gott gar nichts mehr einfiel, erschuf er den ersten Lieb- 
haber: Adam, Die modernen Filmautoren tun das gleiche . . . 

Peter Schlemihl war der erste Kinoschauspieler: Er verkaufte seinen 
Schatten fiir Tantiemen . . . 

AUerdings dem Bosen und nicht einem Filmunternehmen Aber wo ist 
der Unterschied? 

Mit »Streiflichtern« ist es eine traunge Sache: Wem sie nicht gef alien, 
der versteht sie nicht, wer sie versteht, dem - gefallen sie nicht . . . 

Die Filmwelt, 3. 10. 1919 



DEUTSCHOSTERREICH 1930 

Ein Kapitel aus einer Weltgeschichte 

Nachdem die Nationalversammlung aufgelost war, schwankte nur 
noch das Charakterbild des Staatskanzlers, von der Parteien Koalition 
und Neid verwirrt, eine Zeitlang in der Geschichte herum. Schhefilich 
versank auch dieses im Chaos der staatlichen Triimmerhaufen. Es kam 
die Zeit des herrschaftslosen Anarchismus, das Pierre Ramussche Zeit- 
alter, in dem die Ostjuden mit Abreisendmachungen Schleichhandel 
trieben und den Deutschnationalen die Leopoldstadt iiberhef^en. 
Pierre Ramus hatte Polizei und Stadtschutzwache aufgelost. Als die 
Wachleute vor dem Rathaus in einer Versammlung stlirmisch ihre Mo- 
natsgehalter samt Zulagen verlangten, machte ihnen ein herrschaftslo- 
ser Anarchist den Vorschlag, auf das Geld zu verzichten und nur eine 
Genugtuung zu fordern. Diese erhielten die Demonstranten tatsach- 
lich: Jeder Wachmann wurde zu seinem eigenen Pohzeiprasidenten er- 



150 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nannt. Diebstahl, Mord, Raub und Pliinderung kamen nur noch bei 
den politischen Parteigrofien vor. Gemeine Verbrechen gab es iiber- 
haupt nicht mehr, da alle Staatsbiirger, die eine mehr als einmonatige 
Kerkerhaft nachweisen konnten, den Titel Edelverbrecher fuhren 
durften. Es war der einzige Adel, den die Republik Deutschosterreich 
verleihen konnte. 

Schliefilich aber iibermannten Hunger und Entbehrungen aller Art das 
Volk. Es rottete sich zusammen, um zu demonstrieren, entdeckte aber 
zu seinem grofien Schrecken, dafi es keine Regierung gebe, der man 
seinen Unwillen zeigen konnte. Infolgedessen beschlofi jeder fiir sich, 
sich selbst abzusetzen. Also geschah es auch. Am nachsten Tage kamen 
die abgesetzten Staatsbiirger auf jenem Platz zusammen, der einst der 
Rathauspark geheifien hatte und der infolge der Kohlennot allmahHch 
abgeholzt worden war. Es war nur noch eln freier Platz geblieben, den 
man »erweiterter Rathaus- und Demonstrationsplatz« nannte. Dort 
beschlofi das Volk Deutschosterreichs, auf Grund des Wilsonschen 
Selbstbestimmungsrechtes der Volker fiir den Anschlufi an die Ver- 
einigten Staaten zu stimmen. Infolge des volUgen Papiermangels gab es 
keine Stimmzettel. Es wurde mittels Handhebens abgestimmt, wobei 
es sich erwies, dafi mit Ausnahme der Deutschnationalen alle Versam- 
melten fiir den Anschlufi waren. Die Deutschnationalen allein be- 
haupteten, aus nationalen Griinden gegen den Anschlufi zu stimmen, 
weil Kolumbus grofimiitterlicherseits ein Jude gewesen sei. 
So kam also zum grofien Schrecken Amerikas der Anschlufi zustande. 
Amerika sah sich vor die iiberaus schwere Aufgabe gestellt, einen 
Staat, der gar nicht da war, zu entdecken. Eine Expedition wurde aus- 
geriistet unter Leitung des Mr. Harry Tompson, dem es nach vielen 
Irrfahrten schliefilich gelang, einen Menschen ohne Kopf zu finden. 
Mr. Tompson schlofi sofort, dafi der Mann ohne Kopf ein Deutsch- 
osterreicher sein miisse. Der Mann wurde angehalten. Es stellte sich 
heraus, dafi er einer der letzten deutschosterreichischen Staatssekretare 
war. Dieser fiihrte nun die Expedition nach Deutschosterreich, wo die 
Amerikaner mit grofiem Jubel aufgenommen wurden. 
Nun ging es an die Arbeit. Hunderttausend amerikanische Elektroin- 
genieure und Mechaniker wurden ins Land berufen. Es gait zuerst, den 
Deutschosterreichern auf elektrischem Wege neue Kopfe aufzusetzen. 
Bei dieser Gelegenheit konnten sich die Ostjuden an den Antisemiten 
rachen, indem sie jedem Antisemiten einen prononciert jiidischen 



19 19 i^i 

Kopf verkauften, so dafi man schliefJlich Arier von Semiten aufierlich 
nicht mehr unterscheiden konnte. Auch kam dieser Handel den Anti- 
semiten gar nicht so iibel zu stehen. Sic hatten, seit der Griindung ihrer 
Partei, zum erstenmal Gelegenheit zu denken. 

Jede Demonstration wurde verboten. Die Strafien wurden von ameri- 
kanischer Polizei abgesperrt und die Arbeitslosigkeit mittels Dekret 
aufgehoben. So sahen sich die Deutschosterreicher genotigt zu ar- 
beiten. Die grofien politischen Parteien bekamen ihre besonderen 
Arbeitsfelder zugewiesen. Die Christlichsozialen mufSten die Kirchen 
instand setzen und schadhafte Heiligenbilder ausbessern. Die Sozial- 
demokraten mufSten zwar aus der Koalition ausscheiden, dafiir erhiel- 
ten sie aber samtliche Hausmeisterstimmen fiir eine kommende Wahl 
zugesichert. Also triumphierten sie liber die Christlichsozialen. Sie 
hatten aufierdem noch die Aufgabe, die unfahigen Politiker ihrer Partei 
herauszusuchen und deren Namen auf einem Zettel alphabetisch auf- 
geschrieben dem Prasidenten Wilson einzuhandigen. Diese Arbeit war 
so schwierig und nahm so viel Zeit in Anspruch, dafi sie zu keiner 
anderen Beschaftigung kommen konnten. Die Deutschnationalen 
wurden in Anbetracht ihrer pogromistischen Leistungen zu Prima- 
Boxkampfern im Ben Tieberschen »Apollo« ernannt, wo sie jeden 
Abend funfundzwanzig polnische Juden niederboxen durften. Die 
Leopoldstadt wurde als palastinensische Kolonie eingerichtet und den 
Jiidischnationalen freigegeben. Die sogenannten biirgerHchen Parteien, 
die eigentlich nur aus Zeitungspapier bestanden, wurden nach Ame- 
rika transportiert, wo ihnen das Gruseln ausgetrieben werden soUte. 
Das einzige, was den Amerikanern nicht gelang . . . 
Deutschosterreich ward so eine amerikanische Kolonie mit einem 
Gouverneur an der Spitze und einem Parlament, das das »weif5e Haus- 
chen« genannt wurde und zugleich auch anderen Zwecken diente. 
Ruhe, Fleif^ und Ordnung kehrten in das Land, und alle Deutschoster- 
reicher lebten von nun an sorglos und friedlich miteinander. 

Der Neue Tag, 5. 10. 19 19 



DIE TYRANNEI DER STUNDE 



Um ein Abendessen kaufen zu konnen, versetzte ich meine silberne 
Remontoiruhr. Als ich das Versatzamt verliefi, war ich froh wie noch 
nie, AUe Menschen, die da herumgingen, hingen mit ihren Uhrketten 
an der Zeit. Sie trugen Despoten in der Westentasche. Sie selbst sorg- 
ten fiir das Wohler^ehen und die Unversehrtheit ihres Tyrannen. Sie 
kauften sich ihre Abhangigkeit. Verkauften sich ihrem Sklavenhaher. 
Ich allein war der unertraglichen Sklaverei entronnen. Ich habe mich 
losgekauft. Ich zahle ein paar Heller wochendich fiir meine Freiheit. 
Mein Despot liegt, wehrlos und unschadlich gemacht, in einer kleinen 
Holzschachtel und in einem sorgsam verwahrten Each. Ich hore nicht 
mehr sein Ticken : Pflicht, Pflicht, Pflicht, Pflicht . . . er kiindet mir 
nicht mehr die Stunden meines Sterbens. Um mich rauscht der Fliigel- 
schlag der Ewigkeit. Ich kenne keine Zeit und schwimme in der Unbe- 
grenztheit. Ich hore die Spharenmusik des Weltenraumes. An meine 
Uhrkette heftete ich eine kleine eiserne Kugel. Eine Kugel: rund, ohne 
Anfang, ohne Ende. Ewigkeit statt der Zeit. Ich fiihle mich ganz Gott- 
heit. 

Ich vergaE meinen Hunger. Plotzlich hore ich den gedampften Schlag 
einer Pendeluhr im Zimmer meiner Vermieterin. Da werde ich hung- 

Aber als ich zum Gasthaus kam, war es gesperrt. Ich ging hungrig zu 

Bett. 

Am nachsten Morgen loste ich meine Uhr wieder aus. 

Im Zahlen, Messen, Wagen offenbart sich die Ohnmacht der menschli- 
chen Natur. Was sie nicht zu erfassen vermag, tastet sie mit der EUe ab. 
Die »Einteilung« ist die Folge einer Verlegenheit. Wenn ich kein Geld 
zum Leben habe, so »mu£ ich mir's nur einteilen«. Ich »rationiere« 
meine Armut. Rationierte Not ist keine Not. Wir »fassen« Hunger auf 
Brotmarken. AUe Elemente werden rationiert. Lange noch ehe man die 
ganze Erdkugel kannte, teilte man sie in Meridiane und Parallelkreise. 
Unser Auge vermag nicht in die Sonne zu sehen, aber ihren Durchmes- 
ser haben wir berechnet. Der Arzt kann deinen Krebs nicht heilen, 
aber er rechnet dir vor, wann du ungefahr sterben wirst. Wir messen 
alles: das Jenseits, die Raumlosigkeit, die Gottheit. Wir wagen den 



19 19 153 

Hafi, je nach seinem Umfang, nach Ohrfeigen, Dolchen, Revolvern, 
Maschinengewehren, 42-Zentimeter-Kanonen, Wir messen selbst die 
Liebe mit dem Thermometer und lesen die Temperatur des Tempera- 
ments ab. (Ich liebe dich. So, dafi ich fiir dich sterben konnte . . . oder 
so, dafi ich deinetwegen keine Scherereien haben will.) Jede Erschei- 
nung, Mensch und Werk, dessen Grofie wir nicht erfassen, messen wir 
nach dem Metermafi der Kritik. - Ich habe keine Zeit; du mufit sie dir 
»nur einteilen«! Kauf dir eine Uhr, und hang dich an sie mit einer 
Kette! Vorsichtig! Dafi du ihr nicht etwa gestohlen wirst oder verlo- 
rengehst in der Elektrischen ! Sie mufi auf dich achtgeben konnen. Die 
Ewigkeit konnte dich ihr stehlen. 

Aus dem Bediirfnis heraus, die Zeit, die unbeschrankt iiber uns ver- 
fiigt, zu unterjochen - haben, gewinnen, verlieren zu konnen-, erfan- 
den wir die Stunde, die Uhr. Weil sie uns durch Glocke und Ziffer 
anzeigt, wieviel die Zeit schon von uns hat, bilden wir uns ein, wir 
wiifSten schon, wieviel wir von ihr haben. Und der >>praktische« An- 
gloamerikaner erf and einen noch deutlicheren Mafistab : Zeit ist Geld ! 
Niemand sieht die Verwechslung. In einem Bruchteil der Zeit gewinne 
ich einen so und so grofien Teil des Geldes. Das Geld habe ich. Die 
Zeit aber hat mich. Und kein Mensch macht die einfache Probe durch 
mathematische Umkehrung: Kann ich um zwei Kronen zwei Stunden 
kaufen? 

Nein, wir tauschen uns gerne und mit Uberzeugung. Wir dachten, die 
Zeit durch die Uhr besiegt zu haben, nun unterjocht uns die Stunde. 
Wir konnen ihr nicht entrinnen. Das von uns selbst errichtete Gotzen- 
bild fordert uns selbst zum Opfer. Um ein Uhr fiinf geht mein Zug; 
um elf Uhr drei Minuten fiinfundzwanzig Sekunden beginnt der An- 
griff. Aiies - Wahrnehmbares, Nichtwahrnehmbares - richtet sich 
nach der Uhr. Um zwei Uhr elf Minuten tritt die Sonne in den Wende- 
kreis des Krebses. Um zehn Uhr, keine Sekunde friiher oder spater, 
fallt es dem FriihHng ein zu beginnen. Und der Sonnenfinsternis, »par- 
tiell« einzutreten. Um ein Uhr wirst du geboren. Um zwei Uhr kommt 
der Tod, dich zu holen. - Du bist Schauspieler. PiinktHch um halb acht 
mufSt du Konig Lear sein. Sonst zischt das Publikum. Es nimmt Partei 
fiir die von dir siindhaft verhohnte Gewalt der Stunde. Um elf Uhr 
mufit du wieder du sein. Wenn du noch immer Konig Lear bist, giltst 
du als Wahnsinniger. 
Wenn meine Uhr alien anderen Uhren der Stadt um fiinfzehn Minuten 



154 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»vorgeht«, kann ich mich morgens nicht ruhig ankleiden und friih- 
stiicken. Wenn sie »2uruckgeht«, lasse ich mir gerne einreden, ich 
konnte noch liegenbleiben. »Es ist 2eit!« - Erwache, Mensch! Es ist 
nicht »2eit«! Es ist ein Raderwerk, das dich unterjocht, dem du ausge- 
liefert bist, das dich suggerierend bannt, dem du glauben und gehor- 
chen mufit. 

Auf meinem Weg ins Biiro brauche ich iiberhaupt keine »Zeit«. Die 

Uhr des Versorgungshauses in der Wahringerstrafie zeigt halb zehn. 

Die der Votivkirche fiinf Minuten vor halb zehn. Die elektrische Uhr 

am Schottentor fiinf Minuten iiber halb zehn. Aber die Uhr am Ste- 

phansplatz, die letzte auf meinem Weg, zeigt - halb zehn. Und ich - 

freue mich iiber meine Schnelligkeit. 

Als ich von der aufiersten Grenze Sieverings zur Arbeit ging, um Zeit 

in Geld umzuwechseln, gewann ich sogar »Zeit«. Ich ging um acht 

Uhr fort. Schon um halb acht war ich am Wahringergiirtel. Um ein 

Viertel acht in der Nufidorferstrafie. 

Als ich in die Redaktion kam, war ich ein Saugling. 

Erst die Liebe lehrte mich Gewalt iiber die Uhr gewinnen. 
Ich liebte. Ich suchte die Zeit zu hintergehen und stahl ihr taglich ein 
paar Stunden. Um acht trafen wir uns. Um halb zehn schob ich den 
Zeiger um cine Stunde zuriick. Wir batten nur bis zehn Uhr »Zeit«, 
uns zu Heben. Meine Uhr zeigte zehn, als wir aufhorten. Aber es war 
halb eins, als ich zur Votivkirche kam. Ich konnte und konnte die Uhr 
nicht bezwingen. 

Nun kam mir ein Einfall. Er war einfach wie das Ei des Kolumbus. Ich 
begriff, dafi die Stunde hohl ist. Ein Gefafi fiir das Geschehen. Und ich 
stopfte die Sekunden voU mit dem Gliick meiner Liebe. Die Minuten 
mit der tJberfiille meines Herzens. Und gofi Ewigkeit in die Stunden. 
Sekunden, Minuten, Stunden sprangen, barsten, Uefen iiber. Glocken- 
schlage ertranken rettungslos im Meer meiner Liebe. Die Uhr ward 
machtlos. Ich hatte sie bezwungen. 

Man kann eine Stunde nicht »gewinnen« oder »verlieren«, Man kann 
ihr Sklave sein oder ihr Herr. Man bezwingt sie, indem man sie aus- 
niitztj d.h. erfiillt. 

Der Neue Tag, 5. 10. 1919 



DER NEUE HOFPARK 



Zwischen dem Staatsamt fiir Aufieres und der Riickfront des Modena- 
Palais, in dem der Staatskanzler residiert, gegeniiber dem seitlichen 
Burgeingang in der Schauflergasse befindet sich eine weite Rasenfla- 
che. Lange Zeit war sie unbeniitzt. Die monarchische Regierung nahm 
selbstverstandlich keine Riicksicht auf die nachrevolutionare Woh- 
nungsnot. Man hielt den Rasen fiir einen dringenden Staatsakt und liefi 
infolgedessen - Gras dariiber wachsen. Freilich gab es der Hofparks 
genug. Hatte man etwa noch einen schaffen sollen? 
Aber die Republik braucht einen neuen Hofpark. Schonbrunn gehort 
den Invaliden, Und die neue Dynastie war sozusagen heimatlos. Frei- 
lich, ein Biiro hatte der Staatskanzler noch. Aber konnte man etwa in 
einem Biiro wie in einem Schonbrunnerpark als alter Herr sorgen- 
schwer sitzen? Nicht nur das alte Lied verlangte nach einer sinngema- 
fien Textanderung. Auch die Autoritat forderte ihren Rahmen. Eine 
Majestat ohne Park aber ist ein Unsinn. Ein Staatskanzler, der in einem 
Biiro arbeitet - wodurch unterscheldet er sich von einem simplen Die- 
ner des Staates? Aber ein Staatskanzler in einem Park - den nenn' ich 
einen Staatskanzler. 

Dr. Renner, der wie eine Version besagt, aus St. Germain eine uniiber- 
windliche Vorliebe fiir Eisengitter mitgebracht hat, liefi also einen gro- 
fien Teil der Rasenflache einzaunen. Das soil 160000 Kronen gekostet 
haben, aber das ist nicht viel, denn es ist sozusagen der Wiederaufbau 
Deutschosterreichs, der mit der Durchschneidung des Rasens vor der 
Staatskanzlei einen verheifSenden Anfang genommen hat und sich in 
Gestalt eines Eisengitters auf gemauerter Grundlage prasentiert. Inner- 
halb des Rasens soil ein schmucker Pavilion erbaut werden, in dem Dr. 
Renner fern vom Larm des Tages arbeiten wird. »Der Staatskanzler als 
Einsiedler« diirfte dann ein Feuilleton der »Arbeiter-Zeitung« heifien. 
Ob die kiinftige Politik ihre Weltfremdheit etwa dem Milieu ihres Ge- 
burtsortes zu verdanken haben wird oder nur ihrer Abstammung, wird 
allerdings schwer festzustellen sein. Ein passender republikanischer 
Leitspruch als Torinschrift iiber dem Parkeingang ist noch nicht ge- 
funden. Ich schlage vor: Odiprofanum vulgus. Ein weiser Spruch, der 
etwaige unbesonnene Demonstranten von der Abfassung untertaniger 
Dank- und Er^ebenheitsadressen an den Staatskanzler sicherlich ab- 



156 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

halten diirfte. Im Sommer wird sich der Staatskanzler der niitzlichen 
Beschaftigung hingeben konnen, Kohl zu bauen, wenn er etwa an des- 
sen Hervorbringung durch Reden noch nicht genug haben diirfte. Der 
Umstand, da£ gegenwartig das alte Gras innerhalb des Eisengitters ab- 
gemaht wird, lafit darauf schliefien, dafi die Autoritat des Staatskanz- 
lers den Wunsch geaufiert habe, im Friihjahr wenigstens das neue 
wachsen zu horen. Aufierdem wird der Staatskanzler Gelegenheit fin- 
den, sich an heifien Sommertagen der Ruhe hinzugeben. Somit wird 
dann das abgeschaffte Wortchen »geruhen« wieder in den deutsch- 
osterreichischen Sprachschatz mit Hilfe eines Leitartikels der »Arbei- 
ter-2eitung« eingefiihrt werden konnen. 

Mit dem Fortschreiten der Wiederaufbauarbeiten diirften auch die an- 
deren Staatsamter und Behorden dem Beispiel der Staatskanzlei folgen. 
So wird die Aufstellung von spanischen Reitern vor dem Staatsamte 
fiir Volksernahrung geplant, die Ausfiihrung von Hindernisgraben vor 
dem Staatsamte fiir Aufieres, die Aufstellung von Abwehrkanonen vor 
dem Staatsamte fiir Unterricht und die Pflasterung mit Stinkbomben 
vor dem Gebaude der Tabakregie. Als einziges Staatsamt mit freiem 
Zutritt diirfte das Staatsamt fiir Finanzen iibrigbleiben. 
Die Tage, an denen Staatskanzler und Staatssekretare im Freien arbei- 
ten werden, werden besonders bekanntgegeben, damit riihrende Ein- 
zelportrats und Familienbilder rechtzeitig in die »Woche« kommen. 

Der Neue Tag, 12. 10. 1919 



ABSCHIED VON DER SCHAFFNERIN 



Am I . November wird sie von der Plattf orm der eingeschrankten Wie- 
ner Offentlichkeit verschwunden sein. Die Schaffnerin, eine Improvi- 
sation der groEen Zeit, wird Zange und Diensttasche abtun und reuig 
heimkehren zu Kiichenschiirze und Kochloffel. 
Eigentlich tut es mir leid um die Schaffnerin. Von alien Neuerungen 
der letzten Jahre war sie zweifellos die sympathischste. Sie reprasen- 
tierte die angenehmste Erscheinungsform der Frauenbewegung, die 
seit der Diensteinstellung der Frauen auf der Strafienbahn fortab ihre 
Fortschritte nicht mehr zu FuE, sondern mit der Elektrischen machte. 



19 19 157 

Es gab verschiedene Arten von Schaffnerinnen. Altere, miitterliche, 
deren Gestalt und Antlitz von Kinderhaben erzahlten, von einem 
Mann in Kriegsgefangenschaft, von Witwentum, von Nahrungssor- 
gen. Sie versah ihren Dienst mit einer automatischen Sicherheit, und 
ihr »Vorgehn bitte!« war dienstlich, ganz unpersonlich, sie priifte die 
Fahrkarte mit der Gewissenhaftigkeit einer Hausfrau, die etwa den 
Waschezettel durchsieht, und ihre Art, einen Fahrschein zu lochen, 
war bestimmt, unfehlbar, sicher, so etwa, wie wenn sie einen Nagel in 
die Wand geschlagen hatte, um die Bratpfanne aufzuhangen. Sie sprach 
nicht viel und kannte weder Protektionen noch Konzessionen. Ihre 
Amtskappe safi ehrbar und gerade auf ihrem zu einem einfachen Kno- 
ten geschiirzten Haar, und die Tasche hing vorschriftsmaf^ig vorne, 
nicht ein bifichen rechts oder Hnks verschoben. Hinter dem Ohr, von 
einem Haarbiischel etwas iiberschattet, steckte ein Tintenstift. Amts- 
kappe, Diensttasche, Tintenstift sagten: Ich kenne meine Pflicht! 
Wenn der Revisor kam, grlifite die Schaffnerin zuerst. Dienst ist 
Dienst. Sie war der lebendige, fahrende Beweis fiir die Gleichberechti- 
gung der Geschlechter. 

Den Gegenbeweis Heferte die »Flotte«. Sie war gewohnhch blond, was 
durchaus nicht nach den Dienstvorschriften war, sondern im Gegenteil 
- nach irgendwelchen geheimen, gottUchen Dienstvorschriften. Auch 
wenn sie schwarz war, spiehe ein Schimmer von Blondheit um ihre 
PersonHchkeit. Sie war ganz einfach »blond«. Ihre Kappe war ein 
Kappi und safi schief auf dem Hinterhaupt, weil ein paar frivole Lock- 
chen gerade Lust batten, sich die Fahrscheine anzusehen. Sie hatte kei- 
nen Tintenstift hinterm Ohr. Ihre Tasche safi auf der Hnken Hiifte und 
machte sich ganz unscheinbar, nebensachhch, als woUte sie sagen: Ich 
bin ihr kein Hindernis! Irgendein Bliimchen, blau, weifi oder rosa, 
steckte in der Kappenrosette und lachelte und nickte ermutigend: Ja, 
bitte schon! Irgendeine Halskrause, weifS oder blau, negierte entschie- 
den jeden Dienstcharakter. Sie sah sich die Fahrscheine nur so, von 
oben herab, an, als wollte sit sagen: Ach, wie lastig! Ihre Zange setzte 
die »Flotte« mit einer Schalkhaftigkeit an die Fahrkarte, als zwickte sie 
neckisch irgend jemanden am Ohrlappchen. Ihr Trompetensignal war 
niemals scharf, dienstlich. Es war personliche Liebenswurdigkeit drin. 
So eine Art Hornruf. Es war ein hellblondes Trompetensignal ... Sie 
rief: »Vorgehn bitte !«, und es war nicht Aufforderung, sondern Einla- 
dung. Sie zwangte ihre reizende Schlankheit anmutig durch die Men- 



158 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schenleiberlabyrinthe, und trat sie einem auf die Zehen, so sagte sie 
nichts, sondern sah ihm nur in die Augen. Man war beseligt. Sie 
machte keine »Anstande«, woraus Moralische den Schlufi ableiteten, 
dafi ihr mehr Anstand not tate. Sie lachte manchmal falsch, eine Stunde 
zu friih oder zu spat, und wenn man sich dariiber aufregte, weinte sie. 
Ihr gegeniiber war selbst der Herr Reviser ein Schwachling. Wenn sie 
gerade in einer »Blauen« Dienst machte und ich Fahrgast war, so 
wiinschte ich, dafi sich die Strecke in die UnendHchkeit dehnen moge. 
Ich fuhr bis zur Remise und ging dann zu Fu(5 zuriick. 
Und nicht immer allein. 

Ihre Fufibekleidung war ganz anders als die ihrer alteren KoUeginnen. 
Diese hatten » Knopf elschuhe« oder gar »2iehstiefeletten« mit Gum- 
mieinsatz. Die Absatze waren flach und breit. Die Spitzen sahen ein 
bifichen gekriimmt zur Wagendecke empor. Dagegen trug die »Flotte« 
Haibstiefelchen mit hohen Absatzen und eine schwarze Masche an der 
Schnalle, Asthetik auf Kosten der Hygiene, In einem Fach ihrer 
Diensttasche, dort, wo sonst Zehnkronenscheine zu liegen pflegen, la- 
gen - Taschenspiegel und ein kleiner Kamm. Und aus der rechten Ta- 
sche des Jackchens lugte neugierig der Zipfel einer Zuckerldiite her- 
vor. . . 

Die »flotte« Schaffnerin war keine Amtsperson. Eher ein Verkehrshin- 
dernis fur gewisse Naturen, Ihre holde Weiblichkeit wirkte besanfti- 
gend auf reisende Choleriker. Man empfand das Stehenbleiben eines 
Wagens weniger las tig und stieg nicht aus, selbst wenn man zur Piinkt- 
lichkeit neigte. Und wenn man aufsprang, so zog uns ihr ewig Weibli- 
ches helfend auf die Plattform der Seligkeit hinan. Sie war das einzig 
liebliche Produkt des Krieges. Sie versohnte mich sogar mit der 
Frauenemanzipation. Denn sie widerlegte die These von der Gleichbe- 
rechtigung der Geschlechter so nachdriicklich, wie es nur - eine Frau 
kann. Eine schone Frau allerdings. 

Am I.November werde ich vergeblich nach ihr suchen. Meine Stra- 
fienbahnfahrten werden nuchterne Alltagsgeschafte sein. Der Glanz 
einer stillen FestHchkeit ist dahin. Ich beantrage: Einstellung der Elek- 
trischen ab i . November. 

Josephus 
Der Neue Tag, 19. 10. 19 19 



PAPIER 



Eine Welt aus Papier ist erstanden. Eine Welt aus Personal- und Kul- 
turdokumenten, deren Gebiet sich von der Musterungskund- bis zur 
Abreisend-Machung erstreckt und samtliche Vergewaltigungsarten der 
Sprache und Menschlichkeit umfafit. Mobilisierungsordre aus dem 
Jahre 1914 und Friedensvertrag aus dem Jahre 1919: Vorder- und 
Riickseite eines und desselben Blattes Papier, auf dem die vierzehn 
Punkte der Gerechtigkeit zwischen den vierzehntausend Rufzeichen 
hinter dem Hurrageschrei der Sturmangriffe unbemerkt verlorengin- 
gen. Papier, Papier! Ein Papier ist die Voraussetzung deiner Geburt, 
eine Daseinsbewilligung berechtigt dich zur sogenannten »Existenz«, 
und ein Zeitungsblatt ist die aufierste Grenze deines Horizonts. Deine 
Weltanschauung ist eine Broschiire. Aus vierundvierzig Millionen 
Sparmafinahmen bestehen die Wande deines Wohngemachs. Sie haben 
keine Ohren fiir deinen Jammer. Und selbst das Hungertuch, an dem 
du nagst, ist Papierstoff. Papier, Papier, Papier! Eine Welt aus Hadern, 
Strazzen, Stoff- und Gesinnungslumpen . . . 

Seit Jahrtausenden siegt eine armselige Papyrusstaude fast ohne Unter- 
brechung iiber alle Elemente. Sie besiegte Marmor, Stein, Erz, Eisen, 
Wachs. Aber noch war ihr Siegeslauf nicht voUendet. Die Menschheit 
vertraute ihr vieles an: Gesetze, Kriegsordnungen, Geheimnisse, Ge- 
fiihle. Das Teuerste behieh sie ihr noch vor: das Gold. Erst im acht- 
zehnten Jahrhundert begann das Papier, Gold zu ersetzen. Das war der 
Augenblick, da die Menschheit sich bedingungslos dem Papier unter- 
warf. 

Heute triumphiert es. Heute ist der Hohepunkt seiner Macht erreicht. 
Hoch iiber den Ruinen Europas knattert im Wind eine papierene 
Fahne: der Leitartikel. Auf ihrem letzten Pleitegang noch wird die 2i- 
vilisation von ihrer papierenen Gefahrtin, der Phrase, begleitet. Der 
Wohlstand stirbt, und noch in seiner letzten Stunde lafit er sich iiber 
seinen eigenen Tod tauschen - von der Banknote . . . 
Diese, eine Erfindung des Teufels (Faust, II.Teil), ist die eigentliche 
Reprasentantin der AUmacht des Papiers. Schleichend und hinterlistig 
gewann sie unser Vertrauen. Glatt und schmiegsam liefi sie sich zusam- 
menfalten, in die Tasche stecken, in den Umschlag. Sie erleichterte Be- 
stechung und Seelenhandel. Nur noch ihr Knistern erinnerte an ihre 



l6o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

teuflische Abstammung. Wir liefien uns verleiten, sie fiir Geld herzu- 
geben, und tauschten uns. Sie ward starker als das Gold. Sie vermehrte 
sich mit unheimlicher Geschwindigkeit. Und heute reifit sie uns mit in 
den valutalosen Abgrund des Verderbens . . . 

Papier, Papier! Wir haben keine Miinze, wir sind ihm verfallen! Wir 
stellen neues Papier her, als konnte es uns helfen! Der Halm, an den 
wir uns klammern, ist nicht aus Stroh mehr. Er ist aus Papier. Wir 
machen Gesetze, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, wir machen 
Verordnungen, Kundmachungen, Erlasse, Vertrage - und alles ist Pa- 
pier, Gerade seine Machtlosigkeit - der Fetzen Papier - hat uns unter- 
jocht. Das ist die Rache. Die Gesetzestafeln aus Stein mufiten zerschel- 
len an der Widerspenstigkeit unserer Schadel. Wir schrieben Gesetze 
auf Papyros, Die Treue wurde ein leerer Wahn, da wir sie in eine Quit- 
tung verwandelten. Liebe und Freundschaft verbannten wir in die pa- 
pierenen Seiten des Romans, die Weisheit vergilbte auf den Blattern 
philosophischer Bande. Wir liefertern uns resdos dem Papier aus. Was 
Wunder, dafi es uns verschlang? . . . 

Heute siehst du keine Mauern mehr. Die Hauser haben ihre Leiber 
verhiillt mit Plakaten aus Papier. Das ist der Trick des Papiers, um dir 
dein Papier herauszulocken. Papier gibst du fiir Papier. Drei kleine 
viereckige Papierschnitzel in der Elektrischen. Dafiir bekommst du 
einen Fahrschein aus Papier. Viele, viele, viele Papierschnitzel im La- 
den. Da hast du einen Winterrock aus Papier. Ewig, ewig ist der Kreis- 
lauf des Papiers. Ein papierener circulus vitiosus, in dem du dich mit- 
drehst, ratios, ohnmachtig, selbst ein Fetzen Papier, nicht Fleisch und 
Blut mehr, sondern eine Legitimation, ein Pafi, ein Meldezettel . . . 
Wie? Tauschte ich mich nicht? Sprach mir nicht jemand von Papier- 
not? Vermifit wird in dem grofien Geraschel ein eigenes Knistern. Es 
mangelt an einer besonderen Spezies von Papier, dessen Existenz eine 
hygienische Notwendigkeit ist. Das einzige Papier, gegen das nichts 
einzuwenden ware. Kann man nicht Verordnungen umstampfen? Ach! 
Sie konnen jene Papiersorte nicht ersetzen! Als Ersatz gilt hochstens 
die Banknote. Aber auch nur im Ausland... Oh! welche Verwir- 
rung! . . . 

Der Neue Tag, 19. 10. 1919 



TYPEN AUS DEM GLASHAUS 

Der Komiker 

Der Komiker ist, wie schon seine Bezeichnung sagt: komisch. Das ist 
sozusagen seine Tragik: Er mufl immer komisch sein. Dafiir wird er 
bezahlt. Und gut bezahlt. Er ist diinn oder dick, iiberlang oder ellen- 
kurz, aber immer unwiderstehlich und zum Lachen herausfordernd. 
Er fiihlt sich verpflichtet, stets Witze zu machen und den Regisseur bei 
den Proben zu argern, was ihm natiirlich den Beifall aller Kollegen 
eintragt, Diesen gegeniiber ist er stets gefallig, weshalb er auch Jedem 
von ihnen gefallt, er ist ein »Guter-Kerl«-Typus, den man zuweilen 
auslacht, weil er einfach dazu da ist, mit dem man Schabernack treibt 
und dem man einen faulen Witz nicht libel nimmt, weil er fiir iible 
Witze nie zu faul ist. Er ist ein Adabeimensch, ausgelassen und iiber- 
miitig und iiber heikle Situationen unbekiimmert hinwegsehend. Er ist 
korperlich gewandt, iibt sich friih im Hinausgeschmissenwerden und 
Treppenhinunterkollern, wozu ihm sein Auf^eres haufig Gelegenheit 
bietet. Das Lacherlichste, das ihm passieren kann, ist eine Heirat. Und 
gerade das soil haufig vorkommen. Er ist der einzige, den die Diva 
manchmal erhort, nachdem sie ihn angehort hat, und dem sie manch- 
mal angehort, ohne ihn erhort zu haben . . . 



Der Operateur 

Sein auEerer Habitus ist nebensachlich, weshalb dariiber nichts zu sa- 
gen ist. Wertvoller ist sein inneres Ich. Im Gegensatz zum Regisseur ist 
er die Personifikation der Ruhe und der Bedachtigkeit. Pedant vom 
Scheitel bis zur kleinen Zehe, laEt er manchmal zehnmal hintereinan- 
der proben, um seine Aufnahme ja recht deutlich herauszubringen. 
Dariiber werden Regisseur und Darsteller oft ungehalten, was ihnen 
aber wenig hilft, denn der Operateur ist nun einmal, wie gesagt, nicht 
aus seinem Hausel zu bringen, weil er die ganze Zeit iiber nur in sei- 
nem Hausel zu tun hat. Wenn er dem Regisseur einen Schabernack 
antun will, behauptet er steif und fest, dieses oder jenes Detail ware 
ihm entgangen, und die ganze Geschichte mul^ von vorn wieder ange- 
hen. Im iibrigen gehort er eigentUch mehr zum unbeweglichen Mobi- 



l6l DAS JOURNALISTISCHE WERK 

liar eines Filmunternehmens und ist nicht mehr als ein, allerdlngs sehr 
wichtiger, Bestandteil seines Apparates. Apparat und Operateur geho- 
ren zusammen wie Zehe und Hiihnerauge oder Ro8 und Reiter. Sein 
Privatleben interessiert weniger. Durch seinen Verkehr mit Schau- 
spielerinnen fiihlt er sich allerdings haufig bewogen, Seitenspriinge zu 
unternehmen. Hat er bei solchen Gelegenheiten Geld verloren, so ver- 
wendet er seine Erlebnisse dazu, einem Filmautor einen »Tip« zu ge- 
ben, was er sonst nur mit jungen Kinoelevinnen zu tun pflegt . . . 



DerAutor 

Der Amor ist derjenige, der ein Filmdrama verfafit hat. Das ist leicht. 
Schwierig ist, eines zu stehlen. Doch auch das letztere treffen manch- 
mal Filmautoren. Er versteht von der Kinotechnik nur das Notwen- 
digste und ist lange nicht so versiert wie der Regisseur. Er hat nur den 
Verstand, der zur Abfassung eines Films gehort, und das ist nicht viel. 
Daher kommt es auch, dafi der Autor bei den Proben dasitzt wie ein 
Tanzbar auf einem Maskenball. Es passiert ihm, dafi der Regisseur sein 
ganzes Stuck umkrempelt, und haufig fragt der Autor bei den Proben 
seines eigenen Stiickes den Regisseur, wer denn dieses herrliche Drama 
verfafit habe. Denn der Autor kennt sich selbst und traut sich deshalb 
nicht ubermafiige Fahigkeiten auf dem Gebiete der Kinodramatik zu. 
Seine Fahigkeiten beweist er viel mehr auf anderen Gebieten, wo er 
sogar den Regisseur besiegt, weil der letztere sich in seinem Fache eben 
zu sehr - verausgabt, der Dramatiker zum Gliick so etwas niemals in 
seinen Filmdramen tut . , . 

Die Filmwelt, 24. lo. 19 19 



DER KLEINE SACHER 



Vor einem Jahre noch zog ihn ein Karren durch die Strafien. Heute 
schleppt er einen Wagen. Ehemals hatte er iiberhaupt keinen Namen. 
Keine Firma, - Er war zwar kein Niemand. Aber ein Irgendwer. Ein 
Wiirstelverkaufer. Ein Gattungsexemplar. Heute hat er sogar einen Ti- 



19 19 1^3 

tel. Mehr: eine Schutzmarke. Noch mehr: Popularitat. Er iibersprang 
jene Stufe auf der Leiter eines Wiirstelverkauferlebens, auf der man 
seinen Namen auf ein Schild malt. Aus einem Wiirstelverkaufer wurde 
er - aus Hochachtung mochte ich sagen: ward er, also ward er ein 
Sacher. Ein kleiner zwar, aber ein Sacher. Das nenn' ich Karriere. 
Ein Sacher hat es nicht notwendig, durch die Strafien Wiirstel spazie- 
renzufiihren. Den Leuten nachzulaufen. Zu einem Sacher mlissen die 
Leute selbst kommen. Deshalb schleppt er seinen Wagen blol5 einmal 
taglich zu seinem »Stand«. 

In der Praterstrafie. Da sieht es aus wie bei einer altUchen Chansonsan- 
gerin aus einem Variete zweiter Giite. So ein bifichen puderbestaubte, 
bilUge Romantik. Uberschminkte - Vorvergangenheit. Erlebnisse, die 
weit zuriickreichen. Ein Alter, in dem man's »bilUger gibt«. Ein vor 
zehn Jahren lebendig gewesenes, seit zehn Jahren steril gewordenes 
Lacheln um den Mund, das im Begriff ist, aus einer Maske eine Fratze 
zu werden. 

Tagsiiber ist die PraterstraEe eine sogenannte »Verkehrsader«. Last- 
fuhrwerke stampfen roh und ungelenk iiber ihren Boden wie Mobel- 
packer. Autorader stolpern iiber seine Unebenheiten, und Pneumatiks 
platzen mit scharfem Knall vor. Wut iiber die spitzen Steine. Fiir den 
Tag hat sich namlich die Praterstrafie den Nordbahnhof sozusagen als 
Nebenbeschaftigung genommen. Am Abend ist die Praterstrafie zwar 
nicht gewaschen, aber geschminkt. Ihre Besucher sind: Madchen fiir 
alles, die »Ausgang« haben, in Hiiten vom vorletzten Herbst; kleine 
Kommis mit fabelhaft schillernden Selbstbindern und hartem Hut auf 
dem linken Ohrwaschel; Gymnasiasten, die Geburtstag feiern und 
ausziehn, die Liebe zu lernen; kleine, ganz kleine Kettenhandler, Kate- 
gorie: »Rucksack«; Pikkolos, die angeblich zum Zahnarzt mufSten und 
einen halben freien Tag haben. Und iiberhaupt alles, was dereinst Ha- 
ken werden will und sich beizeiten in der nachtlichen Praterstrafie 
kriimmt. 

Hier hat der kleine Sacher seinen Stand. Wo denn sonst? Wenn ich 
nicht wiifSte, wo er herkommt, ich wurde glauben, der kleine Sacher sei 
eine patentierte Erfindung der Praterstrafie. 

Der kleine Sacher besteht aus drei Hauptteilen: Da ist zuerst ein Wa- 
gen, dann eine Frau, dann er selbst. Der Wagen hat die Hohe eines 



164 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wachterhauschens und steht auf einem Radergestell. Man sieht es dem 
Wagen an, dafi er sich aus einem Karren emporentwickelt hat. Im An- 
fang waren die Rader. Jetzt sind sie immer noch da. 
Die Frau ist groE, stark, blondhaarig, blauaugig. Eine etwas billige 
Germaniakopie. Ein viereckiger Ausschnitt in der Wagenwand - das 
Fenster- fafit ihre Blondheit ein. Sie nimmt die Bestellungen der ange- 
stellten Kundschaft entgegen und erteilt ihrem Mann Auftrage. 
Der kleine Sacher selbst schielt. Das ist wichtig. Andere Wurstzeug- 
handler schauen gradeaus und gehen dabei zugrunde. Oder bleiben 
bestenfalls Karrenzugtiere. Der kleine Sacher aber vermochte sich alle 
Vorteile zu erschielen. 

Ich hatte die ganze Geschichte nicht erzahlt, wenn nicht folgendes pas- 
siert ware: 

Zwischen jugendlichen Schieberaspiranten stand ein Madchen vor der 
Bude und bifi in eine saure Gurke. Sie kostete zwei Kronen. Als sie 
bezahlen sollte, ergaben sich Komplikationen. Sie kramte in ihrem 
Taschchen. Etwas lange. Es war nur ein Fragment eines Einkronen- 
scheines darin, miihsam zusammengepickt. Und achtundneunzig Hel- 
ler in Barem. 

Ich sah nicht recht, aber ich glaube, es schimmerte eine Trane in ihrer 
Stimme, als sie sagte: »Zwei Heller gebe ich Ihnen morgen.« 
Worauf der kleine Sacher zwei grofie, prachtvolle saure Gurkenexem- 
plare in die »Kronenzeitung« steckte und sie dem Madchen gab. »Sie 
zahlen mir morgen!« sagte er. 
Nichts weiter. 
Das Madchen ging. 

Und ich wufite: Der kleine Sacher schielt sozusagen mit dem Her- 
zen... 

»Der kleine Sacher«. Das klingt originell und bescheiden. Anspruchs- 
voll und zuriickhaltend! Nicht - Gott behiite! - der grofSe Sacher! 
Aber ich, der kleine Sacher, ware wohl der Gro&e geworden, wenn 
jener eben mir nicht zuvorgekommen ware. Und wenn ich nicht - 
schielen wiirde. So bin ich zwar ein Sacher geworden. Aber ein kleiner 
gebheben. 

Josephus 
Der Neue Tag, 26. 10. 1919 



SCHONBRUNN 

Die Besichtigung der Gemdcher freigegeben 

Ein Schlofihauptmann und ein Zeremoniendirektorstellveitreter und 

ein Diener mit einer altosterreichischen Amtskappe und ebensolchem, 

d.h. bohmischem Dialekt sind geblieben. Das sind die Reste des Mar- 

chens von Schonbrunn. 

Die Baume frostelt's im na{^kalten Herbstregen. Sie stehen da wie 

Menschen, die man im Regen zuriicklafit und warten heifit und die sich 

nicht wegriihren konnen und patschnaE werden miissen. 

Die Zimmer, Kabinette, die Vorzimmer, die Stiegen heiEen noch so, 

wie man's von Zimmern und Stiegen aus Marchenbiichern erwartet. 

Die »Trabantenstube«, das »chinesische Rundkabinett«, das »Vieux- 

lac-Zimmer«, das »Millionen2immer«. Und das Imperfektum in den 

Erklarungen des Dieners und des Schlofihauptmanns : hier pflegte . . . 

hier stand . . . hier starb . . . doit wurde . . . Wie seltsam glimmert das 

Wunder durch die Kruste von Staub und Geschichte! . . . 

Eine Stiege. Steinfliesen, blauer Plafond. Breit, herrisch. Man schamt 

sich vor dieser Stiege, wie man so dasteht in einem biirgedichen Win- 

terrock, mit aufgekrempeher und kotbespritzter Hose. Es ist die - oh, 

wie wunderbar! -, die »blaue Stiege«. "Wohin anders kann sie fiihren als 

in die »Trabantenstube«? 

Da ist eine braune zierHche Fu£bodentafelung. Ein falbes Braun, wie 

das der Lindenblatter im Spatherbst. Soil man darauf treten? Auf die 

Diele eines echten »Nufibaum2immers«? 

In einem grofien, kahlen Zimmer steht ein Schreibtisch am Fenster, ein 

alter, sehr kleinburgerlicher Toilettespiegel driickt sich schiichtern in 

einen Winkel. Und in der anderen Ecke steht das Bett, das eiserne Bett. 

Puritanisches Eisen. Hier starb ein alter Kaiser. Deshalb heif^t es das 

»Sterbezimmer«. 

Kaiser Karl hat die angrenzenden Appartements neu herrichten lassen. 

Die Kaiserin Zita sollte dort wohnen. Die Geschichte, die zu machen 

sie sich einbildeten, ist ihnen zuvorgekommen. Kaiserin Zita hat nie 

dort gewohnt. 

Hat nie gewohnt in diesem grofien Rosar-Zimmer. 

Ein groEes Gemalde, die alte Habsburg im Aargau, hangt an der 

Wand. Bilder des Malers Rosar. Sie sind geschmeichelte Landschafts- 



l66 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

poitrats. Als hatte der Maler der gnadigen Frau Natur beim Portratie- 
ren zugerufen: Bitte recht freundlich! Und die Natur hatte gelachelt . . . 
Was ist das? Ein Kabinett wie em Tempelchen aus dem Osten. So 
rund, so zierlich, so wunderbar wie ein Kapitelchen aus der Geschichte 
von Li-Hu-Tsang und Tai-Pe-To. Pastellbildchen an den Wanden, wie 
hingehaucht von einem fernen, wunderbaren Ostwind, der Teebliiten 
im Haar tragt und kleine silberne Glockchen um die Schultern. Das 
»chinesische Rundkabinett«. 

Dort rieche ich den Moder der Jahrhunderte. Ein paar Kapitel Weltge- 
schichte liegen aufgeschichtet auf dem Bett, auf dem Napoleon schlief 
und der Herzog von Reichstadt starb. Der Diener, ein Interpret der 
Ereignisse mit bohmischer Farbung, weifi genau das Datum. 
Wifit ihr, wie chinesisches Rosenholz ist? Schiichterne Rote kleiner 
Madchenbriiste. Es ist eine Farbe, die Duft hat. Dazwischen indische 
Zeichnungen, wie mit einer Nadel, die man in Farbe getaucht, ausge- 
fiihrt. Und die Zeichnungen kommen aus Konstantinopel, der Stadt 
am Goldenen Horn, dorther, wo das Horn am goldensten ist. Uber 
eine MiUion hat die Kaiserin Maria Theresia dafiir ausgegeben, fiir die- 
ses seltsam-fremde »MilHonenzimmer«. 

Ein Besen lehnt in einer Ecke und ein »Bartwisch«. Sie reprasentieren 
die Gegenwart. Sie spielen ReaUtat. »Weifit du«, sagt der »Bartwisch« 
zum Besen, »oben, im zweiten Stock, werden hundertsieben Proleta- 
rierkinder amerikanisch gespeist!« 

»So, so, amerikanisch !« meint der Besen und schielt in das chinesische 
Rundkabinett . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 4, 11. 19 19 



»FRIWARD« 



Das ist nicht etwa die Uberschrift eines Kapitels aus der »Edda«. Auch 
nicht der Name eines Gottes aus der germanischen Mythologie. 
»Friward« heifit eine Ballettpantomime, die, von Pseudonymen gelei- 
tet und gespielt, ach so gern franzosisch sein mochte und es im Franzo- 
sischen nur bis zum Fraulein Adrienne Lachamp gebracht hat, von 



19 19 1^7 

dem iibrigens ebenfalls nicht feststeht, ob sie aus der Champagne oder 

der Vendome stammt, oder auch nur eln Pseudonym ist. 

Der grofie Saal des Militarkasinos hat eine Draperie aus Stimmung und 

rotem Tuch vor seine Estrade gehangt. Ein dumpfer Gongschlag ver- 

ursacht ein plotzHches Verloschen der Lichter. Wie bei den Boxern im 

»Apollo«. Aus irgendeiner dunklen Ecke schleicht hinterlistig ein ro- 

ter, ein griiner, ein violetter, ein rosafarbener, ein himmelblauer Re- 

flektor hervor und stiirzt sich auf die Draperie. Diese klafft auseinan- 

der. Von Puder, Schminke und Reflektor mit alien Regenbogenfarben 

iiberflutet, erscheint ein frauenzimmerhches Pseudonym, dessen 

Nacktheit iibertroffen wird von einem fleischfarbenen Trikot. Darauf 

machen die Operngucker: Ah! . . . 

Die Musik spielt eine Melodie von Desider Losonczy. (Auch ein Fran- 

zose.) Das pseudonyme Trikot macht Gelenksiibungen zur Taktlosig- 

keit der Musik. Adrienne Lachamp »wartet« laut Programm »auf den 

Geliebten. Endlich kommt er, doch lafit ihn das erziirnte Madchen 

allein zuriick«. Das ist nicht sehr nett von ihr. Aber auf der Biihne darf 

sich dies Fraulein Lachamp immerhin noch erlauben. 

Fraulein Elly Gyl (das klingt schon mehr nordisch a la »Friward«) 

spielt »Kinderstube«. Sie ist nett, kann aber nichts fiir die Sinnlosigkeit 

dieser »Groteskszene«. Wenn sie nicht so hiibsche Beine hatte, konnte 

man beinahe nicht vergessen, wie schlecht sie tanzt. 

Nur einmal ist Pause. Zwecks Steigerung des Appetits. Ein junger 

Mann erscheint auf der Biihne und verkiindet, daE das Biifett »links« 

sei. 

Das »Biifett« besteht aus zwolf belegten Brotchen a zehn Kronen. 

Wenn man in auslandischer Valuta zahlt, schrumpft das ganze Biifett 

zu einem Brotchen zusammen. Ein Griff, ein Biifett. 

Ein Gongschlag ermordet die Pause. Im Saal sind inzwischen alle gu- 

ten Platze besetzt. Man riickt, ohne Riicksicht auf Preislage der Platze 

und bezahlte Karten, automatisch vor. 

Dann massakriert die Musik einen Grieg, und der »Friward« veranstal- 

tet einen Pogrom auf die Zuschauer. 

Uber diese mu£ noch ein Weniges gesprochen werden. Ein fremdlan- 
discher Offizier irrt hilfesuchend zwischen Valutaschiebern von dieser 
und Damen von der halben Welt herum. Man hort sehr viel ItaUenisch 
oder Kauderwelsch. Jedenfalls eine Sprache, die ein Polizeispitzel bes- 



l68 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ser verstehen diirfte als jener italienlsche Offizier, der gerade einen 

Busen aus Puder und Schminke bewundert. Im iibrigen wird Rind- 

fleisch in hohen Preislagen (auslandisch) angeboten. Es ist ein intimer 

Zirkel, Menschen, die einander kennen. Vom C-Befund angefangen 

bis zur letzten Hasardpartie, aus der man durch die Klosettkloake ge- 

fliichtet ist. 

Das schiebt Brotchen und fremde Valuten ins Maul, Das kichert und 

guckt und klatscht. 

Und alles zusammen nennt sich merkwiirdigerweise: »Friward«. 

Josephus 
Der Neue Tag, 7. 11. 1919 



PROLETARISIERUNG DER HAUSER 



Ich kenne eine alte kleine Gasse in der Inneren Stadt. Sie ist nicht son- 
derlich rein. In der Ecke lagert sogar ein Misthaufen. Die Hauser sind 
alt, solide und bescheiden, zwelstockig, aber nicht hochmiitig, wie 
Menschen aus guter biirgerlicher Famihe. Nur ein Haus ist just in der 
Mitte, das stolzer, adeliger als die anderen aus der schnurgeraden Hau- 
serlinie etwas bauchig hervortritt, als ziemte ihm nicht, ganz in dersel- 
ben Reihe mit den anderen zu stehen. Es ist irgendein Amtsgebaude 
mit Sockeln und Sockelchen, pausbackigen Engeln unter dem Dach- 
first und einem machtigen, doppelflugeligen braunen Haustor, das 
weit offensteht, urn seinen Portier, einen Menschen aus Bauch, Gold- 
tressen und blondem Schnurrbart, zu zeigen. Dieses Haus prasentiert 
nicht aufdringlich, sondern vornehm zuriickhaltend eine Visitenkarte 
aus Marmor mit schwarzen Buchstaben, die besagen, dafi das Haus aus 
dem Jahre 1700 stammt. Wenn es dunkelt, riicken die anderen Hauser 
alle ein bifichen zusammen; nur das eine stolze, schone Haus bleibt 
weifi, stark und leuchtend allein. Es fiirchtet sich nicht vor dem 
Abend. Es ziindet seine machtige alte Laterne vor dem Eingang an und 
wird nur noch stolzer und starker. Seine Kanten werfen schwere 
Schatten, und ich ermesse daran, wie dick seine Mauern sind. Die Fen- 
ster sind tief eingebaut, zwei Menschen konnten gemiitUch in jeder 
Fensternische sitzen. Der Schatten eines Pausback-Engels zeichnet 



19 19 1^9 

sich am Dachfirst ab, und ich sehe, wie grofi er ist. Auf dem Gesicht 
dieses Engels konnte man ein Gartenbeet aufschiitten. Vierzehn Tage 
lang muiS ein Mann an einem solchen Engel gearbeitet haben. 
Ich liebe dieses Haus um seiner Schonheit willen und die Gasse dieses 
Hauses wegen, und ich ware unendhch traurig, wenn eines Tages an 
einen Umbau gegangen wiirde und die Schadelplatte eines Engels zer- 
triimmert am Boden lage. 

Diese jungen Hauser sind alle Schwindelbauten. Der Herr Baumeister 
hat in drei Tagen seinen Plan fertig, und vierhundert Arbeiter sind mit 
der Errichtung des neuen Hauses beschaftigt. In vierzehn Tagen kann 
man einziehen. Ein halbwegs ehrgeiziger Windstofi konnte dieses Ge- 
bilde aus zentimeterdiinnen Wanden umblasen wie ein Kartenhaus. Es 
ist aus Papiermache. Ein paar armseUge Blumenornamente unter dem 
First, auf denen nicht einmal ein Spatz ordentUch stehen kann, sollen 
eine Physiognomic vortauschen. In WirkUchkeit haben diese Hauser 
alle dasselbe Gesicht. Keine Physiognomien, nur Nummern. Die Na- 
men der Strafien sind ohne innere Berechtigung, man konnte sie mit- 
einander verwechseln, wenn sie nicht verschiedene Straf^enbahnwagen 
durchfahren wiirden. Kein Haus tritt vor, keines zuriick, sondern alle 
stehen schnurgerade ausgerichtet in einer Reihe. Es ist der MiHtans- 
mus der Hauser. Jahre-, jahrzehntelang wohnen wir in diesen Phanto- 
men von Hausern. Sie sind keine Wohnhauser, nur Schutzhiitten vor 
den Stiirmen des Tages, in denen wir nachtigen, essen und trinken, 
aber nicht wohnen. 

»Wohnen«, »Hauser«, »Wande«, »Stuben« sind neue Begriffe gewor- 
den. Der Arme wohnt in einem Zimmer, der Wohlhabende in fiinf, der 
Reiche in zehn. Aber alle Zimmer sind aus Papiermache. Dennoch 
konnte man Kleinigkeiten, Zierrate anbringen, Teppiche, Bilder, wenn 
man Geld hatte. Bis die allgemeine MiHtarisierung und Mechanisie- 
rung des Lebens den Krieg brachte. 

Als ich aus dem Felde heimkehrte, bemerkte ich schon im Hausflur 
eine peinHche Anderung. Die zwei Stangen aus Messing entlang der 
Stiege waren durch hoizerne, wurmstichige Stocke ersetzt. Ich weil^ 
nicht, hatte man jene »abgeHefert« oder gestohlen, sie waren nicht da. 
Die Proletarisierung der Hauser hatte begonnen. 
Alle, alle Hauser sind schabig geworden. Sie tragen gewendete Anziige 



I/O DAS JOURNALISTISCHE WERK 

und zerbeulte, vom Wetter hergenommene Hiite. Ihre Schornsteine 
sind rissig, gelb und grau, der Rauch dringt aus Ritzen und Spalten. 
Die Fensterscheiben sind mit braunen Papierstreifen beklebt und aus 
billigem griinlichem Glas mit hafilichen Blasen und Warzen. Hier und 
doit wird die Tiire eines Hauses neu angestrichen. Das tauscht nicht 
iiber die Armut hinweg. Die Hauser lassen sich nur ihre alten Anziige 
sozusagen chemisch putzen. 

An den arm gewordenen Hausern werden Wohnungskommissionen 
Pfandungen vornehmen. Und die reichen, alten und stolzen Hauser 
werden mit Gewalt arm gemacht. Auch mein Haus in der stillen, alten 
Gasse. Eines Tages werde ich hinkommen, und das Tor wird zu sein, 
und ein Volkswehrmann wird davorstehen. Den Portier aus Bauch, 
Goldtressen und Schnurrbart wird man mit den Kunstschatzen nach 
dem Ausland verkauft haben. Hinter eisernen Gittern mit blafigolde- 
nen Spitzen werden Windeln hangen und Nachtgeschirre trocknen. 
Das Gegenteil von dem geschieht, was die Gegenwart erstrebt: Keine 
Proletarierbehausung wird wiirdige Wohnstatte, sondern umgekehrt - 
alle, alle Hauser sind proletarisiert. 

Schlimmer aber ist die Fahigkeit der Menschen, in Buden zu wohnen. 
Der Krieg hat die Baracken gebracht und die Erdhohlen. Mit ihnen 
hatte die Zivilisation ihren Hohepunkt erreicht: die Barbarei. 
Gestern war ich am Nordbahnhof. Es war eine stille Nachmittags- 
stunde. Der Bahnhof ruhte aus. Es schneite, und die rostigen Schienen- 
strange driickten sich enge zusammen vor Kalte. Vor einem plombier- 
ten Wagen stand ein Volkswehrmann; die Hande in den Taschen, das 
Gewehr baumelte auf der rechten Schulter. Es war ein entmilitarisier- 
ter Wachtposten. In einem Tiimpel zwischen zwei Schienen plat- 
scherte eine schmutzige Ente. Sie gehorte einem jener Eisenbahner, die 
driiben in den Baracken wohnen. 

Wie diese Baracken sich briisten. Wie sie Hauser sein woUen! Sie sehen 
aus wie kleine Moritze, die Erwachsene spielen. Diese Waggons, die 
ihre Herkunft verleugnen, die sich einbilden, Wohnstuben zu sein, 
weil die Zwischenwande ausgehoben wurden und die Menschen ver- 
faulte Matratzen in ihnen liegen haben. Und sind doch nur elende 
Waggons altester Marke, die nicht mehr fahren konnen, weil man ih- 
nen die Rader amputiert hat! 
Das ist die vorletzte Etappe auf dem Wege zur Proletarisierung der 



19 19 171 

Hauser. Ziegel um Ziegel, Stein um Stein werden wir verpfanden, ver- 
kaufen, ins Versatzamt tragen. Und werden uns eingraben in Erdhoh- 
len. Und jene stolzen, grofien, alten Hauser, in denen man Schiitzen- 
grabensysteme erfand und zeichnete, werden langst nicht mehr sein. 
Sondern eine Welt aus Schiitzengraben. Unerbittlicher Kreislauf des 
Geschehens: Von der Erdhohle zur Kultur, verflacht durch Zivilisa- 
tion, zum Militarismus der Technik. Von da durch Krieg Sozialisie- 
rung, Proletarisierung bis zur Erdhohle - nur ein Schritt. 

Der Neue Tag, 8. ii. 1919 



DAS JAHR DER ERNEUERUNG 



Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen 
der Geschichte: Mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener 
Strafientafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erken- 
nungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus woUte 
sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarz- 
gelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er hehielty ein 
rotweilJes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der De- 
mobilisierung sein: De 5efundis. Der Fortschritt setzte sich in die 
Automobile der Generalstabler und in die Equipagen des Hofes. 
Autos und Equipagen entfiihrten den Fortschritt. Das weibliche Ge- 
schlecht riickte aus der Kategorie der »Hilfskraft« in die Region der 
Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch 
und Stimmenabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung 
seine pohtische Uberzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der 
Mann. Der »Umsturz« hatte sich so voUzogen, als ob er durch einen 
Erlafi des Chefs fiir Ersatzwesen fiirsorglich vorgeregelt worden ware. 
Es stiirzte eigentlich gar nichts: Der Thron verfiel wie eine morsche 
Sitzbank in einem vernachlassigten Park; die Monarchic loste sich auf 
wie ein Zuckerwlirfel im Wasserglase. Als kein Kaiser da war, ent- 
deckte man die Repubhk. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde 
man revolutionar. 

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte 
ging lange schon schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtres- 



172 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen 
und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im 
Augiasstall des »Hofes« aufgehauft hatte. Die Revolution mujite gebo- 
ren werden. Aber da stolperte die Geschichte iiber die Drahthinder- 
nisse des Weltkrieges. Durch die Erschiitterung geschah die Frlihge- 
burt der Revolution, 

Diese, ein friihgeborenes Kind, mufi in Warmestuben und Kliniken 
miihselig aufgepappelt werden. Sie ist keine kraftvoUe Erscheinung. 
Denn wir, wir, das erbarmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes 
Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, 
engbriistig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das ware 
noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine 
Arzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, 
sie ist ein gutes osterreichisches Kind und »wurschtelt sich fort«. 

Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht Ihr Erneuerung? Ist das 
Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg 
zum Staatsamt fiir Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretar 
heifit? Wenn der Brieftrager nicht »Diener« mehr, sondern »Unterbe- 
amter« ist? Reifit ihm doch die KnechtseHgkeit aus seiner armen, ge- 
marterten Brust, und er mag heifSen, wie er will, er wird kein Diener 
sein\ Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretars Weitsichtigkeit 
und Vernunft und lafit ihn nur Minister heifien! Lafit ab vom oden 
Geschepper der militarischen Tschinellen, laf5t Beethoven spielen und 
verwendet Eure Janitscharenkapelle zu Tiirstehern in Kunsttempeln! 
Aber die Kesselpauke ist machtiger als der Fiedelbogen. Im Larm und 
Gepolter der Gosse, der Ihr dient, geht die Stimme der Kultur verlo- 
ren, der Ihr zu dienen vorgebt! 

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verlorengegangen? 
Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr 
beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr predigt 
Menschenrechte? 

Oh, der Streit um die AusUeferung von Kun und Levien, Fremdenraz- 
zien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten 
iiber Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schandU- 
cher als der der Leiber? Macht Ihr nicht geistige Gelenksiibungen im 
SoziaUsmus? Kopf nicken! Eins, zwei! Habt Ihr keine Angst vor dem 
Arbeiterrat? Steht Ihr nicht taglich beim Rapport vor der Partei? 



19 19 173 

Es ist keine Erneuerung, soiange nicht Einkehr ist! Wir miissen uns 
befreien vom Schwert des Militarismus, das iiber uns hangt. Die Waffe 
hat Gewait gewonnen iiber die Faust. Werfen wir sie wag, die Waffe. 
Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber die PoUzei ist noch da. 
Den Bosen sind wir los, die Bosen sind geblieben. Der Zweck heiligt 
nicht die Mittel! Die Mittel prosanieren den Zweck. 
So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Hochstens ein Jahr 
der Neuerungen. Gerngrofi hat seine weifie Woche. Der Kramladen 
der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitaten. 

Der Neue Tag, 12. 11. 1919 



HERBSTREVUE 



Wie arm dieser Herbst geworden ist! 

Reich und herrlich pflegte er einzuziehen, wie ein Kaiser. Der Sommer 
hielt einen Moment stille, stellte sich am StraEenrand auf und Uef^ die 
Symphonic von Gold und Purpur an sich voriiberrauschen. 
Der Herbst hatte Fiille und trachtige Pracht. Er schiittete Friichte in 
strotzende Marktkorbe. Apfel, braunrot von der Sonne des Siidens ge- 
kiifit, mit glanzender Glasur, als ob sie mit feinstem Flanell geputzt 
worden waren. Birnen, gelb, mit barter, glanzender Schale, aus deren 
Poren der Saft des Lebens sickerte. Und Trauben, schwer, von mysti- 
schem Dunkel, wie formgewordene bacchanahsche Wollust. Ihr Saft 
war Siinde. 

Auf der RingstrafSe, zwischen Parlament und Oper, lustwandelte Kai- 
ser Herbst an Oktobernachmittagen. Diese Nachmittage waren wie 
schwere venezianische Kelche; braun, mit Sonnengold bis zum Rande 
gefiillt. Manchmal fiel eine Kastanienfrucht mit gedampftem Laut in 
die goldene Fiille, wenn der Herbst mit seinem Zepter einen Zweig 
streifte. 

Er lief^ Notizen in den Zeitungen drucken: Seht! Ich bin gekommen! 
Ich eroffne die Saison! Er ziindete hunderttausend Bogenlampen in 
den Strafien an und schiittete Millionen Gliihbirnen aus seinen purpur- 
nen Armeln. Ein Trol^ von schweren, achzenden Kohlenfuhrwerken, 
mit grobhufigen, grof^en Gaulen bespannt, hielt vor jedem Haustor. 



174 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Herbst tat nackte, weiCe Frauenschultern in kostbare Pelze, Seal- 
skin und Blaufuchs, wie man Edelsteine in samtene Etuis schlagt. 
Die Fiaker standen vor den Konzertsalen und fragten: »Fahr* ma, Euer 
Gnaden?« Sie waren eingehiillt in Demut und Lakaientum und beug- 
ten ihre feisten Saufernacken unter das kaudinische Joch des Trinkgel- 
des. 
Kaiser Herbst ist entthront und arm und elend geworden. 

Wie ist er eingezogen? Der Sommer woUte nicht einen Schritt beiseite 

treten, sondern wuchtete schwer und trage bis zum letzten Moment 

auf dem gliihenden Asphalt. Er wich erst, als der feuchte Nebel durch 

die Ritzen der Pflastersteine drang und ein hartnackiger Proletarierre- 

gen schweiEig herabtropfte, Wenige, wenige Friichte sind gekommen. 

Die glasurnen Apfel und strotzenden Birnen und siindigen Trauben 

sind angstlich in knisterndes Seidenpapier gehiillt und frosteln hinter 

Fensterscheiben. Auf den Markten aber, von schmutzig-grauen Tafel- 

chen iiberwacht, ist schmutziges Obst bettlagerig, das an Tuberkulose 

stirbt und die Ruhr hat. 

Es gibt keine Nachmittage mehr, an denen die Luft sich anfiihlt wie 

warmes Gold. Es ist ein Ersatz aus Blech und Schwindel, und die Luft 

ist eine ganz gemeine Schiebung. 

Aus den welken Kastanienblattern warden die Zwanzighellerscheine 

der Gemeinde Wien hergestellt. 

Der arme Herbst hat vom Stadtrat das Verbot erhalten, Bogenlampen 

anzuziinden. Seine Gluhbirnen sind der Kunstkommission unter dem 

Vorsitz des Herrn Enderes verfallen. 

Die kostbaren Pelze hat er den Spekulanten verkauft. Rote Fleischhau- 

ergattinnen mit speckigen Rindsnacken tragen Blaufuchs. Es sieht aus, 

wie wenn auf rohen Holzklotzen plotzlich Edelweifi bliihte. 

Und die Abende sind erfiillt vom Gestank des Karbids. An einer Stra- 

fienecke wird Pferdewurst verkauft. Schieber und Dirnen sammeln 

sich wie dunkle Moskitos um die blauliche Stichflamme. Von der blau- 

roten Nasenspitze des Verkaufers platschern blinkende Tropfen in den 

Kessel. Seine schmierigen Hande wiihlen in Haufen von blauen Bank- 

noten wie Mause in einem Speckmagazin. 

Auf den Strafien schleichen vermummte Gestalten und suchen mit 

Blendlaternen das Pflaster ab. Sie suchen Zigarrenstummel und Dreck. 

Aus Pferdemist warden Agyptische verarbeitet. 



19 19 175 

Nur im kleinen Park, in der WoUzetle, der so hilflos dallegt zwischen 
wiehernden Fiakerkutschern und besoffenen Pferden wie ein junges 
Madchen in einem Soldatenlager, bliihen Rosen. Rote und wei£e Ro- 
sen. Verspatete Wunder. Bliihende Anachronismen, Sie bliihen flir die 
sterbenden Kinder in den Kliniken. 
Und auch kein Laub sehe ich fallen. 

Die Menschen steigen vielleicht des Nachts auf die Baume und pfliik- 
ken Blatter zum Heizen ... 

Der Neue Tag, 15. 11. 19 19 



WINTER 



Seit gestern spielt der Nordwind Fangball mit mitteleuropaischen 
Schneeflocken. Sie sind weifi, ganz kleine, winzige Kiigelchen, und ha- 
ben gar keinen Nahrwert. Sie bleiben sekundenlang auf gewendeten 
Winterrocken und papierenen Raglans liegen, und dann sehen sie aus 
wie Sternchen. Aber sie zerflieEen und dringen durch die Poren des 
diinnfaserigen Stoffes bis auf die Haut. Diese, das einzige noch nicht 
gewendete Kleidungsstiick, das die Menschen tragen, schaudert zu- 
sammen vor dem naf^kalten Grul^ des Winters. 

Der Himmel hat ein verdriefSliches Gesicht wie ein Fixbesoldeter. Sein 
Winterrock aus Wolken scheint auch nicht mehr echt zu sein. Viel- 
leicht gibt es jetzt Wolken aus Papiermache. Die Sonne halt sich 
strenge an die Vorschriften punkto: Lichtsparmafinahmen. Der Hebe 
Gott sitzt im Dunkeln. Man hat ihm wegen tJberschreitung den Gaso- 
meter abgesperrt. Er kann also die anstandigen Menschen nicht mehr 
von den - Reichen unterscheiden. 

Die Kachelofen in den Zimmern kommen sich vor wie nutzlose Reste 
aus vergangenen Kulturperioden. Sie stehen in der Ecke, hungernd 
nach Holz und Kohle. Sie machen sich klein, schrumpfen vor Beschei- 
denheit zusammen und haben das beschamende Gefuhl vergessener 
Regenschirme etwa. Durch die finsteren Locher der metallenen Tiiren 
grinst kalte Not. Auf den eisigen Herdplatten hockt der Winter und 
reibt sich vor Vergniigen die Frostbeulen. 
Alle Marchen hat das Ereignis verschlungen. GroEmutter ist vor Kalte 



1/6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

gestorben. Der Prinz kann nicht zu Schneewittchen gelangen, weil er 
keinen Pafi hat. Und Dornroschen will gar nicht erwachen. Sie hat sich 
auf das rechte Ohr gelegt und beschlossen, noch tausend Jahre zu 
schlafen. Die sieben Schwaben dienen in der tschechoslowakischen Le- 
gion. Und Riibezahl mufi seine Riiben in der Gemeinde Prag abliefern. 
Er hat keine Zeit zu Spektakeln, Das tapfere Schneiderlein totet nun- 
mehr nur Fliegen, um sie zu verspeisen. 

Aber das Schlimmste von allem: AUe guten Engel halten Winterschlaf. 
Sie werden nicht einmal am Weihnachtsfest erwachen. Wie Fleder- 
mause hangen sie in der goldenen Krone des heben Gottes. Und der 
liebe Gott warmt seine Fiifie an dem klein gewordenen Feuerchen der 
Holle. Es reicht gerade nur noch zur Not. 

Die Bosen konnen nicht mehr gebraten werden. Die Kohlenteufei der 
Holle machen Rateregierung und streiken. 
Deshalb leben die Kriegsgewinner noch . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 17. 11. 1919 



VERSCHNEITE WELT 



Seit gestern schneit es. 

Das ist kein Schnee von leichtem Oktobergebliit, wie ihn manchmal 
spottlustige Herbstwolken aus den Armein schiitten. Kein schwind- 
siichtiger Schnee, der, kaum auf dem Pflaster angekommen, in ein nas- 
ses Nichts zergeht wie eine Kriegsschaumtorte auf der Zungenspitze. 
Kein herbsthcher Schwindelschnee, der eigenthch nur ein weifiverklei- 
deter Regen ist. Seit gestern ist der ehrliche, charaktervolle Schnee da, 
der Schnee, aus dem die Zuckerkrone des lieben Gottes gemacht ist, 
der Schnee aus den Wintermarchen, der Schnee der Schneeballen und 
der Schneemanner. 

Stunden, die von den Turmuhren fallen, sinken bis iiber die eigenen 
Ohren in den weichen Flaum und lassen nichts mehr von sich horen. 
Die Hupentone der Automobile und die Trompetenstofie der Tram- 
wayschaffner woUen schreien und konnen nicht. Weifie, woUige Flok- 
ken legen sich ihnen um Brust und Hals und ersticken sie. Rader knir- 



19 19 177 

schen, und Fahrradklingeln sind eingehiillt in dampfendes Hermelin. 
AUe Gerausche der Stadt liegen eingewickelt in bauschigem Schnee wie 
kostbare Instrumente in Watte. 

Die Stadt wird vornehm wie cine Silberkonigin in blendendem Pelz. 
Ihre Pagen, die goldenen Glocken, schreiten in weifien Pelzpantoffel- 
chen durch die Luft. Weicher Schneestaubpuder macht die hafilichen 
Sorgenrunzeln in ihrem Gesicht unkenntlich. Die Konigin Stadt ruht. 
Wunderbar weifi sind ihre Glieder. 

Der Schnee schlaft dicht und fest auf den Drahten, auf den Kuppeln 
der Telegraphenstangen, auf Tiirmen, Erkern und Giebeln. Er hiillt 
diinne, frierende Zweige ein, wie man Kinder nach einem Bad einwik- 
kelt in weiches Flanell. Die Laternen haben wei£e, spitzige Narren- 
kappen und vor den Gesichtern diinne Schleier mit grofien weijSen 
Tupfen. Die goldenen Lichtkugeln der Autos und Straf^enbahnen wir- 
beln Kligelchen aus Quecksilber vor sich her, die wie Sonnenstaub- 
chen tanzein. Aire, miCgiinstige Besen sind heftig bemliht, den Kobold 
Schnee zur Ordnung zu rufen. Sie weisen ihn weg vom Trottoir: »Du, 
paE auf, hier darfst du dich nicht hinlegen! Aber der Schnee ist ganz 
ungezogen und setzt sich rittHngs auf die schneesiichtigen Besen und 
die eifrig gebeugten Riicken der Herren Hausmeister. So ist der 
Schnee. 

Die Wolken lagern dicht iiber den Dachern, um den Schnee leichter 
aus ihren weiten Manteltaschen schiitten zu konnen. Leichte, dunstige 
Nebelzungen lecken an den Stirnen der Hauser. Die Menschen hasten 
durch die Gassen, sie sind gebiickt, denn sie tragen Lasten von weii^en 
Wundern auf den Schultern nach Hause. 

Der Schnee verschiittet Grenzen und verwischt Verschiedenheiten. Er 
fallt in Paris, in Wien, in London und in New York. Er hat keinen 
Respekt vor papierenen Gesetzen. Er begrabt den Haf^. Er ist wie eine 
Hebe Hand Gottes, die weich und weil^ und segnend iiber der Erde 
ruht. 

Der Neue Tag, 19. 11. 1919 



MARIONETTEN 



Lily, meine kleme Freundin, sagt nicht: Marionettenbiiline, sondern 
»Opa«, Ihr sind diese Puppen aus Holz, Draht und Stoffresten Schau- 
spieler, erwachsene, richtige Menschen. Die lendenlahmen Kratztone 
der Geige, die wie junge Papageien mit gestutzten Fliigeln auf flattern, um 
ohnmachtig wieder in den geborstenen Geigenkorper zuriickzusinken, 
und das tuberkulose Klavier, dessen Saiten Angina haben, sind fiir Lily 
»Orchester« . Denn Lily ist erst sieben Jahre alt und geht mit »Onkel« ins 
Puppentheater. Wenn sie siebzehn alt ist, wird sie mit einem »Cousin« in 
die Oper gehen und die »richtigen« Schauspieler »Marionetten« nennen. 
Mit siebzehn Jahren sind Kinder, die Lily heifien, schon sozusagen 
Menschen. Also: erwachsen, verdorben und undankbar. . . 

Die Stiege, die in das Marionettentheater in der Plenergasse hinunter- 

fUhrt, ist schmal und gebogen wie eine gekriimmte Wirbelsaule. Die 

Stufen sind zerbeult und alt. Und in der Mitte ausgetreten. Sie sehen aus 

wie die Abbildungen der Konkavlinsen im Lehrbuch der Physik. In jeder 

Hohlung schlummern ein paar Jahrzehnte Vergangenheit. 

Aus der Tiefe dringt ein Geruch empor wie von Kinderwasche und 

Hegengebliebenen Speiseresten. 

Die »Kasse« besteht aus einer Holzbude mit einem viereckigen Loch im 

Bauch. Man kriegt auch Zuckerl, vier Heller pro Stiick. Sogenannte 

Erfrischungsbonbons. Sie sind deformierte, plattgedriickte Wiirfel aus 

Malz und Dreck und mit unzahligen Staubfaserchen beklebt wie mit 

Maden. 

Lily mochte viel lieber dritten Platz haben als »reserviert« sitzen. Auf 

dem dritten Platz, der nur vierzig Heller kostet, mufi man klettern. So 

hoch ist er. Dort steht man, von Aufregung und Schaulust innerlich straff 

gespannt wie von einer Spiralfeder aus Stahl. Und man sieht nicht die 

dicken Drahte, an denen die Schauspieler hangen, und den groben Me- 

chanismus, mit dem die gottliche Vorsehung das Leben beherrscht und 

die Schicksale dirigiert. 

Die Melodic der Orchestermusik ist falsch. Eine Weile gleitet sie auf den 

Fiedelsaiten wie ein leichtes Handwagelchen auf einer LandstraEe. Dann 

rutschen Cis und D in eine Mulde. SchlieElich geht die Melodic an einem 

Prellstein in Triimmer. Der Walzer zerplatzt. 



19 19 179 

Der Herr Billetteur ist eine fabelhaft theatralische Personlichkeit. Sein 
Schnurrbart ist scharf himmelwarts gezwirbelt, als wollte er alle Wolken 
aufspiefien. Seine weifie Sportkappe schiefit blitzschnell durch den Saal, 
wie ein leichter Tennisball. Sein: Programm, bitte angenehm! poltert 
wie ein kleiner Donnerschlag durch das Gesumse junger Kinderstim- 
men. Wenn es dunkel wird, schreit er: Ruhe! Wer die Vorstellung durch 
lautes Reden unterbricht, wird ausgewiesen! 

Hast gehert, Franzl? Wirste aussig'schmissen - iibersetzt Frau Pro- 
chulka ins Bohmische. 
Dann ist Ruhe. 

Auf der Biihne wird »Mein Leopold« gegeben. Die Menschen zappeln. 
Sie sind steife Leinepappemenschen. Sie gehen, stehen, tanzen in abge- 
hackten Rhythmen. Irgendwer spricht aus ihnen. Ihr Gesicht bleibt 
Starr. Ihr ganzes Leben sieht sich an wie ein Kiavieriibungsstiick, von 
einem Anfanger gespieh, der sich die Tasten erst aussucht, ehe er sie 
anschlagt. Diese Leutchen miissen sich erst besinnen, welchen FuC sie 
vorzusetzen, welche Hand sie zu heben hatten. Ihre Aufregung auEert 
sich in einem lebhaften Tremolo der Ghedmafien. Ihre Leidenschaft 
verursacht kaum eine lebhaftere Bewegung der Drahte. Ihre Seelenruhe 
ist kein Zustand, sondern eine jammerHche stupide Starrheit. Das Leben 
hat Gesichtsmuskeln und Nerven und kann Seele vortauschen. Aber die 
Marionetten liigen nicht wie die Menschen. Wenn der Draht sie nicht 
bewegt, riihren sie sich nicht. Und spielen nicht freien Willen, wo nur 
Diktat des Drahtziehers ist. Wahrheit ist nur auf der Marionettenbiihne. 
Dann ist Pause. Der Herr Billetteur ist ein Buffetier geworden. Er ver- 
kauft Kracherln. Sechs in jeder Hand. Seine Schnurrbartspitzen sind 
immer noch so steif. Er konnte an jeder auch noch sechs Flaschen 
aufhangen. Aber seine Strenge steht im reziproken Verhaltnis zum 
Durst der Besucher. Je mehr Kracherl, desto weniger Schneid. Sein 
»Prrrogrrramm« groUt nur noch wie ein femes, gedampftes Donner- 
chen nach einem sommerHchen Gewitterregen. Der Buffetier hat den 
Billetteur verschlungen. 

Nach der Vorstellung ging ich mit Lily in den Biihnenraum. Ich wollte 
ihr den Ernst des Lebens zeigen. Sie sollte sehen, wie jede irdische Lust 
endet. Wie arm und seelenlos diese Puppen sind. Ich zerstore grausam 
eine Illusion, dachte ich. 



l8o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Puppen lagen im Haufen liber- und nebeneinander. Der alte 

Schuster hatte gar keine Fiifie, was man friiher gar nicht gesehen 

hatte. Er trug leere Pantoffeln. Und die Brille auf seiner wachser- 

nen Nase war keine wirkiiche Brille, sondern gemalt. Und Fraulein 

Emma hatte knallrote Backen und holzerne Augen und eine ge- 

leimte Nasenspitze. Ihre braune Periicke lag in einer Schachtel. 

Man sah, dafi ihr Kopf hohl war. Es war ein trauriger AnbUck. 

Aber Lily weinte nicht. Sie war auch gar nicht enttauscht. Sie 

riihrte jede Figur an, iiberzeugte sich von ihrer Leblosigkeit und 

lachte. 

Lily lachte! 

So grausam konnen kleine Madchen sein! . . . 

Und wenn sie grofi werden, sind sie noch grausamer mit armen 

Marionetten! 

Josephus 
Der Neue Tag, 21. 11, 1919 



KONSULTATION 



Vorgestern war ich noch pumperlgesund. 

Ich schwamm wie eine Forelle durch das Gewasser des Lebens und 

platscherte in Ereignissen. Ich liefi die Stunden durch die Finger 

gleiten wie leichte Sandkorner und jonglierte mit der Gegenwart. 

Auf meiner Nasenspitze balancierte steif und wiirdig wie ein Stock 

der Ernst des Lebens. Er drohte jeden Augenblick herunterzufal- 

len, wenn ich das Gleichgewicht verlor. 

Der Tod schwebte wie ein leichtes Wolkenschiffchen am fernsten 

Horizontrand meiner Tage, unerreichbar wie ein Paf^ und unwahr- 

scheinHch wie ein Volkerbund. 

Ich liebte noch Frauen und Biicher. Ich verhebte mich in Biicher 

und blatterte in Frauenseelen. 

Unangenehmen Verwicklungen, die wie Sandbanke aus meinem 

Gewasser ragten, schwamm ich gewandt aus dem Wege. PeinUche 

Zufalligkeiten stiefi ich hinunter auf den Grund. Mit waghalsigen 

Kopfspriingen stiirzte ich mich in kinodramatische Sensationen. 



19 19 i8i 

Der Reiz des Lebens durchprickelte meine Haut wie ein elektrischer 
Strom von anderthalb Milliampere. 
Ich war gesund. 

Gestern stand ich mit einem leichten Kopfschmerz in der rechten 

Schlafe auf. Der Leitartikel begann mit der Kohlennot und endete mit 

einem rapiden Kurssturz der deutschen Stilistik. Mein Schlafen- 

schmerz steigerte sich. Der ganze Schadelbau war lose wie eine Koali- 

tion. 

Ein Kollege sagte mir, das sei eine Stirnhohlenentziindung. Es sei eine 

sehr iangwierige, schmerzhafte Krankheit, triumphierte er. Man miisse 

zu einem Arzt. 

Um meinen Kollegen zu argern, beschlofi ich, mit Hilfe eines Doktors 

gesund zu werden. 

Der Doktor untersuchte und fand nichts Stirnhohlenentziindungsarti- 

ges. Um aber der Wissenschaft zu einem Triumph iiber die Materie zu 

verhelfen, untersuchte er mich ganz. 

Er fand einen veralteten Rachenkatarrh, einen erneuerten Bronchialka- 

tarrh, einen chronischen Lungenspitzenkatarrh, eine leichte Magenrei- 

zung, schwere Neurasthenic, hochgradig sich steigernde Neuralgic, 

beginnende Altersschwache verbunden mit Anzeichen von jugendh- 

chem Schwachsinn. 

Ich bestehe aus lauter Katarrhen und Reizungen. Die Funktionen der 

Organe haben bei mir Krankheiten iibernommen. Ich bin ein geradezu 

staatlicher Organismus. 

Ich habe keinen Rumpf, sondern gewissermaCen einen Parlaments- 

rumpf. Mein Kopf ist ein sogenanntes Oberhaupt. DemgemafS habe 

ich keine Valuta. Mein Herz ist eine Staatskanzlei. Meine GUedmaf^en 

spielen Landerkonferenz. 

Der Doktor, etwas fett und asthmatisch, freute sich. Seine wassergrii- 

nen Augiein, die hinter wuchtigen Schmalzaugenklappen nach Atem 

rangen, schienen zu sagen: 

Siehst du, wie wertlos du bist? 

Ich zahlte fiinfundzwanzig Kronen. 

Der Doktor untersuchte das Geld gewissenhaft. Er kiopfte die Zwan- 

zigkronenbanknote ab wie einen Kranken. 

Dann schnaufte er freundlich: Mein Herr, Sie konnen noch immerhin 

fiinf Jahreleben! 



l82 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Mein KoUege triumphiert. Er sagt mir »Du«. In fiinf Jahren hat er ein 
grofies Biihnendrama fertig, und ich kann es nicht herunterreifien. 
Ich habe heute kein Kopfweh mehr. Aber schlimmer als aller Schmerz 
ist das Bewufitsein, im Besitz eines wertvoUen Lungenspitzenkatarrhs 
zu sein. Man stirbt eben nie an einer Krankheit, sondern am Wissen 
um die Krankheit. 

Ich schwimme nicht mehr wie eine Forelle durch das Gewasser des 
Lebens. 

Ich sinke auf den Meeresgrund wie ein Taucher, mit Ereignissen be- 
schwert wie mit Pflastersteinen. 

Ich lasse nicht mehr die Stunden durch die Finger gleiten wie Sandkor- 
ner, sondern picke sie sauberlich in ein Tagebuch wie Briefmarken. Ich 
bin sozusagen Stundensammler geworden. Den Ernst des Lebens 
nahm ich von der Nasenspitze herunter. Ich beniitze ihn als Wander- 
stab. Ich versuche, mit meinem Tod Kompensationsvertrage zu schhe- 
fien. Ich blattere nicht mehr in Frauenseelen, sondern lese sie. Biicher 
Hebe ich nicht nur, sondern kaufe sie auch. Ich bereite mich auf das 
Jenseits vor und freue mich iiber die gutgeheizte Holle. 

Aber aufJerdem! Was kann ich nicht alles noch anstellen! EndHch bin 

ich frei von Riicksichten wie ein hochgespannter Leitungsdraht, der 

sich plotzHch losreiKt von der IsoHerung. Ich konnte fabelhafte Kurz- 

schliisse hervorrufen. 

Ich konnte zum Beispiel meinem Chef die Wahrheit ins Gesicht sagen, 

meinen Kollegen ohrfeigen, meine Frau hinauswerfen, Vorschufi neh- 

men, meine Ersparnisse vertrinken, im Bankhaus einbrechen, Valuta 

schieben, ein paar Literaten totschiefien, meinen Verleger beleidigen. 

Das alles konnte ich und noch mehr! 

Aber ich tu's nicht! Weil ich namlich furchte, dafi ich vielleicht - doch 

noch langer lebe. — 

Josephus 
Der Neue Tag, 28. 11. 1919 



METAPHYSIK DES BUDGETS 



Was ist ein Budget? 

Im wesentlichen ist es die winzige Geldsumme, die wir im Monat oder 
im Jahre verdienen, plus der riesigen, die wir im Monat oder im Jahre 
ausgeben. 

Woher aber nehmen wir die riesige Verbrauchssumme, um sie zu dem 
minimalen Verdienst zu addieren? 

Es geschehen gewifi viele Wunder im Leben! Vorgestern fuhr ich in 
einem Fiaker vom Schottentor bis zur Siidbahn und fand mich am 
Ziele unversehrt und vom Kutscher nicht erschlagen vor; vergangene 
Woche verlor ich meine Raucherkarte, und der Beamte gab mir sein 
Ehrenwort, dafi ich spatestens im Friihjahr eine neue erhahen wiirde; 
vor zwei Tagen wartete ich auf den H-Wagen, und er kam; meine 
Wirtin erwartet noch immer nicht den Besuch einer improvisierten 
Nichte, um mir kiindigen zu konnen; seit Wochen rauche ich Ge- 
stopfte vom Franz und explodiere nicht; seit Monaten esse ich in einer 
Gemeinschaftskiiche und kann noch immer nicht wiehern; in meiner 
Wohnung wachst noch nicht ein Stalaktit; heute vormittag bekam ich 
eine telephonische Verbindung. Es geschehen also viele Wunder in 
meinem Leben. Aber das grof^te Wunder ist doch die Tatsache, dafi ich 
lebe. 

Wie komme ich eigentUch aus? Ich habe versucht, Buch zu fuhren iiber 
meine taglichen Ausgaben. Ich dividierte die Summe, die ich am Ersten 
bekam, durch die Zahl der Tage, die ich von dieser Summe zu bestrei- 
ten hatte. Der Quotient war eine Zahl von einer ZweistelUgkeit, deren 
Hohe man in anstandiger Gesellschaft auch nicht annahernd bezeich- 
nen kann. Und aufierdem noch ein Bruch. Der Bruch legte sich wie ein 
Hindernis, iiber das man stolpern mufite, quer iiber meinen Lebens- 
weg. Diese Zahl war die mathematische Ausdrucksform fiir einen 
langsamen und sicheren Tod. Es war eine sehr symboUsche Zahl. 
Mit dieser Zahl versuchte ich, taglich zu sterben. Es reichte nicht. Um 
halbwegs anstandig zu sterben, mufite ich das Dreifache haben. Der 
Bruch wackelte von Tag zu Tag bedenkUcher. Er vertrug die Additio- 
nen schlecht. Der Bruchstrich bekam galoppierende Schwindsucht und 
wurde taglich diinner. Bis er eines Tages ganz verschwand. An Stelle 
des Bruches saf5 eine fette, groEe, bauchige 3. 



184 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Da horte ich zu rechnen auf. Und - lebte weiter. 

Mein Monatsleben ist ein algebraisches Monstrum: eine Gleichung mit 

einundzwanzig Unbekannten. Nur zehn Tage kann ich mir erklaren. 

Wer wird da noch rechnen wollen? 

Wo von aber lebe ich? 

Karbidgas atmen, Haferreis wiederkauen, einen Meldezettel haben, auf 

die Wohnungskommission warten, das heifit doch leben? 

Wo von? 

Offenbar vom Budget, das nur bis zum Zehnten reicht. 

»Offenbar.« Der Quotient aus jeder Division ist Verzweiflung und 

Aussichtslosigkeit. Ich dividiere nicht mehr. Sondern addiere, muhi- 

pliziere sogar. Mit iiberirdischen Zahlen, glaube ich. Wenn ich keinen 

Quotienten habe, erreiche ich Summen und Produkte. Ich addiere und 

multiphziere metaphysisch, und davon lebe ich. 

Das ist die Metaphysik des Budgets. 

Aus den Armeln schiittle ich LebensmogHchkeiten wie ein Schwarz- 

kiinstler Papierfahnchen. Irgendwoher, aus den Wolken, senken sich 

Existenzbedingungen schwebend hernieder. Der Boden offnet sich wie 

im Theater, und Zahlen steigen hervor. An eine schlankgeschwungene, 

schmiegsame 2 reihen sich drei NuUen. Spitz und borstig hacken sich 

Einser in meine Brieftasche. Fett und moUig schlummern Zehner in 

einem Each. 

Mein Eufi tritt auf blumenzahlengeschmuckte Beete. Wo ich hintrete, 

sprofit eine Ziffer. 

Im Kaffeehaus ringelt sich der Mokkadampf in Dreiern, mit denen ich 

zahle. 

Die Zigarre, die fiinf Kronen kostet, zerrauche ich in zwanzig grof^e 

Fiinfer, mit denen ich ebensoviel Zigarren kaufe. 

Und meinen Friseur bezahle ich mit den Konturen der Ziffern, die der 

Lehrbursch mit dem Seifenschaum auf meinem Bart zeichnet. 

Es geht mir sehr gut. Ich komme aus mit meinem metaphysischen 

Budget. 

Wer wiifite das zu erklaren? 

Josephus 
Der Neue Tag, 30. 11. 1919 



NIKOLO 



Die kleine Lily sagte: Ich giaube, dafi war eigentlich gar nicht der Ni- 
kolo. Ich weil^ genau, vor zwei Jahren noch sah er anders aus und blieb 
auch langer sitzen und erzahlte schone Geschichten, und er hatte einen 
viel, viel langeren Bart, und der Bart war viel weifter, Auch einen gro- 
fien, grofien Sack hat er damals mitgehabt, und heute war's nur eine 
kleine Einkaufstasche, so wie sic Mama immer hat, wenn sie mit Fini 
auf den Markt geht. Ja, sagte Paula, ja, sicher, es war dieselbe Einkaufs- 
tasche, ich habe sie erkannt, meine rote Masche war am Henkel. Der 
achtjahrige Karl aber war ein Bub und schon sehr gescheit und sprach: 
Ach was, ich weifi schon, es ist eigentlich gar nicht der Nikolo, es gibt 
keinen Nikolo iiberhaupt, und der Nikolo ist iibrigens der Onkel 
Heinrich, Der Onkel Heinrich ist auch der Weihnachtsmann. Und der 
Onkel Heinrich kann heute nicht mehr mit dem Geld auskommen, er 
zankt deshalb mit Xante Mathilde - ich habe es selbst gehort -, und er 
kann keinen Sack mehr mit SiilSigkeiten kaufen, und deshalb hat er nur 
Apfel und ein paar Niisse gebracht. Quatsch, es gibt keinen Nikolo, 
sagte der achtjahrige Karl. Aber Lily widersprach: Es gibt bestimmt 
einen Nikolo. AUe sagen's, der Papa und der Lehrer und der Fritz, und 
der weiE doch alles, denn er wird nachstes Jahr Doktor. Und iibrigens 
schreibt er Gedichte, echte Gedichte mit Reimen, wie sie im Lesebuch 
stehen. 

Fritz kam herein. Nicht wahr, es gibt einen Nikolo? fragte Lily. Ja, 
freilich, sagte Fritz, ich werde euch was von ihm erzahlen. Ich habe ihn 
soeben getroffen, wie er traurig und gebiickt durch die Strafien ging, 
um nach Bari in Italien zuriickzukehren. Es gefallt ihm gar nicht in 
Wien. Eine so traurige Stadt hat er in seinem ganzen Leben nicht gese- 
hen, und er lebt schon sehr lange, miifit Ihr wissen, schon an die tau- 
send Jahre. So wie in diesem Jahr ist's ihm noch nie gegangen. Zuerst 
woUten sie ihn gar nicht iiber die Grenze lassen und fragten ihn, ob er 
fremde Valuta habe und einen Paf5. Alle Lebensmittel, die er mithatte, 
mufite er den Revisoren lassen. Er schrie: Ich bin ja der Nikolo! Aber 
die Grenzwachter spotteten nur und sagten: Er ist ein Schleichhandler! 
Es gibt keine Heilige nicht. Das haben mir jetzt'n abgeschafft. 
So kam der gute Nikolo ganz ohne Pakete nach Wien. Am Siidbahnhof 
wollte er einen Fiaker nehmen, denn er war sehr miide, er hatte keinen 



l86 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Sitzplatz gehabt und war die ganze Zeit iiber im Zug gestanden. 
Hundertfuchtzig Kranl'n, So Tepp, olda! sagte der Kutscher. Da 
ging der gute Nikolo zu Fufi. 

Er woUte Mistelzweige haben und ging in den Wienerwald. Aber da 
standen Kettenhandler, die batten alle Mistelzweige abgesammelt 
und verkauften sie als Holz zum Einheizen um sehr teures Geld. 
»Ich bin der Nikolo«, sagte der Alte, »und muf5 Mistelzweige fiir 
die Kinder haben !« Aber die Kettenhandler lachten: »Der Nikolo 
sind Sie? Die Kinder selbst haben schon Mistelzweige und treiben 
Geschafte mit Mistelzweigen. Mit dem Artikel werden Sie den Kin- 
dern keinen Schrecken einjagen.« Da ging der heilige Nikolo in die 
Stadt zuriick. 

Der heilige Nikolo hat ein sehr gutes Herz, miifit ihr wissen, und 
also dachte er: Desto besser, ich werde also ohne Mistelzweige 
kommen. Ich will lieber Zuckerln kaufen. In alien Laden aber koste- 
ten die Zuckerln ein Riesengeld, und es war ein Gliick, dafi der Ni- 
kolo geradewegs aus der Schweiz gekommen war und Franken 
hatte. Also konnte er zur Not noch ein paar Kilo einkaufen. Mehr 
kaufte er nicht, denn die Zuckerln waren aus Schleichhandelszucker 
gemacht, der den armen Leuten nicht zukommen konnte. 
Dann woUte der Nikolo Goldpapier kaufen. Aber da war in keinem 
Papierladen Stanniol aufzutreiben. Stanniol gab es nur auf der Borse 
- sagte man ihm. Und auf die Borse geht der heilige Nikolo nicht. 
Als der heilige Nikolo iiber den Franz Josephskai ging, kam ein 
Mann auf ihn zu, der hatte eine weifie Kappe wie ein Lampion und 
ein buntes Band auf der Weste. Der hielt den heihgen Nikolo fiir 
einen polnischen Juden und zupfte ihm den Bart aus. 
Um halb 9Uhr abends begann der Nikolo schliefilich, die Hauser 
abzugehen. Aber, was sah er da? Da waren alle Haustore schon ge- 
sperrt. Und als er lautete, kam der Hausmeister und fragte ihn 
streng, was er wolle. »Ich bin der heilige Nikolo«, sagte der Alte. - 
»Haben S* ein Sperrsechserl?« fragte der Hausmeister. - »GewiE«, 
antwortete der Nikolo. - »So, ich krieg' aber schon zwei! Jetztn is 
halb neun, und mir san jetztn a RepubHk, und da kriegt der Haus- 
meister zwa Sperrsechserln! Verstanden?« - Da gab der Nikolo dem 
Hausmeister eine Krone. »Kleingeld is jetztn auch aus Papier«, sagte 
der Hausmeister, »und mir fiihren so was nimmer! Der Krampus is 
mir viel lieber als Sie, Herr von Nikolo oder Herr Nikolo, denn den 



1919 1^7 

Adel hamma abg'schafft, der Krampus kommt durchn Schornstein 

und stort uns net. I pfeiP iiberhaupt auf die Sperrsechserln,« 

Nun war der heilige Nikolo sehr traurig. In jedem Hause wiederholte 

sich dieselbe Geschichte. Nur die Kinder taten ihm leid, die hatten 

noch einen lieben Gott. Aber die GroEen hatten ihn im Kriege verlo- 

ren. »Der liebe Gott ist den Menschen amputiert worden«, sagte der 

heilige Nikolo. 

Nun geht er wieder fort. »Wenn das so weiter bleibt, komme ich nie 

mehr. Nie mehr!« sagte er. »Die Menschen miissen viel, viel besser 

werden!« 

Da waren die Kinder alle traurig. Und selbst der achtjahrige Karl, der 

schon gescheit war, glaubte an den Nikolo. Die Karbidlampe im Zim- 

mer hatte ein nur noch ganz kleines, verriicktes, blaues Flammchen, 

das wie betrunken hin und her taumelte. Schliefilich gab*s einen grofien 

Krach. Die Lampe explodierte. 

»Das hat der Krampus gemacht«, sagte Fritz. Und die Kinder fiirchte- 

ten sich . . . 

Josephus 
Der Neue Tag, 6. 12. 19 19 



HAUSSE UND BAISSE 



In einem Wiener Staatsgymnasium taten sich die Schiller einer Klasse 
zusammen und bildeten ein Konsortium, Ein Handelskonsortium. Sie 
spielten auf der Borse, gewannen, verloren. Sie sprachen von Aktien, 
gingen des Vormittags nicht in die Schule, sondern auf den Schotten- 
ring. Fiinfzehnjahrige Borsianer. 

In einem Wiener Biiro machte der Chef eines Tages die Entdeckung, 
dafi seine Tippmamsells vorziigliche Kenntnis und Gewandtheit in 
fachhchen Borseredewendungen hatten. Er forschte nach, und es er- 
wies sich, dafS die Tippmamsells Effekten besafien. Borsen-Effekten. 
Zwischen elf und ein Uhr mittags ist das Vestibiil der Borse voU von 
Mittelschiilern aller Kategorien und Altersstufen. Sie haben die Be- 
schaftigung mit antiken Versfiif^en aufgegeben. Homer wird in Zinsfii- 
fien skandiert. Die ganze hohere Mathematik schrumpft zusammen auf 



l88 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

das Kapitel von Zinsen- und Prozentrechnung. Die Lehre von der 
Warme wird am Sinken und Steigen der Kurse studiert. Es gibt keine 
Umsetzung der Energie mehr, sondern einen Umsatz der Papiere. Die 
Notenskala ist um neue Bezeichnungen bereichert. Kein »Sehr gut«, 
sondern »lebhaft«, kein »Ungenugend«, sondern »flau«. Der Papa ist 
ein Fixbesoldeter, ein Staatsbeamter, gewendet und zergramt. Der 
Sohn Borsianer, Kapitalist, Grandspekulant. 
So ist die Welt. 

Es ist eine grofie Hausse in Schiebungen und eine Baisse in Moral. Es 
ist eine Umwertung aller Werte in - Borsenwerte. 
Der Borsenaufschwung begann mit dem grofien Lesebuchkrach. Als 
die Morgenstunde Eisenschrappneils im Munde hatte; als Tachinieren 
am langsten wahrte; die Armeekommandanten die sanftesten Ruhekis- 
sen batten; dem Tiichtigsten der C-Befund gehorte; und der Anschlufi 
ans Vaterland, ans teure, Annexion und Besetzung hiefi: Da fing der 
Blutrausch der Weltgeschichte in ihren motorischen Bestandteilen zu 
wirken an. Die beschwipste Moral taumelte. Der Weltanschauung 
drehte sich der Kopf. Da die Religion den lieben Gott genotigt hatte, 
ein nationales Bekenntnis abzulegen, sanken die Tempel zu der Bedeu- 
tungslosigkeit von Parlamenten herab. Da die Aitare des Vaterlandes 
rauchten, vernachlassigte man die der Cotter. Da man Respekt und 
Gehorsam schuldig war, verier man die Ehrfurcht. Da die Ehrenbezei- 
gung Pflicht ward, war die Ehrlosigkeit Brauch. 
Einstmals, in einer weiten und wilden Welt, gab es Glucksritter mit 
Schwert und Spiefi. Der Krieg war ja Romantik, die Revolution gesund 
- brachiale, eruptive Traumverwirklichung. Die Brutalitat der Guillo- 
tine selbst war noch gesund. Aber dieser Krieg und diese Revolution in 
seinem Gefolge, sie waren raffinierte Naturerscheinungsimitationen. 
Die uberlegt wilden Gebarden eines armseHgen Zirkusmenschen, der 
in einem Pantherfell steckt. Wie wenn eine ausgestopfte Bestie falsche 
Zahne fletschen wiirde. Die Weltgeschichte ward eine politische Bor- 
senspekulation. Setzte sich der waghalsige Jiingling aufs Rofi, wenn die 
Zeiten wild waren und von Waffengetose erfiillt, so geht er heute - 
spekulieren. Jeder Krieg hat seine spezielien Abenteurer. Man kann 
heute nicht mehr mit Schwert und Spiefi Schlosser, Frauen, Herzogtii- 
mer gewinnen. Man kann Kaufleute im ExpreEzug nicht mehr recht 
auspliindern. Man kann sie nur »hineinlegen«. Durch Geschafte, Han- 
del, Spekulationen. 



19 19 1^9 

Im Grunde ist es dieselbe Abenteurerlust, die Tannhauser auf den Ve- 

nusberg, Siegfried zum Nibelungenschatz, Parzival zum Gral brachte. 

Man bedarf nur heute keiner Riistung mehr, um diese Ziele zu errei- 

chen. Das Graltum ist eine Schiebung, der Nibelungenschatz liegt auf 

dem Bakkarattisch, der Venusberg heifit »Nachtfalter«. Alles ist mit 

Geld bequem zu erringen. Geld gewinnt man leicht und miihelos auf 

der Borse. Und selbst das Prickeln des Abenteurertums, der Kitzel des 

Sensationchens ist auch dabei. Also spielt man auf der Borse. 

Borsenagenturen entstehen an alien Strafienecken. Alle Banken vermit- 

teln Borsengeschafte. Die ganze Schopfung ist die verfehlte Borsenspe- 

kulation eines Gottes, der pleite gegangen ist. 

AUmahlich wandelt sich das Aussehen der Welt. Schieben die Wolken 

nicht? Sind sie »Kulissen«? Gewitter sind Geldkrisen, Blitze erleuch- 

tende Spekulationseinfalle. Und ein Donner, nun, das ist natiirlich ein 

»Krach«. 

Die Winde, kommen sie noch aus Aeolus' H5hle? - Sie blasen aus 

hohlen Kassenschranken. 

Regnet es, schneit es noch? - Ich glaube, erbitterte Kaufleute spucken 

aus. 

Die Menschen vermehren sich nicht mehr durch Geschlechtskopula- 

tion, sondern durch Aktiengewinnverdoppelung. 

Die Meere sind vielleicht riesengrofSe, quadrierte Aktienpapiere. 

Und selbst die Nummern der Meridiane und Parallelkreise sind zu 

gewinnen und zu verlieren. 

Zwischen Hausse und Baisse - Nordpol und Siidpol - dreht sich die 

Erde um ihre eigene Profitachse. 

Josephus 
Der Neue Tag, 7. 12. 1919 



DIE FRUHSTUCKSSUPPE 



Der Wintermorgen blinzelt kurzsichtig durch diinne Wolkenbrillen 
auf Schottergeroll und schmutzige Erdschollen. 

Sogenannte Gebrauchsgegenstande liegen »am Spitz«. Eine Blech- 
schiissel mit einer offenen Ri£wunde, wie von einer Granate zerfetzt. 



190 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ein weifier Henkel aus Porzellan zwischen rotbraunem Blatterge- 

misch, gekriimmt wie ein poUertes Fragezeichen. 

Mit einem Zipfel zwischen Wand und Deckel einer rostflecksommer- 

sprossigen Konservenbiichse eingeklemmt, weht der Leitartikel der 

vorigen Sonntagsnummer im Morgenwinde. 

Es ist eine Fragmentsammlung zerschlissener Hauslichkeit, so ein 

schmutziger Patzen Wiese. Ein Pinselklecks auf der Palette des lichen 

Gottes. 

Ein Wagelchen knirscht iiher dem Schotter. 2wei kleine galizische Po- 

nys voran iihen »Kopfnicken«! 

Von dem Gefahrt steigt Dampf in kleinen, zarten Saulchen empor. 

Das ist die Fahrkiiche mit der Friihstiickssuppe. Das neueste Kapitel 

von »Wien im Elend«. 

»Am Spitz« in der GoldschlagstrafSe macht die Fahrkiiche halt. Gott- 

und staatsamtgewollter Rahmen fiir die Friihstiickssuppe. 

Die Fahrkiiche ist eine militarische. Vielleicht aus der Sachdemobilisie- 

rungsanstalt. Sie macht den behabig-brummigen Eindruck einer Lan- 

gerdienenden. 

Drei Volkswehrmanner hantieren an den Kesseln herum. 

Der eine hat einen Schopfloffel aus Blech. Wenn er ihn in den Schlund 

des Kessels hinabtaucht, entsteht drinnen ein geheimnisvolles Gezisch. 

Es ist, wie wenn die Molekiile der Suppe anfangen wiirden zu schwat- 

zen, 

Wenn der Schopfloffel an die Oberflache kommt, sieht man eine gold- 

gluhende Flussigkeit, von Dampfen umwallt wie im »Rheingold«. Auf 

dem Grunde des Schopfloffels ruht ein Korper in unleugbarem Aggre- 

gatzustand. Offenbar ein Riff. 

Wahrend die Fliissigkeit in das Reindl der Frau Dworzak hiniiber- 

rinnt, offenbart sich das Riff als Kartoffel, Mohre oder so. 

Um vierzig Heller kann man das »Rheingold« geniefien. 

Die Friihstiickssuppe hat sich noch nicht eingelebt. Von Zeit zu 2eit 

kommt eine Frau mit einem Napf. Ein Schulmadchen mit einer Me- 

nageschale. Ein Arbeiter mit einem Topf. 

Der Volkswehrmann blast vor Kalte einen tonlosen, unhorbaren Mili- 

tarmarsch in die roten Fauste und schlagt den Takt mit den FiifSen 

dazu. 

Die Ponys stehen geduldig wie angestellte Wiener. Manchmal hebt 



19 19 19^ 

eines den Huf und klopft an die Deichsel. Nur um die beruhigende 
Gewifiheit zu erlangen, dafi es immer noch angespannt ist. 
Die Suppe ist heifS. Ihre Hitze stumpft die Geschmacksnerven ab, und 
man braucht sie nicht zu schmecken. Sie rinnt, eine fliissige Wohltat, 
wie ein kleiner Golfstrom durch den morgenkalten Korper, 
Morgen, iibermorgen, vielleicht in einer Woche ist sie eingelebt, aner- 
kannt, heimisch, die Friihstiickssuppe. 

Sie wird die allmorgendliche Ausfliissigkeit der volksfreundlichen Ge- 
sinnung im Staatsamt fiir Ernahrungswesen sein. 
Unter Umstanden wird eine schmackhafte Briihe aus den sonderbar- 
sten Elementen: aus Anspruchslosigkeit, gutem Willen und Zubufien. 

Josephus 
Der Neue Tag, lo. 12. 1919 



DAS TAFTKLEID 

Eine ukrainische Geschichte 

Es war ein herrliches Taftkleid. Schwarz, mit Samteinsatz und Flitter- 
perlen, von einer weichen und schmiegsamen Kiihle, wie sie die grofien 
dunklen Blatter tiefroter Spatrosen haben, die im Nachbarsgarten des 
Kirchendieners Alexei Afinowitsch bliihten. Es stand so fest wie der 
Erfolg der Wunderkuren des blinden Korsaren Tiowfej und des Milch- 
zaubers der Hexe Katja, dafi zwischen Don und Dnjepr kein zweites 
Taftkleid dieser Art vorhanden war. Nastja Iwanowa, meine fiirsorgli- 
che Hausfrau, hatte es von ihrem Manne bekommen, dem Sergeanten 
Nikolaj Iwanow, der es wieder anlafSlich eines kleinen Pogroms in dem 
etwa fiinf Werst entfernten Judenstadtchen der reichen Schankwirtin 
Sonja Israelowitsch geraubt hatte. Nastja Iwanowa, wie schon er- 
wahnt: meine fiirsorgliche Hausfrau, war kraft dieses Taftkleides ent- 
schieden die vornehmste unter alien Dorfbewohnerinnen. 
Jahre waren vergangen: Die Kuh des Bauers Kuszpeta war an Magen- 
krampfen elend zugrunde gegangen, Alexei Pawlow, der Taugenichts, 
kehrte aus dem Kiewer Zuchthaus zuriick, der Krieg brach aus, Niko- 
laj Iwanow, der Mann meiner fiirsorglichen Hausfrau, ward in den 
Karpaten vermifit, das Dorf hatte manniges gelitten, die Landstrafie die 



192 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Eisenhufe der Kavallerie, die benagelten Stiefelsohlen der Sturm- 
trupps, die zerrissenen und nackten der Kriegsgefangenenziige, die 
Rader der Artillerie- und Trainkolonnen an ihrem Leibe zu spiiren 
bekommen. Freundliche und feindliche, preufiische, zarische, oster- 
reichische Einquartierungen wechselten miteinander ab. Aber in all 
dem jahen Wechsel der Zeiten und Dinge hatte das Taftkleid seinen 
Zauber bewahrt, war es allsonntaglich Brennpunkt der Bewunderung 
und Gegenstand des Neides alter und junger Dorfbewohnerinnen ge- 
blieben. Es verlieh seiner Besitzerin Wiirde und Riickgrat, vers chaff te 
ihr Geltung und Ansehen. Ihre Kuh durfte unbehindert auf nachbarli- 
chen Weiden grasen, ihr Sohnchen Sascha unverpriigelt stehlen. Nastja 
Iwanowa, meine wiirdige Hausfrau, war eine Personlichkeit, und ein 
Stiickchen vom Glanz ihres Taftkleides umschimmerte auch mich, ih- 
ren harmlosen Mieter und Hausgenossen. 

Da kamen die Bolschewiken. Nastja Iwanowa war eine erbitterte Geg- 
nerin jedes Kommunismus. Sie hielt es mit Petljura, dem Kosakenhet- 
mann, der die Bolschewiken bekampfte, und mit seinem Stellvertreter 
im Dorfe, dem Ataman Nikita Kolohin, der das Dorf befestigt und es 
zu einem Stiitzpunkt ausgebaut hatte. Auf hiigeligem Siidrand des 
Dorfes hatte Ataman Nikita sein Hauptquartier aufgeschlagen, auf 
dem Kirchturm Maschinengewehre zur Abwehr bolschewistischer 
Flugzeuge aufgestellt und Alarm- und Signalapparate eingerichtet. 
Wenn die Sirenen in langgedehnten Tonen zu heulen, die Maschinen- 
gewehre auf dem Kirchturm zu rattern anfingen, wu£te man: Die Flie- 
ger sind da! Der Bauer Kuszpeta lief5 die Sense fallen, mit der er eben 
das Gras auf seiner Wiese gemaht hatte, hef zu der hohlen Weide, die 
am Wiesenrand stand, und holte aus der Hohlung seinen Schatz her- 
vor, hundert goldene Dukaten in einem grofien braun- und blaukarier- 
ten Taschentuch. Katja, die Hexe, ergriff ihre alte Katze, die sich ge- 
rade am Fensterbrett gesonnt hatte, beim Genick, der blinde Tiowfej 
brach sein Lied: Pulubylja tibia za twoju Krafatu - mitten im Worte 
»Krafatu« ab, so da£ sein Kra - wie ein heiserer Unheilsruf klang, und 
Alexei Pawlow, der fiinf Jahre im Kiewer Zuchthaus gesessen hatte, 
steckte die Bibel, die ihm der Pope von der Kiewer Strafanstalt mitge- 
geben und in der Alexei Pawlow ganze Nachte inbriinstig blatterte, 
weil er nicht lesen konnte, zu sich. Meine fiirsorgUche Wirtin aber: 
Nastja Iwanowa, griff nach ihrem Taftkleid, das auf einem riesigen 
Tiirhaken seinen Ehrenplatz hatte, und schlug es in ein eigens zu die- 



19 19 193 

sem Zweck stets bereitgehaltenes grofies weifies Packpapier. Alles 
rannte, jeder mit seinem Schatz, unter den Viadukt, den die PreuEen 
noch im Jahre 1918 mitsamt einer kleinen Lokalbahn am Ausgang des 
Dorfes angelegt hatten, warteten dort das Tuten der Sirenen, das Knat- 
tern der Maschinengewehre, das Rattern der Flugzeuge ab und kehrten 
dann nach Hause zuriick. 

Es war Mitternacht, der Mond schien, das Dorf schlief. Nur Alexei 
Pawlow blatterte in seiner illustrierten Bibel. Da begannen die Sirenen 
zu pfeifen. Schiichtern erst, schlafrig, da{^ es tonte wie das Gahnen 
meiner fiirsorglichen Wirtin Nastja Iwanowa. Dann immer voUer, 
starker und schneller. Nastja Iwanowa sprang auf. Ich horte das Pack- 
papier im Dunkeln rauschen, sie packte ihr Taftkleid ein. Die Dorf- 
strafie entlang eilten die Menschen dem Viadukt zu. Nastja Iwanowa 
mit ihnen. Sie fiel in einen Graben, raffte sich auf und lief weiter. Nach 
fiinf Minuten entdeckte sie, dafi sie ihr Taftkleid vermuthch im Stra- 
15engraben hatte liegenlassen. Sie eilte zuriick, walzte sich den Graben 
hinunter. Gott und alien Heiligen Lob! Das Kleid lag da! Nastja Iwa- 
nowa rannte, das knisternde Paket fest an die Briiste gedriickt, Auf^er 
Atem kam sie am Viadukt an. 

Die Nacht war erfiillt mit Geratter und Geknatter. Unter dem Viadukt 
kauerten die Menschen, sprachen leise mit angstbebenden Stimmen. 
Einige waren eingeschlafen. Auch Nastja Iwanowa. 
Als sie im kiihlen Morgengrauen erwachte, war ihr erster Gedanke: 
das Taftkleid! Aber weh! HeiUge Mutter Gottes! Das Paket war weg. 
Man hatte es gestohlen. Gestohlen das herrhche, einzige Taftkleid, das 
seinesgleichen suchte zwischen Don und Dnjepr! 
Nastja Iwanowa lief, rannte, raste zu Ataman Nikita. Der Soldat Onu- 
frij Romanjul^ stand Wache. Er liel^ sich die Gelegenheit nicht ent- 
gehen und versetzte Nastja einige Kolbenhiebe. »Ich geb dir zwei 
Rubel«, flehte Nastja. »2ehn will ich, Hundeseel!« bellte der Soldat 
Onufrij wie ein wiitender Dackel mit seiner versoffenen Fistelstimme: 
»Gut, gut, ja, zehn!« weinte Nastja. 

Sie kam vor den Ataman. Sie bat, kniete: »Herr, Herr, mein schones, 
herrliches, Taftkleid! Man hat es mir gestohlen, heute in der Nacht, 
unterm Viadukt !« 

Der Ataman war ein guter Herr. Er schickte zwei Soldaten aus. Die 
durchsuchten Haus um Haus und fanden endlich das Taftkleid bei der 
Katja, der Hexe. 



194 ^^^ JOURNALISTISCHE WERK 

Nastja Iwanowa trocknete rasch ihre Tranen. Beide Hande streckte sie 
nach ihrem Schatz aus. Ein Wildbach!? Oh, ein Wildbach hatte sich 
wie eine schleichende Schnecke ausgenommen neben der nach Hause 
rasenden Nastja. Sie Hef zum Tisch, packte aus. Aber, was war das? 
Ein alter schmutziger Unterrock lag in dem Papier. Das Taftkleid? Wo 
war das herrliche Taftkleid? 

Es hing am rostigen Haken hinter der Tiir. Nastja Iwanowa hatte es in 
der Nacht verwechselt. Denn: Habt Ihr wirklich geglaubt, Katja, die 
Hexe, hatte das Taftkleid herausgegeben?! . . . 

Prager Tagblatt, 13. 12. 1919 



DAS WALDMANNLEIN VOM STEPHANSPLAT2 



War kauft Weidenruten? Heutzutage! Kann man Weidenruten schie- 
ben? Sind Weidenruten ein »Artikel«? 

Oder Vogelbeeren! Wie lacherlich! Korallenrote, winzige Kiigelchen 
auf armselig-schmachtigen Zweiglein. Was macht man mit Vogelbee- 



ren 



Oder ziegelrote und weifie Papierbluten aus Serviettenpapier! Ich 
bitte! Was ist schon so eine schwindsiichtige Papierbliite? Man kann 
sie nicht ins Knopfloch stecken. Wie lacherlich! Hat man schon je 
einen eleganten Winterrock mit einer Serviettenpapierbliite ge- 
schmiickt gesehen? 

Oder feingedrehte, komplizierte gewickelte Franschen und Zipfelchen 
aus Kanzleipapier! Kochinnen schneiden zuweilen altes Zeitungspa- 
pier in solche Franschen, drehen sie mit einer Haarnadel so lange, bis 
sie eine Art verwickelter Stalaktiten warden, und bringen sie an 
schreckhch weifien Kiichenschranken an, wo Schubladen mit stolzen 
Aufschriften: Pfeffer, Zimt, Salz, Schmirgel in die ode Kachelweifte 
des Kuchenraumes schwarz hineinstieren. Aber wer kauft diese fertig- 
gewickelten Franschen und Zipfelchen? 

Lauter, lauter Nichtigkeiten! Gegenstandsloses Zeug. Alberne Nichts- 
nutze. Torichte Sachelchen, vom Wegrand der Zeit aufgeklaubt. Das 
Leben hat sie fallen gelassen oder gar, wer weiE, weggeworfen. Nein! 
Nicht weggeworfen! Solche Dinge sind zu wertlos, um weggeworfen 



19 19 195 

2u werden. Man lafit sie fallen, achtlos! Sie gleiten aus den Taschen, 
zwischen den FIngern durch. Alle diese Torheiten, die das kleine 
Mannchen am Stephansplatz zu verkaufen sich einbildet, die sind, 
weifi Gott! nichts, nichts, gar nichts wert. Impotenzierte Wertlosig- 
keit. 

Ich habe nie gesehen, daf5 jemand etwas dem Mannchen abgekauft 
hatte. Sein Mantelchen ist abgeschabt-papageigriin. Die Nachte sind 
offen wie die scharfen, spitzen Zahnchen der Not. Auf der sanften 
Rundung seines winzigen Riickens wuchten viele Jahrzehnte, Jahrhun- 
derte vielleicht, Sein Gesicht mit dem Vollbartchen klebt in einer 
Wollhaube. Dieses Gesichtchen birgt sich in der WoUe wie ein Vogel 
in einem Nest. Wie aschgraue Mauschen huschen verschiichterte, 
scheue Blicke aus den Augen. 

Ich habe lange Zeit nicht begriffen, wozu das Mannlein dort steht. 
Eines Tages sah ich es. 

Ich ging um die Mittagsstunde iiber den Stephansplatz. 
Das Mannchen stand nicht auf dem Biirgersteig - sondern, o wie 
merkwurdig!-, das Mannchen stand in der Strafienmitte, Und um ihn 
rauschte ein Gezwitscher und ein Gejubel von hunderttausend Spat- 
zen. Das Mannchen fiitterte sie. An seiner Nasenspitze blinkte ein 
hartnackiger wasserheller Tropfen. Es hatte keine Zeit, ihn wegzuwi- 
schen. Mit beiden Handen streute das Mannchen Brotkriimchen. Ein 
sehr stilles Lacheln koUerte wohlig und rundlich iiber sein Gesicht. 
Seine kleinwinzige Gestalt verschwamm, ertrank, tauchte unter in den 
Wellen eines brandenden Gezwitschermeeres. Und das Mannchen 
hatte nur einen Wunsch: Oh, hatt' ich doch ein Dutzend Hande! . . . 

Seitdem weifi ich, wozu das Mannchen dasteht. Ja, ich sehe, es ist gar 

kein Bettler. Es ist irgendwoher aus dem sterbenden Wald mit seinen 

Vogeln gefliichtet. Ist sein Bartchen nicht aus den Flaumfedern kleiner 

Vogel? Sein WoUhaubchen ist ein iiber den Kopf gestiilptes Vogelnest. 

Und sein Mantel ist so griin, well er aus Waldmoos gesponnen. 

Ich stelle mir vor, dafi es in der Seele dieses Mannchens aussieht wie in 

einer kleinwinzigen, verlorenen Kapelle, irgendwo am Wegrand. 

So wohlig und heimHch. Und eine dunkelrote Ampel brennt ewig 

darin unter einem Jesusbild. 

Und ich wei£, wie dieses Mannchen sterben wird: 



196 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Eines Morgens wird sein Kopf auf dem Korbchen mit den winzigen 

Nichtigkeiten ruhen. In der Nische vor der Stephanskirche. 

Und von hunderttausend zwitschernden Spatzen getragen, wird seine 

Seele emporschweben. 

Und auf seinem verschamten Holzkreuz in der Friedhofsecke wird 

Tag und Nacht ein Spatz sitzen und Wache halten und zwitschern. 

»Requiescat in pace!« wird er zwitschern. 

Fast so schon wie ein Kanarienvogel. 

Josephus 
Der Neue Tag, 14. 12. 1919 



WELTUNTERGANG 



Gestern hat der von Professor Porta angekiindigte Wehuntergang 

stattgefunden. 

Zuerst begann meine Lampe hin und her zu schwingen, in rasender 

Eile, wie ein verriickt gewordenes Pendel. 

Das Sofa, auf dem ich lag, schwankte wie ein leichtes Boot bei See- 

Sturm. Die Wanduhr fiel plotzHch auf die Diele. Die SpHtter ihrer zar- 

ten Glasscheibe klirrten wie kleine, diinne Silbermiinzen. 

Ganz unerwartet erfolgte ein dumpfer Knail. Da hatte irgendein Planet 

der Erde die erste Ohrfeige versetzt. 

Die Wande sturzten. Sie sanken lautlos zusammen, man horte iiber- 

haupt nichts Irdisches bei dem wiitenden metaphysischen Geheul. 

Ich befand mich auf einmal im Weltraum. Ich wirbelte. Mit mir wir- 

belten ein paar MilHonen Menschen im Ather. Wir sahen aus wie 

kleine Papierschnitzel, die ein Schulbub aus dem vierten Stock bei star- 

kem Windgang flattern lafit. 

Plotzlich flog etwas Scharfes, feurig Goldenes vorbei. Ich war geblen- 

det. Die Augen schmerzten. Zugleich aber hatte ich ein wohUges Ge- 

fiihl. Ich ahnte Kohle. Blitzschnell durchzuckte mich ein Schrecken: 

Hatte ich doch die Kohlenkarte! Aber ebenso schnell erinnerte ich 

mich, daf^ ich mich ja im Weltraum befinde, wo man keine Kohlenkar- 

ten kennt. Ein Komet! schrien MiUionen Stimmen neben mir. Ja, es 

war ein Komet. Ich schwang mich mit beiden Beinen auf seinen riesi- 



19 19 '^^7 

gen feurigen Schwanz. Mit mir einige Millionen Menschen. Vier Mil- 

lionen verbrannten sofort. Die anderen aber blieben wohlgemut sit- 

zen und spiirten das Feuer gar nicht. Als ich mich umsah, gewahrte 

ich, dafi es lauter Deutschosterreicher waren, denen die Siedehitze des 

Kometenschweifes gerade die richtige Temperatur war. Ich vermute, 

dafi es mit dem kolossalen Kohlenmangel weiland Deutschosterreichs 

zusammenhangt. 

Zugleich hielt der Komet still. Er konnte den so schwer gewordenen 

Schweif nicht mehr schleppen und blieb frei schwebend im Welten- 

raume haften, in nachster Erdnahe, so dafi wir den Weltuntergang ge- 

nau beobachten konnten. Einige meiner Schicksalsgenossen batten 

sich gerade auf den Weg ins Theater befunden, als der Weltuntergang 

anfing, und sahen nur durch ihre Operngucker auf die berstende 

Erde, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. 

Man sah: 

den ganzen Obersten Rat so ratios, als wenn er Ordnung in Rutland 

hatte schaffen wollen; 

die Horthysche Armee, wie sie plotzlich gegen die russischen So- 

wjettruppen schol^ und alle zusammen sich zu einer bedrohUchen 

politischen Situation verkrampften; 

Wilson, wie er sich vergeblich bemiihte, auf seinem Kopf zu ste- 

hen.. .; 

Louis Botha, den Premierminister, wie er am Kap der Guten Hoff- 

nung hing und nach der Transvaalburenrepublik zuriickzappelte; 

den Heiligen Vater, der sich herzHchst iiber die endlich erlangte Frei- 

heit freute und mit den Kardinalen ein Tedeum sang; 

Kaiser Wilhelm, der rittlings auf dem Popokatepetl safi und eine Rede 

hielt, in der er hervorhob, daE er aus Rache gegen die Revolution den 

Weltuntergang arrangiert habe; 

Karl Kraus am Kreuzknauf des Stephansturmes, wie er die letzte 

»Fackel«-Nummer am Weltbrand entziindete. 

Und vieles, vieles andere. 

Plotzlich gab es noch einen lauten Krach. Die Erde sank in die Tiefe. 

Wie ein verbrannter Gummiballon. Sie war nur noch ein Haufchen 

Asche. 

Nur ein paar Millionen Osterreicher, die sich auf dem Kometen- 

schwanz hiniibergerettet hatten, waren vom ganzen Erdball ubrigge- 

blieben und bildeten ein neues Osterreich. 



198 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Komet erholte sich bald von seinem ersten Schreck iiber die plotz- 

liche Belastung und begann langsam wieder herumzuschweifen. 

Es bewahrheitete sich denn schliefilich doch das alte Wort von Oster- 

reichs ewigem Bestand. 

AUerdings hatte es mit Riicksicht auf den Kometen heifien sollen: 

Austria irret in orhe ultima. 

Josephus 
Der Neue Tag, 18. 12. 1919 



DIE RENTABILITAT DER FAULHEIT 



Weil wir sie nicht achteten, racht sie sich nun an uns, die Faulheit. Die 
These: »Der Mensch mufi arbeiten« ist eine mitteleuropaische, gera- 
dezu preufiische Erfindung. Wer wufite bei uns je den Segen der Faul- 
heit zu schatzen? Wir stohnten unter dem Fluch der Arbeit und nann- 
ten sie einen Segen. Wir vergafien, daE Adam erst arbeitete, als er aus 
dem Paradies der Faulheit vertrieben war. Mit der einem Mitteleuro- 
paer angeborenen Fahigkeit, das Unnatiirliche auf dem Umweg iiber 
die Logik zur Selbstverstandlichkeit zu machen und dem Leider-Not- 
wendigen den Stempel des Gottseidank-Niitzlichen aufzudriicken, 
zerplagten wir die Jahrhunderte unserer Entwicklung. Arbeit! Arbeit! 
Europa stinkt nach Benzin zu einem Himmel aus Blaupapier. Milliar- 
den Zahnrader zermalmen das letzte Quentchen Schonheit. Wie 
ungliicklich fUhlt man sich am Sonntag! Man wird krank vor Arbeits- 
losigkeit! Der Sabbath, die einzige armsehge Reminiszenz aus dem 
verlorenen Paradies, wird verschluckt vom Gegahne der Langeweile, 
die der Mitteleuropaer erdulden mufi, wenn er nicht schuftet. Er geht 
in Urlaub, nicht um zu feiern, zu faulenzen, sondern um »auszuru- 
hen«. Begibt sich in eine Tatenlosigkeit, die eine Tatigkeit zur Voraus- 
setzung hat. Er kennt keine andere. »Der Mensch mufi arbeiten.« 
Der Siidlander, der Orientale, sie konnen faulenzen. Denn die Faulheit 
ist ein Talent und erfordert Fertigkeit. Das Faulenzen ist eine Kunst. 
Der Siidlander faulenzt mit Anmut und Grazie. Der Orientale mit Phi- 
losophie und Tiefsinn. Die Kunst, auf einer leuchtend-griinen Wiese 
zu liegen, in Gottes groEe blaue Augen zu sehen und ganz einfach 



19 19 199 

gliicklich zu sein, treffen bei uns nur Landstreicher und Poeten. Auch 
heute noch kann es der Durchschnittseuropaer nicht! Heute, da die 
Arbeitslosigkeit den Arbeitsmarkt beherrscht und die Faulheit renta- 
bel ist! 

So racht sie sich an uns, die Faulheit. Sie wird rentabler als die Arbeit. 
Arbeit ist Aufwand. Die kleinste Anstrengung kostet mehr, als sie ein- 
tragt. Wenn ich iiber die Strafie gehe, sind meine Sohlenatome, die auf 
den Pflastersteinen liegenbleiben, mehr wert als der Ertrag meines We- 
ges. Wenn ich einen Brief schreibe, kosten Porto, Tinte und Papier 
mehr, als mir dieser Brief je einbringen konnte. Arbeit ist Aufwand an 
Material, Geld, Kraft. Es ist cine Verschwendung von lauter Unersetz- 
lichkeiten. 

Die Konsequenz dieser Einsicht, die sich - bewufit oder unbewufit - 
bei alien Zeitgenossen herausgebildet hat, ist der heute sichtbar gewor- 
dene Hang zur Faulheit und Arbeitslosigkeit Mitteleuropas. Man ver- 
sucht iiberall, die Arbeit auf das geringste Minimum zu reduzieren. 
Der auf der Borse spielende Gymnasiast, der Unterstiitzung bezie- 
hende Arbeiter, der schiebende Staatsbeamte, der hasardierende Bank- 
kassier sind alle nur Folgeerscheinungen der einfachen Wahrheit, dafS 
die Faulheit - rentabel ist. Man will faulenzen, um leben zu konnen. 
Vom Arbeiten kann man's ja nicht mehr. Weil aber diese miiSratenen 
Ebenbilder Gottes die Kunst des Faulenzens nicht verstehen, wird ihre 
Faulheit hafihch. Es ist immer noch etwas aus der grofien Sippschaft 
der Arbeit in dieser Faulenzerei: Betriebsamkeit. Man arbeitet nicht, 
aber man ruht auch nicht. Man ist »betriebsam«. Man »betatigt sich«. 
Es tut sich was. 

Nein, man kann nichts verdienen, wenn man arbeitet! 
Man mufi ins Kaffeehaus gehen, sich an einen Tisch setzen und warten. 
Der Verdienst kommt an deinen Tisch, fragt hoflich: Ist's gestattet? 
und setzt sich. In der Luft schwirren Aktien und baumeln mit den 
Zinsfiif^chen just iiber deiner Nase. Du brauchst nur zu schnurren. 
AUes hast du im Kaffeehaus, wenn du nur arbeitslos dasitzest: Zucker, 
Kerzen, Zigaretten, Leder, Provision. Im Biiro umzingeln dich Zahlen. 
Spitze Buchstaben spiel^en dich auf. Geschafte macht man, wenn man 
nicht arbeitet, sondern nur sitzt. 

Fast noch mehr Gewinn bringt das Schlafen. Morgenstunde hat so viel 
Gold im Munde, dal$ es am eintraglichsten ist, sie zu verschlafen. Ein 
Friihstiick, ein zweites Friihstiick, zwei Zigarren, zwei Fahrten in der 



200 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Elektrischen und dem Autobus - - verdient man so viel an einem Vor- 
mittag? Es ist besser, man verschlaft ihn. Ich verdiene jeden Morgen 
dreifiig Kronen, indem ich schlafe. 

Aus der Arbeitslosigkeit wird sich die Schiafseuche entwickeln, wenn 
alle iiberzeugt sein werden von dem Gewinn des Schlafens. AUerdings, 
es ieiden viele an Schlaflosigkeit. Desto besser! Man wird ein Konsor- 
tium zur Erzeugung und Verbreitung von Morphium bilden, Mor- 
phiumaktien werden steigen! Um unermefilich reich zu werden, 
braucht man blofi Morphiumaktien zu kaufen und - sich schlafen zu 
legen. Erst dann wird die Welt voUkommen faul sein . . . 

Der Neue Tag, 21. 12. 1919 



VOLKSCAFE 



Die Hauser sind wie schmutzige Kinder in der Fremde, die sich ihrer 
schiechten Kleidung schamen und scheu zusammenriicken. Sie wagen 
sich nicht auf die Hauptstrafie, sondern driicken sich in Seitengafichen. 
An einem solchen Haus - es steht just an der Ecke - klebt, ein biCchen 
zu sichtbar vorgeschoben, wie ein Schwalbennest an einem Dachfirst, 
ein kleines Kaffeehaus. 

Wenn man hineinkommt, sieht man an den Wanden Kleiderregale mit 
Nickelhaken. Die Nickelgiasur ist abgesprungen, und die Haken ha- 
ben matte Flecke. Sie sehen aus wie erbhndete Augen, An den Haken 
ringsum hangen Zeitungen und illustrierte Blatter. Zerschhssen und 
schief, machen sie den Eindruck von totgehangten Lebewesen. 
Das Kaffeehaus ist schmal und engbriistig, und die Tischchen mit den 
Eisenplatten stehen dicht gedrangt nebeneinander und wirken atembe- 
klemmend. Es ist wie eine Volksversammlung von Kaffeehausmobeln. 
Alle drangen sich um den eisernen Ofen in der Ecke, der auf einem 
steinernen Postament steht, wie um eine Rede zu halten. Sein Mund 
gliiht vor Begeisterung. 

Der Kaffeesieder hat gute Verbindungen mit Bahnkohledieben - hat 
einmal jemand am Nebentisch gesagt. Wie lobhch ist das vom Kaffee- 
sieder! . . . 
In diesem Kaffeehaus bekommt man um biUiges Geld, um sehr billiges 



19 19 ^01 

Geld, einen weiEen Kaffee. Er ist nicht genauso weifi wie im Frieden. 
Er ist iiberhaupt nicht weifi, sondern braun. Aber er heifit »weifier 
Kaffee«, und also ist er es auch. Es geht den Dingen genauso wie den 
Menschen. Sie sind, was sie heifien. 

Den Kaffee trinkt man aus dickbauchigen Porzellantassen, die mit ih- 
ren vielen vernarbten Rissen und Spriingen geradezu aussehen wie 
Korpsstudentengesichter. Es gibt bestimmte Tassen, iiber deren Rand 
hangt eine braune Milchhaut wie ein goldenes Vlies. Aber das sind nur 
bestimmte Tassen, und die gelangen an bestimmte Gaste. 
Denn im Volkscafe verkehren bestimmte und unbestimmte Gaste. Es 
ist wie mit den Artikeln in der deutschen Grammatik. Die bestimmten 
haben vor den unbestimmten aufier den gewissen Tassen noch andere 
Beziige. Vor allem haben sie Namen, die bestimmten. Der eine ist der 
Herr Franz, der andere der »Sepp«, der dritte der Herr Wawlicka. 
Jeder hat einen Namen, und der Kaffeesieder sagt: Guten Morgen, 
Herr Franz! Oder: Servas, Pepi! Oder: Ergebenster habe die Ehre, 
guten Morgen zu wiinschen, Herr Wawlicka! Denn der Herr Waw- 
Ucka ist, wie schon sein Name sagt, Schuldiener. 
Interessanter aber sind die unbestimmten Gaste, Denen sagt der Kaf- 
feesieder nichts. Hochstens, dafi er ihnen herabfallend zunickt. Wor- 
auf die unbestimmten, die zum Unterschied von den bestimmten etwas 
weiter entfernt vom Ofen sitzen, im Chorus: Guten Morgen, Herr 
Hassenberger! drohnen. Denn unbestimmte Menschen sind gewohn- 
lich demiitig und fur ein Kopfnicken dankbar. 

Ich mufi schon sagen, mich interessieren die Unbestimmten mehr. Sie 
sind interessant wie alles, was noch nicht entdeckt ist. Sie haben keine 
Bezeichnung, und ich kann mir vorstellen, wie sie heifien: Herr Tag- 
lohner, Herr Pechvogel, Herr Arbeitslos, Herr Schwindsiichtig. So- 
lange ich sie nicht kenne, heifien die Menschen so, wie sie sind. 
Ich weifi, dafi jener Mann dort, dessen langer, diinner Hals in einem 
weiten schmutzigen Hemdkragen herumstochert wie ein Federhalter 
in einem weiten Tintenfafi und vergeblich nach einem Halt sucht, im 
»Logierhaus« genachtigt hat und nun auf dem Weg ist in die Schuler- 
strafie, wo der »Kleine Anzeiger« offene Stellen zu vergeben hat. Ich 
weifi genau, dafi er ein schmutziges Kuvert aus der Tasche zieht und 
auf der Riickseite mit einem lacherlich schlecht gespitzten, will sagen: 
gestumpften Bleistift die Adressen vermerkt. Er schreibt eckig, unbe- 
holfene, gelahmte Buchstaben und driickt dabei das unterste GUed des 



202 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

rechten Zeigefingers so fest auf den Bleistift, dafi sein Nagel ganz weifi 
wird. Dann geht er von Stelle zu Stelle, von einem Bezirk in den ande- 
ren, und uberall ist schon jemand dagewesen. Der Mann heifit sicher 
»Pechvogel«. 

Und so hat jeder von den »Unbestimmten« eine interessante Ge- 
schichte. Und alle Geschichten sind mehr oder weniger traurig. 
Aufier mir weif5 noch jemand im Kaffeehaus alle Geschichten: Das ist 
namlich der Pudel Lux, der als Kassier im Volkscafe mit Kost und 
Quartier engagiert ist und den ganzen Tag zwischen Schnapsglaschen 
und Saccharin und Backwerken auf dem Kassatisch sitzt. 
Der Pudel ist ein Philosoph und ein grofier Menschenkenner. Wenn 
jemand von den »Unbestimmten« sich dem Kassatisch nahert, hebt 
Lux das rechte Augenlid ein wenig. Dann lafit er es wieder zuklappen, 
oder er stellt sich plotzlich auf alle vier Beine und beginnt zu schnup- 
pern. Lux ist ein sehr gescheiter Mensch. 

Die junge Kellnerin, die Resi, die eine grofie schwarzlederne Tasche an 
der Hiifte hat, kann sich auf ihn verlassen. Auch die Resi teilt die Gaste 
in bestimmte und unbestimmte. Die Unbestimmten miissen sofort den 
»Weif5en« bezahlen. Die Bestimmten rufen selbst: zahlen! und geben 
ein Trinkgeld. 

Das grofite Trinkgeld gibt Herr Wawlicka, der Schuldiener. 
Da kam eines Tages einer, der gab ein noch grofJeres Trinkgeld. Er 
trug eine lederne Aktentasche und einen Regenschirm. Sein Kragen 
war nicht sehr blendend, aber immerhin nicht alter als zwei Tage. Und 
sein Hut konnte ganz gut als Schlapphut gelten. 
Im iibrigen war er noch jung und hatte ein blondes Schnurrbartchen. 
Und seine Hose war gebiigelt. Nur die Schniirschuhe waren geflickt. 
Der kam tagUch und gehorte vorderhand zu den »Unbestimmten«, 
Der Kaffeesieder aber behandelte ihn zuvorkommend, und da er den 
Namen nicht wufite, verbeugte er sich extra und tief. 
Der junge Mann sagte freundlich: guten Morgen! 
Eines Tages, es war der Erste, ging der neue Unbestimmte zum Kassa- 
tisch, um sich eine Backerei zu hoien. Lux zog ein Augenlid auf, er- 
kannte in dem Unbestimmten einen Gymnasialprofessor und Hef5 es 
sofort wieder zuklappen. 

Seitdem sagte der Kaffeesieder: Aller ergebenster Diener, ich habe die 
Ehre, guten Morgen gewiinscht zu haben! Lux muf^ es ihm mitgeteilt 
haben, da£ der Neue ein Gymnasiallehrer ist. 



19 19 203 

Der Herr Professor bekommt von Resi, der Kellnerin, Backwerk auf den 

Tisch, er sitzt in der nachsten Nahe des Ofens und zahlt spater als alle 

andern. 

Herr Wawlicka, der Schuldiener, hat ein Gefiihl wie einem etwas besser 

gestellten Kollegen gegeniiber. 

Die Resi bemiiht sich sehr, nett zu erscheinen, Vorgestern und gestern 

hatte sie statt der grofien, schwarzen eine kleine, sehr zierliche Spitzen- 

schiirze um. 

Auch der Herr Professor tragt eine neue Krawatte. 

Ich weifi genau, wie die Geschichte sein wird. Im April, wenn der Holler 

am Giirtel bliihen wird, wird der Herr Professor mit Resi sitzen. Er wird 

ihraus Rainer Maria Rilke vorlesen. »DieGeschichtenvomlieben Gott«. 

Und vielleicht eigene Gedichte. Der Mann sieht so ganz danach aus, als 

wiirde er Verse schreiben. 

Und die Resi wird eines Tages einen blonden Buben kriegen. 

Und dann wird es vielleicht aus sein? 

Ich fragte Lux, ob ich recht hatte mit meiner Geschichte. 

»Ja, c'est la vie\« bHnzelte der kluge Pudel.- 

Der Neue Tag, zy ii, 1919 



KIND UND KUNST 



Ich weifi nicht, ob es »Kunst« ist. Aber dafi ein Fingerzeig Gottes darin 

ist, das weiE ich. 

Ich hore die Ewigkeit im Lallen des Sechsjahrigen. In den Pinselklecksen 

rauscht die Farbensymphonie himmlischer Seligkeiten. 

Nein, ich bin kein Kunstkritiker. Ich weiE nicht, welchen kiinstlerischen 

Wert diese Werke an den Wanden und in den Glaskasten haben. Aber ich 

wei£, dafi sie Werke sind. Daf^ sie menschlichen Wert haben. Dafi sie 

vielleicht nicht »grofi« sind, aber »ewig«, weil gottlich. 

Pinselstriche und Patzen, ja, richtige »Patzen« an den Wanden. Die ganze 

lacherliche Unbeholfenheit kindlicher Seele naiv auf einem Papierbogen 

ausgebreitet. Man sagt einem Kind: Male, was du siehst. Und das Kind 

malt und sieht. Oh, wie gut sieht ein Kind, auch wenn es schlecht malt. 

Der kleine Pribila Th. hat eine Mutter, eine Blumenverkauferin. Er malt 



204 D^S JOURNALISTISCHE WERK 

eine B lumen verkauferin, Ein Korb, natiirlich ein bifichen robust, und 
Blumen darin und ein Weib dahinter, Und die Blumen sind frisch, wie 
mit Wasser bestaubt, und die Frau lebt. 

Wiesenbilder. Ottakringer Kinder halten Bauplatze fiir Wiesen. Was 
wissen sie von einer Wiese? Also hat ihre »Wiese« das Aussehen eines 
gestickten »Laufers«. Es sind Blumen wie aus Baumwolle. Sozusagen 
eine Textilwiese. 

Aber andere Kinder, die Ferienreisen machen konnen, haben schon 
Wiesen gesehen. Die Erinnerung mischt noch seltsame Phantasieblu- 
men in das Bild. Wenn man in der Stube sitzt, denkt man an die Wiese. 
Und die Wiese ist viel, viel prach tiger, als sie »eigentlich« ist. Wenn 
man sie gar malen soil, so wird sie zum Inbegriff der Marchenherrlich- 
keiten der ganzen Welt. Also hinein in den schmalen Raum mit 
Traumfarbe! Die Wiese rauscht, jubelt in roten Akkorden! Gelbe 
Kleckse zwitschern dazwischen. Sanft und stark halt ein griiner Pinsel- 
strich das Ganze in verniinftigem Bann. Wie ein Kapellmeister, der 
rote Trompeten, gelbe Fagotte, himmelblaue Bogenstriche zahmt, dafi 
sie nicht durcheinandertaumeln. 

Oh, der Prater! Im Prater, sagt so ein gottloser Erwachsener, sind: 
Riesenrad, Rutschbahn, Karussell, Watschenmann. Im Prater, malt die 
gottbegnadete Kinderseele, ist Lehen, AUes andere: Riesenrad, 
Rutschbahn, Karussell, Watschenmann - ist Nebensache. Die Impres- 
sion ist »Bewegung«, Es ist Tatigkeit, Vorwartsdrang. Alles Geschaute 
ballt sich zum Gefuhlskomplex: Lebendigkeit. Man malt ein Karussell. 
Aber das ist nicht die Hauptsache. Sondern was um das Karussell 
herum geschieht. Ein Junge blickt ergotzt darauf. Die Ergotztheit 
kommt nicht in seinem Gesicht zum Ausdruck. Sondern in der Stel- 
lung seiner Beine. In der Ergotztheit seines rechten Stiefels. Die ganze 
Gestalt atmet Freude. Das Spiegelbild des Karussells im Spiegel der 
Knabenseele ist eben das Thema: Karussell. 

Revolution bedeutet diisteres Elementargeschehen. Der Himmel ist 
ganz unwahrscheinlich finsterblau. Rot flammt Fahne, Tafel, Auf- 
schrift dariiber. 

Revolution bedeutet Kampf. Element: Volk gegen Maschine: Militar. 
Steif, mechanisch wie aus Metall riicken bleierne Doppelreihen vor ge- 
gen den wilden Haufen, der die Auflehnung darstellt. Irgendwie fiihlt 
man: Sicher siegt vorderhand die Mechanik. Aber Urkraft, Natur 
brandet in dem wirren Gewoge der Undisziplinierten. Sie sind nur 



19 19 205 

einzudammen, niemals auszuschopfen. Was sind diese bleiernen Dop- 
pelreihen? Bestenfalls Deiche aus Eisen gegen die Brandung des Mee- 
res. 

Eine Strafienszene, Ein Piilcher in Hemdsarmeln fordert einen Mann 
heraus. Die »Watschen«, die im nachsten Augenblick erfolgen wird, 
liegt in der Luft. Man sieht ihren Knall. Deshalb zittert das kleine 
Madchen so und driickt sich an ihren Begleiter, einen Knaben. Der 
zittert nicht. Im Gegenteil. Er freut sich auf den Knall der Ohrfeige. 
Und in feiner, kaum merkbarer Ironie zwei Koter auf dem Pflaster. 
Symbolisieren sozusagen das Tierische der beiden Manner. Diese Pa- 
rallele ist sicher unbewufit, Desto besser: Das Bild hat so eine naive 
Pointe. 

Es ist viel zu sehen in dieser Ausstellung »Kind und Kunst«. Mehr 
Kind als Kunst. Aber um wieviel mehr ist Kind als Kunst! Die Ausstel- 
lung miifite heifien: Das Kind. Und wer einen Blick in die Ausstellung 
tate, wiifite sofort: Kunst! 

Der Neue Tag, 28. 12. 1919 



DAS MARCHEN VOM GEIGER 



NatiirHch war der Geiger jung und blond. Und seine Geige war aus 
einem Zauberholz und hatte, wie jede andere Geige, vier Saiten. Die 
eine war aus Eisen, die zweite aus Silber, die dritte aus Gold - und die 
vierte war etwas ganz, ganz Wunderbares: namlich ein langes, feines 
Elfenhaar. Es war eine Geige, wie sie in einem Marchen gar nicht an- 
ders denkbar ist. Eine richtige Marchengeige. 

Es ist sehr leicht, Marchen zu erzahlen. Ware das, was ich hier 
schriebe, eine Erzahlung, eine Novelle oder so was, ich miiEte sagen, 
woher der junge, blonde Musikant die Geige habe, Aber in einem Mar- 
chen ist alles so einfach. Die Geige war da und basta. Man frage also 
nicht, wie sie in den Besitz des jungen, blonden Musikanten kam. 
So schon und bezaubernd konnte der junge Geiger spielen, dafi ihn 
selbst die Taubstummen in den Instituten horten und die Melodien 
nachsangen. Die Sterne am Himmel tanzten, und sogar die Fixsterne 
drehten sich im Kreise. Der junge Musikant zergeigte die ganze Astro- 



206 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nomie, und die ordentlichen Professoren waren sehr bose, dafi die Fix- 
sterne es wagten, ihre Fixheit gegen alle Wissenschaft aufzugeben und 
zu tanzen. 

Es ist nicht iiblich, in einem Marchen nur einen Geiger vorkommen zu 
lassen. Es mufi, fiihle ich, etwas mit dem Geiger geschehen, und ich 
will deshalb noch eine Prinzessin dazutun. 

Was? Prinzessinnen soUen nicht mehr vorkommen? Das ist nicht rich- 
tig. Denn erstens: gibt es auch ungekronte Prinzessinnen, und zwei- 
tens kann ich von der Tradition nicht abweichen: In Marchen gibt es 
hauptsachlich Prinzessinen. 

Natiirlich war die Prinzessin noch jiinger und blonder als der Geiger. 
Ob sie Wasserstoffsuperoxyd fiir ihre Haare brauchte, weifi ich nicht. 
Es ist immerhin auch das moglich, da sie ja auch im iibrigen typische 
Fraueneigenschaften hatte, wie bald bewiesen werden soil. 
So bildete sie sich z.B. ein, sie konne nur einen Mann von ganz aufier- 
ordentlichen Fahigkeiten zum Gemahl und zum Konig ihres Landes 
machen. Sie veranstaltete daher ein Preisausschreiben durch die Zei- 
tungen. 

Daraufhin meldeten sich zahlreiche Werber. 

Der eine war ein Maler. Er stellte eine Leinwand auf, strich dreimal mit 
dem Pinsel hin und her, und die Prinzessin stand da, kubistisch, futuri- 
stisch, expressionistisch. Jedenfalls so, dafi man sie nicht erkennen 
konnte und der ganze Hof infolgedessen von der verbliiffenden Le- 
benswahrheit entziickt war. 

Der zweite war ein Dichter. So iiberragend grofi, dafS er niemals eine 
Idee hatte. Alle Ideen, die andere, geringere hatten, bezeichnete er als 
nichtswiirdig im Vergleich mit jenen, die er hatte haben konnen, wenn 
er kein Dichter gewesen ware. Dagegen bestand seine Kunst darin, 
Worte zusammenzukuppeln, wenn sie »sinnlos-prachtig« waren und 
zueinander nicht pafiten. Sie brauchten blofi eine Mitgift an Klang und 
Farbe zu besitzen und waren schon verheiratet. Der Dichter war sozu- 
sagen ein Worte-Heiratsvermittler und zahlte sich deshalb zur Mo- 
derne. Er hatte viele Jiinger, die es aber in ihrer Kunst nur bis zu Wort- 
verlobungen brachten, die manchmal auch auseinandergingen. Nie- 
mals brachten sie eine richtige Worterehe zustande. 
Und aufierdem kamen noch viele andere Kiinstler und Weise. Ein 
Schnellaufer, der mit den Sonnenstrahlen um die Wette lief. Ein Jon- 
gleur, der mit Mond und Sternen Fangball spielte. Ein Baumeister, der 



19 19 ^o? 

aus Regenbogen Briicken baute. Ein Gedankenleser, den man aber 

nicht anerkennen woUte, weil er, ein treuer Prinzipienmensch, jedem, 

der ihn um Experimente bat, sagte: dafi der Konsultierende nichts 

denke. 

Kurz, es waren alle gekommen, die etwas Besonderes konnten. Nur 

ein beriihmter Telepath fehlte noch. Er hatte sich auf dem Wege in das 

Schlofi der Prinzessin verirrt und konnte sich nicht zurechtfinden. 

Auch main junger Geiger kam in jenes Schlofi. 

Er gefiel der Prinzessin ausgezeichnet. Aber vorsichtig, wie nun schon 

einmal Prinzessinnen sind, hiefi sie den jungen Geiger warten. Wer 

weifi, dachte sie, es kann immer noch einer kommen, der mehr kann. 

Ich mufi schon sagen, sehr schon war das nicht von der Prinzessin. 

Dabei war sie nicht einmal ein boses Ding. Sie war nur jung und blond 

und eben eine Prinzessin. 

Eines Tages kam ein Herr mit einem Monokel. Auf seiner Visitenkarte 

stand: v. Revelant, Tanzmeister. Es war der beriihmteste Tanzer des 

Landes. 

Man ahnt schon, was da geschah. Ich konnte mein Marchen hier ganz 

gut abbrechen. Zweifeh jemand noch daran, dafi einer Prinzessin, einer 

blonden jungen Prinzessin, der Tanzer besser gefiel? 

Es kam, wie es kommen mufite. Der Tanzmeister bat den Geiger zu 

spielen. Und der Geiger spielte. Denn junge Musikanten sind stets be- 

reit, sich in ihr eigenes Verderben zu spielen. 

Nun ist das Marchen aber wirkHch aus. Der Schluf^ ist ja so nebensach- 

lich! 

Stellen wir uns vor, dal^ der Musikant zur Hochzeit des jungen Paares 

aufspielte. Dafi er, wie es in Marchen vorzukommen pflegt, piotzlich 

hinfiel und starb. 

Und dal^ die Prinzessin, jah erschreckend, entdeckte, da£ ihr Tanzer 

gar nicht tanzen konne ohne Musik. 

Oh, wie gluckhch ware der Geiger gewesen, wenn er auch noch hatte 

tanzen konnen. 

Aber das kann eben niemals sein. Geiger konnen nicht tanzen. Einfach 

deshalb, weil sie - geigen miissen. 

Josephus 
Der Neue Tag, 28. 12. 1919 



KINDER NACH MILANO 



Der Portier des Siidbahnhofes hat vierhundertachtunddreifiig Wiener 
Proletarierkindern die Reise nach Italien, Mailand, Milano, freigege- 
ben. 

Der Herr Portier vom Siidbahnhof hat da ein gutes Werk getan. Und 
dieses Bewufitsein strafft seinen Bauch. Die Proletariereltern, die die 
Kinder zum Zug begleitet haben, stehen dicht gedrangt, diinn und aus- 
gemergeh vor der Tiir, die zum Perron fiihrt. Wenn man die Eltern 
sieht, denkt man an ausgeprefite Zitronen. Und an »Milano«, die 
runde, saftige VoUblutpomeranze. 

Der Mann vor dem Perroneingang lachelt giitig und beruhigend, Als 
woUte er sagen: Ich weifi schon! Ihr woUt eure Kinder sehen! Aber 
fiirchtet nichts! Ihr kennt mich! Ich habe sie euch nach ItaUen ge- 
schickt. Im geeigneten Moment werde ich euch noch auf den Perron 
lassen. 

Und die Leute sind so gliickUch, Und warten auf den geeigneten Mo- 
ment. 

Vierhundertachtunddreifiig Kinder sind schon im Zug verstaut. Sie 
sind klein und in graue Wolle verpackt, und es sieht aus, als ob vier- 
hundert Gepackstiicke im Zug nach Milano lebendig geworden waren. 
Die Kinder kollern durcheinander wie Reisekoffer. Das Coupe zweiter 
Klasse, in dem sie jetzt herumtollen, ist das erste warme Zimmer seit 
langer Zeit. 

Der Perron ist leer. Nur ein paar Manner gehen herum. Die ItaHener, 
die mitreisen. Und vom Arbeiterverein »Kinderfreunde«. 
Eigenthch hat die sozialistische Gemeinde von Mailand die Kinder ein- 
geladen. Und nicht der Portier. Er lachelt nur so. Von Beruf. Ein Por- 
tier ist leicht geriihrt, wenn er vor einem Perroneingang steht. 
Die paar Menschen da gehen auf und ab, und es sind gar nicht ihre 
Kinder, die wegfahren. Wenn man dem Wachmann sagt: kein Angeho- 
riger, so ist man - schwups! - schon auf dem Perron. 
Man mufS nur »kein« stark betonen. 
»Milano« ist eine wunder-wunder-wunderschone Stadt. 
Wenn man nach »Milano« fahrt, kann man, mufi man Proletariereltern 
vergessen, die diinn und ausgemergelt sind wie ausgequetschte Zitro- 



19 19 ^09 

Der Portier weifi das, und deshalb lachelt er so giitig. 

Uberhaupt lachelt alles. Der Stollwerck- Automat lachelt mit seiner 

kleinen abgeblafiten Spiegelscheibe. Die grofie diistere Laterne an der 

Decke grinst. Und die kleinen Laternen der Bahnwachter blinzeln la- 

chelnd und schlau: 

»Milano« ist eine wunder-wunder-wunderschone Stadt. 

Deshalb lachelt alles. Und alles bildet sich ein, die Kinder nach Milano 

geschickt zu haben. 

Und dann, vor Abgang des Zuges, werden die Eltern auf den Perron 

gelassen. 

Oh, wer sagt, dafi es den arbeitenden Menschen gutgeht? Die Hande 

der Manner sind rot, schwer und plump. Die Finger sind steif, wie aus 

Holz, Und diese schweren Hande schlottern wie mechanisch ange- 

setzte Werkzeuge an lacherlich diinnen Handgelenken. 

Proletariergesichter im Schimmer einer blakenden Perronlampe. Sie 

sind zerraderte Gesichter. Als ob eine 25-HP-Dynamomaschine mit 

tausend Radern iiber sie gefahren ware. Und manche sind platt und 

leer und ausdruckslos. Wie iiberfahren von einer Walze. 

Aber alle sind irgendwie iiberfahren. 

Ehe die Kinder hinfahren, mufi man sie noch einmal sehen. Und ob sie 

auch gute Platze haben. Und ob sie auch gut gegessen haben. 

Die Leute werfen mit Namen auf dem Perron herum. Pepi! Hans! 

Crete! 

Oh, es gibt so viele Pepis! Wie soil jemand wissen, daE es just der Pepi 

Werner ist? 

Aber das kleine Frauchen in dem lacherHch-diinnen Schal, der erfrie- 

rend wirkt, wenn man ihn ansieht, ruft nur: Pepi! 

Man wird doch wohl ihren Pepi kennen! Ihren Pepi, der nach Milano 

fahrt. Milano, die wunderschone Stadt, die in Itahen liegt. 

Um neun Uhr vierzig Minuten geht der Zug. Und um neun Uhr acht- 

unddreiEig erscheint Pepi Werner am Fenster. 

Das kleine Miitterchen versucht an der Wagenwand emporzuklettern. 

Ach! Die Wand ist glatt, und sie rutscht ab. 

Sie zappelt wie eine kleine FUege, die sich mit einem Fiif^chen festge- 

klebt hat. Dieses kleine Frauchen will ihren Pepi kiissen. 

Kann man ihn nicht einmal kiissen, wenn er nach Milano fahrt? 

Endlich steht sie auf dem Trittbrett, Aber ach! Sie ist zu klein und 

reicht nicht bis zum Mund ihres Pepi. 



210 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ein Mann hebt die kleine Frau hoch. Jetzt, jetzt miissen sich ihre Lip- 
pen beriihren. 

Aber just in diesem Augenblick gibt's einen Ruck, und der Zug fahrt. 
Fahrt nach Mailand, Milano^ der wunder-wunder-wunderschonen 
Stadt. 

Josephus 
Der Neue Tag, 30. 12. 1919 



1920 



l> 



DAS ANTLIT2 DER ZEIT 



In der Kirche des heiligen Johannes, Pfarrkirche des zehnten Bezirkes, 
hielt Prediger Pater Hamerle an einem der letzten Dezembertage des 
Jahres 1883 eine sehr schone Stegreifpredigt. Er sprach von den Ge- 
gensatzen zwischen Reich und Arm und meinte, daf5 der Schweil^, der 
an der Hand des armen Mannes kiebt, besser und gottgefaUiger sei als 
der Ring am Finger des Reichen. Er zitierte Abraham a Santa Clara 
und Schiller, die ebenfalls die Armut preisen. Und zum Schlusse 
wiinschte der Pater seinen Pfarrkindern ein gliickliches neues Jahr und 
vergafi nicht, sie zum Gehorsam gegeniiber der kirchUchen und staatU- 
chen Ordnung aufzurufen. 

Der Taglohner Eduard Ocholsky und der Schneidergehilfe Wenzel 
Grouhg machten hierauf Krawall. Ihnen gefiel die Predigt nicht. Schil- 
ler und Abraham a Santa Clara imponierten ihnen wenig. Sie wollten 
lieber den Ring vom Finger des Reichen an ihren eigenen Fingern se- 
hen als den Schwei{5. Es entstand ein Larm in der Kirche. Fromme 
Pfarrkinder stiirzten sich auf die beiden und auf andere Ruhestorer, die 
mitkrawalHsierten, und nahmen sie fest. Die Ketzer wurden der PoH- 
zei iibergeben. Und - o Schrecken! - im Besitze eines der Verhafteten 
wurden sozialrevolutionare Druckschriften vorgefunden. 
Am Dinstag, den ersten Janner des Jahres 1884 (man schrieb noch 
»Dinstag« ohne »e«) fiihlten sich die Leitartikler jener Zeit verpflich- 
tet, dem Publikum mit mehr oder weniger frommen Stegreifpredigten 
zu kommen. Die Leitartikel begannen in der Regel: »Wir stehen an der 
Schwelle eines neuen Jahres. « Von dieser Stelle aus wurde iiber das alte 
Jahr des langen und noch mehr des breiten gesprochen. Uber die 
Schwelle stieg man erst am dritten Janner. Und schrieb von Hof- 
empfangen, vom beginnenden Fasching, von OffiziersquaHfikationsli- 
sten, von der Witterung - die damals noch nicht »Wetter« hiefi - und 
von allem jenem, iiber das man, an der Schwelle des nachst-neuen Jah- 
res stehend, wieder schreiben konnte. 

An diesem ersten Janner aber pochte der Leitartikler nicht an die Pfor- 
ten des neuen Jahres, sondern bHckte auf den Zipfel des alten zuriick. 
Der Leitartikel begann nicht: »Wir stehen an der Schwelle eines neuen 
Jahres«, sondern: »Mit einem wiisten Kirchentumult innerhalb der 
Marken der Haupt- und Residenzstadt schloE das alte Jahr.« Und 



214 ^AS JOURNALISTISCHE WERK 

dann: »Man sieht bereits die sozialistische Bewegung in die Kirchen 
eindringen und die Freiheit der Kanzeln bedrohen. So weit ist es in- 
dessen nicht gekommen, wenn man auch schwerlich den Verdacht 
niederkampfen wird, dafi die Urheber der peinlichen Szenen jenen Ele- 
menten angehoren, die aus Unklarheit liber ihre Ziele sich Sozialisten 
nennen.« 

»Aus der Wolke des Sozialismus ist der Steinregen in die Johanneskir- 
che niedergefallen«, schreibt der Leitartikel poetisch. Und gibt sich 
redliche Miihe, die Entstehungsursache der Wolke des Sozialismus zu 
erklaren: »Unter den heutigen Verhaltnissen woUen die Massen selbst 
den Trost nicht, der ja immerhin ihr Schicksal ertragHcher machen und 
der, wenn auch mit demselben (»derselbe« war ein beliebtes Prono- 
men) sie nicht aussohnen, so doch gewifi ihnen dienhch sein kann, es 
leichter zu ertragen.« 

Ungeachtet des Steinregens aus der Wolke des SoziaUsmus ging - nein! 
verfiigte sich - der Kaiser zum Photographen, zum Hof-Photographen 
Angerer, und Uel? sich um i Uhr mittags in mehreren Stellungen 
photographieren. Der Erzherzog Johann war inzwischen in der Franz- 
Joseph-Kaserne, wo er den Kronprinzen erwartete. »Derselbe« ver- 
fiigte sich ins Divisionsbiiro. Gegen i Uhr verUefi die Wache mit klin- 
gendem Spiel den Exerzierplatz. »Daselbst« war Se. Exellenz, der 
Minister des Auf^eren, Graf Kalnoky anwesend. 
Aus dem Spiegel des Leitartikeis lachelt das geschminkte, frisierte, sti- 
lisierte Antlitz der Zeit entgegen. Es gab sich vornehm. Ereignisse, die 
geeignet gewesen waren, Runzeln und Furchen um seine Augenwinkel 
zu zeichnen, wurden von hofischen Federn weggewischt. Man schrieb 
sozusagen geistige Rondeschrift. Den eckigen Ereignissen hobelte man 
die Spitzen ab und polierte sie rund. Man verlieh der Geschichte den 
personUchen Adel und machte sie hoffahig. Aber dem Leben, das 
Uberraschungen liebt, gelang es von Zeit zu Zeit, ein ungezogenes, 
schmutziges Ereignis zu gebaren. Bei einem der Verhafteten findet 
man plotzlich sozialrevoiutionare Druckschriften. Flugs wird das 
Neugeborene gebadet, gepudert. Sozialrevoiutionare Druckschriften? 
Ach was! Sie stammen einfach von »jenen Elementen, die aus Unklar- 
heit iiber ihre Ziele sich Sozialisten nennen«. 

An der Spitze des Tages marschierten die Berichte vom Hof. Mit der 
Morgenrote ging die Hoheit auf. Daselbst. Hochstdaselbst. Nicht 
»hier«. Nicht »dort«. Die Lokalhistorie trippelte auf zierlichen Ball- 



1920 215 

schuhen mit ellenhohen Stockeln aus hinweisenden Fiirwortern. Die 
Zeit ging dementsprechend nicht, lief nicht, sondern verfiigte sich. Ein 
armseliger Tropfelregen schlug ein schimmerndes Pfauenrad, warf sich 
mit michelangelesker Geste einen Umlaut um, spanme sich ein »Ung« 
vor und war eine »Witterung«. Ruhestorer, landesverwiesene Auslan- 
der und andere Abweichungen waren in jener Zeit der Typen - »Indi- 
viduen«. »Im Laufe des vorigen Monats wurden 42 Auslander wegge- 
wiesen, und zwar: je zwei Individuen nach den Niederlanden und der 
Schweiz, ein Individuum nach Italien — « Periicken aus Suffixen um- 
rahmten das AntHtz der Zeit. Ihre Haare krauselten sich in rosage- 
tiinchten Satzfloskeln. Ein goldener Schnorkel umrahmte ihr Lorgnon, 
Sie woUte nicht zugeben, die Zeit, daC sie Zeit war. Am liebsten hatte 
sie sich »Hof-Zeitung« genannt. Sozialisten waren zwar keine Indivi- 
duen, aber immerhin »Elemente«. Eine Revoke schamte sich ihres We- 
sens und nannte sich heber »Exzefi«. Und alles, alles, iiber Individuen, 
Elemente, Exzesse, schrieb der Leitartikel weich und zart wie mit einer 
Flaumfeder, nachdem sich derselbe an die Schwelle des neuen Jahres 
verfiigt hatte. 

Wie ist das Antlitz der Gegenwart zerfurcht, durchpfliigt, zerrissen! 
Wo sind Puder und Schminke? Verfiigt sie sich noch? Oh, sie eilt auf 
Sohlenschonern. Ihre Phrasen sind nicht glattend, sondern schneidend. 
Das Antlitz der Zeit ist zernichtet. Das Leben ist zerlebt. 
Haf^lich ist sie, die Zeit. Aber wahr. Sie lafit sich nicht malen, sondern 
photographieren. Ob sie wahr ist, well sie hafihch ist? Oder hafihch, 
weil wahr? 

Josephus 
Der Neue Tag, 1. 1. 1920 



PETRO FEDORAK 



Er war ein Bauer. Irgendwo in Gahzien hatte er eine strohdachge- 
deckte Hiitte, eine Kuh, ein Schwein, eine Frau und ein Kind. Die Kuh 
trieb er auf die Weide, das Schwein hielt er in seiner »Chalupa«, die 
Frau priigelte er, und um das Kind kiimmerte er sich nicht. Er war ein 
armer Bauer. 



2l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Agenten, jiidische Agenten von »Austro-Americana« und »Lloyd«, 

kamen ins Dorf und erzahlten von Kanada. In Kanada, dachte Petro 

Fedorak, kann man Gold finden. Man grabt mit einer Schaufel, so tief 

etwa, wie man nach Kartoffelwurzeln grabt, und plotzlich klirrt das 

Eisen. Man grabt nicht tiefer. Man ist auf Gold gestofien. Hat man einmal 

so einen Klumpen Gold gefunden, so nimmt man ihn mit in die Stadt, 

kriegt tausend Gulden dafiir oder gar noch mehr und fahrt nach Haus, 

Kauft noch zehn Joch Feld, gibt dem Pfarrer fiir die neue Kirche zehn 

Gulden, bringt seiner Marynka ein gelbes Kopftiichel mit roten Mohn- 

blumen und ist ein reicher Bauer. 

Petro Fedorak verkaufte einem jiidischen Hausierer zvs^ei P5lster, gute 

daunengefuUte Polster, in denen man selig schhef wie in Jesu Schofi, und 

loste eine Karte nach Kanada. 

Von seinem Staunen dariiber, dafi man in Kanada, so tief man auch grub, 

kein Gold finden konnte, will ich gar nicht erzahlen. Petro Fedorak 

gewohnte sich mit der Zeit das Staunen voUkommen ab. Er arbeitete. 

Irgendwo in einer Fabrik. Und sparte. Und schickte Geld nach Haus. 

Und schrieb Briefe. Eigentlich schrieb er nicht, sondern diktierte. Und da 

er nicht lesen konnte, was die anderen schrieben, mifitraute er ihnen. Und 

er ging von einem zum anderen und lief5 sich die Briefe noch einmal und 

noch einmal vorlesen. Und wenn sie schon ganz schmutzig waren, sah er 

sie selbst noch einmal an - er hielt sie immer verkehrt-, hefi dann eine 

dicke Trane auf das Papier fallen, strich mit der Hand dariiber, dal5 sich 

die Tinte verwischte, und schickte den Brief ab. 

Er ersparte sich ein kleines Siimmchen. Als er horte, dafi der Krieg vorbei 

sei und das kanadische Geld einen so gewaltigen Wert habe, loste er eine 

Karte und fuhr heim. 

Und kam nach Wien, Wien, einer grofSen Stadt. Es hatte lange gedauert, 

bis er hierhergekommen war. Aber er hatte sich gedacht : Wie gut ! Besser, 

lange zu fahren, als iiberhaupt nicht. Und ware ich nicht in Kanada 

gewesen, so lage ich jetzt in den Karpaten. 

Also, gelobt sei Jesus Christus, ich bin in Wien! 

Er kam auf den Nordbahnhof. Es ging zwar kein Zug! Aber Petro 

Fedorak dachte: Vom Nordbahnhof ist es naher nach Hause als vom 

Hotel. 

Und er beschlof^ zu warten, bis ein Zug gehen wiirde. 

Aber da traf ihn der Schlag. Petro Fedorak starb gestern im Nordbahnhof 

am Herzschlag. 



1920 217 

Es kann vielleicht iibergrofies Heimweh gewesen sein. Es soil schon 

manchem vor Sehnsucht das Herz gebrochen sein. 

Aber es mufi nicht justament Heimweh gewesen sein! Es war ein einfa- 

cher, sinnloser, torichter, zweckloser, bestialischer, niedenrachiiger 

Herzschlag. 

Josephus 
Der Neue Tag, 1. 1. 1920 



DER KOLPORTEUR 



Es ist eine kleine, bescheidene Gasse. Ich brauche ihren Namen nicht 
2u nennen. Denn gesetzt den Fall, sie hief^e Moosgasse oder Steingasse 
oder Waldgasse - was liegt daran? Genug, es ist eine stille, bescheidene 
Gasse. 

Die Stimmen der Grofistadt werden schiichtern-gedannpft. Sie treten 
leise und demiitig in den Bereich der Gasse wie fromme Glaubige in 
die Moschee. Es ist, als ob die Gerausche der Grof5stadt ihre Schuhe 
ausgezogen batten und auf Socken dahertappten. 
Die Hauser in der kleinen Gasse stehen dicht beieinander. Sie sehen 
sich mit ihren lacherlich kleinen, viereckigen Fensterscheiben an wie 
mit alten, kurzsichtigen Augen. Sie kennen einander ausgezeichnet. 
Oh, ausgezeichnet! Sie wissen alte Geheimnisse und Dinge, von denen 
man nicht gerne spricht. 

Die Hiihner des Kohlenhandlers Matthias Zawadil beherrschen die 
Strafienmitte. Am Nachmittag unternimmt der Hahn mit seiner Fami- 
lie einen Spaziergang. Der Hahn geht stolz voraus und setzt vorsichtig 
einen FuE vor den zweiten mit klassischer Senatorenwiirde. Hinter 
ihm die Henne. Sie ist ein Frauenzimmer, launisch, nervos, weicht 
manchmal nach rechts oder links ab. Die Kiichlein folgen gutmiitig, 
naiv, ohne eine Spur von Lebenskenntnis, neugierig. Von Zeit zu Zeit 
trippelt eines auf den Biirgersteig und verliert sich in einem Hausflur. 
Jede Viertelstunde einmal bleibt der Hahn plotzlich stehen und stoi^t 
einen Trompetenruf aus. Dann sammeln sich alle um ihn. Worauf er 
wieder denselben Weg zuriickgeht, stolz voran, mit klassischer Senato- 
renwiirde einen Fufi vor den andern setzend. 



2l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich erinnere mich, dafi einmal ein kleines weifies Kiichlein in dieser Gasse 
eines jammerlichen Todes gestorben ist. Ein Auto raste iiber es hinweg. 
Eine Sekunde lang gab es einen fiirchterlichen Anblick. Das Kiichlein in 
der Strafienmitte, das noch nie ein Auto gesehen hatte, versuchte fas- 
sungslos zu fliehen. Ach! Es ware noch Zeit gewesen. Das Auto war noch 
weit, am Ende der Strafie. Das kleine Tier sah zum erstenmal in seinem 
Leben ein rasendes, fauchendes Ungetiim. Konnte es wissen, dafi Auto- 
mobile nicht auch auf Biirgersteigen fahren? Es mufite annehmen, dafi 
dieser Kolofi aus Schnelligkeit, Staub und Gestank die ganze Gasse mit 
alien Hausern wegfegen wiirde, wie der Besen der Hausmeisterin die 
Korner von der Schwelle des Kohlenhandlers wegfegte. Wo gab es da 
Rettung? Nur in der Flucht. Und das Kiichlein floh. Aber das Auto war 
schneller. Als Staub und Dampf sich verzogen hatten, lag ein weifier, 
rotgetupfter Fetzen in der Strafienmitte. Der Leichnam des Kiichleins. 
Der achtzigjahrige Hausherr von Nummer sieben, der friihere Gemein- 
derat Colestin Prosper, stand mit seiner langen Pf eif e am Fenster und sah 
das Ungliick. Am nachsten Morgen gab es eine grofie Uberraschung in 
der kleinen Gasse. Der Hausherr und Gemeinderat Colestin Prosper 
schritt mit Zylinder und Regenschirm, gefolgt von seinem Dackel, nach 
drei Jahren wieder einmal durch die Gasse. Um die Mittagszeit kehrte er 
zuruck. Colestin Prosper schmunzelte. Er sah aus wie einer, dem etwas 
gelungen ist. 

Ungefahr eine Woche spater hing beim Eingang in die Gasse eine grofie 
Leinwand. Auf der starrten in fetten Buchstaben jedem die Worte entge- 
gen: »Automobilen und Schwerfuhrwerken ist die Durchfahrt verbo- 
ten!« 

Seither lebte die Hiihnerf amilie des Kohlenhandlers Matthias Zawadil in 
Frieden, wenn nicht gerade des Kohlenhandlers Tochter einer flattern- 
den Henne mit einem geschwungenen Holzscheit nachlauft, um sie zu 
erschlagen. 

Eines Tages stand ein kleiner Junge an der Strafienecke. Seine kleine 
schmutzige Linke umspannte kaum noch einen dicken Zeitungspack. 
Mit der rechten schwang er ein Blatt. 

Er kam jeden Morgen und storte niemanden. Die Hausmeisterin und 
Matthias Zawadil und die dicke Kochin des Herrn Colestin Prosper, die 
immer alte Gummigaloschen an den Fiifien trug- Sommer und Winter -, 
kauften bei dem kleinen Jungen die Zeitung. 



1920 219 

Aber einmal kam er auch am Abend. Es hatte kaum angefangen zu 

dunkeln, und schon stand der kleine Zeitungsjunge da. Aber er 

schwieg nicht! Nein, im Gegenteil. Er briillte einen fanatischen, seltsa- 

men Singsang. Es waren immer dieselben Laute, in der gleichen todli- 

chen Reihenfolge. 

So kam er jeden Abend. Die Hauser, die gerade dabei waren einzunik- 

ken, schreckten jedesmal auf. Bei jedem Schritt klirrten die Fenster- 

scheiben. 

Oh, was war das fiir ein tiichtiger, kleiner Zeitungsjunge! 

Eines Morgans ging der Hausherr von Nummer sieben mit Zylinder, 

Regenschirm und Dackel wieder einmal durch die Gasse. Um die Mit- 

tagszeit kam er zuriick. Aber sein Regenschirm baumelte nicht, son- 

dern ragte wie ein umgekehrtes Rufzeichen in den Himmel. Colestin 

Prosper sah nicht aus wie einer, dem etwas gelungen ist. 

Am Abend war der kleine Zeitungsjunge wieder da. Diesmal war er 

besonders guter Laune. Er rief also nicht: Der Abend, sondern: »Der 

Obend!« Das »0« war schrill und hatte gleichsam eine scharfgeschlif- 

fene Spitze. Es drang durch die dicksten Mauern. Es durchbohrte mit 

einer ungeheuren Rasanz die alten Kupferdacher. 

Colestin Prosper verlief^ mit seinem Regenschirm-Rufzeichen das 

Haus und naherte sich dem Kolporteur. Er tat, als woUte er eine Zei- 

tung kaufen. Der kleine Junge hielt ihm sein ganzes Zeitungsbiindel 

unter den weifien Backenbart. 

Plotzlich schwankte die Spitze des Regenschirms. Ein kraftiger Schlag 

erfolgte. 

Colestin Prosper priigehe den Zeitungsjungen. 

Seit jenem Abend steht ein anderer Kolporteur an der Straf^enecke. Ich 
bin neugierig, was Colestin Prosper machen wird. 

Josephus 
Der Neue Tag, 4. i. 1920 



DIE BAR DES VOLKES 



In einer Seitengasse der SchulerstrafSe, in der Annoncenexpedition und 
Zeitungsbtiros wie Schwalbennester an Dachfirsten hart aneinander- 
kleben, ist die Erste Wiener Suppen- und Teeanstalt. Abseits von der 
Dampffabrik der Gegenwart birgt sich die Bar der Armen, Kaum hun- 
dert Schritte weiter, in einer der nachsten Strafien, dulioht ein Variete. 
Bogenlampen spielen Sonne. Das Variete hat seine Auslagen: Holz- 
bretter mit Photographien von Menschenfleisch. Auf einem Bild 
klimmt ein feiner, durchbrochener Seidenstrumpf eine schlanke Bein- 
form hinauf, bis ihn eine ungewisse Wolke aus Spitzen und Unterrock 
verschluckt. Und auf einem andern atmet eine weifie Frauenbrust Ge- 
heimnisse hinter dem zarten Duft eines dunklen, unendHch weichen 
Tiillkleides, Und gegeniiber ist eine Bar. Eine richtige Bar. Ein leicht 
beschwipster Klavierklang taumelt auf die Strafie, die Hauserfassade 
entlang. Und die Drehtiir ist unaufhorlich in Bewegung. Und hinter 
der Drehtiir ist ein goldbetrefiter Gotze von Portier ersichthch. Seine 
weifien Handschuhe atmen den Duft von unzahHgen Parfiims. Seine 
blonden aufgezwirbelten Schnurrbartenden knicken gleichsam fort- 
wahrend zusammen vor Sealskin und Blaufuchs. Ein leiser, unendHch 
leiser Glaserklang schliipft durch den Tiirspah. Und manchmal faUt 
auf die Strafie ein helles, klirrendes Fragment von einem Frauenlachen, 
daC es sich anhort, wie wenn eine kleine, diinne Silbermiinze auf das 
Pflaster rollen wiirde. 

Aber ich will ja gar nicht von dieser Bar erzahlen, sondern von der 
anderen in der Seitengasse der Schulerstrafie. 

Die Tiir ist offen. Blechgeschirre klappern. Links vom Eingang ist der 
Hahn einer Wasserleitung. Er schliefit nicht recht. In gleichen Zeitrau- 
men spuckt der Mund der Wasserleitung Tropfen in den Kessel. Klink! 
Klink! Wenn man eine Weile zuhort, nimmt es sich aus wie eine Mu- 
sik. Sehr armselig, primitiv, aber doch eine Musik. Man lernt die Trop- 
fen unterscheiden. Oh, sie sind durchaus nicht alle einander gleich. 
Der eine ist stark, plotzlich, und er fallt nicht, sondern sturzt sich gera- 
dezu mit einem Kopfsprung in den Kessel. Und ein anderer ist jung 
und zart und schiichtern und traut sich nicht recht in die Mitte, son- 
dern plinkt leise auf den Rand. Und alle zusammen bilden dann eine 
sehr naive, kindliche Musik, und es klingt, wie wenn man in kleinen 



1920 221 

Zeltabschnltten auf die sieben Tasten eines Kinderklavierspielzeugs 
tippt. Das ist die Tafelmusik der Armen. 

Langgestreckt, wie gewaltsam ausgedehnt und schmalbriistig ist der 
Raum. Die Decke ist hoch und erscheint noch hoher, in unendliche 
Himmelsferne geriickt durch die schwere Schicht von Dunst, der wie 
ein Volkshaufen von Wolkenschleiern in der Luft walk. Es ist wie eine 
Kiichenwolkenmassendemonstration. In einer Dampfwascherei sieht 
man nur noch solche Wolkenschwarme. Und irgendwo oben, mitten 
zwischen Nebelfetzen, von Dunstzipfeln umflattert, schweben drei, 
vier Gluhbirnen, todmatte Gliihbirnen, wie Sterne, die am Erloschen 
sind. Manchmal bringt ein Luftzug oder die iiberhitzte Atmosphare 
die unsichtbaren Stangen, an denen die Lichtlein hangen, in Bewegung. 
Und dann sehen die Lampen aus wie irrende Meteore, die einen Weg 
suchen, um hinunterzufailen. Gehobelte Holztische wie in einem Zei- 
chensaal. FUnfzehn, vielleicht zwanzig Holztische in einer Reihe. An 
den Holztischen kleben dumpfe Menschenklumpen wie Fliegen, 
grofie, wuchtige Feldfliegen auf Fliegenpapier. Und irgendwo, weit 
vorne, in Diinsten gebadet, schwankt eine Bude aus Holzlatten wie ein 
Strandwachterhauschen, das durch eine Uberschwemmung ins Meer 
hinausgespiilt wurde. Das ist die Kassa, wo man um ein paar Papierfet- 
zen andere Papierfetzen lost. Und dann schwankt man zur Kiiche, wo 
ein schwerer, grower Schopfloffel rastlos pendeh zwischen Kessel und 
Blechgeschirren. 

Irgendwo an einem Eck plumpst man hin und steUt seine Schale vor- 
sichtig, vorsichtig, dafi nur ja kein Tropfen in die Luft springt, auf die 
Tischplatte. Und in der Hosentasche, zwischen dem blauen Schnupf- 
tuch und dem Turschliissel, hegt, steif und unnachgiebig, ein Blechlof- 
fel, ein Zinnloffel, mit Sommersprossen aus Rost. Mit diesem Loffel 
schliirft man Suppe und Gemiise. Und wenn man den Loffel vergessen 
hat, dann trinkt man aus der Schale. Der Loffel ist nur ein von der 
Kultur der Armut angeflogenes Suffix. 

Wenn man seine Augen an den dampfgeschwangerten Dammer ge- 
wohnt hat, kann man sogar die Menschen sehen, die hierherkommen. 
Auf kragenlosen, nackten, ausgemergelten Halsen stecken Kopfe wie 
zufallig aufgespiefit: nicht gewachsen. Die Ohrmuscheln sind knorpe- 
lig und durchsichtig; fast wie aus Pauspapier. Ich weifi nicht, warum 
arme Menschen immer so diinne Ohrmuscheln haben. Und die Augen 
stehen entweder so weit vor, als steckten sie an Stielen und wollten fort 



222 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aus dem Kopf, um irgendwo in einer Suppenschiissel zu ertrinken. 
Oder sie liegen so tief in den Augenhohlen vergraben, als schamten sie 
sich vor der Offentlichkeit. Augen, die an Platzfurcht kranken. 
Kennt Ihr solche Augen? 

Und die Nasen sind plump wie formlose Klumpen aus Knetgummi. 
Da hat sich niemand Muhe genommen. Und das Kinn ist bei den Man- 
nern viereckig und grofi wie eine Schiefertafel und bei den Frauen aus- 
gezehrt-spitz und abschiissig wie eine schiefe Ebene. Und die grofien 
Hande, iiber deren Riicken dicke blaue Strange gespannt sind wie 
Stricke zum Waschetrocknen. Mit den Fingern, die knorpelig sind und 
knorrig-gichtisch wie Waldwurzeln. 
Kennt Ihr solche Hande? 

Ein kleines Madchen sah ich in der Suppen- und Teeanstalt. Ihre Haare 
waren in unsagbar diinne Mauseschwanzchen gedreht und um den 
Kopf gelegt. Es war ein wasserhelles Haar, von jener Farbung, die auch 
nur Haare der Armen haben konnen. Nur die Augen waren von einem 
tiefvioletten Blau, einem reichen, satten Blau. Das Madchen afi aus 
einem Topf. Dann ging es fort und trippelte durch jene Strafie, in der 
sich die Bar befindet. Sie sah nicht einmal hinein. Sie lauschte nur eine 
Weile dem leichtbeschwipsten Klavierklang, der die Hauserfassade 
entlang taumelte. Und als dann durch eine Fensterritze das Fragment 
eines Frauenlachens fiel, horte das Madchen den Silberklang und 
biickte sich wie nach einer Miinze. 

Dieses kleine Madchen kann sicherUch auch so schon lachen. So hell, 
dafi es khngt, wie wenn eine diinne Silbermiinze auf Steinfliesen kol- 
lert. Warum lacht es nicht? 

Josephus 
Der Neue Tag, 6. i. 1920 



100 JAHRE 

Bei der dltesten Wienerin 

Sie kann nur in der Kalvarienberggasse wohnen. Kennt Ihr die Kalva- 
rienberggasse? 

Links vom Elterleinplatz in Hernals steigt sie gelinde empor. Man 
sieht ihr Ende kaum. Man darf sich einbilden, dafi sie sacht und sorg- 
faltig in die Ewigkeit hinanfiihrt. 

Und wie es sich flir einen Weg gehort, der zur Ewigkeit fiihrt: Rechts 
steht ein Kirchlein mit einer rohen Steinmauer, es sieht so lieb aus wie 
ein Wetterhauschen oder ein Spielzeug. Diese Kirche scheint gar nicht 
gemauert, sondern zusammengepickt. Ich glaube bestimmt, die Kirche 
ist eigens fiir die Kinder von Hernals gebaut. Erwachsene diirfen nur 
mit einer besonderen Erlaubnis hinein. 

Und Hnks, im Zehner-Haus, wohnt Frau Katharina Fischer, die am 
4.Janner 1920 rund hundert Jahre alt geworden ist. 
Wenn man hundert Jahre alt ist, wohnt man selbstverstandlich in der 
Gasse, die zur Ewigkeit fiihrt. Geradewegs in die ausgebreiteten Arme 
des Ueben Gottes hinein, der hoch droben steht und wartet; auf die 
Menschen, die miihselig den Kalvarienweg hinaufkeuchen. 
Steigen wir nicht alle diese Kalvarienberggasse empor? Oh, sie liegt gar 
nicht im siebzehnten Bezirk allein. Alle Gassen, durch die wir wan- 
dern, sind Kalvarienberggassen. 

Und wenn du mitten am Weg einen Hundertjahrigen triffst, so kehre 
bei ihm ein. 

Frau Katharina Fischer wohnt bei ihrer Tochter, die Anna Schimek 
heifit und die Frau eines Eisenbahnarbeiters ist. Die Frau Schimek war 
einmal eine stattliche Person - oh, bitte, eine sehr stattliche Frau! Im 
Frieden. Da konnte sie noch ausgehen, ins Geschaft, Geld verdienen. 
Die alte Mutter konnte noch herumgehen. Aber heute geht Frau Schi- 
mek nicht mehr ins Geschaft, sie kann die Hundertjahrige nicht allein 
lassen, 

Wenn man hundert Jahre alt ist, mufi man doch essen. Eine von den 
wenigen Eigenschaften, die man sich in einem noch so langen Leben 
nicht abgewohnen kann. 

Und Frau Schimek spart und spart, um die Mutter zu ernahren. Und 
wird taglich diinner. Oh, sie ist langst keine stattliche Frau mehr wie 



224 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

auf der Photographie in dem braunen Album mit geprefitem Lederimi- 
tationsumschlag, dessen Spange vom vielen Auf- und Zuklappen an 
Sonntagen ein bifichen locker geworden ist. 

Frau Schimek und ihr Mann sind sehr stolz auf die hundertjahrige 
Mutter. Wie man stolz ist auf ein sehr kostbares Erbstiick etwa. Oder 
einen echten Harzer, der herrlich schmetternde Tiraden auswendig 
kann. Wenn man hundert Jahre alt ist, wird man so ein bifichen Ge- 
genstand. 

Frau Kathi Fischer schlaft auf dem Sofa im Zimmer des Ehepaares 
Schimek. Das heifit, sie schlaft gar nicht, sondern liegt nur so. »Nach 
dem Essen«, sagt sie zur Entschuldigung. Wie sie so daliegt, kleinwin- 
zig, nimmt sie kaum die Halfte des Sofas ein. Wie eine Puppe, die ein 
Kind »schlafen gelegt« hat. 

Frau Schimek zeigt, was ihre Mutter kann. Sie produziert sich. Die 
Hundertjahrige sitzt auf. Sie freut sich sehr iiber einen Plausch. Sie darf 
red en. 

Und sie spricht. Spricht ohne Unterlafi. Ihre hundertjahrigen Hande 
mit den Knoten an den Fingern und den vielen, vielen tausendblauen 
Aderchen schiefSen wie Schwaiben hart iiber der Tischplatte. Ihr zahn- 
loser Mund sieht aus wie eine kleine Hohle, aus der ein Quell von 
Geschichtchen unermiidlich sprudelt. Die Gegebenheiten verhaspeln 
sich, verwirren sich, Ereignisse, die jahrzehntelang auseinanderliegen, 
riicken plotzlich zusammen, verwachsen wie Zwillinge bei Barnum. 
Die Hundertjahrige sieht die weit voneinander entlegenen Geschichten 
so nahe, weil sie so fern sind. Etwa wie wir zwei Sterne Schulter an 
Schulter leuchten sehen, Sterne, die Millionen Meilen voneinander ent- 
fernt sind. 

Kleine Alltaglichkeiten und nicht der Rede wert. Das alte, kleine Miit- 
terchen aus dem Volke sieht mit dem hundertjahrigen Auge der Ge- 
schichte. Revolutionen, Kaiser, Kriege, Festhchkeiten. Hie und dort 
guckt nur ihr eigener, kleiner Alltag der Historie iiber die Schulter. 
Etwa wie ihr Mann - Gott habe ihn seUg, den guten Tempeldiener - 
eingesperrt war. Am Jom Kipur, ja wahrhaftig, am Versohnungstag, 
und wie sie ihm danach Essen brachte und seine Befreiung durchsetzte. 
Ja, Essen brachte sie ihm, es war Suppe mit Bohnen. Es war eine gute 
Suppe mit grofSen Bohnen. 

Und den Latour haben sie die Stiegen hinuntergezerrt, ja, man denke, 
vier Stockwerke haben sie ihn geschleppt. Das Schicksal Latours geht 



1920 225 

ihr so nahe. Ach Gott! Und wie man geschossen hat! Es waren Fen- 

sterladen noch am Haus, und die sperrte Frau Katharina Fischer ganz 

einfach zu. Ja, zugesperrt waren die Fensterladen, und nun sollten sie 

nur schiefien. Bum, bum! 

Die Hundertjahrige beriihrt mit der Faust den Tisch. Offenbar bildet 

sie sich ein, das ware ein Klopfen. Und richtig! Ja, sie hat ver^essen, 

vergessen, das Wichtigste zu erzahlen! Wie Latour aufgehangt wurde. 

An einem Laternenpfahl. 

Um Gottes Himmels willen! Am Ende ware ich gar fortgegangen und 

im ungewissen geblieben iiber das endgiiltige Schicksal dieses Latour! 

Ich Tepp ! 

Und sechsundsechzig! Die Deutschen waren feine Leut' und sagten 

»Mutterl« zu ihr und bezahlten den Kaffee. 

Alles ist wahr! versichert Frau Katharina Fischer. Ich kann alles glau- 

ben. Sie weifi, was sie weifi. Und ich kann mich darauf verlassen. Sie 

hat sich wirklich Miihe gegeben, mich genau zu informieren. 

Ich soil doch wiederkommen. Sie besuchen! 

Das junge Madel! meint Herr Schimek verlegen-ironisch. 

Oh, sie bildet sich nicht ein, jung zu sein, die Frau Fischer. Sie ist die 

erste Frau in meinem Leben, die auf ihr hohes Alter stolz ist. Frauen 

miissen hundert Jahre alt werden, um ihr Alter offen einzugestehen. 

Ich werde wiederkommen, gewifi. In der Kalvarienberggasse, die ich 

mein Leben lang hinanklimme, wohnt sie ja, die Hundertjahrige. Ein 

Spielzeug aus dem Hauch der Ewigkeit. 

Josephus 
Der Neue Tag, 11. i. 1920 



PREISHOG'LZIAG'N 



Preishog'lziag'n heifSt eigentUch Preishakelziehn. Aber eigentlich 

heif^t es doch Preishog'lziag'n. Geheimnisvolle Beziehungen bestehen 

zwischen dem Wiener Dialekt und dem edlen Sport des Hakelzie- 

hens. 

Ja, das Hakelziehen ist ein edler Sport. Er stammt, sagt mein KoUege 

von der Sportrubrik, aus den Alpenlandern. Nicht etwa aus den 



2l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Alpenlanden. »Alpenlande« sind vielleicht ein Sport. Aber das 
Hoglziag'n stammt aus den Alpenlandern. 

Es besteht darin, dafi sich zwei Menschen, Besitzer wetterharter Fau- 
ste, einander gegeniiber an einen Tisch setzen, den rechten Arm bis in 
die Mitte des Tisches vorstrecken, so dafi sich die Hande just dort 
begegnen, wo der Schiedsrichter ein Kreuz mit weifier Kreide hinge- 
malt hat. Hier angekommen, beginnen die Hande ihre Mittelfinger erst 
vage, dann immer mutiger auszustrecken, bis sie sich beriihren. Es 
sieht aus, wie wenn zwei antediluviale Maikafer einander begegnen 
und sich mit den Fiihlern: Servus sagen wiirden. 
Die Mittelfinger, die Haken, »Hog1«, werden well en, kriimmen sich 
beizeiten zu solchen. Dann verschliei5en sie sich, fassen sich ein, wie 
zwei eiserne Sperrhaken etwa. Hierauf beginnt das Ziehen. 
Beide Partner ziehen. Wer des andern »Hog'l« zu sich heriiberzieht, 
einmal, zweimal, dreimal, hat gewonnen und ist somit der Sieger im 
Preishog'lziag'n. 

Nicht wahr, ein edler Sport? Und stammt, bitte, aus den Alpenlan- 
dern. 

Es ist zweifellos der ruhigste, bescheidenste alter Korpersportspiele. 
Man sitzt am Tisch, raucht, kann sogar mit der Linken ein Kriigel zum 
Mund fiihren und gleichzeitig mit dem rechten, Hog'l gewordenen 
Mittelfinger ziag'n. 

So, ohne jede Aufregung spielt sich das ab. Das Hog'lziag'n ist unter 
den Korpersportspielen ungefahr, was »Einundzwanzig« unter den 
Kartenspielen. 

Es erfordert keine geistige Anstrengung: Es stammt, wie gesagt, aus 
den Alpenlandern und konnte sogar aus den Alpenlanden stammen. So 
wenig geistige Anstrengung erfordert es. 

Am Sonntag kamen die Preishakelzieher im Gasthof des Herrn Swo- 
boda zusammen und preisziagl'n Hog'l. Herr Swoboda zog mit. 
Wenn man auf die Wand rechts sah, im Extrazimmer, wufite man, wie 
Herr Swoboda dazu kam mitzuzuziehen. 

Dort hangt namlich ein Bild, eine fabelhafte Photographic von Herrn 
Swoboda im Turnernegligee. Ein bedauernswertes Leiberl ist krampf- 
haft bemiiht, in grenzenloses Weltall hinausstrebende Fleisch- und 
Muskelmassen zusammenzuhalten. An der Brust ein verwirrendes Ge- 
drange von Orden und Medaillen. Die Photographic klirrt geradezu. 
Ein Bild aus der Vergangenheit des Herrn Swoboda. Es war die Zeit, 



1920 22/ 

da er noch keinen Bauch hatte und also Athlet war. Jetzt hindert ihn 

das Vorgebirge seines Leibes vielleicht an der Erwerbung weiterer 

Medaillen. Aber Hakelziehen kann er noch. Und wie! 

Die iibrigen Teilnehmer sind Athleten, noch nicht a.D. Wiener Ath- 

leten. Ihre Mittelfinger, die sie da auf dem Biertisch zu Haken kriim- 

men, sehen aus wie lebendige Stuhlbeine. Es sind Fingerathleten. 

So, so, fest. Los! kommandierte der Schiedsrichter. Er hat irgend et- 

was Schimmerndes im Knopfloch. Es kann ein Schwarzer-Adler-Or- 

den sein oder ein goldenes VHes. Jedenfalls schimmert es. Weifi Gott, 

ich habe einen grofien Respekt vor schimmernden Dingen. 

Auf den Tischen stehen die Gaste und sehen zu. Ihre Blicke hangen 

an dem Hakeln. Es sind Blicke, die sich sozusagen mit den Mittelfin- 

gern zugleich kriimmen. Hakei gewordene Bhcke. 

Herr Swoboda macht ein gutes Geschaft. Der Sport verlangt Star- 

kung, und Schani tragt Bier. Ein Kriigel an jedem Haken. 

Von den achtzehn Athleten bekommen neun Preise. Jemand setzt 

sich ans Pianino im Extrazimmer und spielt den Siegesmarsch. Es 

klingt, wie wenn der Musikant mit alien zehn Fingern Hakel gezogen 

hatte. 

Ich muC gestehen, ich ging etwas zeitUch fort. Man kann nie wissen. 

Es ist so ein gemiitlicher Sport. Aber er stammt, wie gesagt, aus den 

Alpenlandern. Ja, Gott segne diesen Sport. 

Josephus 
Der Neue Tag, 20. i. 1920 



TEISINGER 



Der Untersuchungsausschu£ beschaftigte sich mit den »militarischen 
Pflichtverletzungen« des Feldmarschalleutnants Teisinger, der rund 
200 000 Menschen »auf seine Verantwortung« gegen das Ergebnis der 
arztHchen Untersuchung fiir frontdiensttauglich erklart hatte. Der 
Feldmarschalleutnant gab ohne weiteres zu, zweimal hunderttausend 
Menschen »widerrechtlich« in den Tod geschickt zu haben. Er wies 
nach, dafS er »nach hoheren Weisungen« gehandelt habe, nur der 
Hammer in der Hand des Kriegsmolochs gewesen sei. Der Untersu- 



228 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

chungsausschufi fand, daf5 kein Grund vorhanden sei, Teisinger vor ein 
Militai^ericht zu laden. 

Wir miissen uns erst miihsam die Mentalitat jener Zeit rekonstruieren, 
um langsam zu verstehen, was Teisinger eigentlich vorgeworfen 
wurde, Er hat »widerrechtiich« Menschen in den Tod geschickt. Denn 
es war eine Zeit, in der man - man denke! - Menschen mit Recht in den 
Tod schicken durfte. Es war eine Zeit, in der man den grotesken Wi- 
dersinn fiir selbstverstandlich ansah, dafi die Gesundheit zum Sterben 
pradestinierte, die Krankheit des Sterbens enthob. Teisinger aber war 
das lebendige, zweibeinige Paradoxon jener Zeit: Er bestimmte die 
Kranken zum Tode. Die Verriicktheit des Krieges hatte sich so gestei- 
gert, daf5 die Ausgeburt ihres hitzigsten Dehriums in das Gegenteil: 
den gesunden Menschenverstand iibergriff. Teisinger, der schrecklich- 
ste der Schrecken, die personifizierte Kriegsfurie in Feldmarschalleut- 
nantsuniform, wollte etwas ganz Verniinftiges: dafi die Kranken ster- 
ben. 

Deswegen wurde er angekiagt. Begreift man die Unlogik dieser An- 
klage? 

Ein Mann wird angekiagt, weii er die Kranken in den Tod schickte. 
Ware er damals angekiagt worden, als er sie noch schickte, so ware die 
Anklage aus der Moral jener Zeit heraus verstandHch gewesen. Denn 
die Moral jener Zeit war: Gesunde sterben lassen. Heute, da es als das 
grofite Verbrechen gilt zu toten, fallt die Anklage gegen Teisinger in 
sich zusammen. Denn man klagt ihn nicht an, weil er totete, sondern 
weil er Kranke totete. Erhalt man die Anklage auf recht, so stellt man 
sich eo ipso auf den Moralstandpunkt jener Zeit, d.h.: Gesunde darf 
man toten. 

Diesen Standpunkt nimmt die heutige Offentlichkeit nicht mehr ein. 
Sie klagt nur jene an, die schlechthin getotet haben. Der letzte auf der 
Anklagebank miifite Teisinger sein. Nicht der erste. Denn ist Kranke 
toten eine Gemeinheit, so ist es wenigstens eine verniiftigere Gemein- 
heit als Gesunde toten. Solange aber der Urquell jener Niedertracht 
des allgemeinen Menschenschlachtens nicht einmal entdeckt ist, hat 
man kein Recht, Teisinger, der Abflufikloake, den Garaus zu machen. 
Aber nicht das juristisch Greifbare ist es, das Kranketoten, weswegen 
Teisinger vor den Untersuchungsausschufi kam. Die Psychologic der 
Lynchjustiz lud ihn vor den Richterstuhl. Das revolutionierende Volk 
stiirzt zuerst den Konig und dann den Minister, dessen Opfer der Ko- 



1^20 229 

nig selbst ist. Der blutbefleckteste in der Masse der Kriegsschergen war 
Teisinger. Er leuchtete rot, am rotesten hervor, und deshalb griff man 
nach ihm vor alien. Er war der Henker. Den Staatsanwalt suchen wir 
vergebens. 

Teisinger, der Begriff, nicht Teisinger, das Lebewesen. Man sagte: 
»Teisinger«, wie »Tod und Teufel«. Er lebte nicht. Er musterte. Er 
gehorte zum Inventar der Kommission wie das Metermafi. Er war ein 
Organ des Staates, des »Vaterlandes«, wie die Polizei, die Hascher, die 
den Deserteur aufspiirten. Er war eine Waffe wie ein Geschiitz, die 
»Dicke Berta«, die schon im Hinterland funktionierte. Er war eine 
militarische Institution, wie das A. O.K. und das Militarkommando. 
Er war nicht der, sondern das k.u.k. Teisinger. Teisinger in Anflih- 
rungszeichen. Man konnte ihn logischer anklagen des Umstandes, dafi 
er sich zum Henker hergab. Aber Teisinger mit der Erziehung und 
Psychologic des aktiven Offiziers ist so nicht zu fassen. Teisinger mit 
der moral insanity des zum Pflichtmord und Ehrentod erzogenen pri- 
vilegierten Haftlings in dem grofien Kerker des Militarismus ist nicht 
klagbar, nur zu bedauern. 

Zu denken, dal^ dieses fiirchteHiche »Teisinger« ein Mensch ist, der 
Teisinger mit einem Vornamen. Ein Mensch, der verzweifeln mufi an 
einer Welt, in der man ihn seiner Verdienste wegen anklagt. Der seinen 
Freispruch nicht einmal versteht, sondern so deutete, daf^ er eben sei- 
ner Verdienste wegen nicht schuldig gesprochen werden kann. Zu er- 
ziehen, zu andern ist nichts mehr an diesen Teisingers. Nur zu bekla- 
gen sind sie. Und wir, die wir ihn selbst - hervorgebracht haben. 
Denn merken miissen wir uns dieses k.u.k. Teisinger, Sprechen wir 
ihn frei, aber verurteilen wir nns, stets an ihn zu denken, Auf da£ er 
sich nicht wiederhole! Es konnte namlich sein, daf^ . . . und es konnte 
sehr leicht sein, dal^ er sich wiederholt. Wir haben ihn zwar freigespro- 
chen. Aber soweit sind wir nicht, dafi wir ihn schon Uberwunden hat- 
ten! 

Der Neue Tag, 21. i. 1920 



ARTISTEN 



Manchmal ist die Welt kleinwinzig wie ein Ameisenhaufen, so dafi 
man ordentlich den Respekt vor ihr verliert, und die Schatten vergan- 
gener Dinge so grofi, dafi man ihnen nicht entrinnt und sich stets von 
ihnen verfolgt weifi. Und oft glaubt man, auf dem Vorwartsmarsche 
etwas liegengelassen und vergessen zu haben, und dann, urplotzlich, 
an einer beliebigen Stelle deiner Landstrafie, siehst du es wieder vor 
dir, als warest du riickwarts geschritten, nicht vorwarts, oder als batten 
verflossene Dinge langere Beine und liefen dir voraus, um sich wie 
ahnungslose Meilensteine an den Wegen der Zukunft aufzustellen. Ja, 
die Meilensteine, denen du begegnest, sind gar nicht neu, sind immer 
wieder die alten, die dich auf Umwegen iiberholen und vor dir Posto 
fassen. Haben sie nicht alle das gleiche Gesicht? Lauter Bekannte sind 
alle Meilensteine. 

So geschah es mir, als ich in das Grand-Cafe in der Praterstrafie trat, 
studienhalber. Alle die Gesichter hatte ich schon irgendwo gesehen. 
Dieses Kaffeehaus, dessen Decke mit Zigarrenqualm geradezu bestri- 
chen ist wie eine Brotschnitte mit Gansefett und das vom Eingang nach 
links und geradeaus sich dehnt und zwei Katheten bildet, eine stecken- 
gebliebene Beweisfiihrung fiir den Pythagoraischen Lehrsatz. Men- 
schen, die an den Wanden und auf dem Fufiboden picken wie Insekten 
auf Fliegenleim und mit den flatternden, zappelnden Handen wirklich 
den Eindruck machen, als mochten sie loskommen und konnten es 
nicht. Gliihbirnen, die wie festgenagelte Leuchtkafer rotUch durch den 
Qualm bHnzeln, als tate ihnen ihr eigenes Leuchten weh. Ein Mann in 
einer griinen Weste, so grlin wie Moorland auf einer geographischen 
Wandkarte, mit baumelnden, silbernen Haselnufiknopfen und einem 
Elfenbeinsachelchen an silberner Uhrkette. Offenbar ein Impresario. 
Eine Kartengesellschaft an der Wand rechts von der Kassa. Klitsch, 
klatsch schlagen die Karten auf das grline Tuch wie wattierte Ohrfei- 
gen. Die Manner in Hiiten, offenbar zur Beruhigung ihres Gewissens. 
Denn was ein tiichtiger Artist ist, der versitzt nicht seine Stunde im 
Kaffeehaus, sondern kommt immer nur auf einen Sprung, einen 
Kunstsprung sozusagen, und braucht den Hut gar nicht erst abzuneh- 
men. Bleibt aber dennoch, um seine Zeit im Kaffeehaus zu versitzen, 
aber den Hut auf dem Kopf, denn er ist, wie gesagt, »auf dem Sprung«. 



1920 231 

Die Frauen, meist schon in »Buhnentoilette«, aus Schminkdosen zu- 

sammengekleistertes Temperament in den Ziigen und Atropinimita- 

tion von Leben in den puppenfaden Glasaugen. 

Hier traf ich sie wieder, die Geselischaft aus dem ostgalizischen 

Kriegsnest, das » Wiener Variete«, das »erstklassigste Ensemble«, das 

ich auf meinem Weg liegengelassen hatte und langst verloren glaubte, 

wie man etwa, von einem Feste heimkehrend, bunte Papierfetzen und 

herabgerissene Lampions hinter sich lafit, die dann der Wind einem 

Misthaufen zufiihrt oder der Regen durchweicht und vernichtet. 

Ja, denkt euch, hier traf ich sie alle wieder: 

Den kleinen Cohn, der sich »Tiberius« nannte und wie ein Nero aus- 

sah, den »Direktor« des Ensembles, der nach jeder Nummer im Kaf- 

feehaus der Etappe absammeln ging und das Geld nach seinem Gut- 

diinken unter seinen Leuten verteilte, oder auch nicht. 

Claire Clairon, genannt »die Nachtigall von Hernals und Ottakring«, 

die riihrend-falsch die Ballade vom Zigeuner sang. 

Hertha-Hertha, mit einer Vergangenheit, derer sie sich nicht zu scha- 

men brauchte: Zirkusreiterin, Dompteuse, und jetzt sang sie jeden 

Abend »Weine nicht, Hertha, Madel vom Chantant«, ein Lied, das mit 

einem hochdramatischen Aufschrei und Hinfall zu enden hatte und 

das Hertha-Hertha wie ein billiges Feuerwerk in ein knacksendes Dis 

explodieren liel^. 

Mia Martison, die »Riesenboa«, die in einem leuchtend roten 

Schwimmkostum iiberlange Glieder auf den nie gesauberten Dielen- 

brettern des Podiums verzweifelt rakelte und sich wand und kriimmte, 

nicht wie eine Schlange, sondern wie ein personifiziertes langes Gah- 

nen. 

Das »tanzende Zwillingspaar«, zwei kleine Frauenzimmer mit unper- 

sonlichen Puppengesichtern, die ihre Heine in die Luft schleuderten, so 

hoch, dafi sie fast Locher in den Plafond geschlagen hatten und weifi 

Gott auf welchen Stern geflogen waren, wenn sie nicht durch zierlich- 

seidene Tnkothoschen an den Rumpf genaht waren. 

Und natiirlich auch »der kleine Diabolo«, eine achtundzwanzigjahrige, 

aber kontraktlich zum Backfischalter verpflichtete Person, mit wirren 

Superoxydblondlockchen, die »Tiberius« in die Luft schmift, daft sie 

wirbelte wie eine Zigarettenhiilse im Sturm. 

Und den »Conferencier« Herrn Lund, der einen roten Frack trug, 

einen Frack, ich sage euch, vor dem man sich gewift wiirde bekreuzi- 



232 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

gen miissen, wenn ihm seine Zirkusmanegevergangenheit nicht den 

Anstrich des Irdischen gegeben hatte. Herr Lund verkaufte Ansichts- 

karten an Etappenoffiziere, Ansichtskarten voll kostbarer Schweine- 

reien, das Stlick zu einer Krone. Nur jene Karten, auf denen er selbst, 

Herr Lund, photographiert war, kosteten zwei Kronen. Oh, er wufite 

sich zu werten! Sein Repertoire war seltsam, wie aus einer Antiquita- 

tengalerie zusammengestellt, sein historischer Wert unschatzbar. Und 

Herr Lund pflegte sich gar nicht anzustrengen! Er machte Witze mit 

einer SelbstverstandKchkeit, als ob sie neu waren, und er war interes- 

sant trotzdem, wie ein ahes Raderwerk aus Nurnberg. 

Alle, alle traf ich sie wieder im Artistencafe in der Praterstrafie. 

Mia Martison, die Riesenboa, erkannte mich zuerst nicht, um spater, 

wenn sie mich erkennen wiirde, ein theatraHsches »Ach Gott, wie ko- 

misch!« mit Erfolg an den Mann bringen zu konnen, 

Nur Hertha-Hertha fiihlte sich verpflichtet, iiber die schUmmen Zei- 

ten zu klagen, in denen selbst Grafen in die Schweiz reisten, die zu ihr 

in inniger Beziehung standen. 

Alle waren sie gewerkschaftlich organisiert und suchten ihren Ob- 

mann, einen »Arbeiterrat«, ja, denkt euch, einen Arbeiterrat! Ge- 

schminkt, parfiimiert wie Drogerien, mit Halsbindchen, Kettchen, 

Ringen, Ohrgehangen verdachtig-glaserner Abstammung, suchten sie 

einen »Obmann«, waren gewerkschaftlich organisiert. 

Es geht ihnen schlecht, die Vergniigungsstatten sind zu, man kann 

nicht »arbeiten«. Und Cohn-Tiberius gibt nichts her. Er hat Geld, der 

Hund, aber man sieht nichts. 

So seltsam nahmen sie sich aus im Kaffeehaus: Rampenlicht entbeh- 

rend, Boheme mit Spiefierhunger, Zauber in Gulaschtunke, Kunst in 

Wochentagsmisere. Ihr Reden ist falsch, weil sie keine alten Witze sa- 

gen, sondern neue Trauerspiele, und der ganze Aufwand an Schminke, 

Parfum, Glasgeglitzer, Goldzahnplomben, Superoxydblond, Pathetik, 

Pelzimitationen und Halbseide ist uberfliissig, wenn man einen Ob- 

mann sucht und gewerkschaftlich organisiert und arbeitslos ist. 

Es ist wie ein Faschingszug nach Aschermittwoch. 

Josephus 
Der Neue Tag, 2j. i. 1920 



DIE REAKTIONAREN AKADEMIKER 



Revolutionsfeindlich, monarchistisch, »volkisch«, sabelsehnsiichtig, 
purpurverlangend, so 1st die deutsche Jugend von heute. 
Mit der Plotzlichkeit einer Offenbarung ward uns die Erkenntnis, dafi 
nicht alias jung, was neu ist, und dafi Jugend nur dem Alter, nicht der 
Veraltetheit antithetisch ist. Am Ende war es seit eh und je die Fahne, 
die die Jugend mitrif^, und nicht die Idee, deren Ausdruck die Fahne 
ist. Der Schlachtruf und nicht die Giiter, um die Krieg gefiihrt wurde. 
Der Trompetenstol^, der Fanfarenruf. Nie die innere Gewalt einer 
Idee, sondern der Faltenwurf ihrer Pellerine. Und am Ende hat die 
naturgemafi theatralisch wirksame Geste einer gewaltigen Idee die Jun- 
gen zu WortfUhrern der Idee gemacht. Die Jugend war nur bestochen 
und nicht iiberzeugt. Hypnotisiert und nicht ergriffen. Ja, nicht einmal 
berauscht war sie? Nur betrunken? 

Denn nun, da die Lavaglut der Revolution sich nicht in einem farben- 
prachtigen Feuerwerk auf^ert, sondern die Gefahr besteht, dafi sie in 
der Gestalt eines niichtern grauen Ascheregens die Welt einhiillt, 
spannt die deutsche Jugend die Regenschirme ihrer ordentHchen Pro- 
fessoren auf. Diese Revolution hat zu wenig romantischen Kitsch. 
Niichtern war ja allerdings auch der Krieg. Aber die korpergewordene 
Phrase des zwanzigsten Jahrhunderts, WilhelmlL, wolbte sich wie ein 
schwarzrotgoldener Regenbogen iiber der Langeweile der Schiitzen- 
graben. Poetisch war ja der Erstickungstod in Gasgestank gerade nicht. 
Aber auch durch Gasgestank flihrte der Weg in die Walhalla. Die mo- 
derne Revolution dagegen ist Gotterdammerung ohne Farbenspiel. 
Sieg ohne Siegesmarsch und Fahnenweihe. Feier ohne Truppenschau. 
Und noch weniger: Die Truppenschau der Revolution, wenn sie iiber- 
haupt stattfindet, ist lacherlich einfach. Man steht selbst unter den zu 
Visitierenden. Man salutiert selbst, ohne salutiert zu werden. Stand 
man friiher als Einjahriger auch mit in der Reihe, so doch mit dem 
erhebenden Gefiihl, nicht ewig so stehen zu miissen. In ein, zwei Jah- 
ren wiirde man selbst Fronten abschreiten und mit gestellter Heiser- 
keit Kommandorufe briillen. Was jetzt Fronten abschreitet - auch rein 
bildlich verstanden-, ist Plebejertum, staubgeborenes, purpurvermis- 
senlassendes Proletariat. Ist womoglich noch Judentum. Es mangelt an 
knisternder Banalitat, gottesgnadentraufelnder RiihrseUgkeit, tusch- 



234 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

rauschender Hohlheit. Diese Revolution geht einher In Zivil und hat 
nicht einmal die nationale Uberzeugung im Knopfloch. Ich bitte Sie . . . 

Aber kann es wirklich sein? 

So hatte sich die Jugend geandert? Waren die Bannertrager des Fort- 
schritts stets nur Getriebene und nicht Treibende? 1st es nicht die ur- 
ewige, bewegende, die Vorwdrtskraft, die in jeder neuen Jugend wie- 
dergeboren wird? Hebt nicht jede neue Generation die Welt aus den 
verrosteten Angeln? Pulst nicht das rote Blut jeder neuen Menschen- 
welle durch die Errungenschaften der Zeit? 1st die Opferfreudigkeit, 
mit der Generationen von JiingHngen den Flammentod auf den Alta- 
ren der Kultur starben, nicht bewujlte Aktivitat? Hypnotisierte kon- 
nen auch handeln, gewifi. Sie konnen sich vielleicht auch, von fremdem 
Willen gebannt, opfern. Aber konnen sie schafferiy Schopfer sein, wie 
die Jugendgeneration der Erde? 

Und selbst wenn die Jugend, nur von der Geste bezaubert, die Helden- 
taten vollbracht hatte - hat diese Revolution etwa keine? 1st das Ge- 
heimnisvoUe, das Schlupfwinkeltum revolutionarer Bewegung nicht 
jugendreizende Romantik genug? Biirgt die revolutionare Gesinnung 
nicht geniigend fur das Vorhandensein von Gefahren? 1st es nicht ge- 
rade dieses Gefahrvolle, iibereuropaisierte Nervenanspannende, was 
jeder revolutionaren Bewegung den oft schadlichen Zuwachs an weib- 
licher Intellektualitat und intellektueller Weibhchkeit beschert? 
Warum also ist die deutsche akademische Jugend antirevolutionar? 

Von mehreren wichtigen Ursachen ist die wichtigste die, dafi die Stel- 
lung zur Revolution eine - Brotfrage ist. 

Der junge Mann aus biirgerlicher Familie, der die Reifepriifung be- 
standen hatte, konnte sicher sein, dafi er in irgendeinem gutgeheizten 
Biiro unterkommen wiirde. Er hatte sich acht Jahre mit Logarithmen- 
suchen und Verba-auf-mi-Flektieren geplagt und weitere vier Jahre 
Testate und Mensurenschmisse gesammelt oder fleifiig »Schnellsieder- 
kurse« besucht - nun hatte er ein Recht auf Brot. Auf einmal wird ihm 
dieses Recht strittig gemacht. Nun konnen Manner ohne eine Spur von 
einem Schmifi, Manner, die nicht einmal ein Ungeniigend fiir falsches 
Skandieren von Hexametern aufzuweisen haben - Staatssekretare wer- 
den. Die Konkurrenz wachst ins Ungeheure. Man hat sich »zw6lf 
Jahre umsonst geplagt«. Nicht nur, dai^ der manueile Arbeiter ein gro- 



1920 235 

iSeres Einkommen hat, nein, es ist ihm aufierdem noch moglich, jene Art 
Karriere zu machen, die vor der Revolution nur dem Akademiker frei 
war. So entstand die ungliickselige Antithese: Waschfrau und geistiger 
Arbeiter. Dafi die Waschfrau ihm nicht mehr »Kuf5 die Hand« sagen 
muji - wenn sie es auch immer noch tut-, »geniert« den »Doktor« 
mehr, als dafi ihr Verdienst ein grol^erer ist. 

Denn auch friiher kam es vor, dafi der akademische »Mittelstandler« - 
wie hafihch und unnatiiHich Begriff und Wort - kiimmerUcher lebte als 
ein Taglohner. Aber die betriigerische Gesellschaft gab ihm dafiir das 
Phantom der »akademischen Ehre«. Er hatte nichts zu essen, aber er 
durfte »sich schlagen«. Theoretisch konnte er die hochsten Stellen im 
Staate einnehmen. Er war pradestiniert zum »Hoheren Staatsbeamten«. 
Er konnte Minister und Feldmarschalleutnant werden. Der andere, 
nicht Graduierte, konnte es nicht. Und die ganze ErbarmHchkeit der 
menschlichen Durchschnittsnatur offenbarte sich darin, dafi die nebu- 
lose, theoretische MogUchkeit, mehr zu werden als der Nachbar Tag- 
lohner, den »Doktor« vergessen liefi, wie schlecht es ihm ging. 
Im Krieg wurde mit einem Schlag die graue Theorie zur bliihenden 
Wirklichkeit. Man war Offizier mit Zigarren- und Zigarettenzubufien, 
mit Gagen, Rekruten, Sabel und »Ehre«. Tief versteckt gewesene und 
von akademischer Kalkfarbe liberttinchte Bestiahtat und Niedrigkeiten 
in dem und jenem durfte sich ungestraft austoben. Man war »Herr« mit 
Kommandogewalt iiber Leben und Tod, mit einem oder mehreren 
»Burschen«. Mit Schicksalssternen auf dem Blusenkragen. Und der la- 
cherliche Trost, dafi man eventuell nicht in einem Massen-, sondern in 
einem Einzel- und »Heldengrab« bestattet werden konnte, machte 
selbst den grafiUchen Tod um eine kleine Nuance angenehmer. Schhefi- 
lich dauerte der Krieg zu lange, die Ehrenhaftigkeit schwankte bedenk- 
Hch, man begann sich zu driicken, aber, aber die Uberzeugung von der 
»gotthchen Sendung des Deutschen« war zu fest verankert. Chamber- 
lain schrieb, Wilhelm der Zweite redete, die Presse leitorakelte, und der 
Weihrauch des »Vorgesetztentums« benebelte den Schadel. Man afi im- 
mer noch besser als der Mann, man durfte sich austoben, priigeln, 
schimpfen, kommandieren, raufen, trinken nach Herzenslust. Und als 
man schliefilich merkte, dafi etwas faul war im Staate, gab man die 
Schuld den Pazifisten, der »roten Internationale«, den Juden, mit denen 
man abrechnen woUte, sobald man zuriickgekehrt ware. 



236 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Man kehrte zuriick, und siehe da: Pazifisten, Internationalisten, Sozia- 
listen, Freldenker, Zweifler, Demokraten, kurz: »Juden« waren »am 
Ruder«. Nun war man arm, hatte nichts zu essen. Aber die »Ehre« war 
auch nicht mehr da? Auf die »Satisfaktionsfahigkeit« wird nichts mehr 
gegeben? Nun, soil man da nicht antirevolutionar sein?! 
Also nach der Brotfrage die »Ehrenfrage«. 

Die Revolutionsfeier war die erste Volksfeier in Deutschland und bei 
uns, bei der das Alkoholtrinken verboten ward. Die Revolution 
machte keine Bierbankpolitik. Diese Revolution war international. 
Gewffi auch ein Grund, weshalb die akademische Jugend ihre Feind- 
schaft ansagte. Aber aufierdem war diese Revolution noch antiaikoho- 
lisch. Also hochst un-»deutsch«. 

Eine gewagte Behauptung, vielleicht ein »Witz«. - Ich kann mich nicht 
seiner wehren; Er zwingt mich zur Veroffentlichung; Der Antialkoho- 
lismus dieser Revolution hat ihr bei den »Studierten« geschadet . . . 
Volksfremd und weltfremd, eingeschachtelt in die Schubladen: Ge- 
lehrte, Mensuren, Korpsgeist, Patriotismus, lebt in deutschen »Lan- 
den« eine agyptische Priesterkaste: die Akademiker. Seltsame Brauche 
und uralte Gesange. Holzerne Sprache und steifleinene Weltanschau- 
ung. So sitzen sie im Tempel nationaler Kultur, und kein Bhck dringt 
ins AUerheiligste. Und sie, die Priester, haben keinen BUck fiir die 
Welt, 

Sie kennen eine »Nation«, sie bekennen sich zur »Nation«, aber sie 
haben keine Ahnung vom Volk. 

Wie soUten sie da nicht Gegner der Revolution sein? Unsere Akademi- 
ker sind Priester, unsere Hochschulen, Kloster, unsere Wissenschaft - 
Kirche, der Rektor ein Erzbischof. Klerikalismus der Wissenschaft. 
Arterienverkalkung des Gtisits.Jeder Klerikalismus ist reaktionar. 

DerNeueTag, l2. 1920 



.PLAKATE« 



Nun bin ich krank und sitze im Lehnstuhl am Fenster meines Zim- 
mers, das im ersten Stock liegt. Ich darf mich nicht erheben, darf keine 
Zeitung iesen, keinen fremden Menschen sehen. Ich darf nur gradaus 
durchs Fenster blicken. 

Die Welt ist hinter mir versunken wie etwa ein Bahnhof, aus dessen 
Halle ein Zug mich mit rapid wachsender Schnelligkeit entfahrt. Ich 
bin froh. Ich werde vielleicht wieder Landschaften sehen. 
Nein, ich werde keine Landschaften sehen. Ich mufi zum Fenster mei- 
ner Wohnung hinausbUcken, und gegeniiber ist hoch oben ein Fenster, 
und darunter ein Stiick nackter Wand, von der sich der Mortel in klei- 
nen Brocken ablost. Das gelbbraune Ziegelwerk, das darunter hervor- 
sieht, bildet groteske Fratzen. 

Und tiefer unten, just in gleicher Hohe mit meinem Fenster, beginnt 
eine seltsame, lustige, bunte Welt. Ein Waschermadel mit roten Backen 
und einer prallen Biiste, die von Bierbaum-Lyrik strotzt, iiber einen 
Waschtrog zierUch gebeugt. Mit schlanken Fingerspitzen fafSt sie ein 
Waschestiick und halt es hoch. Das macht mich krank. Wie kann man 
nur so zimperlich mit Unterhosen umgehen? Unterhosen sind kein 
Schmetterhng, mein Fraulein! Greifen Sie nur zu! Seltsamerweise weht 
irgendwoher ein Wind. UnerklarUch! Wie kommt ein Wind in diese 
Waschkiiche! Sie ist ordentUch gehalten, weifSe, schwarzgestreifte Ka- 
cheln sind an den Wanden sichtbar. Ich wette, daf^ die Tiir gut schliefit. 
Nun aber blaht so ein ratselhafter Wind die Rocke dieses Madchens 
hoch und ach! man sieht Waden und Strumpfbander. Und ein wenig 
Spitzenzeug. Blutenweifie Dessous! Oh, wie nahe verwandt sind Seife 
und Erotik! 

Ganz ohne innigere Beziehung zu diesem netten Waschermadel ist, 
wie ich vermute, jener Mann linker Hand nicht! Ich wiifSte nicht, aus 
welchen Griinden sonst er seine braunen Backen so blaht und mit sei- 
nen alkoholgliihenden Augen besoffene Pfauenrader schlagt. Er ist 
groE und fett und macht den Eindruck eines vorsintflutlichen Unge- 
heuers, eines Ichthyosaurus etwa, der, ohne Riicksicht auf Darwin zu 
nehmen, mit einem kiihnen und plumpen Satz iiber Tausende von Le- 
bensformen hinweg direkt zum Menschen hiniiberleitet. Wo in aller 
Welt leben Wesen dieser Art, mit menschenahnHchen Fratzen und 



238 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Elefantenhabitus? »Urwiener Musik-Gesang« steht auf dem Plakat, 
Das Ungeheuer hat einen winzigen Schadel, auf dem eine schwarze 
Haarglasur klebt. Im Verhaltnis zu seinem Bauch ist der Kopf so la- 
cherlich gering wie ein Holztiegelchen, mit dem Kinder spielen. Uber 
dem ungeheuren Leib ein Instrument, Mandoline oder so. Die Farbe 
der grofien, behaarten Pratzen und der Backen ist dunkelrot wie ro- 
bes Biiffelfleisch, das drei Tage unterm Sattel gelegen hat. Dieses 
Ubergangswesen vom Ichthyosaurus zum Menschen ist ein Urwiener 
Heurigensanger bei Johannes-Stube. Ich bin neugierig, was sich da 
zwischen dem dummen Waschermadel und diesem seltsamen Natur- 
experiment entspinnen wird. 

Rechts von dem Waschermadel eine Gesellschaft, die mir gefallt. In 
einem geradezu auslandisch erleuchteten Lokal steht ein Herr auf 
Lackschuhspitzen. Seine weifi behandschuhten Hande schweben 
waagrecht in der Luft, Daumen und Zeigefinger beriihren sich zartlich. 
Der Mann ist Tanzlehrer. Nicht ubel. Damen und Herren, siifilich wie 
Zuckerwerk, schlingen einen Reigen. Wie gut es den Leuten geht! Und 
hier mufi man im Lehnstuhl sitzen und krank sein! . . . 
Von einem entsetzlichen Geball aus Ultramarin und Schwarzblau 
iiberwolbt, schmettert ein messingner Kitsch, sozusagen »Lichter- 
meer«, eitel Jubel und SeHgkeit. Ein einziger golden gluhender Schrei. 
Ein gelbrotes Fanfarenjuchhe. Damen in hellen Kleidern, die silbern 
leuchten, Gliihende Weinkelche wie Heiligtiimer. Opferschalen auf 
Dionysosaltaren. Wie? Ich habe schon so lange keine Zeitung.geiesen! 
Wien hat Licht und Kohle im Uberflufi. 

Ah! Wie grafilich! Da ist eine Nacht, blau, sag' ich euch, so schrecklich 
finsterblau wie violettes Sturmgewolk. Einer Lokomotive gefrafiige 
Augen bohren sich durch das Farbendickicht. Auf Schienenstrangen 
liegt ein armes Frauenzimmer. Waden wie das Waschermadel. Nur ist 
es hier natiirlich, dafi ihre Rocke nicht in Ordnung sind. Erotik und 
Lokomotive passen doch besser zueinander. 

Nun, ja! Warum liegt sie denn schon drei Tage und Nachte? Und der 
Zug, der so nahe ist, braust und braust fortwahrend heran und liber- 
fahrt sie doch nicht! Ich lechze nach Blut, Kleiderfetzen, zerschlisse- 
nem Menschenfleisch. Ich will diesen interessanten Frauenkopf mit 
dem wirren Haar endlich selbstandig den Hang hinunterrollen sehen! 
Nein! Diese Lokomotive riihrt sich nicht vom Fleck. Ich werde viel- 
leicht sterben, und dieses Frauenzimmer wird immer noch liber den 



1920 239 

Schienen liegen und sich anglotzen lassen von der stupiden Lokomo- 

tive. 

Es ist anders gekommen. Heute friih kam ein Mann mit Leiter, Klei- 

stertopf und Pinsel. Die Nacht mit Lokomotive und Schienenstrangen 

und Frauenkorper ist verschwunden. Ah! endlich. 

In der Bar ist Musik. Ein Kapellmeister s'chiefit weiEe Strahlenbiindel 

von seiner Hemdbrust in das Lokal, Alle Damen haben die Waden des 

Waschermadels. Es kommt immer logischer: Bar und Erotik, das hat 

denn doch verniinftige Beziehungen! 

Ich will krank bleiben. Diese iustige, bunte Welt vor den Augen haben, 

Ich lese keine Zeitungen. Es geht uns ja so gut, oh, so gut! 

Josephus 
Der Neue Tag, i. 2. 1920 



DERSCHLEIER 



So. Jetzt wissen wir, wieviel es geschlagen hat: Die Stephansturmuhr 
ist verpackt. Ein Zeitungspapier, offenbar ein Leitartikel, verhiillt jenes 
Uhrblatt, auf dem die Ziffern so iustig zu springen pflegten. Schrups! 
war eine Minute vorbei: Die Zeit hiipft wie ein Eichhornchen. 
Jetzt kann man nur noch den langweiligen Zeiger sehen, wie er uner- 
miidlich immer wieder den gleichen Kreislauf zuriicklegt. Es ist eine 
Qua!. Die Zeit hiipft nicht mehr Iustig wie ein Eichhornchen, sondern 
schleicht wie eine Schnecke. Ja, ja, es ist vorbei! 
Ein Zeitungspapier, offenbar ein Leitartikel, zeigt an, wieviel es ge- 
schlagen hat. Er klebt zu hoch, man kann ihn nicht lesen. Aber ich 
Stella mir vor, was drin steht: Es ist ein Leitartikel aus den kiirzlich 
verflossenen Tagen, an denen die Elektrische eingestellt war. Da wu8- 
ten wir, wieviel es geschlagen hat. Die folgende Zeit brauchen wir 
nicht mehr zu sehen. 

Was brauchen wir auch noch die Zeit, wenn wir Zeitung haben. Es 
mufi auch nicht taglich ein neues Blatt sein. 

Es geniigt immer derselbe Leitartikel, aus dem man ersieht, wieviel es 
geschlagen hat. 
Das Antlitz der Zeitung ist verschleiert. Maskiert. Die Faschingsmaske 



240 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

unserer Zeit ist ein Zeitungsblatt mit erfreulichen Nachrichten, die 
man nicht einmal mehr zu lesen braucht, um sie zu kennen. 

Der Neue Tag, 8. 2. 1920 



SONNTAG 



Wenn ich einmal des Morgans um zehn Uhr erwache, so kann ich Gift 
darauf nehmen, dafi Sonntag ist. Dann warte ich eine Weile, bis am 
Fenster gegeniiber Frau Katharina Zitherbart erscheint: Sie hat keine 
Schiirze an, sondern eine schwarze Bluse mit einer weifien Halskrause. 
Um haib elf stiirzen sich von alien Kirchtiirmen eigene Glockenschlage 
auf die kupfernen Dacher der Stadt, als woUten sie die Hauser in 
Triimmer legen. Ja, es ist Sonntag. 

Man hat Angst, auf die Stiege zu treten. Sie ist so ungewohnt rein, 
erinnert so von feme an gewaschene, blonde Dorfmadchen, sie ist riih- 
rend dottergelb. Man geht behutsam und elastisch an ihr herunter, als 
stiinde daneben ein Photograph, um mich fiir die »Woche« zu knipsen. 
Ja, es ist Sonntag. 

Gewohnlich ist die Elektrische eingestellt. Und wenn sie verkehrt, ist 
sie halbleer wie im Frieden. Die Leute tragen gewendete, »wie neue« 
Kleider und sehen hilflos darin aus wie Kinder, die erst seit drei Tagen 
laufen konnen. Man sieht sehr viel Ehepaare. Am Sonntag hat man 
Zeit, sich zu erinnern, dafi man eigentUch mit irgend jemandem zu- 
sammenlebt, der ein Recht hat, spazierengefiihrt zu werden. Es sind 
sehr viele Menschen sichtbar verheiratet. Die Manner sind etwas 
plump, haben gewohnhch knarrende Stiefel an und sind in Mentor- 
laune. Sie lehren unaufhorlich. Es ist merkwiirdig, was die Ehemanner 
alles wissen. 

Die Frauen bewundern einander und horen nicht zu. Sie schlagen 
Pfauenradermienen. 

Manchmal siehst du eine Familie. Die Kinder. Madchen mit Zopfen 
und Buben in Matrosenkappen. S.M.S. Sie sind so folgsam und brav 
voran, man glaubt geradezu Schellen an ihren Halsen baumeln zu se- 
hen. Und wundert sich, dafi man's nicht lauten hort. 
Am Nachmittag geht man ins Kaffeehaus. AUe Tische haben griine 



1920 241 

Lodenkostiime an. Tafelchen, Kreide, Schwamm und Karten. Um je- 

den Tisch sitzen Menschen, wie festgewachsen auf den Stiihlen, Die 

runden Tische mit den Menschen herum sehen aus wie groEe Radies- 

chenbiindel. Die Beine sind, glaub' ich, an das Tischgestell geschniirt. 

Die Frauen sitzen in den Fensternischen und lesen illustrierte Blatter. 

Wenn in ihr Gesicht Spannung kommt, dann wisse, daf^ sie das Bild 

eines Erzherzogs in der Schweiz entdeckt hat. Ihr Inneres summt 

»Gott erhahe!«. 

Die Frauen in den Fensternischen tun mir leid. Die Manner haben sie 

da in die Ecken gestellt wie Regenschirme. Die Manner spielen Tarock. 

Die Karten platschern wie schwere Piatzregentropfen auf die Tische. 

Auf den Mannerstirnen biinkt Schweif^. Ja, es ist verflucht schwer, 

Kartenspielen und Witze machen . . . 

Im Kino gibt man »Madame Dubarry«. Ein wilder Mann hak einen 

weifien Frauenleib von Matejko auf den Armen. Wilde Manner sind 

halbnackt und interessant. Man drangt sich vor dem Kino. Aber die 

schonsten Stellen im Film sind zensuriert. Die Pohzei hat die Unsitt- 

lichkeit verschluckt. Schade! 

Am Abend fangt es langsam zu regnen an. Das ist so ein Regen zu 

Tarockpartiezwecken. Natiirlich hat man den Regenschirm vergessen 

und kann nicht nach Hause. Und sitzt inmitten eines Radieschenbiin- 

dels und schwitzt AE und Eichel. 

Um halb elf giefit es in Stromen. Die Straiten sind etwas dunkel, man 

hat Angst, weil man in der Friih die Zeitung gelesen hat. Wenn man 

Pech hat, gerat man in die Spirale eines Torkelnden, der ganz gut ein 

Messer bei sich haben konnte. Weil man seine Angst vor der Frau nicht 

verraten darf, zittert man inkognito. 

Der Hausmeister riecht nach Wein wie ein Spundloch. Es dauert sehr 

lange, ehe er offnet. 

Auf der dottergelben Stiege sind Patzen wie in einem Schulheft. Im 

Fenster gegeniiber zieht Frau Katharina Zitherbart die schwarze Bluse 

mit der weifien Halskrause aus. 

Der Neue Tag, 8. 2. 1920 



DER ONKEL AUS OSTERREICH 

(Aus dem Tagebuch eines Mitglieds 
der Friedenskommission der Mittelmachte) 



New Yorky den 25.Janner 1920. Nun weifi sich das arme Amerika 
nicht mehr zu helfen. In New York wachst die Hungersnot ins Riesen- 
grofie. Taglich sterben anderthalb Millionen Menschen, Grippe und 
Flecktyphus wiiten in den armen Stadtteilen. Wenn ich nur wiifite, wie 
man dem armen Lande helfen konnte! 

28 Janner. Hurrah! Der Lebensmitteldiktator fiir die Vereinigten Staa- 
ten, Herr Franz Huber, biirgerhcher Gemischtwarenverschleifier aus 
Reutitschein, hat einen prachtvollen Einfall: Den Amerikanern werden 
sogenannte »Kronenpakete« aus Osterreich zugeschickt. Die New 
Yorker werden a Freud haben. An alien Straftenecken kleben Plakate: 
Wollen Sie Lebensmittel aus Osterreich? Schreiben Sie eine Postkarte 
nach Wien. In der Broadway 115 bekommen Sie die gewiinschten 
Postkarten ! 

j.Februar. Die Hubersche Aktion entwickelt sich grofiartig. Die 
Amerikaner konnen sich vor Freude nicht fassen. Vor dem Amtslokal 
in der Broadway 115 sind Zehntausende angestellt. Wir mufiten drei- 
hundert Wiener Wachleute nach New York kommen lassen zur Auf- 
rechterhaltung der Ordnung. Die New Yorker haben nicht die gering- 
ste Ubung im »Anstellen«. Es ist eine Schmach. 

6. Februar. Zweihundertdreiundsechzig Wiener Magistratsbeamte sit- 
zen in der Broadway 115, um die armen New Yorker abzufertigen. 
Die Amtsstunden sind von neun bis zwei. Um Mitternacht warten die 
New Yorker schon. Jetzt konnen sie sich schon famos anstellen. Dabei 
segnet jeder New Yorker ununterbrochen seinen Onkel aus Oster- 
reich. 

8. Februar, Heute habe ich mir die Huberische Aktion naher angese- 
hen. Unsere Magistratsbeamten funktionieren ausgezeichnet. Nur 
kann man diesen New Yorkern keine Ordnung beibringen. Sie sind 
hungrig, gewifi. Aber bei der Mifiwirtschaft hort sich jedes Mitleid auf. 



1920 243 

Da kann man halt nix machen! Unsere Magistratsbeamten verlangen 
von Jedem New Yorker, der sich um ein »Kronenpaket« bewirbt, nur 
die unbedingt unerlafilichen Dokumente und Personaldaten; also z.B. 
Heimatschein, Meldezettel, Taufschein, Trauschein, Alter, Kragen- 
weite, Hosenlange (nur bei Mannern), seit wann in New York ansassig 
(vor oder nach dem ersten August 1914) und ahnliches. Diejenigen, die 
Kinder haben, miissen entweder die Kinder selbst mitbringen oder 
amtlich beglaubigte Lichtbilder. Jedes Kind mufi seine Identitat durch 
einen am Bauch angebrachten Kautschukstempel von der hiesigen 
Polizei nachweisen. Aber diese Amerikaner! Kein Mensch hat hier 
seine Papiere in Ordnung. Von einem Meldezettel keine Spur. Ihre 
Kinder lassen sich nicht bestempeln. Natiirlich kann man ihnen da 
keine Anweisungen auf »Kronenpakete« geben. Da kann man halt nix 
machen! , . , 

i5.Februar. Wir haben weitere zweihundertdreiundsiebzig Magi- 
stratsbeamte und Amtsdiener nach New York kommen lassen und die 
ganze Broadway gemietet. Wir statten die Amerikaner mit alien noti- 
gen Dokumenten aus: Meldezetteln, Trauscheinen, Taufscheinen. Wir 
bestempeln die Bauchlein ihrer Kinder, photographieren sie, messen 
ihre Halsweite und Hosenlange. Natiirlich sterben unterdessen taglich 
ein paar tausend New Yorker. Dieses Volk kann die »Kronenpakete« 
gar nicht mehr erwarten. Nun, da kann man halt nix machen! 

ij.Februar. Gott sei Dank! Nun haben alle Amerikaner ihre Doku- 
mente in Ordnung. Jetzt geht es an die Uberpriifung. Da{^ sie ihre 
Papiere nur nicht wieder verlieren! Seit dem Einsetzen der Huberak- 
tion sind zirka drei Millionen Menschen gestorben. Nun, da kann man 
halt nix machen! 

10, Marz. Die Huberaktion ist leider mit sehr vielen »Kronenpaketen« 
ins Wasser gefallen. Das kam so: Der Indianer Buffalo hat um zwei 
»Kronenpakete« eingereicht. Die ChristHchsozialen im Wiener Ge- 
meinderat verlangten den Taufschein des Indianers Buffalo zu sehen. 
Dabei stellte es sich heraus - unsere Wiener PoUzei bewahrt sich auch 
in New York sehr- daE Buffalo noch der Sonnenanbetersekte ange- 
hort. Die ChristHchsozialen verliefien den Gemeinderat. Sie erklarten, 
nicht mehr kommen zu wollen, solange die Huberische Aktion dauern 



244 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

wiirde. Inzwischen wurden zwei schon abgesandte Transportdampfer 
mit »Kronenpaketen« von der Besatzung gestohlen und dann versenkt. 
Ganz New York stirbt. Wir werden schon wieder Totenscheine aus- 
stellen miissen. Nun, da kann man halt nix machen! . . . 

Dieses Tagebuch habe ich vorgestern getraumt. Gestern war ich im 
Hause Wilhelms-Ring Nn 8, wo die Scheine fiir die Hooverschen 
»Dollarpakete« ausgehandigt werden. Ein sehr liebenswiirdiger Herr 
steht hinter einem Berg von Postkarten. Jeder Bewerber erhalt drei 
Stiick, fiiUt sie aus und iibergibt sie dem Portier. Im Laufe einer halben 
Stunde sind zweihundert Personen erledigt. Ohne Meldezettel. 
Da kann man halt nix machen! 

Josephus 
Der Neue Tag, 8. 2. 1920 



POBEL 



Das ist »Sunde wider den Geist«: der gemeine Drang unserer Zeit, die 
Kampfmethoden des Strolches bei der Austragung jeglicher Art 
Kampfe anzuwenden. Gait die Ellenbogentaktik ehemals fiir verrufen, 
heute ist es die Stiefelabsatztaktik nicht einmal mehr. Der Sieg der Ma- 
terie ist vollstandig. Der Sieg des Fleischhauerknechtes iiber das Den- 
kerhirn, des Wasenmeisters iiber den Geistigen. Die schwierige Faust 
eines Wegelagerers wiihlt in den Schatzkammern geistiger Palaste. Der 
stinkende Atem des Heurigenlaufers blast Grobheitsbazillen in das 
zierliche Raderwerk des Genius. Kramer, die es sich leisten, und Gas- 
senbuben, die es sich stehlen konnen, sitzen iiber dem Werk zu Ge- 
richt. Ein Tribunal des Pobels, der keine andere Arbeitsfahigkeit mit- 
bringt als die Eintrittskarte zu erhohten Preisen. 
In Berlin, der Heimat des weinreisenden Schwadroneurs, der leider auf 
der Auslieferungsliste fehlt, trotzdem er der eigentliche Bazillentrager 
des Deutschenhasses war; in dem Berlin des Jahres 1920, in dem jener 
Weinreisende, nunmehr zum Aktien- und Bauchbesitzer aufgedunsen, 
es nicht mehr notig hat, alle Winkel der Welt mit seinem Posel zu 
verpesten, und im eigenen Lande eine Mischung von modernem Rau- 



1920 245 

berhauptmann und vorsintflutlichem Spiefier bildet; in diesem Berlin 
wurde bei der Auffiihrung von Heinrich Lautensacks »Pfarrhausko- 
modie« so randaliert, daf5 selbst die schwarzesten Kannibalen rot ge- 
worden waren vor Scham und ihrer Sitte, Menschen zu fressen, fiir 
immer abgesagt batten aus Angst, einen Berliner Kunstrichter vom 
Parkett einmal bei einem heimischen Festessen vorgesetzt zu erhalten. 
In Miinchen wurde Wedekinds »Schlof5 Wetterstein« mit Knallerbsen 
demoliert. In Immschbruck, der Hauptstadt des heiligen Landes Tir- 
rol, erhoben die freiheitskampfenden Philisterbarden ein Geheul gegen 
Karl Kraus, dafi selbst die germanischen Berserker des Arminius vor 
ihren eigenen Nachkommen sich in die nordischen Urwalder verkro- 
chen batten. In Wien aber, der Stadt der Hetz und der Hausse, wurde 
Richard Straufi am Sonntag durch eine organisierte Zischbande von 
jenem Dirigentenpult verjagt, an das ihn eine sterbende Stadt, die nur 
noch von ihrer Vergangenheit zehrt, mit vieler Not berufen hatte. 
Ob sie nun Schleichhandler in Logen oder Kunschtenthusiasten auf 
der Galerie waren, die Zischer - sie batten kein Recht dazu. Die Ein- 
trittskarte gibt keinem - weder dem einen, der sie stiehlt, noch dem 
anderen, der sie kauft oder erhalt - die Berechtigung, sein Barbaren- 
tum zu manifestieren. Tut er es im Namen des (unredlich) erworbenen 
Geldes, so ist es eine freche Uberhebung. Tut er es im Namen der 
Kunst, seiner Kunscht, so ist es eine Lausbiiberei. Im ersten Fall miifite 
man ihm klarmachen, daE er nur dank einer Verlegenheitssituation der 
menschlichen Gesellschaft die Erlaubnis erhalt, einen Gottesdienst 
durch seinen Besuch zu entweihen. Im letzteren, dafi zwischen kiinst- 
lerischem und gesellschaftlichem Taktgefiihl innige Beziehungen be- 
stehen und daE er durch den Mangel an dem zweiten sich durchaus 
nicht als Besitzer des ersten erweist. Es hat noch gerade gefehlt, dafi 
dieses Publikum von heute, das die sichtbare Widerwartigkeit seiner 
Anwesenheit durch Stuhlriicken, Zuspatkommen, »Schlusse«-machen, 
Pralines-Schlecken horbar macht, dafi dieses Publikum auch noch 
seine Kritik durch Naturlaute kundgibt, wie sie beim Boxmatch langst 
nicht mehr iiblich sind. Niemand hat ein Recht, Geistigkeit, die ihren 
Wert erwiesen, zu bespeien, auch die ehrhchen Enthusiasten nicht, die 
ihre kiinstlerischen und kritischen Fahigkeiten durch Gassenbiiberei 
selbst der Nichtexistenz verdachtigen. 

Es handelt sich gar nicht um Straufi oder einen anderen, Schmedes 
oder Ziegler. Wir miissen uns bestreben, den Triumph der Gosse ein 



246 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wenig 2U dammen. Es sind iiberall dieselben: ob sie nun bei der An- 
kunft eines Autobusses und der Elektnschen schwangere Frauen vom 
Trittbrett stofien oder die Torschlussel ihrer durch Kriegsgewinn und 
Pliinderung erbeuteten Hauser im Theater konzertieren lassen - es 
sind immer dieselben: aus den Kloaken des Jahrhunderts hervorgekro- 
chene Reptilien, Absud einer hartgesottenen Menschheit - Pobel. 

Der Neue Tag, 11. 2. 1920 



MODELLSCHAU 



Der Herr Direktor ist aufgeregt. Berufs- und sozusagen premieren- 
mafiig. 

Es gibt keine Modellschau ohne einen »Herrn Direktor«. Wenn je- 
mand Direktor bei einer Modellschau ist, mu8 er aufgeregt sein. Das 
ist er den Lorgnons der Damen schuldig. 

Der »Herr Direktor « gefallt mir. Er ist glatt rasiert, naturlich. Und 
liebenswiirdig. Er lachelt wie ein Mannequin, Als ob er selbst eine 
Friihjahrstoilette triige. Seine Hoflichkeit ist ein Versprechen. Und er 
tragt einen Winterrock, weiPs kalt ist. Und lachelt wie eine Dame in 
einer Friihjahrstoilette. Es ist keine Kleinigkeit, Direktor bei einer Mo- 
dellschau zu sein! 

Die Lorgnons der Damen springen mit leisem Kautschukklaps in die 
Hohe, stellen sich gewissermafien auf die Zehenspitzen, um besser se- 
hen zu konnen, wie Backfische bei einer Fronleichnamsparade. Lor- 
gnons sind weibliche Wesen und sehr neugierig. 
Die Zuschauer sitzen auf Stiihlen, die an den Wanden aufgestellt sind. 
Die eingeladenen Damen haben Leichenbittermienen aufgesetzt wie 
sachverstandige Totenbeschauer. Wie kann man nur Friihjahrstoiletten 
so schwer nehmen? 

Ihr Blick bekommt die priifende Scharfe eines Seziermessers, ihr We- 
sen ist Kritik. Wenn ich eine Friihjahrstoilette ware, ich hatte ordent- 
hch Angst. 

Dann schwebt ein Marquisettekleidchen durch das Zimmer. Das Mad- 
chen, das es tragt, ist bemiiht, die Seele des Kleides zu werden. Sich 
ganz zu assimilieren. Sie hat auf ihre Personlichkeit verzichtet. Sie ist 



1920 247 

nichts anderes als der Inhalt eines Marquisettekleides. Sie ist eine Seek 
aus Marquisette. 

Wie eine leise Ahnung schimmern Blumen durch ein papierservietten- 
diinnes Gewebe. Es sind olgemalte Blumen. Nicht etwa gestickte! Son- 
dern gemalte Blumen. Bemalte Kleider! Es ist sehr riihrend Margueri- 
ten auf Marquisettekleidern gemalt zu sehen. Das ist die Spezialitat der 
» Wiener Modellgesellschaft«. Die »neue Wiener Note«. Storend ist 
nur ein Traum, der mich hartnackig bedrangt. Ich sehe in Konsequenz 
dieser Note die Frau eines akademischen Malers die neuesten Land- 
schaften ihres Mannes als lebende Kunstausstellung durch die Strafien 
tragen. Mit einem Handkatalog an einer Seidenschnur. 
Denken wir nicht daran! 

Crepe de Chine in hell taube und Crepe Georgette! Oh, wie das weich 
und nebelhaft ist! Die gemalten Blumen tauchen hinter diinnen Gaze- 
schleiern empor wie an einem Sommermorgen, eh' die Nebel sich ver- 
ziehn. Biedermeierkranzchen auf Scharpen erinnern von fern an blu- 
menbemalte Suppentellerrander. Ideenassoziation: gemiitliche Haus- 
lichkeit. 

»Louisin«! Wie das klingt! Wie fliisternde Seidenschleppen. Weifi ist 
das Kleid und flieEt wie eine helle Sommerwolke. Und hat blaue 
Langsstreifen, die sich nicht recht trauen, ordentlich blau zu sein. Es 
ist die Blaue eines verschwimmenden Zigarettenrauchs. Es ist eine 
blasse Ahnung von Blaue. Es ist das Kindheitsalter der blauen Farbe. 
Das Kleid sieht aus wie ein friihreif sich gebarender Apriltag, Loui- 
sin!.. . 

Die Gesichter der Damen sind merkwiirdig ungeriihrt. Sie sitzen da 
wie Staatsanwalte. »Hoher Gerichtshof!« betteln Marquisettestoffe. 
Nur der Herr Direktor ist liebenswiirdig, friihlingshaft-beweglich wie 
eine Birke, von einem Hoflichkeitswind sanft geschaukelt. Wenn man 
fortgeht, verneigt er sich grazios, lachelnd, wie ein Schwarzkiinstler, 
der aus den Armeln Seidenstoffe geschiittelt hat. 
Nicht wahr, es ist schon gewesen? - sauseln seine Augen. 

Der Neue Tag, 22. 2. 1920 



BAISSE 



»Baisse«, das ist, wenn etwas wider Erwarten passiert. Die Speku- 
lanten namlich haben nicht just das erwartet, und deshalb kommt 
es. Es kommt immer, wenn die Spekulanten es nicht erwartet ha- 
ben. So sind sie Spekulanten, denn »spekulieren« heiCt: das Ver- 
kehrte von dem erwarten, was kommt. 

Wider Erwarten stieg die Krone. Die Spekulanten verloren eine 
Menge Geld. Wenn sie keine Glatze batten, so rauften sie sich so 
lange die Haare, bis sie eine bekamen. Es gab Spekulanten, die in- 
nerhalb vierundzwanzig Stunden kahlkopfig geworden waren. Es 
war ein Jammer in den Wechselstuben. Vor der Borse am Schot- 
tenring sah man am Vormittag lauter schlenkernde Arme. Die Kor- 
per waren ganz verschwunden. Die Menschen waren nur Gliedma- 
8en. 

Nur er hatte sich in Sicherheit gebracht. 

Ich brauche ihn nicht zu nennen. Wer kennt ihn nicht, ihn, der 
sich stets in Sicherheit bringt? Bei einer Eisenbahnkatastrophe 
bleibt er in einem Gepacknetz hangen, als ware er ein Reiseneces- 
saire. Bei Schiffbruch schwimmt er auf der Oberflache des Meeres 
wie ein Fettauge in der Suppenterrine. Bei Theaterbrand und der- 
gleichen hat er einen Ecksitz, knapp vor der Tiir, iiber der die 
Aufschrift: Notausgang dunkelrotlich »Leben!« lachelt. 
So sieht er aus: Das Bezeichnendste vor allem, daf^ er sitzt. Auf 
dem bequemsten Ledersofa in der Wechselstube sitzt er. Man sieht, 
wie stramm seine Schenkel sind, da sein gestreiftes Beinkleid die 
Fleisch- und Muskelfiille kaum zu bandigen vermag und prall um 
die strotzenden Massen schliefit wie eine nasse Schwimmhose. Frei- 
lich fallt die Gestreifte tiefer unten locker wie ein kleiner Glocken- 
scho£ um den gamaschenbekleideten Stiefel. 

In der Bauchgegend wolbt sich die gelbe Weste wie ein ausgestopf- 
tes Kalbfell, und der drittletzte Perlmutterknopf ringt nach Atem. 
Die steifgebtigelte Hemdbrust hebt und senkt sich regelmafiig. Sie 
atmet selbstandig und nimmt bei jeder Hebung, so aus GefalUgkeit, 
die Krawatte mit. Wahrenddessen tragt der kurze Hals in stolzer 
Ergebenheit einen Kopf, auf dem die Haare, miihsam von einer 
Drogeladung Brillantine gebandigt, stirnwarts streben. 



1920 249 

Wahrend er, ein Bein liber das andere geschlungen, im Lederfauteuil 

sitzt und in der »Bombe« liest, kommt jener Ungliicksmensch. 

»Kaufen Sie Lire?« 

Schweigen. 

»Brauchen Sie keine Lire?« 

Irgendwo lachelt hinter einem Schreibpult ein eleganter junger 

Mensch. Der Mann mit den Liren ist natiirlich ein Spekulant; verspe- 

kuliert hat er sich halt. Jetzt hat er Lire. Man fiihh, sie beschweren ihn. 

Sie hangen ihm um den Hals wie ein Pflasterstein um den Hals eines 

Selbstmorders, der justament ertrinken will. Sein Kopf ist zu Boden 

geneigt. Von dem Gewicht der Lire. 

Der Gerettete im Lederfauteuil Uest teilnahmslos in der »Bombe«. Ein 

feines Dekollete! Er tastet nach dem goldumrahmten Monokel, das an 

einem breiten schwarzen Seidenbandchen baumelt. Er klemmt das 

Glas zwischen Nasenwand und rechten Backenknochen und reifSt da- 

bei das Auge weit auf. Das linke Auge ist etwas kleiner. Der Augapfel 

birgt sich schlau zwinkernd zwischen den runzhgen Lidern. 

Ein feines Dekollete! 

»Sie kaufen also keine Lire?« 

Der Gerettete hebt sein Monokel: »Oho! Lire!« 

»Lire haben keinen Wert. Die Krone steigt.« 

»Ich geb' Ihnen die Lire um funfzehnhundert.« 

»Ich habe sie um siebzehnhundertvierzig verkauft.« 

»Wann?« 

»Gestern!« 

»Mich haben sie tiichtig rasiert!« 

»Womit hat man Sie eingeseift?« 

»Mit JuU-Sud.« 

»Ein Ungluck! Pech! Ich habe gehort, daf$ der Horowitz sich erschos- 

sen hat. Hunderttausend Dollar hat er verloren.« 

»Wer hat sich erschossen?« 

»Der Horowitz !« 

»Der Horowitz bin ich!« 

»So?« Der Gerettete lafit sein Monokel fallen. Sein nacktes Auge badet 

in Wollust. 

Dann geht der Horowitz. Mit den Liren, die ihn beschweren, um den 

Hals. Er sagt nicht: »Guten Tagl« Er denkt nur: »Keiner kauft! Kein 

Mensch kauft! Der Schlag soil ihn treffen!« 



250 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Gerettete nimmt »Bombe« und Monokel wieder au£ Ein feines 

DekoUete. 

Wahrend er umblattert, sagt er schmatzend, so nebenhin, als verlore er 

die Worte wie alte Tramwaykarten: »Glauben Sie, dafi ich nicht weifi, 

es war der Horowitz ?« 

Der elegante Mensch hinter dem Schreibtisch lachelt Bewunderung. Er 

nimmt sich vor, stets zu den Geretteten zu gehoren. 

Er hat Talent. 

Der Neue Tag, 22. 2. 1920 



AUS DER VOGELSCHAU 



Nun ist den ganzen Tag iiber mein Fenster offen. 
Die jungen Tage sind da, schlank, birkenschmiegsam, sonnenduftig 
und schiichtern. Es gibt viel auf den Strafien zu sehen. 
Nur, wenn man im vierten Stockwerk wohnt, ist man Herr iiber die 
Gasse. Unten ist man eingeschiichtert von der strengen Steifheit der 
Mauern; gefangen in einer beklemmenden Symmetrie von Ziegelstein 
und Eisen, hilfloses Zubehor einer Hausnummer. Unten tragt man auf 
den Schultern Last und Miihen zahlloser Stockwerke. Schwermut aller 
Mietparteien und Schwerfalligkeit aller Dinge. Unten ist man Opfer 
der Zeit, Sekundenstrich auf dem Zifferblatt der Gegenwart. Gegen- 
stand der Strafie, teilst du das Los mit Laternenpfahlen und Rinnstei- 
nen. 

Oben bist du souveran. Lynkeus iiber den Dingen, leichter Seiltanzer 
des Lebens, nur von deinem eigenen Gewicht beschwert, pflasterfern 
und gottnah. Oben hat man den richtigen Mafistab zum Geschehnis. 
Man sieht es, wie es ist, namlich: winzig. Die Menschen verlieren, was 
sie zu Individuum und Symptom macht: die Wichtigkeit. Sie sind Gat- 
tungsexemplare. Man hort ihre Sprache nicht, sieht nicht ihr Ange- 
sicht. Man weifi nur, warum es so leicht ist, sie von Pferden und Hun- 
den zu unterscheiden: Sie gehen auf zwei Beinen. 
Der Larm der Stadt hat keinen personlichen Zug, Oben ist er ein ge- 
ballter Stimmenknauel von einfachem Farbenton. Die scharfe Schneide 
einer schrilien Autohupe wetzt sich stumpf an dem schartigen Gewirr 



1920 251 

der anderen Laute. Die junge Pfeife wird erdrosselt von dem wuch- 
tigen und plumpen Knarren eines metallgepanzerten Lastwagenra- 
des. Oben verbinden sich die Tone, wachsen ineinander wie ein Bie- 
nenschwarm. 

Die Strafienbahn ist ein sinnloses Spielzeug; gelb und rot bemalt, 
schiebt es sich hin und zuriick. Ein Unfall, ein Zusammenstofi ist 
eine lacherliche Ungeschicklichkeit. Nicht mehr. Eine Blutlache 
nimmt sich aus wie ein roter Tropfen, der von irgend jemandes Na- 
senbluten herriihrt. Das Elend des Bettlers ist ein winziges Mist- 
hauflein. Die Hast der Eilend-Beschaftigten ist ein unverstandHches 
Getue minderwertiger Lebewesen, kleiner Maschinchen vielleicht. 
Und man versteht oben die Erfolglosigkeit heifier Gebete an einen 
Gott, der durch die Luke eines Wolkenkratzers auf die Weh herab- 
sieht. 

Oben ist man selbst ein kleiner Gott. Die Sorge muf^ vier Stock- 
werke hinaufkeuchen, ehe sie bei dir ist. Da geht ihr der Atem aus. 
Du begreifst die Minderwertigkeit des Parterres. Was unten so 
schreckhch scheint, ist oben gering. Ein Leichenzug ist eine Parade 
in Schwarz. Eine Trane ist iiberhaupt nicht sichtbar. Wichtig ist nur, 
was ewig ist: Vogelflug, Himmelsglanz, Wolkenfahrt. 
Denkt euch: Man sieht, da£ die Dacher der Strafienbahnen blech- 
iiberzogen sind und von einer dichten Staubkruste bedeckt. Die Da- 
cher der Waggons werden niemals gereinigt - ich wette! Man ver- 
liert den Respekt vor Zweizonentarifen. 

Man verUert iiberhaupt sehr viel Respekt im vierten Stockwerk. Der 
Wachmann sieht aus wie eine Marionette, in Pappe gekleidet. Sie 
steht in der Mitte einer StraEeninsel und dreht sich um ihre eigene 
Achse. Ganz deutUch ist nur eine dicke Naht in der Mitte des kreis- 
formigen Kappendeckels. Dann kommt ein roter Punkt, das ist die 
Nasenspitze. Und tiefer unten ein Metailglanz von zwei, drei Knop- 
fen, eine Bauchwolbung und zwei himmelwarts st^ebende Stiefel- 
spitzen. Und da soil man Respekt haben? 

Seltsam, wie die Menschen gehen. Die meisten erledigen das Gehen. 
Sie gehen nicht. Das Gehen ist ein Auftrag, den sie ausfiihren miis- 
sen. Ihr Oberkorper ist vorniibergebeugt, und weit hinten schleppen 
sie die Fiifie wie lastige Anhangsel mit. Ich wette, sie wissen nicht, 
wozu sie die Beine haben. Der Kopf hangt iiber dem Pflaster, als 
ware der Hals ein Bindfaden. Das sind offenbar Menschen, deren 



252 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

WoUen grofSer ist als ihr Konnen. Ihr Streben eilt der physischen Be- 

miihung voraus. Die Beine konnen niemals das Ziel des Kopfes errei- 

chen. 

Andere werfen die Beine schlenkernd voraus. Sie jonglieren mit den 

eigenen hosenumschlotterten Gliedmafien. Frauen machen bei jedem 

Schritt kleine Drehbewegungen im Halbkreis. Rechts und links, ab- 

wechselnd, als ware der Oberkorper drehbar angeschraubt. 

Man verliert den Respekt oben. Vor allem, was man unten heilig, 

schon, gefahrlich, schrecklich nennt. 

Ich beschlofi, keinen Respekt mehr zu haben. 

Da bekam ich ihn. 

Und das war so : Eines Tages saf5 ein Spatz auf dem Fensterbrett, er sah 

mich an. »Ich habe keinen Respekt«, sagte er. 

Er argerte mich. Ich griff nach ihm. 

Er flog aufs obere Fenstersims und schielte herunter. 

»Ich habe keinen Respekt!« 

Ich bin ein Mensch, und Respekt ist eine menschliche Notwendigkeit. 

Ich verlor ihn vor dem Wachmann. 

Und ein Spatz lehrte mich ihn. 

Josephus 
Der Neue Tag, 29. 2. 1920 



TIERE 



Im Schonbrunner Park kann man wieder die Tiere sehen. 

In den Kafigen sind nur noch sehr wenige. Der Wolf lauft rasend das 

Gitter entlang, auf und ab, verzweifelt, dafi er kein Stiickchen Brot hat, 

um es den hungrigen Leuten zuzuwerfen, die ihn besichtigen. 

Der Bar, ein sehr gemiitlicher Mensch mit schwarzpolierten Fingerna- 

geln, tragt trotz Sonnenschein und Himmelblaue noch seinen Pelz und 

macht sich nichts daraus. Er sitzt mit Pose und Bitte-recht-freundlich- 

Miene. Er halt den Kafig fiir ein photographisches Atelier. Augen- 

blicklich beschaftigt er sich damit, einen Leckerbissen, der aufierhalb 

des Kafigs liegt, in sein Bereich zu kriegen. Plotzlich senkt er rasch 



1920 253 

entschlossen den Kopf und zieht den Brocken mit der langen, schliipfri- 

gen, sehr beweglichen Zunge herein. 

Ein raudiges Kamel sieht aus, als hatte es seme Garderobe zum Hof- 

schneider gegeben und liefe vorderhand in sehr blamablem NegHge 

herum. Ein anderes tragt seine Buckel mit hochwichtigem Ernst und ist 

krampfhaft bemiiht, seinen Kopf recht hoch zu behalten. Manchmal 

bleibt es stehen, denkt ein wenig nach und sagt: langweiHges Leben. 

Der Bison ist gutmiitig, hat eine Schnauze wie ein preufiischer Wachtmei- 

ster, fiihlt sich aber sehr wohl in der RepubHk und macht einen durchaus 

demokratischen Eindruck, Nur manchmal roUt er ein blutunterlaufenes 

Auge nach rechts, wo ein weiEgekleideter Knabe steht. Der Bison mochte 

ein biEchen Kinder zerfleischen. 

Das Affenhaus ist geschlossen. »Kein Eintritt« steht darauf. Parlaments- 

ferien . . . 

Die meisten Kafige sind leer. Die Herrschafteh haben die Monarchie 

nicht iiberleben wollen und mit einer aristokratischen Geste ihre Behau- 

sungen Staatssekretaren freigegeben. Ihre hochvornehmen lateinischen 

Visitenkarten haben sie mitgenommen. 

Die Beuteltiere wissen noch immer nichts von dem Systemwechsel. Sie 

haben immer noch Beutel fiir eventuelle Nachkommenschaft bereit, 

obwohl sie eigentlich wissen miiEten, daf^ eine Republik etwas auf Kin- 

derheime und dergleichen gibt. 

Die Beuteltiere sind sehr lustig. Sie hiipfen auf den Hinterbeinen und 

gebrauchen den Schwanz wie einen Spazierstock, der an ihrer riickwarti- 

gen Hosennaht befestigt ist. Ihre Vorderpfotchen fiihren sie von Zeit zu 

Zeit zum Munde, um sich die Nagel mit den Zahnen zu manikiiren. 

Der Strauj8 hat lange nicht so schone Federn wie jene Dame, der ich beim 

Eingang begegnet bin. Ich bin enttauscht, Herr Straufi! 

Der Schwan sieht aus, als ob er soeben aus der »Lohengrin«-Vorstellung 

kame, und schwimmt leicht im Teich umher, gliicklich, dafi er den 

Schmedes losgeworden ist. 

Der Oberlehrer hat ein Geiergesicht. Er geht hier studienhalber herum. 

Sein Each ist Naturlehre. 

Ein Menschenpaar in mittlerem Lebensalter hat sich auf einer Bank 

niedergelassen. Es tragt seine Jungen nicht in Beuteln, sondern lafSt sie mit 

Kieselsteinen nach den Schwanen werfen. 

Gouvernantenpapageien fiihren kleine Saugetiere mit Spitzenhaubchen 

in griinlackierten Kinderwagerln spazieren. 



254 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Eine Ameisenbarfamilie mit Uhrketten, Spazierstocken, Regenschir- 

men begibt sich ins Kaffeehaus im Vollgefiihl ihrer durch den zoologi- 

schen Besuch erheblich gesteigerten Menschenwiirde. 

Ein herabgekommener Habicht mit griinem Pliischhiitchen, kariertem 

Kragen und sonstigem Polizeiagentenzivilfell spaht nach Beutemen- 

schen. 

Sonst sind keine Tiere in Schonbrunn zu sehen. 

Der Neue Tag, 7. 3. 1920 



DAS SCHIESSPULVER 



Der neunzehnjahrige Horer am Hildsburghausener Technikum, Ri- 
chard Geyer, hat ein achtschiissiges automatisches Selbstladegewehr 
erfunden und seine Erfindung schliefilich so vervoUkommnet, daE 
zweiunddreifiig Schiisse hintereinander ohne Zwischenladung moglich 
sind, Diese Erfindung wurde patentiert. Sie gelang - das Datum mag 
man sich merken - in den ersten Monaten des Jahres 1920 in der deut- 
schen bzw. bayrischen RepubUk, ungefahr vierzehn Monate nach der 
Beendigung des Weltkrieges. 

Man kann also zweiunddreifiigmal hintereinander, ohne zu laden, 
schiefien. Auf Hasen oder Menschen, je nachdem man mit der neuen 
Erfindung auf die Jagd oder in den Krieg geht. Der neunzehnjahrige 
Erfinder hat iiber die Verwendungsmoglichkeiten seines Gewehres 
nichts verlautbart. Es ist nicht anzunehmen, dafi er es sich gerade als 
Jagdgewehr gedacht hat. Viel berechtigter ist die Vermutung, dafi diese 
furchterliche Erfindung nur Kriegszwecken dienen soil. Man wird also 
im nachsten Krieg mit dem Geyerschen Gewehr zweiunddreifiig Men- 
schen toten konnen, hintereinander, in moglichst rascher Folge. Im 
nachsten Krieg . . . 

Denn auf einen nachsten Krieg deutet diese Erfindung hin. Das 
Schiefipulver ist als Kriegstrieb- und -treibmittel nicht zu unterschat- 
zen. Es ist ein tiickisches Objekt. Die Ereignisse der letzten Monate 
und der Krieg haben haufig genug bewiesen, dafi die Waffe Gewalt 
iiber den Bewaffneten hat. Es ist auch ganz gut anzunehmen, dafi die 
Erfindung eines Zaubermittels, mit dessen Hilfe man auf die Entfer- 



1^20 255 

nung von vielen Meilen seinen Gegner vollkommen besiegen konnte, 
ein Volk zu einem mutwilligen Krieg zu verketten imstande ware. Die- 
ser Fall ist hier zwar ausgeschlossen. Wohl aber beweist eine solche 
Erfindungj dafi Kriegs- und Morderdrang noch lange nicht ausgerottet 
sind, im Gegenteil, daj8 sie noch recht lebendig sind in den Menschen 
unserer Zeit. Diese Erfindung beweist, dafi wir noch immer nicht »ge- 
nug haben«. 

Denn schliefilich sind Erfinder, ebenso wie Kiinstler, Produkte ihrer 
Welt, Konsequenzen der Stromungen, Werkzeuge in der Hand des 
Zeitgeistes. Sie sind der Ausdruck der haufig noch selbst unsichtbar 
bleibenden Triebe ihrer Umwelt. Dieser neunzehnjahrige Geyer, mit 
dessen Namen eine zukiinftige Menschheit vielleicht die traurigsten 
Erinnerungen an ihre gliicklich iiberwundene Verwandtschaft mit wil- 
den Affen verbinden wird, konnte ebensogut Meyer heifien. Es muji 
nicht der Richard Geyer sein. Es ist irgendeiner, ein zufalHges Indivi- 
duum, das ein Gott oder ein Teufel zum korpergewordenen Ausdruck 
einer zeitbeherrschenden Roheit ausersehen oder verurteilt hat. 
Es ist eine seltsame Zeit: Sie braucht Kohle und bringt nicht etwa einen 
Erzeuger kiinstlicher Kohle hervor, der mit einem Schlag eine Welt vor 
den furchtbarsten Katastrophen behiiten konnte, sondern den Erfinder 
eines Mordinstruments, mit dem man ohne Zwischenladungspause 
eine Welt vernichten kann. Man braucht Leben und fabriziert Tod. 
Der tausendfaltige Tod - Gasbombe, Granate, Schrapnell, 42-Zenti- 
meter-Morser usw. usw. - geniigt nicht. Es mufite ein neuer Tod er- 
funden werden: das achtschiissige, automatische Selbstladegewehr, das 
mit zweiunddreiEig Schiissen ohne Zwischenladung den Rekord im 
Fixmorden hat. »Schnellste Totung garantiert . . .« 
Die Erfindung kommt gerade zu einer Zeit, in der Flammenwerfer und 
Panzerautos in den BerUner StraEen die Existenzberechtigung des Er- 
finders beweisen. Vielleicht hat Richard Geyer nicht umsonst gelebt 
und kann - dieweil er ja erst neunzehn Jahre zahlt - die Erfiillung 
seines Fluches selbst erleben. Vielleicht gar wird seine Erfindung es 
sein, die eine Wiederherstellung der Monarchien ermoglicht und den 
Beweis erbringt, dafi eine Generation, deren Lebensinhalt das Schiefi- 
pulver ist, wert ist, das Opfer des Schiefipulvers zu werden. 
Dieser Neunzehnjahrige ist jedenfalls Reprasentant seiner Generation. 
Ein deutscher Jiingling, der weder Verse schreibt noch mit der Botani- 
kertrommel in den Wald geht, noch ungliicklich verhebt ist, sondern 



256 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

der seine Jugend dem Schiefipulver verschrieben hat. Neunzehn Jahre! 
Es ist schlimmer, als wenn sic dem Vaterland der HohenzoUern zum 
Opfer gefallen waren. Wieviel Neunzehnjahrige werden sterben miis- 
sen, weil dieser Neunzehnjahrige gelebt hat! . . . 
Noch ist es zeitbeherrschend, europabeherrschend, das Schiefipulver, 
Es macht sich selbst politische Ideen untertan, deren Zweck, nebst vie- 
ien anderen, auch die Abschaffung des Schiefipulvers gewesen. Es be- 
machtigt sich der Seele der Fiihrer und explodiert mit und in den Mas- 
sen. 

Die eigenthche Gefahr unserer Zeit ist das Schiefipulver, das unsterbU- 
che, Nicht »roter Terror«, nicht »Reaktion«. Nur- Schiefipulver. 
Hiitet euch vor dem Schiefipulver! 

Der Neue Tag, 14.3. 1920 



ALLTAGSMYSTIK 



Auf den Urgrund der Dinge kommst du nie, auch wenn du tausend 
Jahre alt wirst. Die Geheimnisse des Menschen entschleierst du, seine 
Seele legst du blofi, deinen Hund lernst du in- und auswendig kennen. 
Aber mit fiihllosen Fiifien trittst du auf den Pflasterstein, blind gehst 
du unter der Dachrinne voriiber, das Fensterkreuz, der Tiirrahmen, 
das Stuhlbein, die Wand, Kleinigkeiten, mit denen du dieselbe Luft 
atmest, weifit du nur zu benennen. Nicht mehr. Wie wenig ist ein 
Name! 

Nun aber ist die Zeit des Vorfrlihlings da, in der alle Dinge Seelen 
bekommen und der Alltag unverstandlich wird und verworren, weil 
ihm der Marzduft zu Kopf steigt. Die Welt ist sonderbar unlogisch 
und toricht-ausgelassen, das Wetter macht sinnlose Spriinge, und auf 
das SoUdeste ist kein Verlafi mehr. Seltsame Mystik weht um die 
scheinbar simplen Dinge deiner Umwelt. Meilenfernes tritt zu dir in 
Beziehungen. Niegeahntes wird selbstverstandlich und Wirklichkeit 
traumfern. 

Sonnige Tage waren da, die Menschen leuchteten gewissermafien von 
innen heraus, als batten sie Sonne, wie Gefrorenes etwa, aus Tassen mit 
silbernen Loffeln geschluckt. 



1920 257 

Mein Freund schamte sich seines Wlnterrocks. Er schamte sich vor 
dem Himmel, dem man mit weichem Flanell alle Wolken weggeputzt 
hatte, vor den Fensterscheiben, die merkwiirdig blank waren, als hat- 
ten sie irgendwelche Winterkleider abgelegt, vor den Hausfassaden, 
denen man plotzlich ihre schone Nacktheit glaubte, nun sie es durch 
ein Sonnenbad bewiesen. 
Mein Freund schamte sich . . , 

Und da er Geld hat, ging er hin und kaufte sich einen Uberzieher. 
Wahrend er ihn probierte, lacheke er gliickhch iiber einen ganz famo- 
sen Einfall. Ja, so wiirde er es machen, man konnte den Winterrock im 
Geschaft lassen und im neuen Uberzieher auf die Strafie gehen. Und 
die Fensterscheiben und die nackten Hausfassaden wurden einen an- 
sehn wie ihresgleichen. 

Als wir unten waren, hatte sich die Welt ein bifSchen geandert. Es 
wehte kiihl, und die Sonne trug ein Wolkentiichlein um den Hals. 
Und in der Nacht schneite es. Und mein Freund argerte sich. 
Seltsam geheimnisvolle Zusammenhange zwischen dem Kauf eines 
Uberziehers und dem Wetterumschlag. 

Mein Freund ist aberglaubisch geworden. Gestern mul^te ich ihn zu 
einer Kartenaufschlagerin begleiten. 

Vor zwei Tagen hatte ich kein Geld. 

Ich erwachte mit dem unangenehmen Gefiihl eines unvorbereiteten 

Tertianers etwa. Ich hatte sozusagen ein schlechtes Gewissen, weil ich 

mir nicht erlauben durfte zu friihstiicken. Ich beschlofS, das Kaffeehaus 

zu schwanzen. 

Ich blieb eine halbe Stunde langer im Bett. 

Der Geldbrieftrager kam. Er brachte sieben Kronen und siebenund- 

sechzig Heller. Das war kein Honorar. 

Vor einem Jahr hatte ich eine Zeitschrift abonniert. Sie stellt ihr Er- 

scheinen ein und schickt mir nach Abzug des Kostenpreises fur das 

erste Heft mein Geld zuriick. 

Zeitschriften pflegen manchmal auch im Dezember einzugehen. Aber 

das Geld schicken sie nur im Friihling zuriick. Mystik des Marzalltags. 

Die Post wird nun schon gar ungebardig toll. Eine Rohrpostkarte be- 
kam ich nach acht Wochen, einen unfrankierten Brief von einem Kol- 
legen gegen Strafporto noch am selben Tag. 



258 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Brieftrager tragt statt seines gefiitterten kurzen Winterrocks eine 
kleine Friihlingspelerine. Jeden Morgan, wenn er die Stiegen hinaufha- 
stet, blaht sich der Wetterkragen, und der Postbote sieht aus wie eine 
Riesenbrieftaube. 

Ich glaube bestimmt, dafi der ganz unverstandliche Postverkehr mit 
dieser Pelerine und dem Flattern des Brieftragers irgendwie in einem 
Zusammenhang steht. 
Unergriindliche Postmystik. 

Wenn man durch die Strafien geht, fallen einem die lacherlichsten 

Dinge auf. 

Im Winter haben sich die Dinge versteckt. Sic hielten Winterschlaf. Im 

Friihling kommen sie zum Vorschein wie die ersten verstaubten Stu- 

benfliegen. 

Es ist allerlei zu sehen. Sonderbare Kleinigkeiten, geheimnisvoUe Auf- 

erstandene. 

In einer Gasse sehe ich plotzlich einen Doppeladler. 

In der Elektrischen ein Tafelchen: »Im Innern des Wagens 6 Steh- 

platze!« 

In einer Stadtbahnhalle einen Automaten mit blindem Spiegel. Ein- 

wurf : ein Zweihellerstiick. 

In einem Rinnstein finde ich ein ZwanzighellerstUck aus Eisen. 

Verschollene, langst begraben geglaubte Dinge kommen gespenster- 

haft zum Vorschein. 

In einem Schaufenster, an dem ich taglich vorbeigehe, hangt plotzlich 

eine Tafel: 

Zahlstelle des Veteranenvereines »Hoch- und Deutschmeister« 
Es gibt noch irgendwo Veteranen der »Hoch- und Deutschmeister«. 
Grenzen der republikanischen Macht. 

Ich kann die peinigende Vorstellung nicht loswerden: Zweihundertsie- 
benundfiinfzig Veteranen mit goldenen Orden an roten Brustband- 
chen vor der Zahlstelle angereiht. 

Sie horen nicht auf zu zahlen. Sie zahlen bis ans Ende der Welt. 
Ewig, ewig ist so eine Zahlstelle . . . 

Unerklarhches ist da, iiberrumpelt dich durch plotzliches Dasein, ohn- 
machtig bist du gegeniiber Gespenstern. Schleierhaftes walk um deine 
Stunde, der Taschenuhr stockt plotzlich der Herzschlag, wenn du sie 



bos ansiehst, ein Schliissel, den du langst verloren geglaubt, liegt harm- 
los auf dem Schreibtisch; so, als ware nichts geschehen. 
Geister spazieren um die Mittagsstunde, die Welt ist verkehrt, die 
Menschen verwandelt und miide vom AUzuviel des GeheimnisvoUen. 
Der AUtag ist nicht mehr grau, sondern frisch angestrichen. Und biegst 
du um die Strafienecke, so steht dort hinter der Plakatsaule das Wun- 
der und zupft dich am Armel . . . 

Josephus 
DerNeueTag, 14.3. 1920 



DIE METAMORPHOSE DES »SPERRSECHSERLS« 



Von vornherein sei die Aussichtslosigkeit eines Kampfes gegen eine 
durch Wurschtigkeit und Wahlzettelfangpolitik der osterreichischen 
Parteien geheiligte Institution zugegeben. Eine Institution, deren Vor- 
marztum sich dauerhafter erwiesen hat als die so oft beschworene 
Ewigkeit von Kronen, Dynastien, Vaterlandern. Eine Institution, so 
osterreichisch, dafi sie die Wahrheit des Sprichwortes » Austria erit . . .« 
hausmeisterlaternenklar beweist, und durch ihre geheimnisvolle Stabi- 
litat so irritierend, dafi der Gegenwartsmensch, der von dem Ungliick 
betroffen wird, zufallig nach 8Uhr abends aus Mitteleuropa nach 
Wien verschlagen zu werden, seinen Taschenkalender von 1920 flir 
einen faulen Zauber halt. Eine Institution, die liber Revolutionen und 
soziale Erdbeben triumphierend ihren Haustorschlussel schwingt und 
eher bereit ist, ihn auf die demiitigen Haupter von Mietern und Natio- 
nalversammlungskandidaten niedersausen zu lassen, als ihn aus der 
Hand zu geben. Gegen eine solche Institution anzukampfen ist verge- 
bens. 

Dennoch sei hier der Versuch gewagt, ernste Bedenken gegen den Be- 
schluE des Reichsvereines der Hausbesorger und Portiere Osterreichs 
zu erheben, der das Sperrgeld mit 2 Kronen festsetzen will. Wenn ein 
solcher Versuch weder originell noch aussichtsreich genannt werden 
kann, so doch immerhin mutig. Vielleicht waren die bis nun seit jeher 
mit Hausmeistern gefiihrten Auseinandersetzungen zu wenig ernst, 
um besser wirken zu konnen. Man kann mit blofien Spotteleien nicht 



26o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

dariiber hinweg, dafS der osterreichische »Hausmeister« und das 
»Sperrsechserl« am schlagendsten beweisen, wie sehr uns der Tor- 
schliissel zu unserer personlichen Freiheit fehlt, Es gibt ernstere Sor- 
gen, gewifi! Aber unter den vielen herabwiirdigenden Spezialitaten, 
unter denen der osterreichische Mensch leidet, gibt es vielleicht keine 
mehr demiitigende als dieses Strafporto fiir die Beforderung seines 
eigenen Ichs in die eigene Wohnung. 

An dem Sonntag der Marzfeier - sehr sinnreich - hielt der Reichsver- 
ein der Hausbesorger und Portiere Osterreichs im Alten Rathause eine 
Versammlung ab, die sich zu einer - Vormarzfeier gestahete. »Das 
Sperrgeld fiir ein einmaUges Aufsperren wird mit zwei Kronen be- 
stimmt.« Warum nicht? Auch die Strafienbahn hat einmal ein Sechserl 
gekostet! SoUte der Hausmeister just billig bleiben? »Sperr- und Reini- 
gungsgeld seien das Haupteinkommen eines Hausbesorgers, und nach 
der heutigen Kaufkraft des Geldes sollte man eigentUch zwanzig Kro- 
nen Sperrgeld fordern.« Der Reichsverein der Hausbesorger und Por- 
tiere Osterreichs scheint nicht im geringsten daran zu zweifeln, dafi ein 
Hausmeister osterreichischen Stils ebenso notwendig ist wie etwa die 
StrafSenbahn. 

Ganz abgesehen davon, dafi das »Sperr- und Reinigungsgeld« viel- 
leicht in keinem einzigen Fall »das Haupteinkommen des Hausbesor- 
gers« bildet (kennt jemand einen Hausmeister, der keinen anderen Be- 
ruf hat?), ist das Beharren auf der Institution des Sperrgeldes seitens 
des Reichsvereines durchaus nicht so »proletarisch« und dem soziali- 
stischen Zeitgeist entsprechend, wie es sich dieser Verein vielleicht 
denkt. Der Ursprung dieses Sperrgeldes ist doch eigentlich dem des 
Trinkgeldes verdachtig ahnlich. Wahrend Straf^enbahnschaffner und 
andere ehrlich arbeitende Proletarier das Trinkgeld als die Proletarier- 
ehre beeintrachtigend abgewiesen haben, wahrend sich die Kellner und 
Friseurgehilfen vom Trinkgeld zu emanzipieren suchen, will der 
Reichsverein der Portiere und Hausmeister das erhohte Trinkgeld. Das 
Entwiirdigende des Trinkgeldes fiihlt der einzelne Hausmeister sicher- 
lich. Er macht es wett dadurch, daf^ er den Mieter einer noch schlim- 
meren Entwiirdigung teil werden Mt. Denn nur so, unter gegenseiti- 
gen Entwiirdigungen, wickelt sich der osterreichische Verkehr ab. 
Zwei Kronen Sperrgeld, das sind im Jahr siebenh under tzwanzig Kro- 
nen. Die Mietzinsabgabe betragt bei einer Mietzinshohe von 900 Kro- 
nen und dariiber n\xr funfundvierzig Kronen. Zu den 720 K. Sperrgeld 



1920 26l 

kommen noch 100 Prozent Reinigungsgeld. Die Steuerschraube des 
Hausmeisters ist schlimmer als die des Staates. Selbst wenn man an- 
nimmt, dafi die Tatigkeit des Aufsperrens die Moglichkeit eines even- 
tuellen Einbruchs verhindert, so ist zu bedenken, was kostspieliger ist: 
hie und da ein Einbruch oder allabendliches Sperrgeld . . . 
Aber nicht einmal ein Einbruch wird durch die Institution des Sperr- 
geldes verhindert. In den grofiten Stadten Europas geschehen weniger 
Einbriiche als in Wien. Ein Einbrecher nimmt sich eben selbst in Wien 
nicht die Miihe, beim Hausmeister anzulauten, wenn das Kanalgitter 
zufalHg schwer zu offnen ist. Der Reichsverein der Hausbesorger und 
Portiere miiEte eigentlich auch die Einbrecher zur Entrichtung eines 
den jeweiligen Einnahmen entsprechenden Sperrgeldes anhahen . . . 
Ach! So einfach ist die Sache eben nicht. Es ist nicht genug daran, dafi 
der Hausmeister meine Verhahnisse aus dem Meldezettel kennt, Er 
mufi auch iiber meinen nachtlichen Lebenswandel orientiert sein. Er 
mufi wissen, ob, wann und wie ich nach Hause komme. Deshalb wer- 
den wir nie das Sperrgeld loswerden. Und noch eines: Den Kampf, der 
seit Jahren zwischen den Parteien tobt, den Kampf um den Hausmei- 
ster nicht zu vergessen. Der Herr Landeshauptmann wird gewifi eine 
»Zweikronensperrgeldzahlendmachung« erlassen! 

Der Neue Tag, 17. 3. 1920 



»VERSUCHSKLASSEN« 

2u Otto Glockeh Schulreform 

»Versuchsklassen« - ein etwas ungliickHch gewahltes Wort fiir eine 
ausgezeichnete Sache. Wenn die Institution der »Versuchsklassen« sich 
erhalt - bewahrt hat sie sich schon-, so ist damit in aller Stille seit dem 
Umsturz auf dem Gebiete der osterreichischen Schule unendlich mehr 
getan als auf alien anderen Kulturgebieten unseres offentlichen Lebens. 
Neu sind die Methoden, die in den »Versuchsklassen« angewendet 
werden, ja gerade nicht. Aber neu werden die Menschen sein, die aus 
diesen Schulen herauskommen. 

Es gibt keinen »Stundenplan« mehr! Von acht bis neun Rechnen, von 
neun bis zehn Deutsch, von zehn bis elf — wie wurde unsere Kindheit 



262 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

in die Fachschublade eines Stundenplanes gezwangt, unser Leben ab- 
geteilt, unsere unschuldige Freude auf zehn Minuten Pause zwischen 
zwei Folterstunden rationiert! Draufien konnte es Schusterbuben reg- 
nen, gewittern, Erdbeben mochten sein, Revolution, Konigsmorde - 
in der Schulstube anderte sich nichts: von acht bis neun Rechnen, von 
neun bis zehn Deutsch — So wurde die Schule zum Marterort, jeder 
Freiheitsregung zum Vergehen, Liige und Heuchelei mit Einsern in 
»Sitten« belohnt, Tartiifferie und Scheinheiligkeit grofigezogen. Aus 
Jenen Schulen ging ein Geschlecht von Verbitterten und Verkiimmer- 
ten, Minderwertigen und Blindgehorsamen, Unselbstandigen und 
Willkiirmenschen, Pfeifendeckeln und Husarenleutnants hervor. Und 
selten, sehr selten waren die Freien. Die Schule war eine Art Kaserne. 
Der Unterricht alten Stils bestand aus geistigen Gelenksiibungen. Und 
»Kopfnicken« war die wichtigste. 

Der Unterschied zwischen der alten Schule und der neuen besteht in 
der Hauptsache darin, dafi der »Stundenplan« verschwunden ist. Das 
Leben besteht aus Kraften, Materien und nicht aus Unterrichtsgegen- 
standen. Es offenbart sich in Erscheinungen und nicht in Lesebiichern. 
Non scholae, sed vitae! Also lernt man das Leben. Das Leben in seiner 
iiberstromenden Fiille, in seiner reichen Gleichzeitigkeit. Nicht von 
acht bis neun Deutsch usw. Sondern die Muttersprache, weil sie das 
nachstliegende Ausdrucksmittel fiir die Erscheinungen des Lebens ist. 
Und alle anderen Gegenstande - und viel mehr, als ein Landesschulrat 
weifi-, insofern sie sich in der jeweilig besprochenen Lebensform of- 
fenbaren. Die »Gegenstande« gruppieren sich um ein Konzentrations- 
objekt, das zugleich der Ausgangs- und Ankniipfungspunkt ist. Man 
mufi nicht in der Schulstube sitzen, um zu lernen. Mit »verschrankten 
Armen« sitzen erhoht nicht die Tatigkeit des Gehirns. Bessert auch 
nicht die »Sitten«. Innerhalb der vier Klassenwande lassen sich nicht 
die Erscheinungen der Welt sammeln. Man lernt im Wald und auf der 
Landstrafie, am Franzensring und auf der Wiese. Man lernt an Men- 
schen, Gesellschaft, Dingen, Tieren und Steinen. 
Die praktische Durchfuhrung dieser Erziehungsmethode ist natiirlich 
sehr schwierig. Der Lehrer mufi eine fast ungeheure Bildung besitzen, 
und das unbedingt notwendige Material fiir den sogenannten »An- 
schauungsunterricht« ist unter den gegenwartigen Verhaltnissen nicht 
immer zu beschaffen. Nichtsdestoweniger sind mit der Einfuhrung der 
»Versuchsklassen« bis jetzt glanzende Erfoige erzielt worden. Die zur 



1^20 z6} 

Ausbildung der Lehrer fiir die neue Erziehungsmethode gegriindete 
»Lehrerakademie« wird freiwillig von tausendsechshundertundvierzig 
Lehrern - sie bringen schwere materielle Opfer, urn die Lehrerakade- 
mie besuchen zu konnen - frequentiert. Bis jetzt sind hundertneun 
»Versuchsklassen« in voUem Gang. In ihnen sind fiinfundfiinfzig Leh- 
rerinnen und vierundfiinfzig Lehrer beschaftigt. Die Erfahrungen, die 
man mit den »Versuchsklassen« gemacht hat, sind geradezu iiberra- 
schend. Nach einer Mitteilung des Fachlehrers List haben dreimal so- 
viel Schiller der »Versuchsklasse« den Grundgedanken eines Marchens 
in Bildern gefunden als in der »normalen« Parallelklasse. Eigenartige 
Losungen der Marchenbilder trafen dreihundert Schiiler aus zehn 
»Versuchsklassen«, aus ebensoviel Klassen mit »normalem« Unter- 
richt nur sechzehn. 

Man mufi die Ausstellung in der Meislschule des dreizehnten Bezirks 
gesehen haben, um die Leistungen der neuen Unterrichtsmethoden 
richtig einzuschatzen. Die Sechsjahrigen aus der ersten Klasse model- 
Heren fast naturgetreue Tierbilder in Ton. Statt des Lesebuches ist der 
Lesekasten mit beweghchen Buchstaben in Gebrauch. Die Kinder 
schreiben, lesen, rechnen, zeichnen, modeUieren, schnitzen, lernen 
kaufen und verkaufen, den Wert des Geldes und der Gegenstande ken- 
nen. Sie lernen - das Leben. Physik, Chemie, Naturgeschichte, Bo- 
tanik. AUes, wie es sich gerade trifft. Sie lernen nicht abseits der Welt, 
sondern in ihr. Nicht in der Dammerkiihle der Schulstube, sondern 
mitten im Wirbel des Tages. 

Die Alteren stellen selbstandig Wagen her und entdecken sozusagen 
das spezifische Gewicht von Neuem. Dieses System beruht iiberhaupt 
auf Nacherfindung. An der Entwicklung jedes einzelnen Kindes ist die 
Entwicklung der ganzen Menschheit zu studieren. 
Wenn dieses System sich erhalt, so wird es ganz neue Menschen her- 
vorbringen. Vorausgesetzt, dafi die Absolventen dieser »Versuchsklas- 
sen« nicht das Ungliick haben, noch in die veralteten Formen unserer 
Mittel- und Hochschulen zu geraten, so wird unsere Zukunft ein ande- 
res Geprage haben. Denn schliefiUch sind es die Menschen, die sich 
ihre Zeit schaffen. Diese Jugend wird keinen Bierulk kennen und kein 
faschingsbuntes Deutschtum, keinen mittelalterlichen Mummen- 
schanz und keine Reaktion. Diese Jugend wird nicht bUndgehorsam 
und blutberauscht fiir Popanze in Kriege ziehen! Sie wird das Leben 
Heben und die Arbeit und ein Geschlecht zeugen, das fern von hirnver- 



264 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

brannter Ideologic und hohlem Kitsch, hafiwiitigem Nationalismus 
und sklavischer Gotzenverehrung, mitten im Tag stehend, Grenzen 
iiberbrijckend und weltvereinigend, die Emporentwicklung der 
Menschheit sichern wird. 

Der Neue Tag, 21. 3. 1920 



STADTFRUHLING 



In den Auslagen der inneren Stadtteile erbliihen im Marz plotzlich 
wunderbare kostbar-durchsichtige, weiche Blusenstoffe, die Preise 
schiefien in die Hohe, und die Kaufleute schlagen aus. Am Vormittag 
sind die Kaufladen halb geoffnet, und ein Auslagearrangeur setzt 
Friihlingswaren in die Schaufensterbeete. Der Herr Direktor steht in 
der Tiir, ieutselig neben dem goldknopfeknospenden Portier, wie ein 
hold erbliihter Blumenstock. Die Sonne, die seinen Scheitel trifft, lost 
einen warmen Dunststrom duftender Brillantine aus. Seine Lack- 
schuhspitzen schiefien Strahlenbiindel in die Hohe, leuchten in fliissi- 
ger WeiEglut. Er konnte sich an seinen Stiefeln eine Zigarette anziin- 
den. 

An den Strafienecken sind die Blumenfrauen liber Nacht aufgegangen 
mit hangenden Friihlingsgarten von Primeln, Veilchen, Leberblumen, 
Schneeglockchen. Schieber in friihjahrsmafiigen Giirteltieriiberzieher- 
fellen lassen blaue Papierfetzen fur ein Veilchenstraufichen in die 
Korbe der Frauen flattern. Die Maronimanner lassen immer noch Ma- 
roni-Anachronismen braten, deren Duft wie eine aufgewarmte Win- 
terreminiszenz in die Luft steigt. Auf den Kopfen der Damen erbliihen 
schiichterne Stohhiite in blassen Farben, und den kurzen RockschofSen 
entspriefien schlanke Seidenstrlimpfe. An blonden und braunen 2op- 
fen baumeln Schulmadchen mit Notenmappen durch die StrafSen. Aus 
einem plotzlich gahnenden Schultor stromt eine Wolke kleiner Kinder 
wie loser Dampf aus einem geoffneten Maschinenventil. 
Die Bettler wachsen an besonnten Mauern und niitzen fiir ihr Gebre- 
chen die sonnige Konjunktur aus, als batten sie eigens zu diesem 
Zweck einen Vertrag mit dem Himmel geschlossen. Die Spritzwagen 
fahren mit breiten Wasserstrahlkammen iiber das Pflaster, und ein 



1920 265 

Mann mit einer Uniformkappe staubt Wasser aus einem Gummi- 

schlauch auf die Kopfe der Passanten. Es ist wie im Kino. 

In den Garten und Parks knospen Kinder im Gummiwagelchen und 

Blatter an diinnen Zweigen. Es ist Friihling. 

Es ist noch ein Friihling da. Er beginnt am Giirtel. 

Die Strafien sind aufgerissen, mit Geschwiir und hafilichen Wunden 

bedeckt. In der Sonne sind die Fenster mit scheibengro^en Pappen- 

deckelpflastern und schmutzigen Fetzenverbanden doppelt, dreifach, 

tausendfach traurig. 

Es sind die Strafien der hohen Lohne und der weiten Armut. Die Hau- 

ser sind so unerhort grofi, iabermachtig, wie Schicksale, erdriickend 

mit ihrer steinernen Wucht; sie lasten auf der Welt wie ein unabwend- 

bares Ungliick. Sie haben unzahlige Fensteraugen, wie bose Gotthei- 

ten; man fiihlt ihren schmerzenden Blick im Riicken, wenn man auf 

der Strafie steht. 

Alle Menschen kommen aus diesen Hausern. Hier sind keine anderen 

Menschen als seiche, die aus diesen Hausern kommen. Sie tragen den 

dumpf-feuchten Mauergeruch auf den Schultern. 

In einem Misthaufen stochern fiinf, sechs Kinder herum. Staub hiillt 

sie ein. Sie klaubcn allcs auf: Tramwayfahrscheine und alte Postbiichel 

und Knochen und Blechdosen. Die Kinder sind selbstandige Sammel- 

biichsen mit GHedmafien, 

Es ist Friihling. 

Am Abend traben berittene Holzbiindel durch die Straiten. Sie reiten 

auf Menschenriicken. 

Und ein Madchen in der Strafienecke wartet auf eine Gelegenheit zu 

einem neuen Kostiim. Es ist Friihling. 

Die Baume in den kleinen Gartenanlagen haben tabes dorsalis. Ihre 

Knospen sind nur symboUsch gemeint. Diese kleinen Spielganen se- 

hen aus wie Versorgungshauser fur kranke Straucher. 

Der Friihling ist ein ganz, ganz anderer. . . 

Der Neue Tag, 21. 3. 1920 



RINGELSPIEL 



Im Marz lockt eine vielversprechende Sonne hier und dort ein »Rmgel- 
spiel« aus dem Vorstadtboden. Man fahrt eine endlose Strafie entlang, 
an grauen Zinshausern vorbei, die Kaufladen werden immer sparlicher, 
die Kinder schmutziger. Knapp vor dem Viadukt gahnt die Strafie 
plotzlich, ihre Kinnbacken sind sperrangelweit offen und lassen einen 
freien Platz sehen, eine Wiese oder so. Man weifi nicht recht, was das 
sein mag. Die Stadt hat sich noch nicht entschieden, ob sic sich hier 
fortsetzen oder enden soil, es ist iiberhaupt soviel Zaghaft-Ungewisses 
in dem Bretterzaun, der am liebsten schon ganz auf dem Boden hegen 
mochte und nur noch aus Reprasentationspflichten sich miihsam-ge- 
beugt hah; in dem Gras, das zwischen dem Grau der Strafie und dem 
Griin des Friihhngs unentschlossen aus dem Boden spriefit; in den 
Menschen, die am Hals eine stadtische Krawatte haben und landliche 
Stiefel an den Fiifien. 
Hier beginnen die Ringelspiele. 

Der Platz badet, schwimmt im Friihlingslicht. Als hatte man aus Kii- 
beln Sonne auf den Boden geschiittet. Kinder buddeln in aufgewiihlten 
Erdhaufen. Ein philosophischer Pudel wundert sich iiber den Mangel 
an FHegen bei dem Sonnenwetter. Ein paar Eisenbahner, Pfeifen im 
Mund, stehen wie blaue Pinselstriche in der Landschaft. Sie duften 
nach Steinkohle und Sehnsucht. An der Wiesenboschung rastet ein 
Rudel junger Menschen. 

Und in der Mitte, von einem Draht abgesperrt, ist das Karussell. 
Ein dicker Stamm verzweigt sich an seinem oberen Ende. Er sieht aus 
wie ein tausendfach vergrofiertes Skelett eines Regenschirms. An Ian- 
gen Ketten schwanken Sitzbretter. Und zehn Burschen stehen oben 
auf einer Art Karussell-Dachboden und zerren an den Ketten, immer 
rundherum, rundherum. Wer einen halben Tag gezogen hat, darf 
zehnmal hintereinander umsonst Ringelspiel fahren. 
Herr Rambousek, Ringelspieldirektor, ist imposant. An seiner silber- 
nen Uhrkette baumelt ein Elefantenzahn. Herr Rambousek hat einen 
Anzug aus blauem geripptem Samt. Eine Reitpeitsche schwingt er - 
schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? - in der Rechten. Und nach 
jeder Runde lafit er einen schrillen kleinen Schrei seiner Pfeife entfah- 
ren. Die Buben auf dem Dachboden horen auf, sich zu drehen. Die 



1920 267 

Kreisbewegungen der Sitzbretter verebben auf Befehl der Pfeife. Dann 
geht Herr Rambousek - schwups! Knall! Reitpeitsche in der Rechten, 
Sportkappe In der Linken - von seinen Passagieren das Reisegeld ab- 
sammeln. Zwanzig Heller fiir die Runde. 

Driiben poltert ein Spielkasten, Polonaisen im Galopp. Rasende Baft- 
tone stiirzen sich schnaubend auf junge Quetschlaute. Balgerei unter 
den Klangen. Im Bauch des Kastens mufi Fiirchterliches vorgehen. Die 
Molltone unterliegen. Natiirlich. War vorauszusehen. Wenn Herr 
Rambousek pfeift, liegt alles, Dur und Moll, tiefes G und hohes Cis, 
durcheinander auf dem Boden. 

Herr Rambousek hat Familie. AUe wohnen in einem Waggon auf Ra- 
dern. Herr Rambousek kommt weit herum und ist jederzeit reisefertig. 
Er braucht nur zwei Pferde vorzuspannen. Und dann sitzt er auf dem 
Kutschbock - schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? - Fort ist er! 
Ich wiifite gern, wie Herr Rambousek das mit seinem PafS macht und 
mit den Grenzen, 

Aus dem Waggonhaus horst du einen Saugling jammern. Frau Ram- 
bousek ist im Neglige - es ist erst vier Uhr nachmittags. 
Sie giefit mit theatralischem Schwung schmutziges Spiilwasser aus 
einer Schiissel iiber den Platz. Der Pudel ist aufgeschreckt aus seinen 
Griibeleien. Seine Gedankenkette ist patschnafi geworden. Er zittert, 
triefend vor Nervositat und Nasse. 

Auf weitgespannten Schniiren hangt Wasche. Der Wind blaht die Inti- 
mitaten der FamiUe Rambousek, Der Platz sieht aus wie ein Segel- 
schiff. 

IJber dem Ganzen leiser Hauch einer halbvergessenen Romantik. 
Landstreicherluft. Drei Zigeuner sah ich einmal, UebUch war die 
Maiennacht . . . 

Vom Boden steigt warmer Marzduft empor, man riecht Bliihen ir- 
gendwo. Der Saugling jammert noch immer, der Spielkasten tobt. 
Und Herr Rambousek, immer obenauf, leichtbeschwingter Tanzer 
iiber der Beschwer des Alltags - schwups! Knall! Hast du nicht ge- 
sehn? - ruft: Eine Runde! Eine Runde! 

Josephus 
Der Neue Tag, 25. 3. 1920 



SOMMERZEIT 



Der Magistral verfiigt, dafi am fiinften April der Sommer zu beginnen 
habe. Er beginnt wirklich. 

Seit dem Krieg haben die Behorden die administrative Leitung der Na- 
turgeschafte inne. Zuerst bestimmte die Oberste Heeres leitung, wann 
Offensive, d,h. Friihling, und strategischer Riickzug, d.h. Herbst, zu 
beginnen hatten. Befahl sie den Stellungskrieg, so war Winter. Punkt- 
um. 

Dann machte sich der Magistral die Zeit untertan. Der Gemeinderat 
kontroUierte den Sonnenlauf. Er beschlieKt, dafi die Haustore um acht 
Uhr abends gesperrt sein miissen. Dann kann man Gift drauf nehmen, 
dafi die Sonne anfangt, drei Stunden friiher unterzugehen. Der Stra- 
fienbahnverkehr wird eingestellt. Und richtig schneit es. 
Denn wir sind, miifit ihr wissen, sehr weit fortgeschritten, Wir wissen 
schon, wie man die Jahreszeiten kommandiert: Qnod erat demon- 
strandum. 

Man konnte ein ganzes Laienbuch schreiben von der Weisheit der 
Europaer. Ganz MItteleuropa ist Schilda. Um zu beweisen, dafi sie 
starker als die Natur seien, taten die Laienbiirger folgendes: Sie verpe- 
steten die Luft mit Gasbomben, zerschnitten die Erde mit Schiitzen- 
graben, kamen der AUmacht des Todes durch gegenseitiges Erschiefien 
zuvor und machten es der Natur unmoglich, Kohle, Licht, Holz, 
Warme, Schatze zu spenden. Sie verhangten sozusagen iiber die Natur 
die Segenssperre. 

Dann sahen sie, dafi sie ohne die Segnungen der Natur nicht auszu- 
kommen vermochten. So drehten sie einfach den Zeiger zuriick, da 
hatten sie Licht, sie froren sich tot und brauchten keine Kohle. Sie 
blieben zu Haus, legten sich schlafen, kiimmerten sich nicht um ihre 
Geschafte und pfiffen auf die Elektrizitat. Sie waren fixer als die Natur. 
Im September beschlofi der Gemeinderat schon den Winter. Im Marz 
schon den Sommer. So offenbart sich der Fortschritt. 

Als ich die »Erleichterungen der Sparmafinahmen« im Abendblatt las, 
entdeckte ich junge Knospen im Stadtpark. Wenn ich daran denke, dafi 
die Theater erst um halb zwolf aus sind, wird mir heifi. Oh, Sommer- 
zeit! 



1920 269 

Ich s telle mir die entscheidende Stadtratssitzung iiber die Aufhebung 
der Winterzeit so schon vor: Herber Schollenduft steigt aus den Akten 
auf. An den schwarzen Federstielen und Hardtumthe-Bleistiften (Sorte 
»mittel«) sprofit es knospentoll. Veilchen spriefien aus den Tinten- 
fassern. Der grune Tisch ist grasiiberwuchert. Am Plafond nisten 
Schwalben. Und die Barte der ehrwiirdigen Stadtvater sind aus Flieder. 
Die Welt ist voU bliihender Verordnungen. Paragraphen knospen an 
den Wanden, in den Zeitungsspalten. Durch die offenen Haustore sur- 
ren Maikafer und zahlen kein Sperrgeld. 

Der Herr Landeshauptmann macht die Sonne auf- und untergehend. 
Ganz, wann es ihm beliebt. 

Wenn erst die Kaffeehauser bis halb zwolf offen sind, werden die ersten 
Storche iibers Meer ziehen. Und piinktlich halb sechs morgens, nach der 
Sommerzeit, haben die Lerchen, laut behordlicher Verordnung, zu tril- 
lern. Oh, Sommerzeit! . . . 

Der Neue Tag, 25.3. 1920 



AUSFLUG 



Im Schottentor riecht man den Heurigen, der 38er ist beschwipst und 
taumelt menschenleiberbehangen davon. Im Sonnenglanz perlt 
SchweiEtau auf Rasenriicken. Der Motorfiihrer ist eingekeilt und pru- 
stet Sauerstoff wie eine Maschine, HP 76. Rucksacke, noch schlaff, aber 
leise schwellend in Erwartung landlicher Eroberungen. Siebenfach ge- 
nagelte Bergsteigersohlen auf Mitmenschenhiihneraugen basierend. 
Von der hinteren Plattform dampft Menschenfleisch, Radertempo be- 
schleunigend. 

Voriiber an griinbehangenen Gartenzaunen, die fast die Wagenfenster 
streifen. Hundegeheul in einem Gehoft. Die sausende Straf^enbahn 
macht einen eingesperrten Pudel rasend. Er glaubt, dafi ihn das lar- 
mende rotgelbe Ungeheuer frozzelt. Junges Bohnengewachs kollert 
friihreif diinne Stangen hinan, will schaun, was oben sein mag. Nase- 
weise Erker ziehen griine Wildweinlaubschleier vors Angesicht, angst- 
voll vor Sommersprossen. Ein Gartengitter macht weifie Farbentoilette. 
Die Olfarbe dunstet in der Sonnenwarme. 



2/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Endstation. Griines Bediirfnishauschen mit erhohten Eintrittspreisen, 
Schaffner mit Zeitungsblattern, Weltgeschichte zwickend, auf von Ho- 
senboden gescheuerten Holzbanken. Der offene Wagen spuckt Men- 
schen aus. Erster Naturhauch wirkt aufmunternd auf Liebesparchen. 
Irgendwo fallt ein Kufi wie einzelner Regentropfen in die Stille. 
»Cafe-Restaurant«. Cottage-Kellner, hemdbrustblank, scheitelglan- 
zend, Haarstrahne sor^faltig gezahlt, rechts und links mit Pomade, fett 
wie Schlagobers. Lautlose Handbewegungen. Ihre Finger gehn auf 
Gummiabsatzen. Der Pikkolo, Baby im Frack, hat blanke rotbraune 
Backen mit leichtem Pfirsichflaum. Er riecht nach Milch wie ein Saug- 
Ung. 

Eine Fensterecke war von einem Schieberrudel erobert. Uberzieher 
und Rocke mit Giirteln, in denen seltsamerweise keine Handgranaten 
stecken. Breite Fingernagel schimmern, heute morgen noch vom Fri- 
seur poliert, wie Glassplitter heriiber. Die Manieren frisch gekauft, 
knisternd noch und neu; der Ladenpreis baumelt sichtbar daran. 
Es sind sechs, sieben. Ihre griinschillernden Krawatten machen Gepol- 
ter. Man bestellt Tschoklad. Sieben Tassen Tschoklad. 
»Was dazu?!« neigt sich flusternd der Kellner. 

»Sieben Sacher-Torten!« einer sprach's. Er zahh. Valutabeherrschend, 
Hand im Hosensack, darin sich die Finger hurtig bewegen wie gefan- 
gene Kaninchen. Mobeipackerbeine, auswarts gekriimmt. Wimpern- 
lose Auglein, die Augenbrauen kaum angedeutet, wie mit schiichter- 
nem Kohlestrich. 

»Sieben Sacher-Torten!« Der Kellner lachelt, glattgeolte Uberlegen- 
heit. »Schani, bring den Herren KuchenU 

Die Herren sind paff. WoUten sie nicht Sacher-Torten? Ihr Benehmen 
ist gedampft. Ihre Krawatten sind auffallend still geworden. Der mit 
den Handen im Sack iiberiegt: Ist Kuchen Sacher-Torte? 
Schani bringt Kuchen. Siebzig Finger zerbrockeln ihn. Tauchen Ku- 
chen in Tschoklad wie Schwamme in Wasser. Endlich gurgelndes Ge- 
schliirf. Es klingt wie rochelnde Wassertropfen in einer kaputten Was- 
serleitungsrohre. 

Auf der Landstrafie Gesang. »Die Voglein im Walde.« Gewaltsam 
konstruierte Harmlosigkeit. Touristenkostiime, wie gemalt. Aus den 
Frauengeschichten hat der Wind Puder weggeweht. Stadtmenschen in 
»Feld und Flur«. 
Auf griinender Wiese erheben sich plotzlich fiinfundzwanzig braune 



1920 2/1 

Papiertiiten. Durch anbrechende Dunkelheit glimmt rotlich eine Ziga- 

rette. Heimkehrer schwanken, Lodenhiitchen im Nacken, lustig um 

jeden Preis, schwer wie beladene Heuwagen zur Scheune, der Halte- 

stelle zu. 

Sturm auf Strafienbahn. Geht-net-unter-Dialekt herrscht iibermachtig 

vor. Wiedergurgler schlucken immer noch Heurigen. 

Die ersten Strafien sind still, ducken sich aus Angst vor den heimkeh- 

renden Bewohnern. Wie ein toller Schrecken durchfahrt die Elektri- 

sche eine reservierte Strafie. Und der Halbmond lacht hamisch liber 

leberkranke, gelbsiichtige Gaskandelaber. 

Josephus 
Der Neue Tag, 28. 3. 1920 



KRIEGSGEFANGENENLAGER 



Als der Krieg Hals iiber Kopf aus dam Land muf5te, liel^ er aus VergeE- 
lichkeit ein Barackenlager mit Russen am Zipfel der Ausstellungstrafie 
im Prater liegen. Dort liegt es noch. Drahtgitter, Brettersteige, Rote 
Kreuze, Orientierungstafeln, sogar ein Posten. Nicht mehr kaiser-ko- 
nigliches Bajonett aufgepflanzt, sondern Dienstrevolver, leger, volks- 
wehrmafiig umgeschnallt. 

Eingerosteter Schimmer verflogener Kriegsromantik. Man geht am 
Posten vorbei, nennt irgendeinen beliebigen Namen von russischem 
Klang, passiert. Eine grofie Baracke in der Mitte, in deren dunklen 
Gang man hineinsteigt wie in den hohlen Magenschlund eines Riesen- 
tierleichnams. Es riecht nach Moder und Speiseresten, dumpfe Kiihle 
schlagt iiber dir zusammen, Fremdes kriecht schwarz und ungeheuer- 
lich aus Bretterwinkeln, durch eine viereckige Zahnliicke des Daches 
bleckt grauweifies Gewolk blassen Schauer. Alle Blechtafeln iiber den 
Tiiren. »Eintritt verboten« - natiirUch, mag ein Offiziersclosett gewe- 
sen sein, oder eine Adjutantur. Immer war irgendein Eintritt verboten. 
Eine Holztiir geht auf mit leisem Wimmern eines verhungernden Kin- 
des; ein Russe, jung, blond, grofi, in Hemd und Militarhose, schwar- 
zen russischen Brustlatz vorgehangt. Er hat die bedachtig-unbekiim- 
merte Art eines Menschen, der vieles erlebt und dem alles gleichgultig, 



2/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

was nicht unmittelbar mit seiner Person zusammenhangt. Er ist nicht 
erstaunt, einen Fremden hier zu sehen. Was geht er mich an? Meinet- 
wegen konnen zehn Fremde kommen! Oh, Briiderchen, ich hab' 
schon Fremde gesehen! 

Ich weifi den Namen eines, der hier lebt, eines russischen Technikers. 
Ich frage. Der Russe sagt nichts. Er winkt nur. 

Da ist ein Zimmer. Kasernenzimmer. Eisenmarterbetten mit schwar- 
zen Pferdedecken, Stellagen an den Wanden, schmutzige Dielen in ara- 
rischem Stadium. Immer noch leben Menschen so. Systemgewordenes 
Zigeunertum, Provisorium, das ein halbes Leben wahren mag. Russen- 
lager: Magazin fiir menschUche Beutestiicke. Ist nicht immer noch 
Krieg? Draufien an den Wanden kleben noch Musterungskundma- 
chungen, und Jungen rufen: Extraausgabe. Generalstabsbericht: Mifi- 
lungener Gegenangriff - sechshundert Stiick Feinde . . . 
Dieses Barackenlager und dieses Zimmer hier sind aufierhalb, ir- 
gendwo am seithchen Wegrand der Zeit. Seit drei Jahren, seit vier Jah- 
ren mogen hier auf den Betten die drei Russen kauern. Und sprechen: 
der eine von der Krim, der zweite von Odessa, der dritte von Moskau. 
Wenn der erste von der Krim spricht, sehen die beiden anderen Odessa 
und Moskau. Die Krim sieht genauso aus wie Moskau, und Moskau 
und Odessa sind eins. Ich glaube, die drei verwechseln manchmal un- 
tereinander ihre Heimat, und wenn sie erst einmal in RuKland sind, 
geht der Moskauer in die Krim seine Heimat suchen. 
Das kommt davon, wenn man so lange in Gefangenschaft ist. 
Sie sind etwas stumpf, sie haben die natiirhche Gleichgiikigkeit russi- 
scher Landmenschen gegen Fremde, nach einer Viertelstunde bietet 
einer Platz an. Er hat Zeit, oh, er hat Zeit, als ware er in Rufiland. Er 
hat erst samtHche Annoncen aus dam »Rufikoje Siovo« lesen miissen, 
ehe er mir Platz bietet. 

Das »Ruf5koje Slovo« erscheint zwar in Prag, aber es ist russisch ge- 
schrieben. Genau das Russisch, das man in der Krim spricht, in Mos- 
kau, in Petersburg. Bei Gott! das »Ru£koje Slovo« konnte in Moskau 
gedruckt sein. 

Aber es ist leider in Prag gedruckt. Und enthah einen Artikel iiber 
Th.G. Masaryk. Was kiimmert dich Masaryk, Briiderchen? 
»2 Rosiji nitschow6!« Aus Rufiland kommt nichts! sagte einer und 
steht auf. Er hat langsame, bedachtige Bauernbewegungen. Er geht 
liber die Dielenbretter, als ginge er in feuchter Ackererde, zwischen 



1^20 273 

aufgeworfenen Schollen. Er bleibt immer ein Bauer. Er ist schon fiinf 
Jahre fort, aber ich glaube, ich rieche an ihm Herbheit des Marzbodens 
und ein bifichen beizenden Kuhmist. Er macht drei schwere, stapfende 
Schritte, und man steht mitten im Feld. 

Die drei Russen sprechen: Es ist schad' um die Kleider, also geht man 
nicht in die Arbeit. Und wenn man ein klein bifichen krank ist, geht 
man zum Doktor, der verschreibt dir ein »Rezepifi«, und die Sch we- 
ster bringt die Arznei. Die Schwester, sestrd, ist eine »rHska«, aber der 
Teufel hole sie! Sie ist vornehm und reicht die Arznei nur mit zwei 
Fingerspitzen, dutch die Schiirze. Bei Gott! Solche Schwestern! 
Und dann reden sie wieder: von der Krim, von Odessa und von Mos- 
kau. Es wird Abend, einer zieht aus einem Stiefelschaft ein Kerzen- 
stiimpfchen heraus fiir den Fall, dafi das elektrische Licht versagen 
soUte. Es versagt manchmal. Man kann nicht wissen. 
Ich langweile sie, Sie wollen allein sein. Und reden: von Moskau, 
Odessa und der Krim. 

Sie geben mir zogernde, schwerfaUige Hande. Sie legen ihre Hande in 
die meine, wie man Gegenstande, schwere, aber gebrechliche Gegen- 
stande reicht. Vorsichtig und plump. 

Draufien heriibergewehter Schallfetzen einer blechernen Karussellmu- 
sik. Letztes Verrauschen eines Tages driiben im Lagerhaus. 
In der Baracke ist Licht. Ich wette, die drei Russen lesen noch einmal 
Prager Annoncen in russischer Sprache. Und dann reden sie: von Mos- 
kau, Odessa, der Krim. 
Und alle drei haben die gleichen Gesichter. 

Der Neue Tag, 4. 4. 1920 



PRATERKINO 



Vor dem Eingang sprudelt der Herr Portier. Breitgoldene Borte um 
das Kappenrund leuchtet ihn empor in Amtsregionen. Ware er bar- 
hauptig nur, erschiene er mir und den andern sehr zu seinem Schaden 
als personifizierte Dienstfertigkeit. Denn kleingewachsen und untertan 
ist sein Wesen zahlenden Machten der Umwelt gegeniiber und lichter- 
loh entziindbar an leisem Banknotenknistern. So aber, breitrandige 



2/4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Chargengloriole urns Haupt, erweckt er demiitigende Ideenassoziatio- 
nen wie: »Amt und Wurden«, »Zucht und Ordnung«, »Hinterturl und 
Bestechung«. Dank dieser Amtskappe erhalt er auch aufiere Berechti- 
gung, zwischen Nur-Jugendlichen und Schon-Sechzehnjahrigen zu 
unterscheiden und der Bartlosigkeit verdachtige Besucher je nach der 
Hohe des Trinkgeldes In diese oder jene Kategorie mit beamteter Un- 
erbittlichkeit einzureihen. Man kann der Minder jahrigkeit entgehen, 
wenn man aus Rucksichten auf seinen Nebenverdienst zehn »Spor- 
teln« verlangt und also durch Nikotinismus Kinoreife beweist. 
Sein: »Prrrogrrrammm« ist ein kurzheftiger Trommelwirbel, den er 
Jedem Besucher entgegenpoliert, und verspricht schon Spannung, Sen- 
sation, Aufgeregtheit, tate er selbst nichts mehr dazu. Aber auf den 
Trommelwirbel folgen Fanfarenstofie, gesprochenes Feuerwerk: »Das 
rote Af5«, und »Af5« fallt wie zischender Funken aus Loderbrand, daf5 
man glauben mufi, ein Loch im Rock bekommen zu haben. »Das rote 
Afi« ist das unerhorteste Filmzauberwerk samtlicher Kontinente, in 
Amerika herausgepulvert mit einem Auf wand an Munition, wie ihn 
der letzte Weltkrieg gebraucht hat, und enthalt in komprimierter Form 
zweimal hunderttausend Kriminalromanserien; ein Extrakt aus alien 
Greueltaten der Verbrechergeschichte. Von der Stirn des Herrn Por- 
tiers rinnt Begeisterung in Schweifistromen, wenn er die Vorziige des 
»roten Afi« mit polternden Zungenlauten vor den staunenden Zuho- 
rern preist. 

»Das rote Af5« wird im Praterkino von den Zuschauern gegeben, Slo- 
wakische Arbeiter, kleiner Goldreif im linken Ohrlappchen, rotge- 
bliimtes Halstuch, Soldatenhemd, grau-weifi geschecktes Gesicht und 
heraushangende Augenkugeln, gleichsam ohne Zusammenhang mit 
dem Hirn. Dirnen und Zuhalter, larmende Schminke auf Backenkno- 
chenpolen, bandagierte Hande, verkommene Kriippel. Alle Menschen 
hier kommen von der Filmleinwand, kommen aus den beriichtigtsten 
Slums, aus dem wilden Westen. »Das rote A&« beginnt vor der Vor- 
stellung, 

Glockchenbimmel, Tiiren auf, Kommandorufe: Rechts gehn, Fohtohl 
links, Menschenfleischdunst krallt sich qualmend um Brust und Hals, 
Dunkel iiberrumpelt dich wie iibermachtiges Raubtier. Hinter deinem 
Riicken bereitet sich surrend Unheil vor, bleiches Lichtbiindel zuckt 
aus quadratischer Augenoffnung, fahrt scharf und pfeilschnell, Fin- 
sternis spaltend, iiber systematisiertes Gewirr von Kopfen, zeugt mit 



1920 2/5 

fahler Leinwand verruchtes Geschlecht verzerrter Schattenteufel. Un- 
erklarliches geschieht, meine Nachbarin von links halt einen rauchen- 
den Revolver, schiefit besinnungslos, ist Kellnerin in einer Wildwest- 
schenke, ihr Chef ist der Kinoportier, ja, dieselbe Teliermiitze mit dem 
breiten Goldstreifen - steht er nicht mehr draufien? Nein, Schankwirt 
ist er in der Nahe der Goldgruben, er verkauft keine »Sport«, sondern 
lehnt an einem Bierfafi; ha! jetzt habe ich ihn erkannt: So ist er, seine 
Augen gefielen mir nicht, noch als ich eintrat, sie hatten so eine zwin- 
kernde Bestialitat in Stellung und Ausdruck. Natiirlich, jetzt weifi 
ich's: Einen geheimnisvollen Menschen hat er in seinem Oberstiiberl 
verborgen, einen Doktor Diaz, der um jeden Preis das Geheimnis der 
fabelhaften Munitionserzeugung wissen mufi und nun den Detektiv 
beseitigen will, jenen glattrasierten Menschen mit der zynischen 
Mundfalte und dem Aha-weiE-schon-Blick, der sich vorhin bei der 
Kassa einen Fohtolsitz kaufte. Sein Freund aber ist der »kleine Bar«, 
ein ungemein geschickter Mensch, der soeben noch, biirgerhch soHde 
in Haltung und Winterrock, Platze angewiesen hat und dem ich nie 
zugetraut hatte, daf5 er von dem Riicken eines galoppierenden Rappen 
auf den hochsten Zweig eines Baumes springen kann, um den Detektiv 
2u retten. Die Freundin aber, ich weiE schon, jetzt entspinnt sich ein 
Liebesverhaltnis, jene Blondine, blafi, Lockenkopf, riihrend-weiblich 
und mannUch-mutig, die - sitzt sie nicht zwei Reihen hinter mir? Ach, 
die Arme hockt in einer Felsenhohle, sie wird wohl erst bestenfalls im 
vierten Akt herauskommen konnen, und bis dahin ist ihre Munition 
langst verpfeffert, Und das alles wegen des Schankwirts! Der Teufel 
hole den Kinoportier! 

Ein blutliisterner Indianer, braunglanzend, ich Heche seinen Juchten- 
dunst, kriecht gewandt auf alien vieren, duckt sich, lugt aus, seine Au- 
gen, Gott! wo hab' ich die schon gesehn? Das ist der slowakische Ar- 
beiter mit dem Goldring im Ohrlappchen; wo der nur so schnell die 
Indianermontur herhat, mocht' ich wissen. So ein Vieh, von dem elen- 
den Diaz gekauft! Ha! jetzt hat sie ihn getroffen. Dieser Slowake stirbt 
wirklich wie ein Indianer. 

Ein wuchtiger Hieb auf ein Trommelkalbfell begrabt die restlichen 
Tone der Musik. Im Hintergrund zischt es, giftige Schlange oder so. 
Licht bricht aus zehn Birnen in die Welt, neben mir die Kellnerin, vor 
mir der Detektiv, der »kleine Bar« ruft: »Nachste Vorstellung acht 
Uhr abends«, sein Winterrock ist gar nicht beschadigt von der selbst- 



2/6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

morderischen Kletterei. Aus aufgeplatzten Tiiren stromt Masse in 

zweitem Aggregatzustand, und draufien steht immer noch der heim- 

tiickische Schankwin als Kinoportier verkleidet und trommelt 

Prrrogrrrammmwirbel . . . 

Der slowakische Arbeiter verliert sich irgendwo im Pratergebiisch, wo 

er herumspionieren will. Heute Nacht noch stirbt er einen Indianer- 

tod. 

Josephus 
Der Neue Tag, 4. 4. 1920 



DIE AUFERSTEHUNG DES GEISTES 



Da er scheintot nur, aber begraben ist, diinkt es notwendig, iiber seine 
Auferstehung zu sprechen, zu einer Zeit, in der die Auferstehung der 
animalischen Welt aus zart erahntem Wunder erfiillte Wirklichkeit 
wird. Gewaltig ist die Sehnsucht nach dem Geist, seitdem er uns ver- 
lassen, seitdem wir ihn gekreuzigt. Grofi war unsere Schuld, aber auch 
driickend unsere Bufie. Wir verdienen das Wunder und erwarten es. 
Denn alles: Ungemach und Wirrsal, Grausamkeit und Wahnwitz, 
Ubermut und Verzagtheit unserer Zeit sind aus der Vergeblichkeit die- 
ses Wartens heraus zu verstehen und die Folge des voUigen Verlassen- 
seins vom Geiste. Der Mensch der Gegenwart tragt das Kainszeichen 
der Gottlosigkeit auf der Stirn. Er glaubt nicht mehr. Aber er wartet 
dennoch: auf eine neue Religion; auf die Auferstehung des Geistes. 
Wartet mit der riihrenden Unwissenheit eines winterlichen Baumes auf 
die Erfiillung dunkel gefiihlter Wunsche, auf Sonne und Bliihen. 
Nennt »Hunger« seine Qual und »Brot« sein einziges Bediirfnis und 
ahnt nicht, dafS er auf Erlosung durch den Geist wartet. Denn so ver- 
strickt ist er in der Materialitat der Gegenwart, so sehr Bettler und 
Kampfer um »nacktes Dasein«, so sehr Kind des Jahrhunderts, in dem 
die Maschine den Geist unterjochte, das Schiefipulver seinen Erfinder, 
das Objekt den Machtigen, der Gotze seinen Schopfer, dafi ihm die 
Widernatiirlichkeit und Verkehrtheit der Machtverhaltnisse gar nicht 
zum BewufStsein kommen, dafi er die Ursache seiner Leiden aus- 
schliefilich in der plotzUchen, aber dauernden Stagnation seiner Gott- 



1920 277 

heit Maschine sucht und findet und sein Heil nur von einer reichlichen 
Mehlbelieferung abhangig macht. Indessen herrschen Ungemach und 
Wirrsal, Grausamkeit und Wahnwitz, Ubermut und Verzagtheit selbst 
in den Landern guter Ernten und dampfender Betriebe. Denn nichts 
anderes ist die Ursache guter Ernten als der fette Diinger und der 
Grund fiir die dampfenden Betriebe die grofiere Kohlenmenge. Es ist 
nur besser geolte Mechanik, die aber den satanischen Stromungen der 
Zeit keineswegs beizukommen vermag. Man backt Brot, den Blick auf 
das nachstliegende Ziel: Befriedigung des Magens gerichtet - und 
nichts weiter. Man heizt Dampfkessel, um Mordinstrumente, und im 
besten Fall, um Dreschmaschinen zu erzeugen, bei deren Verwendung 
man wieder an nichts anderes mehr denkt als an die Sattigung. Der 
Mensch unserer Zeit ist trotz Hunger und Unterernahrung - und zum 
Teil auch deswegen - der Unterleibsmensch. Eine physische Weiter- 
entwicklung, die eine Verkiimmerung der oberen Partien zustande 
brachte, diirfte gar nicht verwunderlich sein . , . 

Seit Jahrzehnten schon geht die menschliche Entwicklung in dieser 
Richtung fort, das heifit: riick warts. Den von den Vatern iiberlieferten 
Geist spannte man in das Joch der »materiellen Kultur« (lies: ZiviHsa- 
tion). Die Lokomotive des technischen Fortschritts zermalmte das hu- 
manistische Ideal von der »edlen Kraft und Gute«. Der »ritterliche 
Held« ward abgelost von dem riicksichtslosen EUenbogenmenschen, 
vom Unterleibsmenschen. So ist es zu verstehen, warum die Folgen 
des letzten Krieges fiirchterlicher und tiefer sind als die vergangener. 
Hier gab es keine »Kampfer«, sondern Maschinen. Man »focht« nicht, 
sondern funktionierte. Und es mafien sich nicht »Krafte«, sondern 
»Machte«. » Kraft « ist gottliche Auswirkung, » Macht « teuflische. Ihr 
zu entgehen ist fast unmoglich. 

Man entgeht ihr nicht. Immer noch ist »Macht« das Treibende im ge- 
genwartigen Geschehen. Kapp und Luttwitz »bemachtigten sich«, die 
Franzosen »besetzten«, die Spartakisten »bemachtigten sich«, die 
Neunkirchner Arbeiter »bemachtigten sich«, die Bolschewikenarmee 
»marschiert« und »erobert«. Jede geistige Stromung miindet in »PoH- 
tik«. (Pohtik ist - angewandte - Wissenschaft von der Konstellation 
der »Machte«.) Die »Macht« hat, wer Waffen zur Verteidigung seines 
Raubes besitzt und Brot genug, um Unzufriedenheit zu verhindern. 
Denn nichts mehr will der Unterleibsmensch als: geschiitzt sein und 



2/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

essen. Wer diese Bedingungen erfiillt, ist »machtig«. Ihm ist man »un- 
tertan«, wenn auch nicht ergeben. Der »politische« Mensch beherrscht 
also den Unterleibsmenschen. Es gibt keine anderen Menschen. Der 
»hohere« Mensch ist ausgestorben . . . 

Also mufi jede Bewegung, deren Endziel Hoherentwicklung, Auf- 
zucht ist, dieses Ziel vorderhand aufgeben, wenn sie zur »Macht« ge- 
langen will. So kleidet sich Sozialismus in die Uniform des Spartakis- 
mus. Jener versprach letzten Endes Erfullung geistiger Ideale. Aber der 
Unterleibsmensch braucht sie nicht. Er will nicht Freiheit, sondern 
Brot. Dieses erwartet er sich vom »Machtigen«. Und »machtig« gebar- 
det sich der Spartakismus, indem er die gepanzerte Geste des Kapitalis- 
mus iibernimmt, den er abzulosen bemtiht ist; indem er »den Spiefi 
umkehrt« ... 

Vielleicht fehlt dem neuen Menschen und der neuen Zeit nicht mehr 
als ein neues Symbol. Vielleicht sind es nur die alten Zeichen der 
Macht, die zur Macht verleiten. Denn immer noch ist es der langst 
zerschlissene Purpurmantel, den sich der jeweilige Eroberer um die 
Schultern wirft; immer noch ein Fahnenfetzen von jeweils anderer 
Farbe, den die Hand des »Machtigen« im Winde flattern lafit; immer 
noch ein Kampfruf von jeweils anderem Ton, der die »Truppen« zum 
»Sieg« fiihrt. »Truppen«, »Sieg«, »Fahnen«, »Purpurmantel« - am 
Ende sind nur diese Erfindungen des Teufels daran schuld, dafi wir 
ihm noch immer unterliegen . . . Dafi er mit uns spielt und alien, die 
sich ihm verschrieben haben, Dafi er ihnen heute die »Macht« schenkt 
und sie ihnen morgen nimmt. So schnurrt das Zeitrad in jahem Wech- 
sel »Macht« auf »Macht« ab. Keine hat Bestand. Denn es fehlt der 
sittliche Schwung, der ethische Wille, Der Geist fehlt, der allein Be- 
stand verleiht, und Gottes Atem, der den Erscheinungen ein Stiickchen 
Ewigkeit einhaucht. 

Nackte Brutalitat »kampft« und »siegt«, aber behauptet sich nicht auf 
die Dauer. Nicht »eine starke Faust« fehlt der Welt, sondern ein star- 
ker Geist. Denn es ist wohl wahr, dafi der »Unterleibsmensch« nicht 
mehr will als Brot und Sicherheit. Aber Brot und Sicherheit reichen 
nicht aus, um ihn zu befriedigen, wenn er schon einmal satt und sicher 
ist. Er tragt das Kainszeichen der Gottlosigkeit auf der Stirn. Er glaubt 
nicht mehr. Er nennt »Hunger« seine Qual und »Brot« sein einziges 



1920 279 

Bediirfnis. Und ahnt doch selbst nicht, dafi er wartet: auf efne neue 

Religion; auf die Auferstehung des Geistes . . . 

Und obwohl er nicht weif5, dafi er auf ihn wartet, nur, weil er auf ihn 

wartet, mufi der Geist auferstehen. Nicht eher wird Ruhe und Ent- 

wicklung sein. 

Unter den Nachwirkungen der iiberwundenen Machte und unter der 

Anwendung ihrer Symbole leiden wir. Damit der Geist auferstehe - 

schaffen wir sie aus der Welt! Befreien wir uns vom Panzer des Ge- 

waltbegriffes, horen wir auf, uns »zu bemachtigen«! Wohl biifiten wir 

lange genug, um des Wunders wert zu sein. Aber bereit sind wir noch 

nicht, es zu empfangen. 

Der Neue Tag, 11. 4. 1920 



DAS FRUHLINGSSCHIFF 



Vielleicht, daf5 ein Schlafloser, dessen Fenster auf den Kanal hinaus- 
sieht, in der Nacht ein kurzatmiges Taktprusten der rastlosen Schiffs- 
lunge gehort hat und das leise GekHrr ausgeworfener Ketten, als das 
Schiff haltmachte. Das weift man nicht. Morgens sieht man plotzUch 
ein weifies Dampfschiff. Es schmiegt seine Wange ans Ufer, schHngt 
getreuUch lange Kettenarme um die Pfosten, die aus der Boschung her- 
auswachsen, und hackt spitze Eisenklauen in die weiche Ufererde. 
Das ist weit draufien, im Donaukanal. 

Es ist ein Friihlingsschiff und sicherlich - wer weifS - iiber Nacht aus 
Tiefen emporgetaucht, die bis jetzt vereist waren. Es ist ein laubweifies 
Haus mit unzahligen winzigen Fensterscheiben. Es raucht blaue 
Wolkchen aus einer langen Schornsteinzigarre. Taue und RoUen und 
seltsames Gestange, Raderwerk und ratselhaftes Gerat aller Art ist auf 
Deck zu sehen, Windeln und Kinderwasche spielen Segel auf ausge- 
spannten Schniiren. Um Kiel und Bug platschert silbriges Schaumwel- 
lengekrause. 

In einem Wachterhauschen an Bord wohnt der Bootsmann mit seiner 
Famihe. Er hat ein unbestimmbares Alter und stammt aus der Storm- 
schen Novellensammlung. Nordseewind hat sich in seinem Backen- 
bart verfangen, und an seinen Handen klebt sicher saiziger Heringsge- 



28o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ruch, Natiirlich raucht er auch erne kurze Holzpfeife, sie hangt ihm im 

rechten Mundwinkel wie ein eingehaktes Fragezeichen. Er spaltet Holz 

mit langsamen Gebarden. Seine Frau sieht ihm zu, mit einem Saugling 

im Arm. 

Kinder werden hier geboren, wachsen auf und werden alte Bootsman- 

ner mit Backenbart, salzigem Heringsgeruch und kurzen Holzpfeifen. 

Ganze Generationen von Schiffsmenschen kommen und verschwinden. 

Gewifi werden die Toten nicht am Zentralfriedhof begraben, sondern in 

weifie Segel gehiillt und an Ankertauen in die Fluten gesenkt, wo schup- 

pengeschwanzte Nixen sie mit kiihl-silbernen Armen aufnehmen. 

Der Bootsmann ist, wenn ich ihn frage, aus Neutitschein und bei der 

Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft engagiert. Er ist ein simpler Neu- 

titscheiner, er kennt nur die Donau und keine Nordsee, Und Heringe 

kauft er im Delikatessengeschaft. 

Wozu fragen? 

Kinder spielen am Donaukanalufer. Auf der schmalen wippenden 

Landungsbriicke, die wie eine holzerne Zunge des Schiffes das Land 

bedeckt, rennen sie bin und her, dieweil der Bootsmann schilt und 

draut. Wenn man naher hinhort, merkt man ein bif^chen Bohmabelndes. 

Wozu hinhoren? Ich denke, der Bootmann ruft ungefahr: Llipp de 

Liipp nit upp! Oder so. 

Auf den alten Ufersteinen, die mit blaugriinem Moos austapeziert sind, 

zwischen denen griinsamtene Grasbiischei steiigekammt und justament 

den Wolken ins Angesicht schauen, ist Wasche aus der Nachbarschaft 

gebreitet. Die Fenster der Hauser am Kanalufer stehen weit offen. Alles 

ist der Sonne preisgegeben. 

Das Schiff aber beherrscht, leuchtend und stolz, Flufi und Land, die 

Hauser und die Menschen. Am Abend, wenn sie aus den Fabriken 

kommen, holen sie wackHge Stlihle vor die Haustlire, setzen sich in 

Gruppen und reden vom Schiff. In den Nachten traumen alle Kinder 

von weiEen schwimmenden Hausern und schimpfenden Bootsman- 

nern. Und die kleinen Madchen von Matrosen und fhegenden Hollan- 

dern. 

Uber Nacht ist es dann plotzUch verschwunden. 

Und ich glaube nicht, daft der alte Bootsmann ein paar Kilometer weiter 

seine Taue ans Land geworfen hat. Sondern dafi er jetzt weifS Gott in 

welchen Meeren mit seinem weifSen Haus herumschwimmt, um an 

fremden Ufern plotzlich aufzutauchen. 



1920 28l 

Vielleicht hort ein Schlafloser, dessen Fenster iiber dem Ufer liegen, in 
der Nacht ein kurzatmiges Taktprusten der rasdosen Schiffslunge und 
silbernes Klirren ausgeworfener Ketten. 
Aber so bestimmt kann man das nicht sagen. 

Josephus 
DerNeueTag, 18.4. 1920 



FENSTER 



Mir gegeniiber ist die Wand mit den vielen Fenstern. Oh, ich wufite 

nicht, was Fenster sind, den ganzen Winter iiber, da sie kaum bemerk- 

tes, nebensachliches Zubehor der Wand waren und, mattgehaucht vom 

Frost, winterschlafende Existenzen lebten. 

Nun aber weifS ich, was Fenster sind : Of f enbarungen f remder Leben 

und Tode, geschwatzige Nachbarschaft, Plaudertanten. Ich unterhahe 

mich sehr gern mit den Fenstern. Der FriihUng ist die Jahreszeit der 

Fenster. 

Am Nachmittag sind sie alle weit offen. Es ist ein altes Haus driiben, 

und die Fenster offnen sich nicht vornehm-reserviert nach innen, son- 

dern aus warts. Es sieht aus, als ob die Wand ein Dutzend glaserner 

Fliigel ausgespannt hatte, um plotzhch - hast du nicht gesehn! - auf 

und davon zu flattern. 

Manchmal, wenn ein Wind sich in dem Lichthof verfangt, dreht sich 

ein Fensterfliigel, oder eine Scheibe zerschmettert mit machtigem Ge- 

khrr in der Tiefe. Dann dreht sich eine Frauenstimme kreischend in 

rostigen Angeln. 

Manchmal kommt ein Leierkasten in den Hof. Dann offnen sich die 

Fensterfliigel weit und sagen: Bitte, bitte sehr! 

Im ersten Stock ist die Wohnung entschieden am schonsten. In der 

Fensternische starrt Rhododendron, ein silbernes Vogelhaus liber- 

schattend, und ein Kanarienvogel wetzt seinen Schnabel an den Kafig- 

stabchen. Es ist ein zahmer Kanarienvogel, mit einem kleinen Haub- 

chen auf dem Kopf. Am Morgen bekommt er Vogelfutter, und dann 

zwitschert er wohlerzogen ein Morgenlied aus dem Lesebuch. Etwa: 

Die hebe Sonne ist erwacht; oder so. 



282 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Quer iiber dem Tisch prunkt ein weiU gestickter Tischlaufer aus rotem 
Peluche. Er hat immer ein paar Falten, denn die Kinder haben die iible 
Gewohnheit, die EUenbogen aufzustutzen, wahrend sie den Kanari 
Gedichte aufsagen horen. Die Mutter tragt einen geblumten Schlafrock 
und Pantoffeln und streicht den ganzen Tag besanftigend iiber den 
Tischlaufer. Dann plattet er sich. Einmal schickte ich ihr zwei Reifina- 
gel mit einer Gebrauchsanweisung fiir den Tischlaufer. Aber sie glattet 
ihn immer noch. 

Der Vater kommt abends nach Haus und spielt mit seiner Frau Do- 
mino in Hemdsarmeln. Wenn sie so am Tisch einander gegeniiber- 
sitzen, jeder die Steine vor sich, angstUch vor dem Blick des andern, 
haben sie sehr viel Hafi und Feindschaft gegeneinander. Und die Bit- 
terkeit einer zehnjahrigen Ehe glotzt mit schwarzen Augen aus weifi- 
glatten »Doppelfunfern«. 

Im dritten Stock wohnt ein Grammophon. Es ist nur ein Zimmer mit 
zwei Fenstern. Und das einzig Lebendige ist das Grammophon. Ich 
habe noch nie einen menschlichen Laut aus dem zweiten Stock gehort. 
Das Grammophon steht auf einer Konsole, sein weifier Trichter mit 
rundem, unerhort grofiem Mund schreit Jubel und Wehmut in den 
Hof hinaus. Vielleicht wohnen auch noch Menschen in dem Zimmer. 
Vielleicht. Der Herr ist sicher das Grammophon. Das einzige Organ, 
mit dem die Menschen leben, die vielleicht dort wohnen. 
Im vierten Stock, just mir gegeniiber, wohnt eine graufiweifi getigerte 
Katze, die sich ein althches Madchen halt. Die Katze sitzt den ganzen 
Tag am Fensterbrett. Wenn das Madchen nicht piinktlich nach Hause 
kommt, wird sie ungehalten. Sie sieht jedesmal nach der Wanduhr. 
Und wenn es sechs geschlagen hat und das Madchen noch nicht zu 
Hause ist, stellt sich die Katze auf alle viere und fuchtelt mit dem 
Schwanz. »Ich werde sie am Ersten entlassen«, denkt die Katze. 
Den ganzen Tag iiber sehe ich durch die offenen Fenster. 
Geheimstes wird mir offenbar. Ich unterhalte mich sehr gern mit den 
Fenstern. 

Der Neue Tag, 25.4. 1920 



FAHRT IN DEN KRIEG 
vom roten Joseph 

Der Krieg tobt (nicht wahr: »tobt?«) hart an des Reiches Gemarkung. 

(Das ist ein Satz!!) 

Durch Ostpreufien gelangt man in den Krieg. 

Einmal schon war ich im Krieg. Damals aber zog ich, Zugtier der Zeit, in 

ihn. Letzthin fuhr ich nur. 

Bahnhofe kleiner Stadte kauern, gelbbraun und trage wie grofie Katzen 

im Mittagssonnenschein. 

Unbrave Chausseen versuchen zeitweilig, Schritt zu halten auf gleicher 

Hohe mit dem 2ug. Erlahmen aber, bleiben zuriick, schmachvoU iiber- 

holt. 

Walder klaffen unvermutet vor der Eisenbahn auseinander 

Schaffner tauchen iiberraschend in Tiirfiillungen auf, mit gahnenden 

Zangen in rufiuberhauchten Handen. Reisende haben schreiend karierte 

Sportkappen schief aufgesetzt und lassen sorglos ihre Beine wie lockere 

Eisenbahnschienen in die Unendlichkeit baumeln. 

Aus Perronuhrgehausen stiirzen metallene Glockenschlage drohnend 

aufs Pflaster. GrolSe tonende Vogel, die aus dem Nest fallen. 

Vierschrotige Rohrplattenkoffer schleppen zappelnde Eigentiimer mit 

sich. An einer iiberdimensionalen Hutschachtel baumelt, runzHg, ein 

Frauchen. 

Stadte zu beiden Seiten stellen sich auf die Zehenspitzen. Lugen durch die 

Coupefenster. Kirchtiirme und Hutfabrikanten offerieren sich bestens. 

Das Land ist platt und die Menschen groE, blond und langsam. Die 
LandstrafSen sind sumpfig. Die Sprache breit und breiig. Worte stapfen in 
groEen Rohrenstiefeln schwerfallig daher. Konsonanten rutschen in die 
Tiefebene der E- und I-Vokale. 

Aus den Abenden steigt Bierdunst empor. Politische Brocken, in Krii- 
geln »Hell« aufgeweicht, zerkaut man bedachtig. Wau-wau-Bolschewik 
draut rotlich hinter Grenzen, 

Diese sind patrouiUierendes Militar. Forschen nach Unkulturdokumen- 
ten. In fruchtbaren Randgefilden sprieEen iippig Paragraphen-SchieEge- 
wehralleen, spenden Schatten und Schutz. 



284 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Driiben. Der Krieg spielt gemachlich Kegel. In weiche Fernen gehiill- 

ter Kanonenschufi gurgelt ein bifichen. 

Trainziige ratios mitten im Weg. Wie Provinzler am Potsdamer Platz, 

Patrouillen wachsen plotzlich aus dunklem Wald hervor. Kommando- 

pfropfen knallen. 

Die Erde kriimmt sich schmerzlich in klaffenden Schiitzengrabenwun- 

den. 

Heimkehr, Berlin: Kulturdes Westens. Litfafisaulen, 

Im Lunapark stattfinden immer noch Boxmatches. Berlin ist gerade 

beim fiinften Teil der Vampire angelangt. 

Freie Deutsche Buhne, 5.5. 1920 



CHIROMANTEN 

Handles ekunst ah Industrie 

Es gibt Chiromanten und Chiromanten. Man sieht: Die Geschichte ist 
nicht so einfach. Ganz abgesehen davon, dafi das Wort aus dem Gnechi- 
schen stammt, namlich von »Cheir« und — aber das ist Nebensache. 
Der Chiromant, von dem ich hier erzahle, ist nicht etwa ein Mensch 
aus Fleisch und Blut, sondern ein eigener Kasten. Er steht im Luna- 
park. Man legt die Hand auf cine Platte, driickt ein bifichen, steckt eine 
Nickelmarke - an der Kasse um zwei Mark erhaltlich - in einen 
Schlitz, und dann beginnt so eine Art Revolutionchen im Bauch des 
Chiromanten. Er gurgelt, rauspert sich, dann blitzt es noch ein bifi- 
chen blau und elektrisch aus seinem grofien Scheibenauge, und seit- 
warts links fallt plotzlich, fein sauberlich in Maschinenschrift auf wei- 
fiem Papier, deine Zukunft heraus. 

Deine Zukunft ist gewohnUch rosig, zum mindesten lila. Du brauchst 
keine Angst zu haben und siehst: Alles Herzklopfen war zwecklos , . . 
Soweit ist die Sache in Ordnung. Das eigentlich Wunderbare beginnt 
erst jetzt, wenn das Wunder vorbei ist. 

Dieweil man namlich in seiner Zukunft liest, taucht ein Mann hinter 
dem Lesenden auf, guckt iiber die Schulter und sagt: »Merkwurdig!« 
Nichts mehr als nur dies eine Wort: merkwiirdig. 



1920 285 

Eine Welt steckt in diesem Wort. 

Der Lesende wendet sich um, und der Mann - oh, wirklich merkwiir- 
dig! - zeigt einen Zettel, auf dem genau dasselbe zu lesen ist, Einen 
Zettel, in Form und Inhalt dem deinigen gleich. Der Mann hat deine 
Zukunft. Du hast die seinige. Ihr seid sozusagen Schicksalsgenossen. 
Der Mann, er sieht iibrigens ein wenig aus wie Artaxerxes, mit schwar- 
zem Bart und bleichem AntUtz - du denkst entfernt an Xenophons 
Werke und den Zug der Zehntausend - sagt: »Ist das nicht sonderbar? 
Kommen Sie, bitte, in jene Konditorei. Unsere Vergangenheit, unsere 
Hande, unser Leben - es muE doch eigentUch alles gleich sein?!« 
Seine Stimme tont hohl, als sprache er durch einen Trichter, und die 
Worte tropfen langsam wie kleine, spitze Glastranen auf deine Seele. 
Wer kann widerstehen? Man geht in die Konditorei: Und dort erzahlt 
dir der Mann deine, eigentlich seine Vergangenheit. Und verlangt da- 
fiir zum Schlufi - fiinf Mark. 

Denn wie sagte ich schon oben? »Es gibt Chiromanten und Chiroman- 
ten.« Der Mann ist - auch ein Chiromant. 

Ich beobachtete ihn zwei Stunden lang. Er fand immer wieder neue 
Opfer. Er hatte alle moglichen Zukiinfte in der Rocktasche. Er konnte 
jeden verbliiffen, 

Als er mich bemerkte, verschwand er plotzUch. Dann, eine Viertel- 
stunde spater, traf ich ihn wieder. Er stand am Kurflirstendamm an 
einer StrafSenecke und bot Zigaretten an. »Osterreichische, enghsche, 
deutsche, tiirkische gefanig?« Und seine Worte tropften spitz und gla- 
sern und zerschellten auf dem Pf laster . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 30. 6. 1920 



IM KLUB DER HUNDE 

Wie »vornehme« Hunde leben 

Neuhch ging ich in den Klub der Hunde. Wenn ich jetzt »Hund« sage, 
so verstehe ich darunter weder die iibliche Behorde noch irgendwelche 
militarischen Vorgesetzten aus meiner Kriegszeit, noch meinen gegen- 
wartigen Chef. Denn es liegt nicht in meiner Absicht, Menschen oder 
gar Hunde zu beleidigen. Nein! Ich war bei ordentlichen Hunden. 



286 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

(Siehe Loebells »Naturlehre fiir die unteren Klassen«, Seite 24, oben 
links, 3. Kapitei »Der Hund« [lateinische Bez. »canis«].) 
Der Klub der Hunde liegt in einer sehr schonen, etwas melancholi- 
schen Gegend, in der Nahe des Westend-Bahnhofes und einer anderen 
Haltestelle, der Endstation des Lebens namlich, eines Friedhofes. Hier 
hat die Natur ein Loch in die Strafie gebissen. Ganz unvermutet be- 
ginnt ein Feld sich zu dehnen, und der Weg nimmt landliche Manieren 
an. Und ein verwitterter, grauer Bretterzaun kiindet der Welt mit wei- 
fien Buchstaben: Fehse. 

»Fehse« ist weder die Abkiirzung fiir eine Lebensmittelzentralwirt- 
schaftsstelle noch eine Hundekrankheit, sondern im Gegenteil: der 
Hundedoktor. Er hat ein kleines Sanatorium eingerichtet mit ent- 
ziickenden Hundevillen aus Holzlatten, mit Ehe-Doppel-Strohge- 
legenheiten und Junggesellenlagerstatten; Klinik, Medikamente, zahn- 
arztliches Ambulatorium, lockere Erde fiir den beliebten Buddel- 
sport - alles ist vorhanden. Es ist ein vornehmes Sanatorium. 
Hart an der Tiir winseln zwei kleine gelbbraune Boxer herzzerreifiend 
vor Heimweh. Sie sind noch jung, stecken sozusagen noch in den Kin- 
derpfotenfellen und sind erst gestern hierhergebracht worden. Sie wol- 
len unbedingt zuriick, sie wiirden auf alle Bequemlichkeiten der Hun- 
depension pfeifen, wenn sie pfeifen konnten. Sie zerkratzen die Tiir, 
sie beginnen langsam zu zweifeln, an den Hunden, an der Welt, an 
Gott. Oh, es ist traurig! . . . 

Dort - was seh' ich? - Auf dem griinen Rasen tummelt sich meine 
Tante aus Meseritz. Oh, ich erinnere mich ihrer noch ganz genau, Ich 
weifi noch, wie sie mir immer Kuchen auf den Tisch stellte, wenn ich 
kam und mir zugleich befahl, Gedichte aufzusagen. Wahrend ich de- 
klamierte, afi sie nach einer eigenen Methode meinen Kuchen, immer 
eine Schnitte wahrend einer Strophe und, wenn die Strophe mehr als 
acht Verse hatte, sogar zwei Schnitten. Daran muKte ich jetzt denken. 
Als ich aber naher trat, sah ich, dafS ich mich geirrt hatte: Es war gar 
nicht meine Tante, sondern ein Boston-Bullterrier, den ich sofort be- 
griifite. Ich liefi mir natiirlich nichts anmerken; kein Hund der Welt 
konnte mir ansehen, dafi ich iiberhaupt eine Tante in Meseritz habe. 
Der BuUterrier ist wirklich ein anstandiger Mensch, er heiEt Bully und 
ist erheblich langer als meine Tante. Auch lafSt Bully mich nicht dekla- 
mieren, sondern beschaftigt sich inbriinstig mit dem Klingeldraht. 
Bully, miifit Ihr wissen, war noch sehr jung und schwerkrank an 



1920 287 

Raude, als er herkam, er schwebte sozusagen zwischen der Pension 
und dem Jenseits der Hunde. Endlich entschied er sich mit Hilfe des 
Herrn Sadtlers, des Hundeerziehers und Raudesachverstandigen, fiir 
die Pension, weil ihm der Klingeldraht so gut gefiel. Er macht seitdem 
gewaltige Luftspriinge, um den Draht zu erwischen, aber es gelingt 
nicht. Bully macht es wie ein gewisser Politiker - ich nenne seinen 
Namen nicht-, der seit Jahren Luftspriinge nach einem Ministerporte- 
feuille machte, ohne es je zu erreichen. 

In einem Liegestuhl rakelt sich mein Hauslehrer und blinzelt mich gut- 
miitig aus halbgeoffneten Augen an, ganz wie damals, als er satt und 
suppengefiillt um drei Uhr nachmittags kam, um mir im Rechnen 
nachzuhelfen, und um halb vier schon schnarchte. Nur ist das hier 
natiirlich ein satter Teckel. 

Mein Klassenlehrer dagegen geht unaufhorlich im Kafig auf und ab, 
knurrt und schreit mich an, wenn ich mich nahere. Hergeth hiei^ mein 
Klassenlehrer - Gott habe ihn selig!-, er bellte immer fiirchterUch, 
wenn er mich sah, als ware ich der Mond. Der Wolfshund hier im 
Kafig macht es genauso. Ich fange langsam an, an Seelenwanderung zu 
glauben. 

Vor dem Tor des Parlaments lustwandeln ein paar Manner der Offent- 
lichkeit. Abgeordnete und so. Gelegentlich hebt einer ein Bein, indes 
ein Kollege seine politische Ansicht beschnuppert. Ich vermute, es ist 
die Fraktion einer Partei, die sich vor Regierungsgeschaften fiirchtet, 
denn die Herren bellen von »Fusionen« und »Koalitionen« und 
»Eventualitaten«. Es ist eine Gruppe feierlich schwarzer Rehpinscher. 
Ihre Zylinderhiite haben sie wahrscheinlich in der Hiitte gelassen. 
Es ist, wie gesagt, eine hochfeine Pension. Auf Schritt und Tritt wird 
man an Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft erinnert. So 
wurde z. B. der kleine Bully mit Wein, Schnitzel und Beefsteak aufge- 
pappelt, seine Kur kostete an die tausend Mark, ein Zahn wurde ihm 
gezogen. Ich glaube, er wartet jetzt noch auf eine Goldplombe. 
Im Marz und im September, wenn bei den Hundedamen die Liebe 
erwacht, werden die Pensionsgaste nach Geschlechter gesondert. Denn 
Herr Sadtler gibt vie! auf Moral. Diese Pension kann nicht etwa als 
Stundenhotel fiir leichtsinnig veranlagte Herren in Betracht kommen! 
Ehe ich fortging, erwies mir ein Teckel die Ehre, meine Hose mit einer 
Litfaf^saule zu verwechseln. Diese Art, Abschied zu nehmen, ist bei 
vornehmen Hunden Sitte. Bully dagegen, der problematische Bully, 



255 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hiipfte immer noch nach dem Klingeldraht und beachtete mich nicht. 

Sollte er doch gemerkt haben, mit wem ich ihn vorhin verwechselt 

hatte?!... 

»Bully«, rief ich beleidigt, »Bully, du bist ein Hund!« Aber Bully 

machte sich nichts daraus. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 6. 7. 1920 



ABDUL RAHIM MILIGI 

Beim dgyptischen Fakir 

So agyptisch, wie er auf dem Plakat unten, vor dem Eingang ins Pan- 
optikum, aussieht, ist er nicht. Aber immerhin agyptisch genug. 
Nicht alle Menschen, die »Abdul Rahim Mihgi« heifien, sind Fakire. 
Aber dieser Abdul Rahim ist ein Fakir. 

Nach »Marsa und Belgaus«, den »beruhmten Menschenkennern«, 
weht Abdul Rahim auf die Buhne wie ein afrikanischer Wiistenwind. 
Abdul Rahim, der Sohn des grofien Fakirs Miligi aus Kairo in Agyp- 
ten, dem Land, wo Krokodile und Fakire so zahlreich gedeihen wie bei 
uns etwa Schriftsteller und Johannisbeeren. 

Abdul Rahim in einem schwarzen Perkalkittel, um den Leib einen 
bunten Seidenschal, der, morgenlandische Farbenluft markierend, sich 
um den dunklen Ernst des berufhchen Mantels schlingt. Ein Fez leuch- 
tet wie ein zinnoberrotes Rufzeichen steil gegen die Zimmerdecke. Ar- 
melumschlotterte Hande wirbeln in tollen Kreisen durch die Luft. Die 
weiten Beinkleider bauschen sich selbstandig, wie von irgendeinem in- 
neren Blasebalg aufgetrieben. Man fiihlt sich versucht, sie »Windho- 
sen« zu nennen, ohne Riicksicht auf den meteorologischen Begriff. 
So ist mein Freund Abdul Rahim, 

Dal^ er Feuer mit Appetit und Inbrunst verzehrt, daf^ er einen Jungling 
aufs Podium ruft und ihn Eier legen laf^t, darauf will ich nicht einge- 
hen. SchliefiHch ist es nur eine rein geographische Angelegenheit, wenn 
ein Fakir aus Kairo eine Portion Feuer mit Flachs ilSt und ein Spieler 
aus Berlin Eisbein mit Sauerkohl. Eine geographische Angelegenheit. 
BedeutungsvoUer und merkwurdiger ist das Privatleben Abdul Ra- 
hims. 



1920 289 

Abdul Rahim ist mifitrauisch. Seine braunen klugen Augen tasten erst 
vorsichtig mein Gesicht ab. Dann sprudelt Abdul Rahim ganze Nilka- 
tarakte Privatleben. Seine Zunge stolpert im Gestriipp deutscher Hilfs- 
zeitworter. Abdul Rahim, der Fakir, »gibt sich im privaten Gesprach«. 
Sein schwarzer Kittel schliefit oben nicht ganz, und ich sehe eine grau- 
karierte, schon etwas vorgeschrittene europaische Biirgerweste. Oh, 
Abdul Rahim, Sohn des grofien Mihgi, du bist Europa verf alien! Du 
bist ein Fakir in einer graukarierten Weste! . . . Dennoch ist Abdul in 
Kairo geboren, in dem wunderbaren Masr el Kahira, wo man Zauberel 
studieren kann in den Bazaren, im »Suk-el-Attarin« zum Beispiel. Die 
lungenkranken »Gjaurs« aus Europa, die in den ewigen Sommer Kai- 
ros fahren, lassen sich's was kosten. Ein Junge, der Karriere machen 
will, studiert Zauberei, Abdul Rahim studierte. 

Vor etwa achtzehn Jahren kam er nach Europa. Dieweil er in der 
Schweiz Feuer schluckte und Ziiricher Junglinge aus dem Publikum 
Eier legen Uefi, starben seine Eltern. Ein Bruder, auch Fakir, lebt noch 
in Kairo. Erst neuUch bekam Abdul Rahim einen Brief von seinem 
Bruder. 

In Holland aber geschah es, dafi Abdul Rahim sich verliebte. In eine 
Hollanderin. Sie heirateten. Und nun wohnt Abdul Rahim im Norden 
Berlins mit einer weif^en Hollanderin und vier Kindern, die moham- 
medanisch getauft sind. 

Das ist das Schicksal wanderlustiger Fakire: Sie geraten in die Rader 
der Zivilisationsmaschine und werden unbarmherzig zu mitteleuropai- 
schem Biirgerbrei vermahlen . . . 

Abdul Rahim, mein Freund! Nimm deine weifie Frau mit den Kin- 
dern, und wandere heim nach Kairo, wo dein Chedive um seine Selb- 
standigkeit kampft. Und tue Buf^e am Grabe deiner Vater, und zeige 
deine Kunste im wunderschonen Bazar Suk-el-Attarin, wo du ein rich- 
tiger Fakir bist und kein zehnprozentiges Erwerbssteuerobjekt wie im 
Berliner Panoptikum! 

Ewiger Sommer ist in Kairo. Dort ifSt man nicht Konigsberger Klops 
mit Berichten von der Konferenz in Spa. Kehre heim nach Kairo, Ab- 
dul Rahim, nach Masr el Kahira! . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 8. 7. 1920 



U35 

Irrungen, Wirrungen eines Films 

»U35« heifit ein Film, den die deutsche Regierung zur Verherrlichung 
der Unterseeboottaten herstellen liefi. Dieser Film fiel zur Zeit des 
Waffenstillstandes statt ins Wasser den Englandern in die Hande. 
Die Englander dachten sich: U-Boot ist U-Boot, und ausgerechnet auf 
die deutsche Matrosenkappe kommt es nicht an. Sagen wir: Die Hel- 
dentaten sind nicht deutsch, sondern englisch. Sagen wir: Kitchener 
statt Tirpitz. Denn die englische Mine ist ebenso von zerfetzender 
Wirkung wie die deutsche. Und ein zerfetzter Korper ist ein zerfetzter 
Korper. Ein deutscher Fleischlappen sieht einem englischen verdammt 
ahnlich. Also ward der deutsche Film zum englischen. 
Vor kurzer Zeit kam der Film nach Madrid in Spanien. In Madrid aber 
protestierte der deutsche Vertreter gegen die Vorfiihrung des Films. 
Protestierte, weil der Film - deutsch war. Ehre dem Manne, der so die 
deutschen Interessen wahrt! Er schamte sich des Films, der Fleischfet- 
zen Fleischfetzen sein lafit und Tirpitz - Kitchener. 
Der englische Vertreter protestierte nicht. Aber der Unternehmer ver- 
stand es, die Sache zu deichseln. Er redete den Protestierenden ein, dafi 
der Film das spanische Pubhkum nur fUr die Deutschen einnehmen 
konne, nicht gegen sie. 

Woraus zu ersehen ist, dafi die Welt sich iiberall gleich bleibt. Wie 
gesagt: Fleischfetzen sind Fleischfetzen. Tirpitz Kitchener, und ein 
spanischer Unternehmer - ein Unternehmer. Ja, selbst das spanische 
Publikum, das noch nicht Gelegenheit hatte, in den ersten Schiitzen- 
grabenlogen eines Weltkrieg-Theaters zu sitzen, ist - Publikum und 
fur U-Boote eingenommen. 

Und die U-Boote sind schhefilich U-Boote. Die Kriminahstik ist inter- 
national. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 9. 7. 1920 



»DIE TRAGODIE EINES GROSSEN« 



wird jetzt im »Marmorhaus« aufgefiihrt. Es sind »sechs schicksals- 
schwere Akte nach einer Idee von Paul Gruner«. »Sechs Akte« hatte 
geniigt. Man mufi sich nicht von vornherein schicksalsschwer diskre- 
ditieren. Man mufi nicht mit der Tiir ins Marmorhaus fallen. »Trago- 
die eines Gro{^en« sagt genug. Sagt sogar zuvieL 
Der GrofSe ist Rembrandt. Warum gerade Rembrandt, erklart das 
Programm: »Wahrend bei den meisten derartigen Filmen das private 
Leben des Helden wenig bietet, das fiir die Allgemeinheit wirklich in- 
teressant ist, verlockt die tiefe Tragik des Menschen Rembrandt gera- 
dezu zu einer dramatischen Gestaltung.« 

Es geniigt nicht, dafi etwas »geradezu verlockt«. Besonders dann 
nicht, wenn die Tiefe der Tragik eines Gro{^en auf die Flache einer 
Kinoleinwand projiziert werden soil. Viel zu innig sind die Bezie- 
hungen zwischen technischem Darstellungsobjekt und dem Darzu- 
stellenden. Kein Film der Welt wird »die tiefe Tragik Rembrandts« 
dramatisch gestalten konnen. Vielleicht die aujKere Tragodie eines 
Menschen, der aufierdem noch Rembrandt war. Aber mufi es deshalb 
Rembrandt sein? 

In den sechs Akten ist Rembrandt der Mann zwischen zwei Frauen. 
Zwischen Tochter und Nichte des reichen Kunsthandlers. Rembrandt 
heiratet die Nichte. Und findet nach fiinf schicksalsschweren Akten 
zuriick zu Nisly, der Tochter. In ihrem Schofi stirbt er. 
Rembrandt ist in diesem Film zuerst »Ktinstler«, Schlapphutmensch 
sozusagen, leichtsinnig, vom Leben beschwipst. Dann zum SchluE 
»gebrochen«, verloren, betrunken. So mufi Rembrandt im Film aus- 
sehen. Nicht anders. 

Er malt beneidenswert schnell, wie ein tiichtiger Schildermaler. Plugs, 
fallt ihm was ein, greift er zu Pinsel und Palette. Als woUte er sagen: 
Momang, wern det Ding gleich habenl Bitte recht freundlich! So mufi 
Rembrandt im Film malen. 

Also, warum Rembrandt? Warum das Genie in der Vorstellung 
Zehntausender von Philistern neben den Kaffeehausbohemien stellen, 
warum den Begriff »Genie« profanieren helfen? Warum aus Rem- 
brandt einen Schildermaler machen? Nur weil er das Pech hatte, zwi- 
schen zwei Frauen zu stehen? Mit der »Trag6die« war's genug gewe- 



292 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sen fiir »sechs schicksalsschwere Akte«. Es mufite nicht die »Tragodie 
eines Grofien« sein. 

Schon gar nicht, wenn man direkt aus der Komodie einer Grofie 
kommt, die vor der »Tragodie eines Grof5en« gezeigt wird: namlich 
Slezaks, des Kammersangers, Leben auf seinem Gut. Slezak, wie er ifit, 
betet, lacht, Witze erzahlt. Parallelitat der Erscheinungen. Man konnte 
beide Filmwerke verbinden, Ihnen einen gemeinsamen Titel geben. 
Etwa: die Unterwasche zweier Lieblinge des Publikums: Rembrandt 
und Slezak. 

Regisseur Giinsburg tat manches, hatte mehr tun konnen. Hollandi- 
sche Hauser haben keine romischen Aulen. Glatte Fensterscheiben gab 
es nicht im sechzehnten Jahrhundert. Aufreizend stillos wird die Regie 
nirgends. 

Freie Deutsche Biihne, 11. 7. 1920 



DISKRETE HILFE 

»AHskunfte in alien Lebenslagen« 

»Diskret« lautet die Bezeichnung fiir das stiilschweigende Uberein- 
kommen zwischen Jenen, die es brauchen, und denen, die es betreiben. 
Man schlagt der Behorde kein Schnippchen mit dieser fremdworterli- 
chen Bemantelung. Auch die Behorde versteht es. »Diskret« ist ein 
sehr indiskretes Wort geworden. 

Eine Strafie, so eng, dafi sich die einander gegeniiberliegenden Hauser 
»guten Morgen« sagen konnen und die Fensterscheiben FamiUeninti- 
mitaten ausplaudern. Ein Haus mit weit offen gahnendem Schlund. 
Ein braungelbes Haustor, Beide Fliigel nach innen geoffnet. Fahler 
Lichthof blinkt vom Ende her entgegen. Die Luft ist gewissermafien 
grau schraffiert und fast greifbar. Man konnte sich ein Stuckchen Luft 
abschneiden und in eine Schachtel stecken. 

Auf ausgespannten Schniiren turnt blau- und rotgestreifte Unterwa- 
sche. Zwei Kinder zeichnen mit rosa Kreide auf den briichigen Stein- 
fliesen, und auf der Glastur, die langst keine Scheiben mehr hat, son- 
dern viereckige Brillen aus braunem Pappendeckel vor erioschenen 
Augen, hangt ein Tafelchen: 



1920 293 

»Bett zu vermieten. Frau A. Auskiinfte fur alle Lebenslagen,<( 

Die Buchstaben sind nicht gedruckt, sondern mit der Hand geschrie- 

ben, sie wackeln ein bifichen auf dem Papier. Man hat die Empfindung, 

dafi diese paar Worte von der Tafel herunterf alien und jammerlich auf 

dem Pflaster zerschellen konnten. 

Frau A. ist vorsichtig. Sie sieht erst durch die Tiirluke, lange und mit 

Ausdauer. Ihr Auge trinkt meine Erscheinung sozusagen zwei Minu- 

ten lang. Dann schliipfe ich durch den Tiirspalt. 

Frau A. »weifi schon«. EigentUch »weefi schon«, Denn Frau A. ist 

unverkennbar aus jenem Kapitel deutscher Sprechkunde. Sie weefi 

schon. 

Infolgedessen ladt sie mich ins Gastzimmer. Jetzt sehe ich Frau A. Auf 

ihrer blaugetupften Schiirze wirbeln ein paar Sauceflecken toll durch- 

einander. Ein leiser, beizender Zwiebelduft schwebt um sie, hiillt sie 

ein. Ihre personliche Atmosphare, Ihre Augen sind klein, braun und 

rotgerandert wie die eines Huhns. Sie tranen immer ein bifichen. Wenn 

man Frau A. nur ansieht, mul5 man weinen. Die Augen gehen einem 

iiber. Unter einem unterernahrten Rhododendron in der Fensternische 

philosophiert ein Papagei in einem Messingkafig. Seine Augen sind 

funkelnd und etwas rotgerandert. Seine Augen tranen, vielleicht vom 

Zwiebelduft, vielleicht infolge einer wirksamen Anpassung an seine 

Herrin. Man kann nicht wissen. Auf einem roten Tischlaufer liegen 

abgegriffene Spielkarten. 

» Auskiinfte fiir alle Lebenslagen«. 

»Woll'n Se det Bett sehn?« 

Diese Stimme fahrt wie ein Rasiermesser durch die Luft. 

»Nein, ich will nicht das Bett sehen, Ich habe eine diskrete Angelegen- 

heit, Frau A., eine sehr diskrete. « 

»Na, wo ist se denn?« 

Sie sei zu Hause bei den Eltern. Kleines Madchen. Siebzehn Jahre. Ihr 

Vater sei roh. Es ware schrecklich. Wenn er erfahrt . . , Ich liige, liige. 

»Det kenn' wir«, nickt Frau A. 

Was es kosten diirfte? 

Nicht gar zu viel. Von wegen, weil es doch so ist, indem, dafi ich ein 

»f einer junger Mann« zu sein scheine und »det arme Ding bei so*n 

Vattern«. Mit hundert Markerchen ist die Sache beigelegt. 

Ob ich nicht bei dieser Gelegenheit auch etwas Naheres iiber meine 

Zukunft wissen wollte? 



294 D-^S JOURNALISTISCHE WERK 

O ja, ich will. 

Hast kommt in die Frau wie in ein plotzlich angekurbeltes Auto. Sie 

mischt, mischt. Ihre Finger arbeiten wie kleine, exakte Maschinchen. 

Ich werde glucklich werden, fiinfzig Jahre leben, cine Rotblonde heira- 

ten, zwei Kinder stehen mir bevor. Man denke: zwei Kinder! 

»Nun, det Ding wird Jut ausgehn!« 

Aber dafi gar kein »Ding« vorliegt, sagen die Karten nicht. 

Oh, diese Karten! 

»Also auf morjen!« 

Frau A. tippt mir wohlwollend auf die Schultern. Der Papagei flattert 

ein bii5chen mit den Fliigeln. 

Unten baumelt immer noch die rotgestreifte Unterhose. Im Torweg 

steht ein junges Madchen. Billiges Perkalkleid und der miihsame Ver- 

such einer Moabiter Eleganz, die sich nach Berlin W. sehnt. 

Sie sucht »Auskunfte fiir alle Lebenslagen«. Ein Ruck: Sie geht hinauf. 



Bei der »Hochvornehmen« 

Im Inseratenteil der Zeitung hiefi es nicht nur »diskret«, sondern auch: 
»hochvornehm«. Und aufierdem in der Nahe des Kurfiirstendamms, 
und aufierdem - hort, hort! - die Frau ist eine AdUge. Eine »von«. 
Im Hausflur ist es »hochvornehm«. Man muf5 geradezu Ah! sagen. Dafi 
Betteln verboten ist, lehrt eine drauende Tafel. Lauernd blinken in Mes- 
sing eingefafite Gucklocher rechts und links. »Frau v. L., 3 Treppen 
hoch.« Selbst dieses »von« istdiskret.Es istnurangedeutet. »v.« geniigt. 
Man kann auch den Lift benutzen. Aber ich steige lieber. Auf der 
Treppe kann manches geschehen. Menschen konnen einem begegnen. 
Sie kommen vielleicht von Frau von L. 

Auf der Treppe bekommt man ein bifichen Herzklopfen. Vom Steigen, 
ja, wohl aber auch vom blutroten Teppich. Und von den Saulen rechts 
und links, die, zwei und zwei, wie Trabanten, den Auf gang bewachen. 
Vor der Tiir klemme ich ein Monokel ein. Monokel ist immer gut bei 
solchen Gelegenheiten. Ein Fensterglas erweckt mehr Vertrauen als eine 
Brille von elf Dioptrien. 

Ein Madchen mit einer winzigen weifien Spitzenschiirze offnet. Im 
Vorzimmer liegen weifie, leere Kartchen auf einer Silber simulierenden 
Tafel. Man schreibt seinen Namen drauf. 



1920 295 

Ich schreibe: Adam von Bindernickel. Adam Bindernickel heifie ich 

manchmal, zum Spafi. Hier mufi ich mich iiberdies adeln. Wie paf^te 

sonst ein Monokel zu einem simplen Adam Bindernickel. 

»Frau von L. lafit bitten. « 

Sie ist geschniirt, im schwarzen Kleid mit Wespentaille und hochge- 

schlossenem Kragen, Fischbeinstabchen fassen den Hals ein. Eine 

schwarze Perlenkette mit einem kleinen Kruzifix. Frau von L. ist aus 

Bayern. 

»Bitte, Sie konnen sich iiberzeugen, bei uns lafit die Hygienie nichts zu 

wiinschen ubrig.« 

»Oh, ich bin uberzeugt!« 

»Ich selbst bin funfzehn Jahre in diesem Fach tatig. Ich arbeite nie 

ohne Arzt. Sie haben vielleicht bemerkt, dafi im ersten Stock der Herr 

Doktor. ..« 

»Nein! Ich bin mit dam Lift heraufgekommen.« Mein Monokel fun- 

kelt beleidigt. 

»Wie alt ist die Dame?« 

»Funfundzwanzig.« 

»Sehr vornehmer Kreis. Und alles iibrige spielt keine RoUe. Sie verste- 

hen . . .« 

»Oh, ich weifi!« 

»Mit fiinfhundert, aufier Spesen, sind Sie einverstanden?« 

»Vollkommen!« 

»Ich wiirde Ihnen empfehlen, dam Herrn Dr. W. untan einen Besuch 

zu machen.« 

»Danke! Ich verlassa mich voUkommen auf Sie.« 

Ich geba Frau von L. die Hand. Sie behalt sie. »Eine interessante 

Hand!« 

Also auch Frau von L. weissagt. Honorar machen wir spater ab. Wird 

dazugerechnet. Sia prophezeit mir: Ich werde nur 40 Jahre leben. Und 

jane Dame, fur die ich mich interessiere, ist nicht mehr rotblond, nur 

blond, Donnerwatter! Es wird immar weniger! 

»Und die Angelagenheit wird gut ausgehen.« 

Wie hiafi es dort: Det Ding wird jut ausjahn! 

So hiefi es dort . . . 

Und in der Ecke, auch hiar, Rhododendron. Nicht unterernahrt, son- 

dern gut gawachsen, gagen die Zimmerdecke starrend. Und darunter 

kein Papagei, sondern ein Kanarienvogel. Knallgalb. 



296 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich gehe. Verbeugung. Frau von L., schlank wie eine Birke, nur nicht 
silbern, geleitet mich liebenswiirdig, von einem sanften Hoflichkeits- 
wind geschaukelt, sauselnd in Freundlichkeit. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 16. 7. 1920 



DIE »WASSERZEICHEN« VON GROSSBERLIN 

Ein dringendes Notsignal 

Von' Zeit zu Zeit wird man geradezu herausgefordert, etwas iiber 
»Wasser2eichen« zu schreiben. Was »Wasserzeichen« sind, wissen 
vielleicht einige. Viele warden es nicht wissen. Diese sind darauf ange- 
wiesen, durch eben diese Mitteilungen sozusagen mit der Nase auf die 
Berliner Wasserzeichen gestofien zu werden. Denn Wasserzeichen 
sind eben jene mehr oder minder fliissigen Erscheinungen in der Berli- 
ner Offentiichkeit, die man - auch mit den Augen - vornehmlich aber 
mit dem Geruchssinn zur unerfreulichen Kenntnis nimmt. Wer jetzt 
noch immer nicht weifi, was »Wasser2eichen« sind, dem kann ich nicht 
helfen, der mufi diese Zeilen schon zu Ende lesen. 
Von vornherein sei festgestellt, dafi nicht ich der Urheber dieser unsitt- 
lichen Abhandlung bin, sondern ein treuer Leser der Neuen Berliner 
Zeitung. Unser treuer Leser also mu£te neulich zum Elektrizitatswerk 
gehn und nahm seinen Weg iiber die Rontgenbriicke. Zwei Holztrep- 
pen fiihren von der Rontgenbriicke zum Elektrizitatswerk, und auf 
eben diesen zwei Holztreppen sah unser Leser die »Wasserzeichen«. 
Die »Wasserzeichen« kommen einerseits von aufgenommenen Spei- 
sen, andererseits aber - und dies sei ein Vorwurf gegen die Behorde - 
von der Auf he hung des Freiklosetts. Zwanzig Pfennige sind ein erheb- 
licher Betrag fiir eine Tatigkeit, die eigentlich eine Subtraktion ohnehin 
bedeutet. Daf^ man aber im Zeitalter der Revolution geradezu ein Ka- 
pitalist sein muE, um von dem, was gar nicht addiert wurde, noch 
subtrahieren zu konnen, ist eine offentliche Angelegenheit, die von 
Natur und durch die Umstande nicht gerade zum Himmel duftet. 
Unser Leser, ein griindlicher Wasserzeichenforscher, empfand noch 
am selben Tage, an dem er seine Entdeckung gemacht hatte, »am 
Knie«, wo sich zugleich auch eine Bediirfnisanstalt befindet, die Not- 



1920 297 

wendigkeit, zwanzig Pfennig auszugeben. Und ward also hinter den 
Kulissen zum unfreiwilligen Lauscher einer hochdramatischen Szene, 
die sich gleichzeitig auf offener Biihne zwischen Klosettfrau und einem 
jungen Mann abspielte. Der junge Mann kam in hochster Eile, stutzte 
jedoch plotzlich vor der Hohe des Eintrittspreises, und die giitige Frau 
las zwar in seiner Seek, konnte ihm aber nicht helfen. Dienst ist 
Dienst, sagte sie, und Vorschriften miissen eingehalten werden. Vor- 
schriften kbnnen ja auch eingehalten werden. Der junge Mann aber 
hatte nicht eben Vorschriften einzuhalten. Und so kam es, daf5 er die 
Grofi-Berliner »Wasserzeichen« um eines vermehrte. 
Dieses ebenso dringliche wie unmoralische Thema ware mit obenstehen- 
den Ausfiihrungen erschopft, wenn die ganze Geschichte, wie alle guten 
Geschichten, nicht auch noch eine Pointe hatte. Und diese Pointe sind - 
die Warterinnen der Bediirfnisanstalten selbst. Denn die Tiicke des Ob- 
jekts, das sie zu betreuen haben, hat die Patenttiiren so eingerichtet, dafi, 
wenn sie zuschnappen, ein grausam-geheimnisvolles Zeichen der Ge- 
meinde Berlin als dem Unternehmer eine einmalige Benutzung anzeigt. 
Und das kostet zwanzig Pfennig. Und sehr viel verdienen die Warterin- 
nen eben infolge der haufigen Wasserzeichen auf den Strafien auch nicht. 
Man denke sich also die Tragik des Schusters, der barfufi laufen mufi, auf 
die Warterin der Bediirfnisanstalt iibertragen. Tantalus, der bekanntlich 
in der Unterwelt dazu verurteilt war, nach Friichten ewig zu haschen, die 
er nie erreichen konnte - was ist er dagegen? Ungleich grausamer sind die 
sozusagen umgekehrten Tantalusqualen . . . 

Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dafi die BerHner Was- 
serzeichen auch kapitalistischer Herkunft sein konnen. Denn gesetzt 
den Fall, es hatte einer schon die zwanzig Pfennig, so kame er in Verle- 
genheit wegen Mangels an Gelegenheiten. Nur die groEeren Verkehrs- 
platze in Berlin sind mit diskreten Notwendigkeiten versehen. Aber 
der starkere Verkehr von Kraftwagen und Strafienbahnen hat nichts zu 
tun mit den inneren Bediirfnissen der menschlichen Natur, und man 
kann den Vorwurf nicht unterdriicken, dafi es der Berliner Verwaltung 
an - sagen wir: psychologischem Verstandnis fehlt . . . 
Und somit ware die Geschichte von dem Berliner Wasserzeichen zu 
Ende. Wir hoffen, dafi dieser Wink geniigt und dafi unser treuer Leser 
der Behorde nicht auch noch mit jenem Zaunpfahl kommen wird, den 
sie unbedingt verstehen mUfite . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 17. 7. 1920 



EINE STUNDE IM SCHIEBERBURO 



Mein Freund Aldrian Helder - schoner Name, was? - klingt wie Bar- 

densong durch Waffengetummel - begann eines Tages im Telegramm- 

stil zu sprechen, z.B.: »Habe 25 Sacke brutto fiir netto a siebzehn- 

einhalb«; oder: »Prima Qualitat, zehntausend Stuck lagernd, nicht 

transito, fein, was? Gemacht!« Auf meine Frage: »Wie geht's?« 

antwortete er: »Teile Ihnen mit, dafi am Relngewinn mit zwanzig Pro- 

zent, zahlbar bei Abschlufi, beteiligt.« - Er sprach geradezu wie ein 

Telegraphendraht . . . 

Gestern schnurrte er mir folgendes Satzfragment vor: »Habe Biiro ge- 

kauft, prachtvoU gelegen. Lift. Etabliere Import und Export. Bitte um 

Besuch!« 

Das Haus ist wirklich »prachtvoll«. Auf einem runden Turschild aus 

Emaille steht, schwarz auf weifi, sehr eindrucksvoU »Ein- und Ausfuhr 

G.m.b.H.!« 

Im Flur des vornehmen Hauses stand ein Portier, ganz aus blauem 

Tuch und gelben Litzen, und sagte: »Lift gefallig?« 

Ein Boy liefi mich ein. 

»Sehr erfreut!« sagte Aldrian. »Mein Kompagnon - mein Freund !« 

Aldrian nennt keine Namen. Er bedauert, dafi die Menschen keine 

Nummern tragen. 

Der »Kompagnon«, cine Halfte der G.m.b.H., sah aus wie die be- 

schrankte Haftung. 

Seine Hose - es gibt namlich Menschen, deren getreuestes Charakter- 

spiegelbild ihre Hose ist-, seine Hose also hatte oben an den Schen- 

keln noch einen leichten Anflug gebiigelter Gewissenhaftigkeit, etwas 

tiefer bekam sie einen kleinen Moralhocker, und schliefilich zerrann sie 

glockenformig in ziigel- und biigellose Willkiin 

Ich bekam einen tiirkischen Kaffee vom Boy serviert. Aldrian stellte 

turkische Zigaretten auf den Tisch. »Eene Em pro Stuck«, sagte er. 

Es war fiinf Minuten vor zwei. Um zwei begannen die »Amtsstun- 

den«. 

Knapp nach zwei kamen: eine Frauensperson mit Hut; eine ohne Hut; 

ein Mann in Uniform; zwei Lehrlinge aus einem Kauf laden mit langen 

beweglichen Ohren wie Hasen; ein Herr im Sportanzug; ein Gent in 

Halbschuhen; ein kleines Madchen. 



1920 299 

Alle fragten nach Herrn Helder, der unnahbar hinter dem Schreibtisch 

stand. Mit alien verhandelte der »Kompagnon«. 

Vor der Frau im Hut machte er eine Verbeugung. Dabei setzte er einen 

Kneifer auf, was offenbar ein besonderes Entgegenkommen bedeutete. 

Er sprach sehr schnell, wahrend seine Hande wie weifie Kaninchen die 

Weste hinauf und hinunter liefen. Seine Rede klang wie Wassersieden 

in einem Teekessel. 

Der Mann in Uniform holte ein Paket in Seidenpapier aus der Rockta- 

sche. Aldrian roUte das Seidenpapier auf und zahlte. Es waren rumani- 

sche Banknoten. Seine Finger liefen, iiberrumpelten sich, glitten ge- 

schmeidig zwischen den Banknoten durch. »Eine viertel Million !« 

sagte Aldrian. 

Der Mann im Sportanzug sprach mit dem Gent in Halbschuhen. 

Indes notierte Aldrian: 

Drei Waggons rumanische Lei; 

ein Waggon polnische Mark; 

zwei Waggons Sardinen a siebzehneinhalb, transito; 

fiinfhundert Pferdedecken a hundertfunfzich; 

zehn Waggons hollandische Kondensmilch, lagernd Stuttgart; 

fiinftausend Dosen »Sydol«, Friedensware; 

Raupenleim, Schmirgel, Fliegenpapier, Ziindholzer, nicht garantiert. 

Alle Anwesenden spielten sozusagen Tennis mit imaginaren Waren. 

Die Preise stiegen, stiegen. Wie Quecksilbersaulen, die man plotzlich 

in Siedewasser steckt. 

Dazwischen klingelte der Apparat. Aldrian strampelte gleichsam mit 

ZinsfufSen in der Muschel herum. 

Millionen sprangen mit leichtem Klaps gegen die Zimmerdecke und 

blieben kleben, wie feuchtgemachte Zigarettenhiilsen, von Schulz u. 

Comp. emporgeschleudert. 

Sardinenol ergofi sich iiber Pferdedecken. Die nicht garantierten 

Ziindholzer entziindeten sich am Schmirgelpapier. 

Um drei Uhr war »Biiroschlufi«. 

»Eine halbe MiUion!« sagte Aldrian und klingelte eine Bank an. 

»Fest!« sagte Aldrian. 

»Fest!« wiederholte der »Kompagnon« und driickte seinen Kneifer 

auf, als gelte es diesem. Dann gingen sie. 

Nun weifi ich wenigstens, was Ein- und Ausfuhr ist. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 23. 7. 1920 



POLNISCH-RUSSISCHER KrIEG 



DEUTSCHE TRUPPEN BEI RASTENBURG 
IN BEREITSCHAFT 

Konigsberg 

Der Ausnahmezustand, der seit Sonnabend iiber Ostpreufien verhangt 

worden ist, hat die Bevolkerung zwar iiberrascht, jedoch nicht ver- 

stimmt. 

Eine Hnmittelbare Gefahr diirfte nach menschlichem Ermessen nicht 

bestehen, da die russischen Armeen nach siidHcher Richtung vorwarts- 

zustofien beabsichtigen. 

Um Gefahren, die durch iibergetretene Banden, durch Fliichtlinge und 

gegebenenfalls durch Seuchen entstehen konnten, hintanzuhalten, ge- 

niigen die vorhandenen deutschen Truppen. Diese sind in vorbereite- 

ten Barackenlagern gesammelt. 

Voraussichtlich wird die interaUiierte Kommission im Laufe des heuti- 

gen Tages den deutschen Truppen, die sich in der Gegend von Rasten- 

burg an der Grenze des Abstimmungsgebietes befinden, die Erlaubnis 

geberiy in das Abstimmungsgebiet einzHmarschieren, da die dort be- 

findlichen Ententetruppen an 2ahl zu gering sind. Der bereits seit 

Wochen in Konigsberg anhaltende Streik, der auch mit Terrorakten 

verbunden ist, steht mit der Nahe der russischen Armee in keinerlei 

Zusammenhang. 

Man konnte hochstens indirekt von einem gewissen psychologischen 

Einflufi sprechen. Bisher herrscht in ganz Ostpreufien vollstandige 

Ruhe. 

Wenn iiberhaupt irgendwo die Gefahr des Ubertritts der polnischen 

oder russischen Truppen besteht, so kommt sie in erster Linie flir das 

Gebiet von Lyck in Betracht, vi^o sich die Russen etwa 80 Kilometer 

vor der Grenze befinden. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. 7. 1920 



EINE UNTERREDUNG MIT GENERAL V. DASSEL 



Konigsberg 
Grodno, das, wie bekannt sein diirfte, wieder von den Polen hesetzt 
worden ist, wurde nach Mitteilungen hier angekommener Reisender, 
die zu sprechen ich Gelegenheit hatte, von den russischen Truppen 
kampflos gerdumt. Es heifit, daf5 die roten Truppen sich auf der ganzen 
Front zuriickzogen. Die Anzeichen des Waffenstillstandes sind deutlich 
bemerkbar. Ich hatte hier Gelegenheit, mit Generalmajor v. Dassel, der 
seit Verkiindigung des Ausnahmezustandes fiir OstpreufSen den Trager 
der hochsten Militargewalt verkorpert, zu sprechen. Er erklarte mir 
folgendes: »In die Angelegenheit der in Konigsberg streikenden Arbei- 
ter mische ich mich nicht. Unsere Krdfte an der Ostfront reichen meiner 
Ansicht nach aus, um etwaige Einfalle fremder Truppen nach Ostpreu- 
fien abzuwehren. Im iibrigen sind die Besatzungsmannschaften der 
Franzosen und Italiener im Abstimmungsgebiet an 2ahl sehr schwach 
und umfassen meiner Kenntnis nach nur zwei bis drei Bataillone.« Uber 
seine Ansicht beziiglich der Stellung der Sowjetarmee befragt, erklarte 
General v. Dassel, dafi seiner Meinung nach die Sowjetarmee nur nach 
Siiden gegen Warschau drangen konne und keinerlei andere Ziele habe. 
Man miisse aber in Betracht ziehen, dafi die Filhrer der roten Truppen 
unter Umstdnden nicht stark genug sein konnten, um ihre eigenen Leute 
vor Einf alien nach Ostpreufien abzuhalten. Damit miisse gegebenen- 
falls gerechnet werden, »Nach soeben hier eingetroffenen Berichten von 
Reisenden«, so fuhr der General fort, »ist jetzt Waffenstillstand abge- 
schlossen worden, und auf der ganzen Linie herrscht bereits Kampfruhe. 
Wie es heifit, treiien franzbsische schwarze Truppen morgan ein. Sie sind 
jedenfalls als Schutz fiir das Abstimmungsgebiet bestimmt. In War- 
schau ist der Rdumungsbefehl wieder zurUckgenommen worden, und es 
herrscht dort Ruhe. Nur von streikenden Arbeitern wurde ein Muni- 
tionslager in die Luft gesprengt. Es ist nicht ausgeschlossen, dajl Sowjet- 
rufiland mit dem Waffenstillstand eine List vorbereitet und den Waffen- 
stillstand plotzlich abbricht. « 

Was die Handhabung des Ausnahmezustandes in Konigsberg anbe- 
trifft, so ist er sehr gelinde. General v. Dassel ist Siiddeutscher und 
verhalt sich gegen die Zivilbevolkerung aufierst freundlich. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 27. 7. 1920 



UNBOTMASSIGKEIT DER RUSSISCHEN 
ARMEELEITUNG? 



Marggrabowa 
Nach soeben hier eingetroffenen Meldungen ist die russische Armee 
nicht geneigt, dem Befehl der Moskauer Regierung, sich vorderhand 
passiv ZH verb alien und im Angriff nicht welter vorzugehen, Folge zu 
leisten. Es macht sich angeblich ein starker Widerstand und eine Kluft 
zwischen Regierung und Armee bemerkbar, welch letztere vielfach 
von zaristisch gesinnten Offizieren befehligt wird. Es lafit sich auch 
entgegen den Nachrichten, die in Konigsberg verbreitet waren und 
vom Eintritt der Waffenruhe an der polnisch-russischen Front zu mel- 
den wufiten, hier feststellen, dafi der Waffenstillstand noch nicht einge- 
treten ist. 

Zum mindesten fanden noch vorgestern Kampfe bei Grodno statt, und 
angeblich sollen vorgestern abend alle Forts von den Russen zuriicker- 
obert worden sein. Geriichtweise heifit es, dafi zwei Forts siidlich von 
Grodno in Brand stiinden. Was die Berichte anbelangt, dafi die Lage 
der Polen auf dem Frontteil siidlich von Grodno arg bedrangt sei, so 
trifft dies nicht ganz zu, denn hier leisten die Polen den starksten 
Widerstand. 



Die ersten polnischen Banden 

Marggrabowa 
Die ersten versprengten Banden der polnischen Armee, die, von den 
Russen verdrangt, sich in Gruppen knapp bis zur ostpreufiischen 
Grenze durchschlagen, sind nordlich von Bakalarzewo gesichtet wor- 
den. 



1920 3^3 

Die Russenfront 40 km von Marggrahowa 

Lyck 

Von Marggrahowa ist die russische Front nur mehr vierzig Kilometer 
entfernt. Ich habe bei Prostken die Grenze iiberschritten. Es herrscht 
iiberall voUkommene Ruhe, Ich konnte mich selbst davon uberzeugen, 
dafi allenthalben in den umliegenden Ortschaften ohne jede Storung 
gearbeitet wird. 

Franzosische Offiziere in der polnischen Armee 

Lyck 
Laut Nachrichten von Grenzbewohnern soil sich in der polnischen 
Armee nicht nur franzosische Artillerie befinden, sondern auch fran- 
zosische Offiziere, die hohere Kommandostellen innehaben. Ihre Zahl 
soil recht betrachdich sein. 

Neue Berliner Zeitung — 12-Uhr-Blatt, 28. 7. 1920 



JAGD AUF DIE FLIEHENDEN POLEN 



Lyck 
Die Russen veranstalten gegenwartig in der Gegend von Lomza eine 
Jagd auf die fliehenden Polen. Fine Beruhrung mil der Grenze wird 
vorldufig vermieden. Die Leitung der polnischen Armee ist ausgespro- 
chen schlecht. Die Offiziere entstammen zum Teil dem ehemaligen 
alten osterreichischen Landsturm. Ich konnte feststellen, dafi polni- 
sche Truppen, die sich mitten im Riickzuge befanden, vollig hetrunken 
waren. Mehrfach bemerkte ich, dafi die Russen gelegentlich keine Ge- 
fangenen machen und kleine Trupps laufenlassen. Die StrafSen sind 
jetzt iiberfiillt von Trainziigen und aufgelosten Kolonnen, die einen 
trostlosen Eindruck machen. Merkwiirdigerweise trifft man fast auf 
keine Verwundeten. Die Flucht scheint also ziemlich kampflos erfolgt 
zu sein. Die Russen danken ihren Sieg ihrer fraglos ausgezeichneten 
Kavallerie. Ihre Artillerie ist von geringerer Bedeutung. Wie ich horte, 



304 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

erfolgte der russische Einzug in Suwalki mit einer Reiterpatrouillej die 
aus einem Offizier und drei Mann bestand. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 30. 7. 1920 



DIE POLNISCHE NORDARMEE VERNICHTET 

Umfassung und Frontdurchbruch ~ Panikartige Flucht der 
Polen - Einnahme wichtiger One durch die Russen 



ZWISCHEN DEN ARMEEN 

Ein Angenzeugenbericht ~ Bei den roten Truppen 

In der Nacht Uber die deutsche Grenze 

Lyck 
Die Umfassung und Vernichtung der polnischen Nordarmee ist vollzo- 
gene Tatsache. Die Russen haben die Festungen Ossowietz, Suwalki 
und Lomza erobert. Sie haben die unmittelhar an der ostpreuflischen 
Grenze gelegenen Orte Grajewo und Szutschin^ die sich ndchst Biala 
befinden, genommen. Auch Augustowo ist von den Bolschewisten be- 
setzt. Schon vorgestern wurde bekannt, dafi die Sowjetarmee mit gro- 
fier Geschwindigkeit sich der Grenze nahere. Diese Angaben stiitzen 
sich nicht auf Geriichte, sondern auf Mitteilungen, die ich selbst un- 
mittelhar von polnischen Truppen erhalten habe. In der Nacht von 
Mittwoch zu Donnerstag war ich aufgebrochen, um die Grenze zu 
iiberschreiten und den Versuch zu unternehmen, moglichst weit ins 
Polnische vorzudringen und irgendwie die Kampffront zu erreichen. 
Eine solche Kampffront existiert indessen nicht mehr. Alles ist in Auf- 
losung begriffen. Man hatte mich gewarnt, ein Uberschreiten der 
Grenze wiirde nicht geUngen, da sie von polnischer Feldgendarmerie 
bewacht sei, die niemanden durchlasse. Ein Fuhrwerk brachte mich 



1920 }0j 

zur deutschen Gemarkung. Der weitere Weg soUte zu Fufi zuriickge- 
legt werden. Es war dies schon deshalb notwendig, well, wie man mir 
mitgeteilt hatte, zweifellos ein Wagen, ein Auto oder ein Pferd von 
Polen oder Russen ohne weiteres requiriert, mit anderen Worten: mir 
fortgenommen worden ware. Gegen vier Uhr friih war die Grenze 
erreicht. Die deutschen Posten, denen gegeniiber ich mich auswies, 
liefien mich passieren. Sie hatten ja auch keine Ursache, mich zuriick- 
zuhalten. Im DammerHcht des grauenden Morgens lag die Landstraf^e 
da. Weit und breit kein polnischer Posten zu sehen. Einsamkeit und 
Stille ringsum. Offenbar waren die polnischen Feldgendarmen bereits 
geflohen. Hierzu hatten sie auch alien Anlafi, denn dasganze Grenzge- 
biet von Suwalkiy GrajewOy Szutschin hinunter nach Kolno wird bereits 
von den Russen beherrscht und von ihren Patrouillen abgesucht. Die 
russischen Truppen befinden sich unmittelbar an der deutschen Grenze. 
Das dumpfe Grollen ferner Geschiitze war zu vernehmen, die in regel- 
maEiger Wiederkehr ihre Arbeit verrichteten, was, wie ich spater er- 
fuhr, einem Nachhutgefecht gait, in das fliehende Polen mit verfolgen- 
den Russen verwickelt waren. Ich schritt auf der StrafSe von Prostken 
in der Richtung nach Grajewo vorwarts. 



Begegnung mit fliehenden polnischen Truppen 

Bald konnte ich mit eigenen Augen gewahren, welchen Umfang diese 
Flucht, die allgemein war, angenommen hatte, denn schon gegen 
5 Vi Uhr morgens stief^ ich auf versprengte polnischen Truppenteile, 
die in namenloser Unordnung, voUig aufgelost, ohne irgendwie Ver- 
bande einzuhalten, fliichteten. Man kann sich von dem Grade der herr- 
schenden Verwirrung keinen Begriff machen: Die polnischen Solda- 
ten, die an mir vorbeizogen, waren aufs au^erste erschopft, sie hatten 
Tornister, Gewehre und alle Ausriistungsgegenstande einfach fortge- 
worfen und eilten mit dem Aufgebot der letzten Krafte, von wilder 
Panik gepackt, weiter, ohne Ziel, ohne Befehle, ohne Fiihrung. Mann- 
schaften und Offiziere durcheinander. Die letzteren, die jede Autoritat 
verloren zu haben schienen und nicht einmal den Versuch unternah- 
men, die Disziplin herzustellen, wuf^ten iiberhaupt nicht, wo sie sich 
befanden. Karten besalSen sie keine. Ein polnischer Hauptmann zu 
Pferd, der mich am Stral^enrand stehen sieht, reitet auf mich zu 



306 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

und fragt hoflich: »Konnen Sie mir vielleicht Auskunft geben, wo wir 
uns befinden?« Als ich, unwillkiirlich lachelnd, ihm antworte, macht er 
eine verzweifelte Handbewegung: »Wenn Sie wiifiten, wenn Sie wiifi- 
ten . . . es ist furchtbar, grauenvoll!« - Der Trupp zieht weiter. »Wo sind 
die Russen?« rufe ich noch nach, Einige wenden sich um und weisen auf 
die Landstrafie, die hinter ihnen liegt. Dann humpeln sie weiter, so 
schnell sie konnen. 



Auf der Finch tstrajie 

Es ist sieben Uhr, Ein strahlender, wolkenloser Sommermorgen. Kiih- 
ler Tau auf den Grasern, ein leichter, zarter Nebel liegt liber den Fel- 
dern, in den Baumen am Grabenrand zwitschern die Vogel, wundervol- 
ler Friede breitet sich auf die Landschaft. Aber der Weg tragt die Spuren 
der fliehenden Polen: da ein zerbrochenes Gewehr, dort ein Paar noch 
fast neuer Stiefel, eine stehengeiassene Feldkiiche, ein zertriimmerter 
Leiterwagen, ein verendetes Pferd, Uniformfetzen, Riemenzeug, eine 
Feldflasche, abgerissene Telegraphendrahte . . . Nach einer weiteren 
Stunde begegne ich einem zweiten, kleineren FliichtUngstrupp. Die 
Leute sind sichtUch voUig verstort, todmiide, blaC, iibernachtigt, 
schmutzig, zerfetzt. Sie kommen, wie sie mir bekunden, aus der Gegend 
von Suwalki, das den Russen liberlassen werden mufite. 



Die ersten Russen 

Um neun Uhr ertont von feme her Pferdegetrappel. Eine leichte Staub- 
wolke wird sichtbar, und wenige Minuten spdter sehe ich mich einer 
Kavalleriepatrouille gegeniiber. Es sind Russen, die Vorhutspitze der 
roten Truppen. Ein Oberleutnant fiihrt sie, er ist von zehn Mann beglei- 
tet. AUe sind in tadelloser Ausriistung und tragen die alten russischen 
Uniformen, auch die gleichen Rangabzeichen. 



1920 3^7 

Ein Verhor 

Man halt mich an. Der Offizier fragt hoflich, aber bestimmt: »Wer 

sind Sie?« 

Ich legitimiere mich. Er priift sorgfaltig meine Papiere, gibt sie zuriick 

und fragt: »Woher kommen Sie?« 

»Von Lyck.« 

»Also aus Deutschland. Was suchen Sie hier?« 

Ich bemiihe mich, ihm den Zweck meiner Anwesenheit zu erklaren, er 

ist zuerst aufierst mifitrauisch und zeigt nicht iibel Lust, mich festneh- 

men zu lassen. Dann fragt er: »Haben Sie polnische Truppen gese- 

hen?« 

»Ja, einige versprengte FliichtHnge. Zwei kleine, regellose Abteilun- 

gen.« 

»Mehr nicht ?« 

»Nein, mehr nicht !« 



Was der russische Offizier erzdhlte 

Das Verhor ist beendet. Es scheint befriedigend ausgefallen zu sein, 
der Offizier wird Hebenswiirdiger und berichtet ungezwungen von 
den letzten Kampfereignissen: »Wir haben gro£e Erfolge gehabt. So- 
eben wurde von uns Suwalki besetzt. Dort sind jetzt Litauer und 
Russen. Ehe die Polen abzogen, haben sie noch gepliindert und ein 
Pogrom veranstahet. Ebenso auch in Lomza, das wir gleichfalls einge- 
nommen haben. Wissen Sie iibrigens, dafi auch Ossowietz von uns be- 
setzt ist, desgleichen Grajewo?« 
»Werden Sie die deutsche Grenze uberschreiten?« 
Er schiittelt den Kopf : »Wir haben keine diesbezuglichen Befehle. Ich 
glaube, das kommt auch gar nicht in Frage. In Deutschland haben wir 
nichts zu $uchen!« 

» Wissen Sie etwas vom bevorstehenden Waffenstillstand?« 
Er ist erstaunt: »Davon ist mir noch nichts hekannt! Aber mogHch 
ware es schon. Die Polen sind fertig. Hier gibt es keine Kampffront 
mehr, sie ist durchbrochen. Die Polen befinden sich in volister Auflo- 
sung. Sie haben ein Debakel erlitten.« 
Hinzuzufiigen ist noch, daE ich aus meinem Gesprach mit dem russi- 



308 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schen Oberleutnant den Eindruck gewann, dafi er uberzeugter Sozia- 
list ist. Ausgesprochen kommunistischen Ansichten scheint er nicht zu 
huldigen. Er hegt Achtung vor dem Deutschtum, hofft auf einen Sieg 
der Sowjetarmee und erwartet, dafi in ganz Europa der Sozialismus 
seinen erfolgreichen Einzug halten werde. 

Der russische Offizier macht den Eindruck eines gebildeten Mannes, 
er spricht Russisch, Polnisch, Franzosisch und recht gut Deutsch. Wie 
er mir noch mitteilt, hat er in der Zarenarmee als Leutnant gedient und 
den ganzen Krieg mitgemacht. Er warnt mich weiterzugehen: »Sie 
wiirden auf grofiere Truppenverbande unserer Leute stofien und . . . 
na . . . man kann fiir nichts garantieren. Sie konnten festgenommen 
werden. Kehren Sie lieber um.« 



Finch t der interalliierten Kommissionf 

Die Patrouille reitet weiter und ist bald aus dem Gesichtsfeld ver- 
schwunden. Ich trat, dem Rat folgend, den Ruckzug an. Spatabends 
traf ich, ohne Zwischenfall, wieder in Lyck ein. Dort herrscht grofle 
Erregung. Man hat erfahren, dafi die von der Entente geplante Muni- 
tions- und Truppenzufuhr zu Wasser nur als ein Trick anzusehen sei. 
Die Entente nimmt den Standpunkt ein, dafi das Ahstimmungsgebiet 
nicht zu Deutschland gehore, also nicht an die deutsche Neutralitdtser- 
kldrung gebunden sei, und man hefUrchtet dringend, dafi die Entente 
es als Operationsbasis fiir Unternehmungen gegen die Russen benutzen 
wolle. Die Ententekommission fahrt iibrigens, wie ich hore, am heuti- 
gen Freitag von der Grenze ab. Wahrscheinlich auf Grund der sie be- 
angstigenden Nachrichten iiber den Vormarsch der russischen Trup- 
pen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 30. 7. 1920 



IN DEN WALDERN VON AUGUSTOWO 

Die Reste derpolnischen Nordarmee - In Suwalki - 
Unheimliche Wdlder- Bandenkrieg 

Lyck 
Ich kehre soeben von einem Ausflug in das Innere des Kampfgebietes 
Suwalki - Augustowo zuriick. Ich mufite einen Weg suchen, auf dem 
ein Zusammentreffen mit polnischen Truppen bzw. Sicherheitswehren 
weniger in Betracht kam. Der Druck der russischen Armee von Nor- 
den gegen die Uberreste der polnischen Wehrmacht, die sich noch im 
Kampfgebiet Ossowietz befinden, wo iibrigens auch ein Gruppenkom- 
mando eingerichtet ist, bewirkt es, dafi nbrdlich von Ossowietz nur 
noch zerspHtterte Teile der polnischen Armee, einzelne Kompanien, 
seltener Regimenter, Stellungen, Wage, Briicken besetzt halten. Ent- 
lang der ostpreufiischen Grenze von der Romintenschen Heide unge- 
fahr bis siidlich um Marggrabowa sind polnische Grenzposten sehr 
selten. Von Marggrabowa bis Raczki in Polen begegnet man nur deut- 
schen Grenzposten, fiir die ein Ausreisevisum von einer der interalh- 
ierten Kommission in Ostpreuf^en geniigt. In Raczki bekam ich einen 
Wagen von einem polnischen Juden. Es war gegen 8 Uhr moi^ens. Er 
erklarte, nur bis zum Einbruch der Dunkelheit fahren zu wollen. Dann 
sei es in den Waldern zu gefahrlich. Von Raczki fuhrt eine Chaussee 
geradewegs nach Suwalki. Zu beiden Seiten wellt sich das Land. Auf 
der Chaussee bleibt man haufig stecken. Man kennt in Polen keine 
Fahrtrichtung. Trainziige, verhaltnismaf^ig gering an Umfang, stehen 
bald rechts, bald links, Man tut am besten, in der Mitte zu fahren. Man 
fragt nicht; wenn man fragt, wird man verhaftet wegen Spionagever- 
dachts und womoglich drei Tage festgehalten. Manchmal erschossen. 
Wie man's trifft. Die meisten hier befindlichen Regimenter stammen 
aus der so rasch zusammengeschmolzenen Freiwilligenarmee, die zu 
Beginn des Feldzuges gegen die Bolschewisten rasch auf 300 000 gestie- 
gen war und jetzt nur noch kaum 60000 Mann zahlt. Es sind die Regi- 
menter 6, 9 und 21, soviel ich aus den Nummern auf Achselstiicken, 
Kappen usw. ersehen konnte. Lauter junge Menschen im Alter von 
ungefahr neunzehn bis fiinfunddreifiig Jahren. 
Die polnische Front, die friaher die Verteidigungslinie Grodno-Nje- 



310 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

men-Orginskikanal-Styr-Sbrudz innegehabt hatte, hat sich Jetzt um 
die Halfte verkiirzt. Die russische Nordarmee ist im ganzen zwei In- 
fanterie- und zwei Kavalleriedivisionen stark. Eine russische Infante- 
riedivision hat ungefahr 6000 Mann, eine Kavalleriedivision ungefahr 
die Halfte. Die russischen Truppen, die also in der Nahe Ostpreufiens 
stehen, sind im ganzen 8 000 Mann - hoch gerechnet - stark. Dafi die 
Polen vor dieser kleinen Armee zuriickweichen miissen, trotz der AUi- 
iertenhilfe - franzosische Artillerie mit Offizieren und Bedienungs- 
mannschaft kampft mit-, beweist die innere Schwache des polnischen 
Staates. 

Die Chaussee, auf der ich fahre, ist heifi, trocken und staubig. Es liegen 
sehr wenig Ansiedlungen am Weg. Hier und dort ein paar Baume, 
Ringsum noch Spuren vergangener Weltkriegskampfe, aufgeworfene 
Erde, Schiitzengrabennarben.Charakteristisch ist, dafi in dem gegen- 
wartigen russisch-polnischen Krieg, der ja in der Hauptsache Bewe- 
gungskrieg ist, von polnischer Seite sehr wenige Befestigungen ausge- 
fiihrt wurden - wenigstens auf der Strecke, die ich sah. 
In Suwalki, einem Nest von ungefahr 3 000 Einwohnern, war ein pol- 
nisches Regimentskommando, ein Artilleriepark, ein Trainpark. AUes 
in »geschlossenen Lagern«. Suwalki war, wie ich von einem polnischen 
Unteroffizier erfahren konnte, zweimal von Bolschewikenbanden - 
nicht regularen Truppen - voriibergehend besetzt. Aus Suwalki und 
iibrigens auch aus Augustowo sind bezeichnenderweise samtliche Be- 
amte schon ungefahr drei Wochen weiter nach dem Siiden abgeschickt 
worden, ohne da{5 die Stellen von Militarbeamten besetzt worden wa- 
ren. Die Folge dieser Hals-iiber-Kopf-Taktik ist, dafi auf dem ganzen 
Landstrich von der Grenze bis zur Kampffront und im Siiden bis un- 
gefahr Bialystok kein Telegraph und Telephon verkehrt und die wich- 
tigsten Verbindungsmittel fiir die Armee fehlen. 
Da der Mann, mit dem ich nach Suwalki gekommen war, durchaus 
umkehren wollte, mufSte ich nach einer neuen Fahrgelegenheit suchen, 
Es gelang mir, einen langst requirierten Bauernwagen, der seinem Be- 
sitzer fiir Geld und gute Worte doch noch iiberlassen worden war, in 
Okuniewiec bei Suwalki zu bekommen. 

Die Walder von Suwalki und Augustowo sind wirklich unheimlich. 
Die Chaussee lauft in der Mitte, schneidet also den dichten Laubwald, 
der nur von Zeit zu Zeit durch einzelne kleine Tannengruppen unter- 
brochen wird, durch. Es fangt an zu regnen. Es ist merkwiirdig still. 



1920 yl 

Irgendwo in der Feme wiehert ein Pferd. Ein halbzerbrochenes Wa- 
gelchen koUert iiber den Weg. Verschwindet hinter der Biegung eines 
Karrenweges, der, quer iiber die Chaussee laufend, sich im Wald ver- 
liert. Sonst nichts. Zweimal horte ich im ganzen Gewehrschiisse knal- 
len, Einmal knatterte irgendwo ein Maschinengewehr auf, verstummte 
plotzlich. Es war nur eine Ubung. Von der Richtung Grodno her war 
nichts zu vernehmen. 

Die Polen haben die Straflinge, die im suwalkischcn Gefangnis geses- 
sen waren, nach Au gusto wo oder siidlich weiter iiberflihren woUen, 
Bei dieser Gelegenheit entkam ein Trupp der Haftlinge. Sie treiben 
sich jetzt bewaffnet in dieser Gegend herum. Bis an die ostpreufiische 
Grenze haben sie sich nicht gewagt. Aber die Patrouille, auf die ich 
hier, richtiger: die hier auf mich stiefi, scheint aus ehemaHgen Haftlin- 
gen bestanden zu haben. Der Fiihrer, in einem etwas seltsamen Auf- 
zug, gab sich fiir einen - Bolschewiken aus. Allerdings, es kann auch 
ein versprengter Bolschewik gewesen sein. Bolschewistische, polni- 
sche, htauische Banden - es kommt hier alles durcheinander. Zumeist 
abgesprengte Heeresteile, haufig aber auch Deserteure, die sich ohne 
Unterschied der Armeezugehorigkeit zu reinen Raubzwecken zusam- 
menschhefien. 

Der Zusammenstof^ mit diesen wirklichen oder angeblichen Bolsche- 
wisten verUef glimpfUch. Es kostete ein paar Zigaretten, eine Zigarre 
fiir den Fiihrer, die er sorgfaltig in ein Stiick Papier hiillte und in die 
Rocktasche steckte. Er erzahlte, er sei von der dritten »Sotnie«, Kaval- 
lerie 5 , und seit acht Jahren Soldat. Dabei wufSte er seine Division nicht 
anzugeben, konnte nicht lesen und stammte aus der Pripjedgegend. Er 
war dummschlau von Angesicht, trug einen Brotsack um die rechte 
Hiifte, Karabiner um den Riicken geschnallt und eine »Menaschka«, 
langliche russische Menagenschale, im Giirtel. Zum Abschied klopfte 
er mir auf die Schulter. Wohlwollend, herablassend. 
In Szczepki, einem Dorf, das aus Triimmern, einer Hiitte und einer 
kleinen provisorischen Schenke besteht. Vor dem »Gasthof« stand - 
ein Auto. Tadelloses, privates Auto. Und drin, in der Schenke, safS der 
Autogast. Mein Kollege aus BeHin, von dem ich mich vorgestern in 
Lyck getrennt hatte. 

AUgemein laiSt sich folgendes zusammenfassend sagen: Dieser Krieg 
ist in der Hauptsache ein Bandenkrieg. Und zwar werden die Banden- 
bildungen von beiden Parteien absichtUch vorgenommen. Diese 



312 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Kampfmethode liegt einerseits der an Zahl und technisch-militari- 
schem Konnen ziemHch schwachen Sowjetarmee besser, andererseks 
aber pafit er auch den Polen, die begreiflicherweise einen Riickzug 
leichter bewerkstelligen, wenn sie in aufgelosten Banden und Gruppen 
fliichten. AUerdings erschwert das bei den letzteren eine Zusammen- 
fassung des geschlagenen Heeres oder macht eine solche iiberhaupt 
unmoglich. Es ist auch unmoglich, daC die an die Ostgrenze Preufiens 
gedriickten polnischen Armeeteile sich je erholen. Dieses erhellt ja 
auch aus folgendem: Von Augustowo nach Grajewo fiihrt nur eine 
eingleisige Bahn, und diese ist jetzt, nach Aussagen polnischer Unter- 
offiziere, zerstort bzw. funktioniert nicht. Von Grajewo liber Osso- 
wietz nach Bialystok verkehrt die Bahn. Aber die Verbindung zwi- 
schen Bialystok und Warschau ist an mehreren Stellen unterbrochen. 
Nur eine Chaussee verbindet die an der ostpreufiischen Grenze kam- 
pfenden Polen mit Warschau. Nur der Waffenstillstand kann die Trup- 
pen vor voUigem Verderben retten. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 31. 7. 1920 



ROTE KOSAKEN AN DER GRENZE 

Die russische Kavallerie - Ein junger General - Schwacher deutscher 
Grenzschutz - Die Entente in Allenstein 

Allenstein 
Bolschewistische Kavallerie, die gestern noch in Lonza gewesen ist, 
wurde zuriickgeschlagen. In Grajewo sind grofiere bolschewistische 
Truppenmengen einmarschiert. An der Grenze bei Prostken befindet 
sich eine Schwadron bolschewistischer Kavallerie. Ich habe sie selbst 
gesehen und konnte mich davon iiberzeugen, daE sie gut ausgeriistet 
ist. Im Munitionsgiirtel tragt jeder Mann 260 Patronen. Der Fiihrer, 
Reserveoffizier, von Beruf Student, versicherte mir, da£ er nicht daran 
denke, deutsches Grenzgebiet zu verletzen. Die bolschewistische Ka- 
vallerie, die sehr gut ist, hat die kleinen Pferde, die im Krieg iiblich 
waren. Die Mannschaft besteht zum Teil aus Donkosaken, die teils in 
alter Montur, teils in moderner feldgrauer Uniform stecken. Es 



1920 313 

herrscht militdrische Disziplin, Salutieren usw, nach altem Stil, Die 
Russen bezahlen alles Requirierte mit Sowjetnoten und behandeln die 
Grenzbevolkerung gut. Polnische Militarfliichtlinge, die bisher in 
Preufien waren, kehren in grof^en Mengen zuriick. Dagegen fliichten 
die reichen Polen aus Suwalki und Augustowo. In mehreren Stadten 
haben die eingeriickten Sowjettruppen Plakate und Ankiindigungen an 
die Bevolkerung veroffentlicht, um sie zu beruhigen. Unter den Kom- 
mandanten der russischen Armee ist General Suchaczewski besondcrs 
heliebt, ein vierundzwanzigjahriger junger Mann, der ehemals zarisd- 
scher Oberleutnant, jetzt Sozialist aus Uberzeugung ist. Die ganze 
Grenze entlang ist russische Kavallerie sichtbar, doch sind nirgends 
Grenzverletzungen vorgekommen. Die Truppen versichern der Bevol- 
kerung immer wieder, dafi sie die Grenze respektieren wiirden. Der 
polnische Riickzug ist noch im Gange. Die letzten Regentage haben 
die Rote Armee in der Verfolgung etwas aufgehalten. Von einem Waf- 
fenstillstand wissen die Truppen nichts. Die Verpflegung scheint nicht 
besonders gut zu sein, die Soldaten sind hungrig. Die polnische Po- 
stenkette an der ostpreuf^ischen Grenze wurde auf die Hohe von 
Friedrichshof zuruckgezogen. (Friedrichshof liegt im Kreise Ortels- 
burg.) Unser Grenzschutz braucht dringend Verstdrkung. An manchen 
Teilen der Grenze sind keine 400 Mann anwesend, wahrend driiben 
Tausende fliichtender, bewaffneter Polen sind. Die deutsche Bevolke- 
rung erwartet daher dringend den Einmarsch der Reichswehr, von 
dem man sich wenigstens eine moralisch beruhigende Wirkung ver- 
spricht. 

In Allenstein befindet sich ein Heerlager zuriickgezogener Entente- 
truppen. Die Interalliierten sind sichtlich ziemlich ratios, weil ihnen 
der rasche bolschewistische VorstoE ganz gegen den Strich geht. Die 
InteraUiierten waren bereit, die Grenze nicht zu verlassen, wurden 
aber von den Ereignissen uberrascht und muEten aus Furcht vor einem 
Zusammenstofi mit Sowjettruppen sich bis Allenstein zuriickziehen. 
Jetzt ist offenbar zwischen der interalliierten Kommission in Allen- 
stein und der Entente die Verbindung unterbrochen, denn die Allen- 
steiner Kommissionen warten auf Befehle, die indessen nicht kommen. 
In Westpreujien ist zum ersten Male ein Zug polnischer Fliichtlinge, 
unter denen sich meist Beamtenfamilien befinden, eingetroffen und 
wird interniert werden. Die armere polnische Bevolkerung sieht dem 
Einmarsch der Sowjettruppen entgegen und flieht nicht. 



314 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In Ostpreufien beginnen sich Werbungen fur die Rote Armee allmah- 
lich fiihlbar zu machen. Als Bedingung fiir die Aufnahme in die Rote 
Armee gilt die Zugehbrigkeit zu einer der beiden sozialistischen Par- 
teien seit der Revolution. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2. 8. 1920 



EIN TAG BEI DEN BOLSCHEWIKEN 

Besuch in Suwalki - Sowjet-Verwaltung - Die Propaganda 

Marggrabowa 
Soeben kehre ich aus Suwalki zuriick, einer der kleinen Grenzstadte, 
die sich in russischen Handen befinden. Der Ort beherbergt die typi- 
sche polnisch-jiidische Einwohnerschaft des Ostens. Seit Sonnabend 
ist litauische Infanterie in Starke von ungefdhr einer Kompanie einge- 
zogen. Die Uniformen der Litauer sind aus Khakistoff oder aus durch- 
aus modernem Feldgrau; man sieht sie allenthalben in Suwalki, kleine, 
untersetzte Gestalten. Sie werden von einem Hauptmann befehligt. 
Aber als Zivilbeamte fungieren zwei Sowjetkommissare mil Vollmach- 
ten der Moskauer Regierung. Es ist iiberraschend, wie schnell und 
prompt die russische Verwaltungsorganisation arbeitet. In der Verwal- 
tung selbst ist vorderhand nichts gedndert worden. Die offentliche 
Ordnung versieht die Stadtpolizei, d.h. polnische Beamte. Bahn und 
Post sind geblieben. Die Bevolkerung verhalt sich ruhig und scheint 
offenbar mit der Lage der Dinge durchaus zufrieden zu sein. Bauern 
aus der Umgebung hielten eine Versammlung ab, in der erklart wurde, 
dafi sie mit dem Sowjetsystem einverstanden seien, was wohl schon als 
eine Folge der russischen Propaganda anzusehen ist. Die Sowjetkom- 
missare haben Flugschriften und Broschuren verteilt sowie Plakate an- 
schlagen lassen, in denen gesagt wird, dafi die Juden im Handel nicht 
beeintrachtigt wiirden und iiberhaupt nichts geandert werde. Als Zah- 
lungsmittel beniitzt man Sowjetrubel, daneben steht auch die deutsche 
Mark hoch im Ansehen. Es wurde nichts requiriert. Zahlreiche Leute, 
die geflohen waren, um der Einreihung in die polnische Armee zu ent- 
gehen, kehren heim, und es heifit, dafi viele von ihnen sich zur russi- 
schen Armee melden. Zwischen Litauern und Russen besteht ein 



1920 3^5 

durchaus freundschaftliches Verhaltnis. Beide Armeen verkehren ka- 
meradschaftlich miteinander. Politlsch ist wohl ein Widerstreit vor- 
handen, der sich aber militarisch nicht bemerkbar macht. Die Aufgabe 
der Litauer ist sichtlich, die Vorhut der russischen Armee zu sein. Bei 
Neueroberungen besetzen die Litauer die One, zu Kampfen selbst 
aber werden sie wohl weniger oder gar nicht verwendet, wohl deshalb, 
weil sie den Russen als unverlafilich gelten. Das Leben in Suwalki ist 
nach jeder Richtung hin frei, und die Bevolkerung fiihlt sich nach dem 
Abzug der Polen sichtUch erlost. Die einzige Einschrankung, die be- 
steht, ist die um 9Uhr abends beginnende Polizeistunde. Die einzigen 
Delikte, die mit schweren Strafen, und zwar mit dem Tode, bedroht 
sind, sind der Verkauf und Genufi von Schnaps und Pllinderung. 
Die Sowjetkommissare sind nicht zuganglich; sie lassen sich nicht 
sprechen. Ich horte nur, dafi einer von ihnen Schriftsteller sei. Vom 
Waffenstillstand ahnen die Litauer etwas, haben jedoch keine Gewifi- 
heit und glauben auch nicht an ihn. Die Stimmung ist jedenfalls ausge- 
zeichnet, nur herrscht Mangel an Rauchtabak, und als ich hundert Zi- 
garetten verteilte, rief das nicht geringes Aufsehen hervon Nun, es ist 
nicht schwer, Aufsehen in Suwalki zu erregen! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 3.8. 1920 



DIE ROTE ARMEE 

Genosse Regimentsarzt 

Vor drei Tagen sah ich in Augustowo, wie ein einfacher russischer 
Soldat einen schlafenden Regimentsarzt weckte. Der Muschik schrie 
nicht etwa: Euer Gnaden, Infanterist Iwan Iwanowitsch Kolohin bittet 
Sie gehorsamst, aufstehen zu woUen, sondern »Stawajtowarysz!<(, was 
zu deutsch heifit: Steh auf, Genosse! 

Und - konnt Ihr's glauben? - der Regimentsarzt stand wirklich auf. 
Man kann die Rote Armee verstehen, wenn man die Phantasie auf- 
bringt, sich einen Offizier vorzustellen, der nicht weiterschlaft, wenn 
ihm ein Infanterist: Steh auf! sagt. Aber das ist noch immer nicht das 
Entscheidende. Sondern die Tatsache, dafi der also geweckte Offizier 
auch welter Offizier hleiht. Denn ich sah, wie der Regimentsarzt sich 



3l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

denSchlaf aus den Augen rieb und demMuschik befahl »Pajdjom!«-und 
wie dann der Regimentsarzt voranging, der Muschik ihm folgte, hinter 
ihm »in Haltung«. Nicht ausgerechnet drei Schritte Distanz, sondern 
vielleicht nur anderthalb. Denn es war ein Soldat der Roten Armee. 
Offiziere und Soldaten speisen in einer gemeinsamen Messe. Aber die 
militarische Form ist da. Die Rote Armee ist nicht gedrillt, aber diszipli- 
niert. Sie wird gewifi nicht schikaniert, aber ausgebildet. Die Russen 
werfen nicht mit Pflastersteinen, sondern schiefien. Ihre Karabiner sind 
von neunziger Konstruktion. Einige osterreichische Mannlicher-Ge- 
wehre Modell 95 sah ich auch. 



Die Gliederung der Sow jet- Armee 

Die Sowjettruppen sind in Divisionen, Brigaden, Regimenter, Kompa- 
nien und Sotnien geteilt, und nicht in Rauberbanden. Ihr Dienstregle- 
ment ist wahrscheinlich ein bifichen zusammengestrichen, aber es ist da. 
Die Russen marschieren, und wahrscheinlich konnen sie sogar Parade 
marschieren, kurz, die Rote Armee ist keine Freibeuterschar, sondern 
eine Armee, Eine antimilitaristische Armee ! O Witz der Weltgeschichte ! 
Kreuzritter des zwanzigsten Jahrhunderts, Kreuzritter des SoziaUsmus. 



Die Reitertruppen des Generals Budjonnin 

Dabei war es nicht die eigentliche regulare Sowjetarmee, die ich an der 
ostpreufiischen Front zu Gesicht bekommen konnte, sondern die Frei- 
willigen; zumeist Kavallerie. Die beriihmt gewordenen Reitertruppen 
des bolschewistischen Generals Budjonnin. Dieser war in der zaristi- 
schen Armee hoherer Unteroffizier, so etwas wie Offizierstellvertreter 
gewesen. Aktiv, und hatte es innerhalb eines Jahres bis zum General 
gebracht. Er ist einer der verlafiUchsten Kommandanten derSowjetregie- 
rung und bei alien Kavallerietruppen beliebt. Verlafilicher jedenfalls und 
beliebter als Brussilow, der nicht, wie Nachrichten in letzter Zeit zu 
erzahlen wufiten, ein Kommando an der Nordfront fiihrt, sondern nnter 
scharferKontrolle von Sowjetkommissaren in Moskau sitzt und nur Plane 
fur den Generalstab ausarbeitet. 
Was den General Budjonnin betrifft, so erzahlte mir mein Gewahrs- 



1920 3^7 

mann, Unteroffizier der russischen Armee, Student von Beruf, daC der 
General Soldat mit Leib und Seele und iiberzeugter Bolschewik sei. Es 
sei schwer anzunehmen, sagte der Student, dafi ein ehemallger aktiver 
Wachtmeister der zaristischen Armee Sozialist aus Uberzeugung ware. 
»Bolschewik« mag er immerhin sein. Aber es ist sehr wahrscheinlich, 
dafi Budjonnin (er heifit ubrigens nicht Budinnyn, wie sonst geschrie- 
ben wird) trotz seiner strategischen Selbstandigkeit, psychisch Subal- 
terner von Geburt, einem System, das ihn in die fiir seine militarische 
Begriffswelt unerreichbar scheinende Generalsregion gehoben hat, aus 
Dankbarkeit ergeben ist. 



Die Ausrustung der Freiwilligen-Truppen 

Von vielen Seiten hort man, die Bolschewiken, die sich in der Nahe 
OstpreujSens zeigen, waren schlecht ausgeriistet. Das stimmt nicht. Es 
ist Tauschung. Die Bekleidung der Truppen namHch, die jetzt Polen 
besetzen, ist nur nicht einheitlich. Es sind, wie gesagt, Freiwilligenregi- 
menter. Sie kampfen in denseiben Uniformen, in denen sie eingeriickt 
sind. Ich sah nur wenige Kavalleriepatrouillen in einheitlicher Uni- 
form. Zumeist ist die EinheitUchkeit der Uniformierung vom Offizier 
abhangig. Es gibt Offiziere, die sich aus einem miHtarischen Stilgefiihl 
heraus fiir die Uniformierung ihrer Truppen besonders interessieren. 
Das sind zumeist sehr bezeichnenderweise deutsche Offiziere und Un- 
teroffiziere. Man macht sich hier und auch in Ostpreufien kaum eine 
Vorstellung davon, wieviel Deutsche in der russischen Armee sind. Die 
anderen Unterkommandanten haben weder Sinn dafiir noch Zeit dazu. 
Ich sah Soldaten in alten sackbraunen Kazapenmanteln, in Pelzmiit- 
zen, in einfachen Kappen, dunkelblauen und weifien, und einige sogar 
ohne Kopfbedeckung in schwarzen, russischen Blusenhemden. Die 
Distinktion der Offiziere ist, wenigstens bei der Kavallerie, meist ir- 
gendwo an der Bluse eine Schleife, in vielen Fallen sind Offiziere von 
der Mannschaft iiberhaupt nicht zu unterscheiden. 



3l8 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Die moralische Verfassung der Sowjet-Armee 

Von einem demoralisierten Zustand der russischen Armee kann iiber- 
haupt nicht gesprochen werden. Die Zeit ist endgiiltig vorbei, da der 
Russe seine Stiefel verkaufte und barfuft lief. Es ist uberhaHpt unmog- 
lichy einem russischen Soldaten etwas abzukaufeuy denn er hat Geld 
genug, und Schnaps darf er beileibe nicht mehr trinken, als ihm zuge- 
teilt wird. Essen kann er kaufen, und das tut er auch. Denn die Ver- 
pflegung klappt nicht ganz bei den Feiwilligenverbanden. 
Jedenfalls macht der russische Soldat keine Geschafte mehr. Ebenso- 
wenig, w\t er raucht oder pliindert. Man traut seinen Augen nicht: Bin 
polnischer Jude redet auf einen Kosaken ein. Der Jude mochte gern 
einen Ledergurt kaufen, und der Kosak - weder verkauft er, noch zieht 
er eine Nagaika - sondern er lachelt, lachelt: Njet, batjuszka, njet . . . 
Der Antisemitismus ist offiziell nicht vorhanden. Antisemitische Aus- 
lassungen, Diskussionen, Streitigkeiten sind strafbar. Der jiidische Pro- 
zentsatz im russischen Heer ist, wie mir main Gewahrsmann erzahlte, 
verhaltnismafiig grofi. Durchschnittlich sind ungefahr zwolf Juden in 
jeder Sotnie. 



Zahlungsmittel 

Die Russen zahlen mit Sowjetgeld und litauischem. Das Infanterie- 
Regiment loi, das ich in Augustowo sah, hatte sehr viel litauisches 
Papiei^eld. Die Sowjettruppen finden alles furchtbar billig in Polen. 
Ich sah, wie ein Infanterist ein Pfund Bonbons in einem Judenladen 
kaufte. Er gzh fiinfh under t Rubel dafiir. Als ihm der Jude herausgeben 
wollte, winkte der Soldat ab. 

Die Folge dieser Uberschwemmung mit Sowjetrubeln ist natiirlich ein 
rapides Steigen der Preise. In sdmtlichen besetzten Gebieten sind die 
Preise liber Nacht um funfundzwanzig Prozent gestiegen. Die Kauf- 
leute von Suwalki und Augustowo fangen schon jetzt an, Waren ins 
Innere von Rufiland zu schaffen. Das ist leicht. Man fahrt innerhalb 
des Sowjetgebiets mit einer Legitimation der Heimatgemeinde oder 
iiberhaupt ohne Papier. So hat sich die Welt geandert. Der Pafi, ehe- 
mals eine russische Spezialitat, ist ein Reise- und Kulturdokument des 
»freien Westens« geworden. 



1920 3^9 

Sozialisierungsmafinahmen 

Die alarmierenden Nachrichten iiber gewaltsame und sofortige Sozia- 
lisierungen durch die russische Armee sind falsch, zumindest ten- 
denzios iibertrieben. Mit jeder grofieren russischen Truppe riickt ein 
Zivilkommissar ein. Dieser hat nur die Aufgabe, die administrative 
Leitung der Behorden zu iiberwachen, keinesfalls aber das Recht, auf 
eigene Faust zu sozialisieren. Die Berichte von wilden Banden, die 
»sozialisierend« den Bolschewisten auf dem Fufie folgen, sind selbst- 
verstandlich gefarbt. DaC sich hinter dem Riicken einer erobernden 
Armee Rauberbanden bilden, ist besonders bei den Verhaltnissen in 
Polen selbstverstandlich, AUein diese Banden rauben eben, sozialisie- 
ren aber nicht. Richtig sozialisiert wird nur in auffallend groEen 
Gutshofen, wo Knechte und Magde sich den Besitz der Herrschaft 
teilen. Der polnische Gutsbesitzer wiirde bei dieser Gelegenheit von 
den Sowjettruppen sicherlich auch zu Rate gezogen werden. Aber er 
ist langst mit seinem bewegUchen Vermogen gefliichtet. Dafi sich je- 
doch die Sowjetarmee in jeder eroberten Stadt mit Bitten um Rat und 
Hilfe an die dort bestehenden Arbeiterorganisationen und Gewerk- 
schaften wendet, ist nur natiirlich, Man kann von einer Roten Armee 
wirklich nicht verlangen, dafS sie etwa die Vereinigung der Ritter vom 
Malteserorden oder einen feudalen Herrenklub um Unterstiitzung 
angehe. Den Sicherheitsdienst ubernehmen Arbeiter, aber ohne daf^ 
die alte Polizei, die in Augustowo zum Beispiel eine Art Einwohner- 
wehr ist, aufgelost werden wiirde. Der einzige »Terrorakt« der russi- 
schen Armee war der, dalS die Stadtpolizei die weifien Binden ablegen 
mufite. Dafi sich in jeder polnischen Stadt nach dem Einmarsch der 
Sowjettruppen sofort ein Arbeiterrat bildet, ist selbstverstandlich. Ich 
glaube mich nicht zu tauschen, wenn ich annehme, da£ in Deutsch- 
land Arbeiterrate, ohne dafi Sowjettruppen einmarschiert waren, ge- 
bildet worden sind. 



Die StimmHng der Bevolkerung 

Die Bevolkerung, die in den letzten zwei Wochen sich nicht auf die 
Strafie gewagt hatte, ist iiber den Einmarsch der Russen herzlich froh. 
Man versteht das, wenn man hort, daf^ die Polen in Suwalki auch bei 



320 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Stammesgenossen, polnischen Bauern, nicht nur Juden und etwa dort 
wohnenden Russen, Vieh requirierten, Pferde, Geld, Materialien, ohne 
zu bezahlen, und Tiere und Gegenstande, die man ihnen nicht iiberlas- 
sen wollte, auf der Stelle vernichteten bzw. totschlugen. Vor ihrem 
Abzug aus Suwalki veranstalteten sie, wie ich schon berichtete, ein 
kleines Mordfest, In Grodno brachten die Polen sechzig jiidische Fa- 
milien um. Nach bewahrten Mustern wurden siehzehn junge Manner 
geblendety schnitt man Frauen die Briiste ah und vergewaltigte Min- 
der jdhrige. Auch die katholische Bevolkerung kam schlimm weg. 
Nun, da selbst von der gefiirchteten Sozialisierung nichts zu sehen ist, 
freuten sich Jud und Christ liber die Sowjetarmee. Die Polizeistunde 
ist zwar fiir 9 Uhr festgesetzt. Aber die neunte Abendstunde ist nach 
russischer Zeit (Moskau) zwolf Uhr Mitternacht. Und auch wenn man 
nach neun auf die Strafie kommt, wird man mit Towansch (Genosse) 
angeredet. 



Das Kulturniveau der Bolschewiken-Armee 

Im allgemeinen ist das geistige Niveau des russischen Soldaten dasselbe 
geblieben, nur das moraUsche hat sich gehoben. Ich sprach mit mehre- 
ren Kosaken, die von Lenin nichts wufiten. Dagegen ist Trotzki gera- 
dezu eine legendare Personlichkeit im russischen Heere. »Trotzki«, 
sagte mir einer, »i$t der groEte Mann der Welt. Wenn er spricht, kann 
er alles von den Soldaten haben. Er spricht so laut, dafi ihn zwei Regi- 
mented in weitem Karree aufgestellt, horen konnen. Trotzki ist grofier 
als der Zar.« 

Zeitungen sind bei keinem russischen Soldaten vorzufinden. Von Zeit 
zu Zeit bekommen sie umsonst das sozialistische offizielle Blatt zuge- 
sendet. Heeresberichte werden vom Kommandanten beim Appell ver- 
lesen. Politische Vortrage halten Studenten, Schriftsteller, Kiinstler, 
die eigens zu diesem Zweck die Truppen besuchen. Schreiben und le- 
sen konnen immer noch die wenigsten Soldaten. Es wird poHtisiert. In 
den Schanken, wo allerdings kein Schnaps verabreicht wird, sitzen die 
Muschiks herum und lassen sich, gewohnlich von einem jiidischen Ka- 
meraden, vorlesen. 



1920 }ll 

DieFreiwilligenmeldungen 

Man macht sich kaum einen Begrlff davon, wie viele junge Leute sich 
freiwillig lur Rolen Armee melden, Und das sind nicht nur Polen, 
Deserteure, die vorher gefluchtet waren und jetzt zuriickkehren, son- 
dern Deutsche, und zwar deutsche Arbeiter aus dem Rheinland. Mit 
jedem Schiff, das von Swinemiinde nach Konigsberg fahrt, kommen 
ungefahr zwanzig rheinlandische Arbeiter, die sich der Roten Armee zur 
Verfiigung stellen wollen. Sie haben sehen Gliick. Sie sind ungeschickt 
genug, mit vorschriftsmaf^ig visierten Passen liber die Grenze kommen 
zu wollen; da aber die InteralHierte Kommission im Verein mit der 
deutschen Behorde uberhaupt jeden Grenzverkehr verbietet, ist ein 
Uberschreiten der Grenze nur auf Schleichwegen mogHch. Die deutsche 
Postenkette an der Grenze ist sehr dicht, aber die polnischen Deserteure, 
die nach Rufiland hiniiberwollen, sind auf einen Trick gekommen. Sie 
lassen sich von jemandem begieiten, der im Lande bleiben will. Und 
wahrend sie die Flucht wagen, stellt sich der simuherende Fliichtling hart 
an der Grenze auf und lal^t sich von den Wachtposten so lange beobach- 
ten, bis er annehmen kann, dafi sein Kamerad gliicklich driiben ist. 



Sierusten. . . 

So sieht die Rote Armee aus. Sie wird nicht nach Ostpreui^en kommen. 

Sie kann nicht nach OstpreuEen kommen. Das Hakenkreuz in Ostpreu- 

fien ist viel zu stark. Mir geschah folgendes auf der Riickreise von Inster- 

burg nach Konigsberg. An einem Kupeef enster hart neben mir stand ein 

blonder junger Mensch und unterhielt sich mit einem drauEen stehenden 

Passagier. Dieser steckte dem Mann im Kupee irgend etwas mit geheim- 

nisvollem Augenzwinkern zu, ich vermutete, cine Waffe. Aus dem In- 

nern des Rupees kam plotzlich ein kleiner, runder, satter Kaufmann aus 

Insterburg oder Umgebung hervor. 

»Horen Se, junger Mann, ich nahme Ihren Platz ein, wenn Se nich 

wachgehn.« 

Der junge Mann wendete sich um. »Sie brauchen sich nicht so aufzure- 

gen.« 

Der andere: »Sonst kann ich glauben, Sa sind auch so een Jud. Aber Se 

sind ja een deutscher Mansch-« 



322 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Darauf der Junge unter Hinweis auf sein Hakenkreuz: »Diese Beleidi- 

gung lasse ich nicht aufmir sitzen,« 

Aus einer dunklen Kupeenische achzte die Stimme eines Juden: »Im- 

mer Jud, Jud, was kann ich dafiir, dafi mein Vater ein Jud war?« 

Spater, beim Aussteigen in Konigsberg, kam ich zufallig mit der Hand 

an die Rocktasche des Hakenkreuzhelden. Ich tastete mindestens einen 

Armeerevolver. In der Hand trug der junge Mann eine Munitionskiste. 

Sie war sehr schwer. 

Es wird geriistet in Ostpreufien. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 5. 8. 1920 



EIN EXPERIMENT 



Die andern, die zwei und fiinf Mark gezahlt hatten, diirften sich sogar 
geargert haben. Ich aber iangweilte mich nur, denn ich war eingeladen. 
Karl Mayer - kennen Sie Karl Mayer? - (Er hat den CaUgari-Film 
miterzeugt, was immerhin Begabung beweist. Aber, oh! - ware es da- 
bei gebheben! . . .) Karl Mayer also bearbeitete den Fuldaschen 
»Dumnakopf«, ein Lustspiel in abgestandener Kitschtunke, fiir den 
Film. An und fiir sich ist es ein Verdienst, deutsche Literatur zu redu- 
zieren. Aber sich einzubilden, dafi sie nach der Reduktion erst recht 
Literatur sei, ist Unsinn. Ludwig Fulda ist genug. Karl Ludwig Mayer- 
Fulda kann man gerade noch im Film vertragen. Dieser Kentaur mit 
Filmphysiognomie und literarischem Unterleib aber wurde im Mei- 
stersaal in der KothenerstrafSe verlesen. Herr Doktor Pauli, der »ein- 
fiihrender Worte« eine Menge sprach, erklarte, es sei ein »interess antes 
Experiment* hier zum ersten Mai versucht: die Vorlesung eines Film- 
manuskripts. 

Ich hatte es mir ersparen konnen, hier, just an dieser Stelle, wo Raum- 
mangel Wichtigeres gebeut, iiber dieses Experiment zu sprechen, ware 
es nicht ein irritierend-klassisches Beispiel fiir die lacherlichen Bemii- 
hungen derer um den Film, diesen justament und unermiidlich auf eine 
hohere Wertsprosse der Literaturleiter zu heben, Mir daucht, die Ber- 
liner Filmtechnik und all ihr Drum und Dran sind alt genug, um dieser 
Primanerambitionchen endlich einmal ledig zu sein. Dieses krampf- 



1920 3^3 

hafte Suchen nach Beweisen fiir den »Kunstwert« des Films fiihrte zu 
einer Vorlesung, bei der Lulu Pick, der verurteilt war, aus dem Experi- 
mentalobjekt schweiEtriefend einen »mteressanten Abend« auszugra- 
ben, mit bemitleidenswertem Opfermut sechs Akte las und es immer- 
hin durch ein gewisses Konnen zustande brachte, dafi die andern sich 
argerten, ich mich langweilte, aber nur wenige aufrichtig genug waren 
foitzulaufen. Das hat man davon . . . 

Ein Biihnendrama kann man vorlesen, ein Filmmanuskript nicht. 
Denn jenes wird, auch wenn aufgefuhrt, gesprochen, dieses gestiku- 
liert. Der kiinstlerische Ausdruck fiir das Biihnendrama ist bei Auffiih- 
rung und Vorlesung das Wort. Ein Filmmanuskript kann man nicht 
verlesen, sondern, wenn man will, vorgestikulieren. Denn nicht das 
Wort, sondern die Geste ist das kiinstlerische Ausdrucksmittel fiir das 
Filmwerk. Diese einfache Weisheit kapierte man nicht. Also kam das 
»Experiment« zustande. Gott behiite uns vor einer Wiederholung! 

Freie Deutsche Bukne, 8. 8. 1920 



MOSAIK AUS OSTPREUSSEN 

Zu Schiffnach Konigsberg 

Konigsberg, im August 
»Volkerrecht« heiEt man das Unrecht, das die Volker einander nach 
festgelegten Regeln antun. 

Nach der Beendigung des Weltkrieges erf and man den Begriff des 
»Korridors«, durch den man gegenwartig das Volkerrecht spazieren- 
fiihrt. Das Volkerrecht fiillt den Korridor so vollkommen aus, dafi ich 
von Swinemiinde iiber die See nach Konigsberg fahren mufite. 
Ich S2& im Salonwagen erster Klasse. Ja. 

SafSen aufier mir noch drei Kaufleute aus Konigsberg da und waren 
seekrank. Sie iibergaben sich in auslandischer Valuta und Ulaunstein- 
preisen. Das aber ertrug ich noch. 

Nun hat eine Berliner Filmgesellschaft eine Schauspielerexpedition 
nach den Masurischen Seen ausgeriistet. Es waren da: drei bekannte 
Berliner Schauspieler. Sie trugen ihre Beruhmtheit und ihre Sportan- 
ziige mit Andacht und Eleganz. Dann noch eine kleine Schauspielerin, 



324 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

die ich vom Sehen kannte. Aus dem Cafe. Und noch eine Schauspiele- 

rin, die so damonisch aussah, dafi ich schwor, sie sei eine Ungarin. 

Und sie war wirklich aus Ungarn. 

Ihre Abstammung verpflichtete sie zu einem hochst ungrammatikali- 

schen Deutsch, das sie mit lauter Meisterhaftigkeit mundhabte. Sie 

hatte entschieden Talent, »fremde Grofien« zu spielen. Das heifit: Bei 

einer Ungarin kann man nie wissen, ob es wirklich Talent oder nur 

Nationalitat ist. 

Und das ertrug ich nicht mehr. Denn als ich hdrte, dafi die Schauspie- 

lergesellschaft zwecks »Stellung« eines patriotischen Films an die Ma- 

surischen Seen gehe, wurde ich seekrank. 

Die Kaufleute riefen: »Stiu-art!« und dachten, dieser ware auch ein 

Drama von Friedrich Schiller. Aber einer, der es besser wufite, korri- 

gierte: »Ste-ward«, sagt man bei uns in Konigsberg. 

Das Meer wufite, was es den Passagieren schuldig war, und benahm 

sich wie beim Photographen. Es posierte Ruhe und Bewegtheit. Ab- 

wechselnd, 2um Schlufi spielte die Welt Sonnenuntergang am Meer. 

Die Welt war eine Ansichtskarte. 

Ein Kaufmann aus Konigsberg sagte: Ah! 

Und da landeten wir schon in Pillau. 



Durchldufer 

In Konigsberg sind alle Hotels besetzt. 2um Gliick gibt es noch 
»Fremdenheime«. 

»Fremdenheime« sind Anstalten, in denen sich selbst ein Heimischer 
fremd fiihlt. 

Ich sprach einen Mann vor dem Bahnhof an, und der fuhrte mich ins 
»Kaiser-Fremdenheim«. Der Inhaber dieses Fremdenheims ist zu- 
gleich Privatdetektiv. 

Man denke, wie »heimisch«. Es ward mir sehr fremdenunheimlich. 
Im Flur, auf buntem Fensterglas, ein Portrat Kaiser Wilhelms. 
Im Entree, wo das Telephon angebracht ist, ein Portrat Kaiser Wil- 
helms. 

Im »Empfangszimmer«, wo die Inhaberin sitzt, ein Portrat Kaiser Wil- 
helms. 
Im »Empfangszimmer« waren zwei Landwirte aus Ostpreufien. 



1920 3^5 

Der eine hatte ein Zimmer mit zwei Betten bekommen und wollte nur 

eines bezahlen. 

»Ich benutze ja nur eenes. Und ich bin hirr, aus dem Krreis Konigs- 

berchs zu House. Sie miissen mich anders behandeln als solche Dorch- 

laufer.« 

Dabei sah er mich an. 

Spater traf er mich im dunklen Korridor und stiefi mich an, ohne ein 

Wort zu sagen. 

»Verzeihung sagt man bei solchen Gelegenheiten« - rief ich ihm zu. 

»Sie werden mich niecht lehren«, sagte er. »Sie - Dorchlaufer!« 

Und er spuckte aus vor einem, der nicht im Kreis Konigsberg zu 

House war, . . 



Konigsberger Sonntag 

Vormittags rudert man am Konigsberger Teich. 
Nachmittags rudert man am Konigsberger Teich. 
Abends rudert man am Konigsberger Teich. 

In der Zwischenzeit sitzt man in einem der Kaffeehauser, in denen die 
Musik Walzer aus dem Dreimaderlhaus spielt. 
PlotzHch erlischt das elektrische Licht. Es ist Streik in Konigsberg. 
Die Musik will zeigen, da{^ sie geistesgegenwartig ist, und spielt weiter. 
Aber sie rutscht aus dem Dreimaderlhaus in den Grafen von Luxem- 
burg. 

Um elf Uhr gehen die Burger heim durch stockfinstere Gassen. 
Kommt ihnen ein Trupp streikender Arbeiter entgegen. Ganze Fami- 
lien mit Kind und Kegel. Und grof^ und klein singen: Die Arbeit 
hoch!... 

Die »Burschoahs« argern sich. 
Konigsberger Sonntagsvergniigen. 



Kino 

Auch im Kino war ich. Man gab »Die Sucht nach Luxus«. Die Ge- 
schichte einer schonen Jiidin, die ihre Familie verlaf^t, die Gehebte 
eines Grafen mit Monokel wird und schlief^lich zugrunde geht. 



326 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Diese Filmtragodie ist tendenzios. Durch die Locher ihrer Tragik 

schimmert junkerlicher Antisemitismus durch, 

Man klatscht Beifall im Konigsberger Kino. Es ist sehr finster. Vorn, 

auf den dritten Platzen, kichert jemand wie gekitzelt. 

An tragischen Hohepunkten spielt die Musik: 

Puppchen, du bist mein Augenstern. 



Allensteiner Theater 

Vor dem Regierungsgebaude in Allenstein zwei englische Wachtpo- 

sten in Khaki. Sehr stramm. Ihre Bajonette bHtzen geradezu preufiisch. 

(Ist das eine Beleidigung?) 

Wenn ein Offizier vorbeigeht, nehmen sic Gewehr bei Fufi. Es sind 

stramme, brave, preufiische Englander. Gott segne sie! Zwecks Ab- 

schaffung preufiischer Schildwachterei haben sie den Krieg gefuhrt . . . 

Am Allensteiner Theater gibt man den »Strom« von Max Halbe. In 

den Pausen trinkt man Zuckerwasser mit Zitronensaft und »lustwan- 

delt«. 

Man klatscht in Allenstein lauter als anderswo. Die Schauspieler be- 

kommen sogar Blumen, Geranienbliiten aus Blumentopfen und eine 

Rose mittendrin. Eine verzweifelte Rose. 

»Der Strom« von Halbe ist ein trauriges Stiick und sollte in Allenstein 

nicht gespielt werden. 

Denn die Allensteiner lachen sehr gerne. Sie lachen auch bei traurigen 

Stiicken. 

Zum Schlufi stiirzen bekanntlich beide Briider in den »Strom« und 

ertrinken. Das ist zu traurig fiir Allenstein. 

Ein Burger, der vor mir safi, wischte sich den Schweifi mit einem 

blauen Taschentuch von der Stirne und sagte: »Das wufit' ich ja! Wenn 

man so'n Bruder hat!« . . . 



Internationales 

In Lyck kommt man um Mitternacht an. Und aufierdem regnet's. In 
kleinen Stadten kommt man immer um Mitternacht an. Und gewohn- 
lich regnet's. 



1920 3V 

In Lyck sind die Hotels auch besetzt. Aber irgendwo kann man noch 
unterkriechen. Haben Sie eine Ahnung, warum Lyck so voll von 
Fremden ist? 

In Lyck waren die Italiener. Der Herr Oberst » Colonel «, Offiziere. 
Die Frau Oberst, das Bambino, der kleine Junge des Obersten, eine 
Offiziersmesse und ein Grammophon mit Caruso-Platten. Natiirlich. 
In der italienischen Offiziersmesse hing das Bildnis Hindenburgs. Und 
Caruso sang aus dem Grammophon. Verdi. 
Die Flatten aber waren - deutsch. D.R.R 

Dagegen wurde ein italienischer Sergeant, der ein Madchen aus Lyck 
liebte, meuchlings von einem unbekannten Morder erschossen. Wenn 
man in Lyck ein Madchen lieben will, so mufi man in Lyck oder min- 
destens in Ostpreufien geboren sein. Sonst wird man meuchlings er- 
schossen. Man ist - wie sagt man doch in Konigsber^?-, man ist ein 
»Dorchlaufer«. 

Ein anderer Sergeant aber verlobte sich mit einer Inderin, die Emma 
hieE. Er liefi eine Verlobungsanzeige in die Lycker Zeitung einriicken. 
Zum erstenmal, seitdem Lyck besteht, hatte etwas Internationales im 
Blattchen gestanden. 

Im Lycker Kabarett - jawohl Kabarett! - sind sogar gute Krafte. Die 
besten Nummern geben die Zuhorer. Als der Conferencier ein Spott- 
lied auf Noske sang, stand einer auf, rief: Pfui! und ging hinaus. 
Es war ein Eingeborener. Grofi, dumm und selbstlos. Denn er hatte 
einen guten Witz gemacht, ohne Honorar zu verlangen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 9. 8. 1920 



BUCHER DER REVOLUTION 



Drei Biicher: ein ungarisches, ein deutsches, ein russisches. 

Das ungarische heifSt: »Ringende Dorfer« von Bela Revesz und ist bei 

Rowohlt, von Stefan /. Klein schlecht ins Deutsche iibertragen, er- 

schienen. 

Ungarische Dorfer. Die Manner wandern Arbeit suchend nach Ame- 

rika. Zuriick bleiben die Frauen, die Greise, das Vieh, die Kinder, das 

Zigeunermadchen, der Hirt. Der Himmei blau, der Sommer heifi und 



328 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

das Blut der Frauen begehrlich. Sie verfallen alle dem Hirten, dem Zi- 
geunermadchen, der Mannschaft der Ortsgendarmerle. Sonst findet 
man in dem Buche noch eine Beschreibung einer Fabrik. Sie ist heifi, 
wie das Kapitel liber die Sinnlichkeit der Frauen. Und die Dorfer »rin- 
gen«, weil: erstens die Manner ringen, um die Frauen erhalten zu kon- 
nen; zweitens: die Frauen ringen, um sich den Mannern ehriich zu 
erhalten, Beides ist vergeblich. Sonst steht nichts in den »Ringenden 
Dorfern«. 

Einen sozialen, revolutionaren Roman hat Revesz schreiben woUen. 
Weil es aber bei jungen Ungarn nie ohne Sexuahtat abgeht, kamen die 
verlassenen Frauen dazu. Dazu? Die Fabrik kam dazu, als Entschuldi- 
gung. Auf hundertvierzig von hundertsechzig Seiten rakeln sich mann- 
verlassene Waden, Schenkel, Briiste. Der ungarische Sommer dehnt 
sich ranzig in Olfarben als Hintergrund, mit Paprika bestreut. Der 
blaue Himmel hat sozusagen Paprikasprossen. Poetisches Fett trieft 
von Frauenkorpern. Dazwischen riecht es ein bifichen brenzlich nach 
Weihrauch. Dann wird es kathohsch. Maria mufi herhalten. 
Auch sie. 

Rowohlt, der gute Sachen verlegt, ist auf die Gyulastunke hereingefal- 
len. Ein Rat fiir junge Dichter: Nehmt eine Fabrik, Arbeiterqual und 
Frauenschenkelfleisch mit kathoHschem Myrrhensalat, entwiirdigt so 
die Revolution, und Ihr seid verlegt. 

Der Deutsche A.H. Zeiz hat sein Buch »Die roten Tage« genannt. 
(Erich-Roefi-Verlag.) Da wird der Hergang der Revolution und der 
Lebenslauf eines Revolutionars, seine Entwicklung vom Schwarmer 
zum pessimistischen Skeptiker und von da zum alles verstehenden, al- 
les verzeihenden Ubermenschen der Liebe sehr nett, sehr unterhaltsam 
geschildert. Mein Gott, es ist nicht aufregend, was da gesagt wird, aber 
es ist klug und manchmal geistreich. Komposition geschickt, Gestalten 
typisiert, Herz und Kopf in gleicher Weise an der Schopfung beteiligt. 
Sie gehort zu jenen Erscheinungen der revolutionaren Zeit, die man 
unter einem Titel zusammenfassen konnte. Etwa: »Das Bourgeoise im 
Revolutionaren*. 

Das Buch der Revolution aber hat der Russe Victor Panin geschrieben. 
Es heifSt: »Die schwere Stunde« (bei Paul Cassirer in Berlin verlegt). A. 
Ruckward hat es in ein flaches Zeitungsdeutsch iibertragen. Fehler der 
meisten Ubersetzer von Beruf : Einfache Sprache iibersetzen sie in eine 
plane. 



1920 3^9 

Victor Panin erzahlt in Tagebuchform die Geschichte eines Schriftstel- 
lers, der aus dem Felde heimkehn, die veranderte Welt nicht mehr 
versteht, Liebe sucht und Hafi findet, seine Frau nicht vertragt, die ihn 
iibrigens betriigt, sein ganzes fruheres Leben als Liige erkennt, seine 
Werke verbrennt und ratios herumirrend zwischen HalS und Hafi, ein- 
samer Komet der Nachstenliebe, taglich sich die Seele wundschlagt an 
den Menschen. Seine Frau verlafit ihn, seine Tochter wird Dime, seine 
Freundin von Soldaten erschossen, sein einziges Sohnchen stirbt vor 
Hunger und Kalte. Nur er bleibt iibrig und der »Gute Mann«, ein 
ehrwiirdiger Greis, die einzigen zwei liebenden Menschen in der Wii- 
ste des Grauens. Langsam wachst der Schriftsteller zu Christushohen 
hinan. Der Roman ist eine Heiligenlegende ohne eigentliche »Wun- 
der«. Eine naturalistische Heiligenlegende. 

Dieses Russenbuch mufi man gelesen haben, um Rufiland, das neue, 
kennenzulernen. Es ist die neue russische Kunst. 
Lernt von diesem Panin, deutsche und ungarische Dichter, daC man 
das Beste am besten einfach sagt. Und dafi man so allerdings nur sagen 
kann, was man gelebt hat. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 10. 8. 1920 



MINISTERURLAUB IN TEUTONGINA 

Eine Hundstagsgeschichte 

Der Sommer des Jahres neunzehnhundertzwanzig war ungewohnlich 
heiE in der Republik Teutongina. Die Kolibris und Paradiesvogel, die 
auf den Asten Zuflucht gesucht hatten, losten sich direkt in buntgefie- 
derten Dunst auf. Die Vogelweibchen durften sich das Eierbriiten er- 
sparen. Die jungen Vogel krochen atmospharisch ausgebriitet aus der 
Eierschale. Die Vegetation wurde so iippig, dafi die Baume anfingen, in 
den Himmel zu wachsen. Dagegen war natiirlich nicht gesorgt wor- 
den. 

Mit der Bevolkerung der Republik Teutongina gingen merkwiirdige 
Veranderungen vor. Von den Gesichtern mancher Affen schmolzen 
Monokel in einzelnen Glastropfen weg. Die kurzsichtigen Affen wa- 
ren nicht mehr imstande, ihre eigene Weltanschauung zu erkennen, 



330 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

und gaben die Politik auf. Die Menschen, die im Lande Teutongina 
wie auf einem Pulverfafi iebten, hatten Angst, dieses konnte bei der 
Temperaturhohe schliefilich explodieren, was die Prophezeihungen 
iibrigens schon langst gesagt hatten. 

Die parlamentarischen Beratungen dehnten sich unter dem Einflufi der 
Hitze in die Lange bis zur BeschlufJunfahigkeit. Die Aktenfaszikel 
verbrannten zu Asche. Alle Verordnungen der teutonginischen Mini- 
ster fielen ins Wasser, um sich abzukiihlen. 

Der teutonginische Ministerprasident Feb loste sich in Tranen auf. Der 
gewesene PoHzeiprasident Ros schrieb ein Buch in der richtigen Vor- 
aussetzung, dafi die von der Hitze benommenen Teutonginer es lesen 
wiirden. Dieses geschah. 

Die Nachbarn des Landes Teutongina, die es vor kurzem besiegt und 
unterworfen hatten, bestanden hartnackig auf der Erfiillung des 
Kriegsvertrages, den man bewufitlos allgemein »Friedensvertrag« 
nannte, und bedrangten die Republik sehr. Ein teutonginischer Schlos- 
serlehrHng, der, von Geburt beschrankt und von der nationalen 
Temperatur in Brand gesteckt, das Schildwachterhauschen vor dem 
Gesandtschaftsgebaude eines Nachbarstaates mit einem anderen Haus- 
chen verwechselt hatte, wurde von jenem Nachbarstaat verhalten, 
fiinftausend Schildwachterhauschen mit den Farben des beleidigten 
Landes anzustreichen und mit einbruchsicheren Schiossern zu verse- 
hen. Die gesamte teutonginische Wehrmacht mufite in Paradeuniform 
mit Pfauenfedern und 42-Ztm.-Kanonen ausriicken und unter fort- 
wahrendem Salvenkrachen schworen, dafi sie Bediirfnisanstalten von 
fremden Schildwachthauschen wohl zu unterscheiden wisse. 
Der Prasident der NachbarrepubHk stellte iiberdies Teutongina die 
Forderung, die hohen Celsiusgrade zu sammeln und sie im kommen- 
den Winter statt der schuldigen KohlenUeferungen an den Siegerstaat 
abzugeben. Mit dem Sammeln der Celsiusgrade mufite sich die ganze 
schulpfUchtige Jugend befassen. 

Die teutonginische Verfassung loste sich auf. Der Einflufi der Regie- 
rung verwandelte sich infolge der Hitze in Eindampf, Dieser bildete 
nun jene Wolken, die sich drauend iiber Teutongina zusammenzogen. 
Zum grofien Schrecken der Bevolkerung beschlossen der Ministerpra- 
sident Feb und der Minister der Verbalnoten 5/, in Urlaub zu gehen. 
Die Zeitungen schrieben: »Man darf sich wohl wundern, dafi die zwei 
wichtigsten Mitglieder der Regierung in einem Augenblick Urlaub 



1920 33^ 

nehmen, da es gilt, dringende Fragen zu erledigen.« Die teutonginische 
Halbmondzeitung emporte sich: »Nachdem die Regierung die Waf- 
fenablieferung so mir nichts, dir nichts verfugt, geht sie in Urlaub. 
Und bedenkt nicht, dafi gerade jetzt die Baume nicht ausreichen, um 
dem braven Burger Schutz vor den Sonnenstichen der Wahrheit zu 
bieten, und dafi infolgedessen die Aufpflanzung von Bajonetten eine 
dringende Notwendigkeit ist.« 

Ganz Teutongina war iiber die Abreise der Regierungsmitglieder em- 
port. 

Kaum aber waren die beiden Minister weg, als die Temperatur plotz- 
lich zu sinken begann. Die Vogelweibchen mufiten wieder ihre Eier 
ausbriiten, die zusammengeballten Eindampfwolken ergossen sich in 
einem wohltuenden Platzregen iiber Teutongina, und die Paletotdiebe 
in den Cafes batten alle Arme voll zu tun. 

Die Schuljugend horte auf, Celsiusgrade zu sammeln, die Parlaments- 
sitzungen schrumpften wieder ein, und die Verordnungen fielen nicht 
mehr ins Wasser, sondern nur unter den Tisch. 

Die Streiklust flaute ab, die teutonginische Halbmondzeitung horte zu 
klaffen auf, da die Hundstage ja voriiber waren. Dank dem Regen 
sprofJte iiberall frisches Griin der Sicherheit. Die Teutongianer Burger 
fiihlten sich so wohl, dafi sie eines Tages den Beschlufi fafiten - samtU- 
che Minister in Urlaub zu schicken. 

Dieses geschah, und seit damals ist Teutongina das bestverwaltete 
Land auf Erden. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 14. 8. 1920 



EIN WOHLTATIGKEITSFEST, DAS 
VATERLAND UND EIN BAURAT 



Der Republikanische Fiihrerbund veranstaltet am 21. dieses Monats 

ein Wohltatigkeitsfest zu Nutz und Frommen aller jener Kriegsbe- 

schadigten, die heme noch in den Lazaretten Uegen. 

Es geht ihnen nicht gut, den Leuten, die heute noch, Fragmente der 

Grofien Zeit, in den Lazaretten lagern. 

Ein Wohltatigkeitsfest erfordert bekanntlich drei Voraussetzungen, 



332 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

um stattfinden zu konnen: 1. die Wohltatigkeit, 2. Geld, 3. einen 
Raum. 

Die Wohltatigkeit liefert der Republikanische Fiihrerbund. 
Das Geld gaben Einwohner Berlins. 
Aber den Raum stellt das Vaterland zur Verfiigung. 
Das Vaterland heifit heute nicht mehr so. »Vaterland« sagte man noch 
damals, als die Kriegsbeschadigten kriegsbeschadigt wurden. Heute 
heifit das Vaterland: »Reichswirtschaftsministerium«. 
Das Reichswirtschaftsministerium soUte den Landesausstellungspark 
am Lehrter Bahnhof zur Verfiigung stellen. Zur naheren Information 
sei festgestellt, dafi der Landesausstellungspark ein Teil jenes Vaterlan- 
des ist, fiir das die Kriegsbeschadigten heute noch in den Lazaretten 
5,40 Mark pro Tag bekommen. Also ein Vaterlands-Ausstellungspark. 
Fiir die Uberlassung dieses Parkes verlangt das Reichswirtschaftsmini- 
sterium - furifzehnhundert Mark. 

Im Landesausstellungspark befindet sich ein Saal. Diesen Saal hat das 
Kriegsministerium - auch ein Reprasentant des Vaterlandes - gepach- 
tet. 

Und die Heeresverwaltung verlangt aufier einem Re vers, mittels des- 
sen der Republikanische Fiihrerbund fiir alle eventuellen Schaden haf- 
tet -funfhundert Mark. 

Baurat Kohler machte dieses Geschaft im Namen des Vaterlandes. 
Das Wohltatigkeitsfest findet also statt. Dank den Bemiihungen des 
Republikanischen Fuhrerbundes und der Warenhauser. 
Und entgegen den Bemiihungen des Vaterlandes . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 20. 8. 1920 



DAS URTEILDERGESCHICHTE 

Wer ist schuld am Kriegef- Das Lexikon bringt es an den Tag 

Nun steht es fest, das Urteil der Geschichte. Es ist im Druck erschie- 
nen, um sechzig Mark erhaltlich. Das Urteil der Geschichte ist erheb- 
lich billiger als der Weltkrieg. 

Samtliche Zweifel sind behoben. Die Autoritat des Meyerschen Kon- 
versationslexikons hat sich namlich schon der letzten, der ailerletzten 



1920 333 

Erefgnisse bemachtigt. Das erste Friedens-Konversationslexikon ist er- 

schienen. AUerdings ein Handbuch nun 

Der Weltkrieg heifit im Lexikon auch so, und nun ist kein Zweifel mehr 

moglich. Es war wirklich ein Weltkrieg. Ich fange nun getrost mit mei- 

nen Memoiren an: Erinnerungen an den Weltkrieg. 

Die Kriegsursachen stehen unverriickbar fest auf Seite 760: 

»Ernstgemeinte deutsche nnd englische Vermittlungsversuche 
scheiterten an der Zwangsldufigkeit des BiindnismechanismHS und 
dem bewufiten russischen Kriegswillen.« 
Also die Zwangslaufigkeit war's. Das ist allerdings eine gehassige De- 
nunziation der Zwangslaufigkeit an den Volkerbund . , . (Wir nehmen's 
ihm aber nicht iibel, dem Meyer. Er ist sonst wirklich objektiv.) 
Wilhelm 11. ist tatsachlich gefliichtet. »Flucht des Kaisers«, sagt Meyer. 
AUe Bemiihungen, Wilhelms Abfahrt als Ausflug nach dem Ausland 
hinzustellen, sind nunmehr vergeblich. 

Liebknecht ist erschossen, die Luxemburg ermordet worden. Ebert, 
namlich der Friedrich, hat es erheblich weiter gebracht als Johann Ar- 
nold. Dieser war Mitarbeiter der Bremer Beitrage und avancierte zum 
Freund Klopstocks. Der Friedrich aber ward Reichsprasident, ohne den 
Messias von Klopstock ganz gelesen zu haben. 

Klabund, die Briider Mann, Daubler, Werfel, Zech, Sternheim, Hasen- 
clever und Kokoschka haben das Lexikonalter erreicht. Jetzt gehore ich 
zu den »Jungsten«. 

Das »Hakenkreuz« ist im neuen Lexikon nicht zu finden. Ich fand nur 
»Hackenzimpel«. Aber das ist ein Vogel und kein Antisemit. 
Das Wort »Humanitat« ist immer noch da. Es heifit: »Menschhchkeit«. 
Aber die ist nur im Lexikon vorhanden. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 21. 8. 1920 



DIE GOLDENE KRONE 



Aus dem Inventar der Berliner Woche ist Olga Wohlbriick endlich, 
endlich in das der Universum-Film-A.-G, iibernommen worden. Die 
Abonnenten der Woche konnen im Mozartsaal am Nollendorfplatz ein 
Wiedersehn mit der goldenen Krone feiern. 



334 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Olga Wohlbriick, furchtbar unberufen, Courths-Mahler mit Niveau 
und grammatikalischem Deutsch, lebte davon, dafi Biirgertochter sich 
vergeblich und schmerzhaft in Fiirsten verliebten und diese aus der 
Etikette nicht heraus konnten. So entstand »Tragik«. Niemand hatte 
schuld. Jeder »trug Schicksal«. Es war sozusagen Hebbelsche Not- 
wendigkeit, aus oberflachlich gesellschaftlichen Formen herausge- 
schiirft. 

Nicht ungeschickt. Glaubhaft. Scheinbar mit kiihler kiinstlerischer 
Objektivitat, ohne Parteinahme. Tiefer nur sah man »Woche«-Inter- 
esse fiir hohere Spharen. Wie Prinzen leben, lieben, leiden, sterben, 
begraben werden und selig. 

So die Goldene Krone: Marianne (Henny Porten), Tochter des 
Gasthauses 2ur Goldenen Krone, und Herzog Franz Giinther, der 
tuberkulos ist und sterben wird. Und ware er kein Herzog und nur 
tuberkulos und miifite sterben, was wetten Sie? Marianne tate ihn 
auch lieben. 

Aber er ist auch noch Herzog. 

Und erstens: Herzog. Zweitens: todgeweiht. Beides verursacht Liebe 
ohne Erfuliung. Nun ist, wird Marianne noch mit Klaus Stoven, dem 
Grofifischhandlerssohn - gute Partie - verlobt. Klaus ist ein anstandi- 
ger Mensch. Er ist bereit zu Kompromissen. Franz Giinther? Gut! Sie 
lieben sich? Gut! Fiir mich bleibt ja auch was. 

Er hat sich getauscht, Klaus. Er kennt die Olga Wohlbriick nicht! Ma- 
rianne eilt aus Verlobungsfeiern, Segenswiinschen, Brautnachten zu 
Franz Giinther, der sterben mufS. Schlofi, Diener, Livree, Ah!, Arzte. 
Marianne pflegt. Pflegt. 

Fines Tages kommt des Herzogs Familie. Hochwohlgeboren. Ma- 
rianne mufi weichen. Und in dieser Nacht stirbt er. Gerade in dieser. 
Noch eine Komplikation: Sterbend hatte Franz Giinther seinem Adju- 
tanten aufgetragen, doch ja Marianne zu heiraten. Und dieser Adjutant 
erschiefit sich. Weil er nicht heiraten kann von wegen der Familie. Ja, 
ja, so einfach ist das nicht bei Fiirstlichkeiten. 

Nun, wer die »Woche« Uest, weif^, dafS Marianne jetzt heimkehren und 
Klaus heiraten wird. 

Ich aber protestiere dagegen, daf^ heute, am siebten August neunzehn- 
hundertundzwanzig, noch nicht zwei Jahre nach der Revolution, die 
Weltanschauung der »Woche« aus »trauten Familienkreisen« durch 



1920 335 

den Film ins Volk getragen wird. Dafi Fatzkerei tragisch wirkt, weil 
Olga Wohlbriick leben muf5. 
Ich protestiere!!! 

Freie Deutsche Biihne, 22. 8. 1920 



RAUCHVERBOT IM SPEISEWAGEN 



In den preufiischen Speisewagen darf man nicht rauchen. 

In den Speisewagen der ganzen Welt darf man rauchen. Wenn nicht im 

ganzen Speisewagen, so doch in einem eigens fur Raucher bestimmten 

Abteil. Speisewagen sind zur Bequemlichkeit jenes reisenden Publi- 

kums eingerichtet, das es sich leisten kann. 

Nicht rauchen diirfen aber ist keine Bequemlichkeit. 

Manchem ist die Zigarre nach dem Essen wie ein Punkt hinter einer 

Schularbeit. Eine Unterschrift unter einem Brief. Also Abschlul^ eines 

Tagesabschnittes. Essen und Rauchen sind also zwei zusammengeho- 

rige Angelegenheiten. Der preufiische Speisewagen leugnet es. 

Die Revolution ist durch preuEische Schlosser gegangen. In den preu- 

fSischen Speisewagen kam sie nicht. 

Sie stiirzte Dynastien, aber kein Rauchverbot. 

Denn der preu&sche Speisewagen ist zwar verschiedenen Ziigen beige- 

geben. Nur einem 2ug nicht: dem Zug der Zeit, 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. 8. 1920 



KUCHEN-KULTUR? 

Ein Besuch in der HexenkUche 

Mein Onkel ist Restaurateur. Er selbst gibt viel darauf, nicht »Gast- 
wirt« zu heifSen, obwohl er einem Veteranenverein angehort und wah- 
rend des Krieges samtliche messingnen Uhrpendel zwecks Verlange- 
rung der Grofien Zeit abgeliefert hat. Es ware damals fast zu einer 
Scheidung gekommen, denn seine Frau - meine Tame - ist sehr fiir 



}}6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Uhrpendel aus Messing, obwohl auch sie Freudentranen und Liebes- 

gabenzigaretten In meinen Tornister weinte, als ich zum Helden taug- 

lich befunden wurde. Also dieser Onkel ist Restaurateur. 

Ich esse manchmal bei ihm, habe zehn Prozent Rabatt und lasse mich 

dafiir von den Kellnern kollegial behandeln. Die Kellnerinnen hat 

meine Xante, die diesen Gebrauchsgegenstanden leider nicht so hold 

ist wie den Uhrpendeln, abgeschafft, 

Neulich sagte mir mein Onkel: Ich habe eine neue, moderne Kiichen- 

einrichtung. Ich will sie dir zeigen! 

Ich ging mir die neue, moderne Kiicheneinrichtung ansehn. 

Da ist zum Beispiel der kleine Lucullus, »Der kleine LucuUus backt, 

bratet ohne Fett«, las ich auf einer Tafel. Auf diesen kleinen Lucullus 

ist mein Onkel, der Restaurateur, sehr stolz. Obwohl er, ich glaube, 

noch vor der neuen, modernen Kiicheneinrichtung auch ohne Fett buk 

und - bratete. 

Ich sagte meinem Onkel: » bratet « ist ein Fehler. Aber da war mein 

Onkel beleidigt. Eine neue, moderne Kiicheneinrichtung sei keine 

deutsche Schulaufgabe, meint er. Und selbst in der Schule nehme man 

es heute nicht mehr so genau. »Man muE mit der Zeit gehn!« schloft 

mein Onkel, Mein Onkel geht immer mit dem Messingpendel der 

Zeit . . . 

Also der kleine Lucullus ist ein ratselhaftes Instrument. Irgendwo 

brennt es, schmort, prasselt, und alles ohne Fett. Der kleine Lucullus 

stammt natiirlich mittelbar auf dem Umweg iiber das deutsche Reichs- 

patentamt vom grofien Lucullus ab, der ein Romer war und seinerseits 

wieder von den lukuUischen Geniissen kommt. Es gibt auch kulinari- 

sche Geniisse bekanntlich. Ich riet meinem Onkel zu einer Verbindung 

dieser beiden Genufiarten, die den Titel fiihren soil: »lukullinarische 

Geniisse D.R.R« Sie miifiten den Geschmack der katiUnarischen 

Strafreden haben. 

»Kann das auch ohne Fett gemacht werden?« fragte mein OnkeL 

»Ich mufi erst im Cicero nachlesen«, sagte ich. 

»Wer ist Cicero ?« 

»EIn beriihmter romischer Redner, der sicher dein Stammgast gewesen 

ware, wenn du damals schon den >kleinen Lucullus< gehabt hattest.« 

»So, so«, sagte mein Onkel und zeigte mir rasch den »Einkochglasoff- 

ner«. 

Der »Einkochglas6ffner« ist eine komplizierte Angelegenheit aus mas- 



1920 337 

sivem Blech. In eine runde Offnung steckt man den Mund eines fest 
zugepfropften Einkochglases, dreht dann rechts ein biEchen, und der 
Apparat saugt den Deckel von der Offnung. Der »Einkochglasoffner« 
kopft sozusagen automatisch die zum Tod durch den Darmstrang verur- 
teilten Emkochglaser. 

Dagegen ist der »Fleischroller« kein Henker, sondern ein Schopfer und 
Gestaltender. Eine Drehung an der Kurbel, und schon spuckt der Rachen 
des »Fleischrollers« ein Wickelkind von einem Fleischlappen in den 
Teller. Ich glaube, der liebe Gott hat sich bei der Erschaffung des Men- 
schen eines ebensolchen »Fleichrollers« von grofierem Format be- 
dient . . . 

Es gibt auch eine »Knet- und Ruhrmaschine«. Man bewegt einen Hebel, 
der wie ein Ararat aus einer Sintflut von Blech und Eisen herausragt, hin 
und zuriick, und im Bauch der »Knet- und Riihrmaschine« gewinnt eine 
Mischung aus Sagespanmehl und faulen Eiern Teigform und -farbe. 
Bohnen in gesundem Zustande, die man in einen geheimnisvoUen Trich- 
ter schiittet, werden in fiinf Minuten zu einem braunen Brei verdaut und 
ausgeschieden von der »Bohnenschnit2elmaschine«. Jene Bohnen aber, 
die sich noch schiichtern in griine Schotenmantelchen hiillen, lafit man 
vom »Bohnenentfaserer« bis zur skandalosen Splitternacktheit entklei- 
den. 

Ich sah wunderbare Dinge in der modernen Hexenkiiche. Alles funktio- 
nierte von selbst. Die paar Koche in den weifSen Reprasentationsschiir- 
zen kamen mir vor wie grofie Zauberer. Sie riihrten keinen Finger. Alles 
war selbstandig. Eine »Kohlenschubmaschine« erbrach Kohlen in den 
Herd. Ein »Feuerentfacher« aus Gummi blies aus vollen Backen, bis die 
Platte gliihte. Eine »Topfzustellmaschine« griff mit zarten Eisenzangen 
vorsichtig die Henkel und schob Topfe und Bratpfannen auf die Platte. 
Ein »Speise- und Suppenumruhrer« bewegte fiinfundzwanzig Loffel 
gleichzeitig in ebenso vielen Gefa^en. Eine »Geflugelskalpmaschine« 
stand in der Ecke und wartete mit gierigen Pranken aus scharf geschliffe- 
nem Kiesel auf ihre Opfer. 

Die Hande der Kiichenmannschaft hatten nichts zu tun. Und ich ver- 
stand endhch jenes weise Wort: »Wenn Gourmand ohne Hande geboren 
ware, hatte er auch gekocht.« 
Das ist Kultur. 

Ich entsinne mich, wie das bei uns zu Hause war. Wenn das die alte 
Katinka gesehen hatte! . . . 



338 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Katinka stammte aus Bohmen und war in einem Jahrhundert zur Welt 
gekommen, in dem es noch keine Tschecho-Slowakei gab, sondern gu- 
tes Essen und gute Politiker. Sie war eine antike Mischung aus Mensch 
und »Ruhr- und Knetmaschine«, und sie weinte immer, teils aus Riih- 
rung, teils von den Zwiebeln. Wenn sie weinte, ging der Suppentopf 
iiber. Manchmal schneuzte sie sich, und die Gyulassauce geriet ausge- 
zeichnet. Sie kostete mit einem Holzloffel von alien Speisen, um zu 
sehen, ob sie gar seien, und spuckte aus, wenn's noch nicht fertig war. 
So war Katinka. Sie ist tot. Sie hat den Magen ihrer Zeit genug getan 
und also gelebt fiir alle Zeiten. Aber »Kultur« war Katinka nicht. 
»Kultur« ist die neue, moderne Kiicheneinrichtung meines Onkels, des 
Restaurateurs. 

Nun ist der Geschmack der Speisen, die im Restaurant meines Onkel 
verabreicht werden, so ganz dem »kleinen Lucullus« entsprechend, der 
»backt und bratet ohne Fett«. Es sind gewissermafien galvanisierte 
Speisen, Sie schmecken nach Weltkrieg und Kultur, nach . . . (pfui Teu- 
fel, reden wir nicht davon!) 

Katinka aber ist tot. Wenn ich an sie denke, muf5 ich weinen. Vor 
Riihrung und Zwiebelduft, 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 25. 8. 1920 



DER NABEL DER SITTLICHKEIT 

Wie Plakate zensiert werden 

Die »Vergraulung der Erwachsenen« wird gewohnHch durch Behor- 
den herbeigefiihrt. Das Wort »Vergraulung« lernte ich von einer sol- 
chen Behorde. Ich kann nichts dafiir. Und das kam so: 
Tiber die Sittlichkeit des halbwiichsigen BerHns wacht neben der 
ReichszensHT die Ortspolizei. Die Reichszensur ist der Nabel der Sitt- 
lichkeit. Mit ihr durch eine Nabelschnur verbunden ist die ortspolizei- 
liche Zensur. Weder die Reichs- noch die ortspohzeihche Zensur kon- 
nen es verhiiten, dafi Jugendliche unter sechzehn Jahren von lebenden 
Frauenkorpern, die wahrnehmbar und gewifi auch der Ortspolizei 
nicht ganz fremd, durch die Strafien wandeln, verfiihrt werden. Dies 



1920 339 

2u verhiiten ist auch weder die Aufgabe der Reichs- noch die der orts- 
polizeilichen Zensur. Im Gegenteil -haben diese beiden Behorden 
nichts gegen jene Obszonitat, die aus Fleisch und Blut besteht. Die 
Aufgabe der Zensur ist es vielmehr, die Jugendlichen vor Schaden 
durch Frauenspersonen, die nur aus Farbe und Papier bestehen, zu 
behiiten. 

Daher kommt es, dafi Plakate der Reichs- bzw. ortspolizeilichen Zen- 
sur iiberwiesen werden und hier vor das Auge des Gesetzes kommen. 
Es sind eigentlich mehrere Augen des einen Gesetzes. In der Reichs- 
zensur die Augen alterer, juristisch gebildeter Staatsbeamten, deren 
Priiderie man eigentlich versteht, weii Sinn und Zucht mit den Jahren 
kommt und Avancements erleichtert. Das Auge des Gesetzes in der 
ortspolizeilichen Zensur aber wird von einem Herren namens Langner 
beniitzt, der, vor Jahren zwar, aber anscheinend mit Nachdruck, Kii- 
ster gewesen sein soil. 

Die Filmgesellschaften machen Reklame fiir ihre neuen Filme durch 
Plakate. Und da es sich nicht vermeiden lafSt, dafS Frauen in besagten 
Filmen HauptroUen spielen und diese Hauptrollen nicht immer gerade 
Nonnenkostiime erfordern, gelangen die Frauen auch auf das Rekla- 
meplakat. Und eben iiber das Maf5 der Unsittlichkeit dieser Frauens- 
personen und iiber den eventuell fiir die unreifere Jugend erwachsen- 
den Schaden hat die Reichs- bzw. ortspolizeiliche Zensur zu urteilen. 
Auf einem der letzten Filmplakte war eine Frau in einem etwas eroti- 
schen Kostiim dargestellt, das den Unterleib frei und einen Streifen 
Bauch sehen liefi. Der Nabel der Sittlichkeit emporte sich gegen jenen 
auf dem Plakat abgebildeten und verfiigte, dafi mindestens ein sanfter 
Schleier iiber jene nackte Partie geworfen werden miisse. Der Schleier 
wurde hergestellt. Ferner: Das Filmplakt fiir den Film »Das Skelett des 
Herrn Markutius« wies in irgendeiner Ecke einen Totenschddel auf. 
Herr Langner behauptete, es sei seine Pflicht, die Minderjahrigen nicht 
nur vor tauschend nachgebildeten Frauenbeinen zu bewahren, sondern 
auch vor Totenkopfen. Das sei, sagte er, nicht »for die Kinder«. Und 
es gelang ihm bei dieser Gelegenheit, jenes prachtige Wort zu bilden, 
dessen ich mich sofort im Anfang dieser Auseinandersetzung bemach- 
tigt habe: Man diirfe, sagte Herr Langner weiter, die Kinder »nicht 
vergraHlen« . 

Auch politische Bedenken sind unter Umstanden den hiesigen Zensur- 
stellen nicht fremd. Das Sumurun-Filmplakat von Matejko zeigt eine 



340 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

lachelnde Frau, die sich von einem fremdrassigen Mann - halb freiwil- 
lig - rauben lafit. Die Reichszensur dekretierte nun: Man empore sich 
in Deutschland, wenn weifie Frauen in den besetzten Gebieten sich mit 
den Schwarzen einliefien. Sei dieses vom gesellschaftlichen Stand- 
punkte unumganghch, so konne man ein Bild, auf dem eine weifie Frau 
sich so ganz ohne Widerspruch von einem Fremdrassigen rauben lasse, 
keineswegs dulden. Also mufite der Maler das Bild retouchieren, und 
die nun hrdunlich gewordene Frau gibt zu keinen politischen Bedenken 
mehr Anlafi, 

Es wird sicherlich sehr viel Obszones, Schamloses, wirklich Sittenver- 
derbendes gemalt, gedruckt, erzeugt und vertrieben. Eine Zensur ist 
gewifi notwendig. Aber eine Zensur, die selbst zugibt, sich von kiinst- 
lerischen Gesichtspunkten nicht leiten zu lassen, und die Griinde sol- 
cher Art, wie sie hier verzeichnet sind, miihselig hervorsucht, macht 
sich selbst der Uberfliissigkeit verdachtig. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. 8. 1920 



DER NOTSCHREI EINES BERUFSKOLLEGEN 



Ein »Sportfreund«, der Pech hatte, ist in Not Er lafit eine Annonce in 
der Sportwelt erscheinen: 

Welch* edeldenkender Sportfreund uberweist zur Aufrichtung eines 
dutch eigenartige Umstdnde unverschuldet in Not geratenen Kolle- 
gen etwas von seinem heutigen Gewinn? Hochherzigen Gebern be- 
sten Dank zusichernd, bitte freundlich zugedachte Spenden an 
Herm G. Urban in Bitterfeld schicken zu wollen. 
Der Glaube an die Solidaritat innerhalb der Berufsgemeinschaft der 
»Sportfreunde« ist riihrend. Und neu die Selbstverstandlichkeit, mit 
der ein privater Kommunismus von dem Bewufitsein der »Sport- 
freunde« Besitz ergreift: »Von seinem heutigen Gewinn« soil dem un- 
verschuldet in Not geratenen Kollegen ein anderer »Edeldenkender« - 
so mufi er sein - etwas abgeben. Etwas. Die Halfte ware ja um Gottes 
willen beinah schon jener Kommunismus, dessen Verwirklichung die 
Existenz der »Sportfreunde« iiberhaupt unmoglich machen wiirde . . . 
»Sponfreundschaft« ist ein Beruf geworden, »Sportfreunde« unterein- 



1920 34^ 

ander sind also KoUegen, dafi ein Sportfreund gewinnen kann, 
glaub* ich auch. Aber daf5 er so »edeldenkend« sein wird, wiinsche 
ich zwar dem unverschuldet in Not Geratenen von Herzen, glaube 
es aber - offen gestanden - nicht. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, z6. 8. 1920 



DIE KUGEL AM BEIN (II) 
Schicksale eines Entlassenen 

Sonntage 

Ich traf ihn um Mitternacht vor einem der Berliner Fernbahnhofe. 

Er sammelte Zigarettenstummel. Tat sie in eine Pappendeckelschach- 

tel und barg sie in der Rocktasche. 

Es war ein Bahnhof, mit dem die Leute aus den Sommerfrischen ka- 

men: vorschriftsmafiig gebraunt, sonnengesattigt und selbstzufrie- 

den, als waren Sonne, Meer, Gebirge Einrichtungsgegenstande, die 

man sich durch eigener Hande schwere Arbeit erworben und den 

Sommer iiber benutzt hat. Jetzt tummelte man sich zwischen Reise- 

koffern und Pappendeckelschachteln, wartete auf die Stral^enbahn 

und freute sich auf die anderen Mobel aus Holz, die man nun zur 

Abwechslung im Winter benutzen wollte. 

Im Hintergrund aber scWich er, der Zigarettenstummel sammelte. 

Ich sprach ihn an. 

Es war seine sonntagUche Beschaftigung, Zigarettenstummel zu sam- 

meln. Er hatte die Erfahrung gemacht, dafi in der Nacht von Sonn- 

tag auf Montag viel mehr rauchende Menschen in den Strafien 

waren. Und in einem Gefiihl sonntaglichen Reichtums grofiere Zi- 

garren- und Zigarettenreste wegwarfen als sonst an Wochentagen. 

Denn der Wochentag macht karg und kleinherzig. Und der Sonntag 

verschwenderisch. Und davon, dafi die anderen einmzl in der Woche 

sich reich diinkten, lebte er, der Tabakreste suchend im Dunkeln 

schlich. 

Er trug eine Seidenpapierserviette in der Rocktasche. Die Serviette 



34^ DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

war sein - Zigarettenpapier. Daraus und aus den aufgeklaubten Tabak- 

resten »drehte« er sich »2igaretten«. 

Ich fragte ihn um seine Adresse. Er hatte keine. Er war ein Obdachlo- 

ser. 

Ich bestellte ihn zu mir. Er kam nicht. 

Dann hatte ich ihn vergessen. Nur, sooft ich eine Zigarette auf der 

Strafie zu Ende rauchte, warf ich einen grofieren Rest fort, als ich es 

friiher je getan. Und hatte ich die Macht gehabt im Lande, ich hatte 

befohlen, dafi alle Tage Sonntag sein miisse. Damit die Menschen sich 

reich diinken und die anderen, die im Dunkeln nach Resten suchen, 

etwas finden konnen. 



Der Dieb 

Eines Tages sah ich ihn wieder. Er kam in die Redaktion und bat um 
Hilfe. Er erkannte mich nicht. Und ich erfuhr sein Schicksal. Es ist 
nicht aufierordentlich. Es ist nur traurig, unendlich traurig. 
Der Mann, von dem ich hier erzahle, lebt wirkHch. Dafi heifit: Er 
stirbt. Nur wenn man ihn oberflachHch ansieht, konnte man glauben, 
dafi er lebt. 

Der Mann, von dem ich hier erzahle, ist ferner - ein Dieb. Das heifit: 
Er war ein Dieb. Denn dafi er vor drei Jahren gestohlen hat, beweifit 
nicht, dafi er heute stiehlt. Dennoch lauft er mit dieser Spitzmarke 
durch die Strafien Berlins, mit der Marke, die ihm der Landesgerichts- 
rat U., der Vorsitzende der Verhandlung, seinerzeit umgehangt hat. 
Der Mann heil^t P.R. Im Jahre 1917, er war aus dem Krieg als Invalide 
zuriickgekehrt, nahm er Stellung als Hausdiener bei einem Berliner 
Teppichhandler in der Zimmerstrafie. Glaubt ihr vieileicht, es sei 
leicht, Diener bei einem Teppichhandler zu sein? Die Perserteppiche 
sind sehr, sehr schwer, wenn es gilt, sie in die Hauser jener Kaufer zu 
schaffen, die sich fur den Sommer Sonnen, Berge und Meere kaufen 
und fiir den Winter Perserteppiche. Der Invalide P.R. bekam fiir seine 
schwere Arbeit bei dem Teppichhandler, der Millionar ist, ganze fiinf- 
unddreifiig Mark wochentlich. 

P.R. bat um Gehaltsaufbesserung. Aber es war 19 17, Krieg, und die 
damals modern gewesenen Felder der Ehre wurden nicht mit Perser- 
teppichen, sondern nur mit Europaerleichen bedeckt. Der Berliner 



1920 343 

Teppichhandler machte nicht gerade die glanzendsten Geschafte. 
Wohl zeichnete er Kriegsanleihe und betete fiir den Sieg. Aber dem 
P.R., der sich fiir den Sieg invalid gekampft hatte, zahlte er nur fiinf- 
unddreifiig Mark Wochenlohn. 

Da tat der Invalide RR. etwas ganz, ganz Entsetzliches. Dafi er vor 
wenigen Monaten noch ahnungslose Menschen, die keine Teppich- 
handler waren, ihre Angestellten nicht hungern Uefien, totgeschossen 
hatte im Namen einer Gewalt, die er, P.R. selbst, nur in ihren Wirkun- 
gen kannte, war lange nicht so entsetzlich. Der Invalide P.R. tat etwas 
viel, viel Schlimmeres als Menschen toten: Er stahl. Er bestahl seinen 
Hunger^eber, den Millionar und Teppichhandler, um diesen so zum 
Brotgeber umzugestaiten. Aber das nahm die Behorde dem Invaliden 
P.R. furchtbar iibel. Der Vertreter des Gesetzes, Landgerichtsrat U., 
der im Jahre 1917 (es war noch billiger) davon leben konnte, dafS er 
Menschen, die aus Mangel an Brot gestohlen batten, zu Brot und Was- 
ser verurteilte, der Landgerichtsrat U. machte aus dem Diebstahl mit 
Hilfe des Gesetzes, das er zu diesem Zweck studiert hatte, einen »Ver- 
trauensmif^brauch« plus Diebstahl. Und der Invalide P.R. wurde zu 
zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. 



»ChaHSsee mit Heimattrank« 

P.R. safi zwei Jahre im Zuchthaus zu Naugard in Pommern, vom Juni 
1918 bis Mai 1920. 

Im Zuchthaus zu Naugard in Pommern ist es noch schlimmer als um 
35 Mark Wochenlohn bei einem Teppichhandler in der Zimmerstrafie. 
Im Zuchthaus bekommt man zum Beispiel taglich um zwolf Uhr 
mittags ganz umsonst fiinfviertel Liter einer Fliissigkeit, die man 
»Plemberbruhe« nennt. Der Name ist unverstandlich wie die Zusam- 
mensetzung, Und um sechs Uhr zum Abendbrot »Chausseestaub« mit 
»Heimattrank«. »Chausseestaub mit Heimattrank« - P.R. weifi selbst 
nicht, was das ist, und der Landgerichtsrat U. und der Teppichhandler 
wissen es auch nicht - verursacht geschwollene Gliedmafien. Ist man 
erst einmal soweit, dann liegt man mit achtzig geschwollenen Mannern 
in einem Saal und laf^t sich durch »Bettruhe« kurieren. Manchmal 
stirbt man ein wenig an der Bettruhe. Bleibt man aber unvorsichtiger- 
weise am Leben, so wird man au£er der Kur durch Bettruhe auch den 



344 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Disziplinarstrafen des Direktors und des Oberaufsehers unterzogen. 
Und aufierdem erfriert man etappenweise. Und wenn man eine Zei- 
tung liest, deren Politik der Gesinnung des Direktors nicht genehm ist, 
so biif^t man auch fiir die linksgerichteten Siinden des Redakteurs. 



Vier Mark aufden Weg der Besserung 

Im Mai 1920 kam RR. aus dem Zuchthaus. Mit 27 Mark 40 Pfennigen. 
17 Mark 40 Pfennige kostete die Fahrt nach Berlin. 6 Mark gab P.R. 
fiir Essen aus. Und mit 4 Mark kam er nach Berlin. 
In Berlin gibt es einen »Verein fiir entlassene Strafgefangene«. P.R. 
glaubte, sich an diesen Verein wenden zu miissen. Aber der Verein fiir 
entlassene Strafgefangene sagte: Stellen waren nicht frei, und Geldun- 
terstiitzung konne er nicht geben, weil er selber nichts habe. Ware 
P.R. damals zu mir gekommen, ich hatte ihm genau dasselbe gesagt. 
Und ich bin noch heute kein Verein fiir entlassene Strafgefangene. 
Auch der Generalstaatsanwalt P., an den sich P.R. wandte, zuckte mit 
den Achseln. (Ich kann auch groEartig mit den Achseln zucken und 
bin kein Generalstaatsanwalt.) 

P.R. suchte nun selbst Arbeit. War drei Wochen Aushilfsdiener am 
Gendarmenmarkt im Hospiz. Dann brauchte ihn das Hospiz nicht 
mehr. 



Ohdachlos 

Die Wohnung, die P.R. friiher in der Puttkamerstraf^e bewohnt hatte, 
steht nicht mehr frei. P.R. ist also obdachlos. Infolgedessen polizeihch 
nicht gemeldet. 

Eine logische Einrichtung hat zur Folge, daf^ nicht pohzeiUch gemel- 
dete Sterbende keine Erwerbslosenunterstiitzung erhalten. Das heifSt: 
Nur wenn man eine Wohnung hat, gilt man vor dem Gesetz als Er- 
werbsloser. Wer so erwerbslos ist, daf$ er nicht einmal eine Wohnung 
hat, ist nicht erwerbslos. Sagt die Behorde. Denn wichtiger als die Tat- 
sache, da£ du geboren bist, invalid, Strafling, hungrig und ungliicklich, 
ist: da£ du poUzeilich gemeldet bist. Denn erst ein poUzeiUcher Melde- 
zettel ist Voraussetzung und Bestatigung deiner Existenz. Alles, Gutes 



1920 345 

und Boses, kommt vom Meldezettel. Erkenne, Mensch, Zusammen- 

hange, Ursachen, Wirkungen! Erst der Schikane des Meldezettels folgt 

die der Erwerbslosenunterstlitzung. 

P.R. geht Arbeit suchen. Da er sonderbarerweise fest entschlossen ist, 

ehrlich zu bleiben, sagt er iiberall, er habe im Zuchthaus gesessen. Und 

davor entsetzen sich nicht nur Teppichhandler, sondern sogar jene, die 

Valuten schieben, Aufklarungsfilme verfassen und der »Orgesch« an- 

gehoren. Und da diese drei Berliner Kategorien am meisten Arbeit zu 

vergeben haben, kann P.R. verhungern. 

Er tragt die Kugel am Bein, die man ihm, dem Galeerenstrafling, noch 

immer nicht abgenommen hat. Eine unsichtbare Kugel am Bein. Eine 

Kugel aus Vorurteilen der anderen. 

Wenn jemand den Mut hat, P.R. zu helfen, so moge er es rasch tun. 

(Durch die Redaktion dieses Blattes.) Denn es konnte geschehen, dafi 

P.R. iiber kurz oder lang zu mir kommt und mir gesteht: Ich habe 

doch wieder gestohlen. 

Und es fiele mir nicht ein, die Polizei zu verstandigen . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 27. 8. 1920 



DIE DRINGLICHKEITSLISTE DES 
WOHNUNGSAMTES 

Die zehn verflossenen Monate und die vier kommenden 

Ein Mann in Berlin, der keine Wohnung hatte, kam auf die sonderbare 
Idee, das Wohnungsamt Berlin-Lichtenberg um die Zuweisung einer 
Behausung zu bitten in der Annahme, dal^ das Wohnungsamt fiir sol- 
che Zwecke eingerichtet worden sei. Er bat um die Wohnung am 
22. November des Jahres 19 19, und er erhielt am 21. August 1920 
wirkHch eine - Zuschrift, deren Wortlaut wiederzugeben Pflicht ist, 
weil das Mifiverstandnis jenes Mannes, der das Wohnungsamt fiir ein 
Wohnungsamt gehalten hat, sich in Berlin wiederholen konnte. Das 
Schreiben lautet: 

Ihr mUndlicher Antrag vom 22. ji. i^ip als Wohnnngssuchender hat 
unter Ifd. Nr. . . . der Dringlichkeitsliste BerUcksichtigung gefunden. 



34^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Sie erhalten nach erfolgter Zuweisung von i Stube und Kiiche 
schriftlichen Bescheid. Falls Sie nach vier Monaten diesseits noch 
keine Wohnung erhalten haben sollteny ist Ihr Antrag unaufgefor- 
dert ZH erneuerny widrigenfalls werden Sie aus der Lisle der Woh- 
nungssuchenden gestrichen werden. Personliche Vorstellungen zu 
nicht gesetztem Termin erschweren den Geschdftsgang und verzo- 
gern die Zuteilung. 

Stddtisches Wohnnngsamt, 
Wohnungsnachweis. 

Eine Dringlichkeitsliste des Wohnungsamtes ist eine Liste, in der ein 
Antrag unter einer Nummer Beriicksichtigung findet. Also miifite eine 
Dringlichkeitsliste eigentlich Berlicksichtigungsliste heifien. Denn die 
Riicksicht merkt man zwar, die Dringlichkeit aber schwerlich, da doch 
der Mann nach den verflossenen zehn Wartemonaten weitere vier war- 
ten miifite, um »diesseits« eine Wohnung zu erhalten beziehungsweise 
nicht zu erhalten. Mit welcher Voraussicht das Wohnungsamt arbeitet 
und mit welcher Umsicht es seine Klienten auf alle Falle vorbereitet, 
erhellt aus dem Begriff : »Diesseits«. Es ist namlich durchaus moglichj 
dafi sich trotz der Dringlichkeitsliste eine Einstubenwohnung und Kii- 
che imjenseits findet, Dort wiirden allerdings personhche Vorstellun- 
gen zu nicht gesetztem Termin den Geschaftsgang des himmlischen 
Wohnungsamtes nicht erschweren und die Zuteilung einer Behausung 
im Elysium - als Belohnung fiir die auf der irdischen Dringlichkeitsli- 
ste ausgestandene Bedrangnis - nicht »verzogern«. 
Welch ein Trost ist doch so eine Zuschrift! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 30. 8. 1920 



»DAS MADCHEN AUS DER FREMDE« 

Im Theater des Westens 

»Das Madchen aus der Fremde« ist ein itaUenisches Lustspiel von 
Dario Nicodemi, ins Russische iibersetzt und von russischen Schau- 
spielern im Theater des Westens in russischer Sprache gespielt. 
Geographieunkundige konnten das itaUenische Stiick fiir ein russisches 



1920 347 

halten, so sehr lag gestern nachmittag Italien in Rufiland. Es gab eine 
Hinauswurfszene von solch erschiitternder Wahrheit, dafi man wuf5te: 
So was lernt man nur in echt russischen Schenken. 
Der Inhalt des Stiickes ist trivial, mehr, ist italienisch. Die Russen 
(Wassily Wranski, Lydia Potrechine, Tamara Duvan) erfiillten ihre 
Rollen mit Urwiichsigkeit, ein bifichen Ubertreibung und Drastik, de- 
ren Deutlichkeit man zuweilen nur deshalb entschuldigt, v/eirs Gaste 
sind. 

Der Regisseur kiindigte im Zwischenakt zwar russische Stiicke fiir die 
nachsten Tage an. "Warum aber fing man nicht mit einem russischen 
Stiick an? Warum als Theater des Ostens im Theater des Westens mit 
einem (schwachen) Stiick des Siidens? 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 30. 8. 1920 



LEBENDE KRIEGSDENKMALER 

2500! 

Es gibt immer noch ungefahr zwanzig Verwundetenlazarette in Berlin. 
Und in den zwanzig Berliner Lazaretten leben, das heii^t qualen sich, 
jammern etwa zweitausendfunfhundert Kriegsverwundete, sehnen 
sich fruchtlos nach Gliick und Gesundheit, verlorenen Gliedern und 
nach der Zeit, wo es noch keine Felder der Ehren, sondern nur solche 
der Ahren gab, auf denen Brot wuchs und keine Grabkreuze erster 
und zweiter Klasse . . 



Der Cutaway 

Die Verwundeten erhalten Kieidung und freies Essen. Viele von ihnen 
haben so nachdriicklich Schaden genommen an der GrofSen 2eit, dafi 
sie noch fiir lange Monate Anspruch erheben werden miissen auf 
Krankenkleidung und -nahrung. Aber hie und da kann doch noch 
einer halbgeheilt und mit soviel Prozenten Berufsunfahigkeit, als die 
Waffenfabrikanten Kriegsgewinn haben, das Lazarett verlassen. Und 
diese Entlassenen erhalten - einen Cutaway mit gestreifter Hose. Bei- 



348 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

des ist aus Papierstoff. Was soil ein Mensch, der in die Welt hinausgeht, 
um zu verdienen, mit einem papiernen Cutaway? 



Der Kriippel als Steuerzahler 

Aufier dieser Ausriistung bekommt der Mann, der meist ein Fragment 
von einem Mann ist, noch hundertfiinfzig Mark mit auf den Weg. Eine 
Arbeitsvermittlung kann die amtliche Fursorge in den seltensten Fallen 
schaffen. Wohl aber werden einzelne Patienten von den amtlichen Fiir- 
sorgestellen selbst verwendet: Die Verwundeten machen Botengange. 
Dafur erhalten sie zwei Mark pro Stunde. Aber an jedem Wochenende 
meldet sich der Staat, derselbe Staat, fiir den die Patienten Patienten 
geworden, und knipst seine zehn Prozent vom Wochenlohn ab. 



Fremde Valuta 

Die Unterstiitzung fiir die Familien der Verwundeten betragt in Berlin 
ungefahr siebzig Mark die Woche. Familien, die in der Provinz leben, 
erhalten erheblich weniger, und fiir Angehorige von Verwundeten, die 
zum Beispiel in Lothringen leben, sorgt der Staat iiberhaupt nicht. 
Nimmt er etwa an, dafi Frankreich sich verpflichtet fiihlt, eine FamiUe 
zu erhalten, deren Oberhaupt im deutschen Heer gekampft hat? Auch 
in den von den Polen okkupierten Gebieten Deutschlands leben Ange- 
horige deutscher Invaliden. Und die Unterstiitzungsgelder, die diese 
Angehorigen vom deutschen Staat erhalten, werden driiben - in polni- 
scher Valuta ausgezahlt. Daran ist natiirlich die polnische Behorde 
schuld. Aber ist es etwa einer deutschen eingefallen, mit den polni- 
schen mafigebenden Stellen liber diese Frage zu verhandeln? Stehen 
uns gar keine Mittel zur Verfiigung? Kommen nicht Geldsendungen 
aus Polen nach Deutschland? Und kann man nicht den in Deuschland 
lebenden polnischen Empfangern ein Viertel ihres Geldes auszahlen? 



1920 349 

Wirtschaftliche GrUnde 

Es geht ihnen nicht gut, den Uberbleibseln des Krieges ! Auch die Stadt 
Berlin siindigt an ihnen. Die Grofie Berliner Strafienbahn ist angeblich 
aus wirtschaftlichen Griinden nicht in der Lage, ihnen Freikarten zu 
gewahren. Auch nicht Fahrpreisermafiigungen. Was sind »wirtschaft- 
Hche Griinde«? In der Betrachtung eines Einbeinigen versunken, der 
unter zweibeinig Schiebenden auf dem Biirgersteig stolperte, dachte 
ich lange nach iiber die »wirtschaftlichen Grunde« der Grofien BerH- 
ner Strafienbahn. Und ich fand keine andere Deutung als die: Einmal 
gab es »Ruckziige aus strategischen Grunden«. Analog zu diesen gibt 
es heute: Vorwartshumpelungen aus wirtschaftlichen Griinden . . . 
Soil ich von einzelnen Fallen erzahlen? Ich weifi eine Menge einzelner 
Falle, so viel, dafi ich nach den eindringUchsten suche, um nur anzu- 
fangen. Ich glaube, dafi es die folgenden sind: 

Der Blinde 

Ein Soldat, der an voUkommener nervoser Blindheit litt, wurde dank 
einem geschickten Arzt wieder fiinfundneunzig Prozent sehfahig. Der 
Soldat war friiher beim Maschinenbau gewesen. Auf Anraten seiner 
Arzte soUte er jetzt Zahntechniker werden. Der Mann ging um Unter- 
stiitzung bitten. Aus dem Garnisonslazarett Tempfelhof geradewegs in 
die amtliche Fiirsorgestelle. Und brachte dort sein Anliegen vor. Es 
wurde abschlagig beschieden. Und der es abschlagig beschied, ein In- 
genieur Kurtz, rief dem Mann nach: »Der will 700 bis 800 Mark im 
Monat verdienen. Mehr als ich. Ich glaube^ der ist ein Jiid.« Dieses 
geschah in Anwesenheit anderer Invaliden, die sich dariiber emporten. 
Man beklagte sich iiber den Ingenieur. Und das Fiirsorgeamt erwi- 
derte: Was den Berufswechsel betrafe, so konne der Mann ja beim 
Maschinenbau bleiben. Und auf personliche Beleidigungen wolle man 
lieber nicht eingehen. Jeder Orgesch-Organisator und Hakenkreuzbe- 
sitzer darf auf personliche Beleidigungen eingehen. Ein Blindgewese- 
ner aber, der zwei Jahre lang die Welt nicht gesehen hatte, mufi das 
Ungluck haben, einen Ingenieur namens Kurtz zu erblicken, nachdem 
er kaum die Augen aufgeschlagen. 
Was heute in den Fiirsorgestellen mit Blinden und Nichtblinden, Lah- 



350 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

men und Zerfetzten, Juden und Heiden herumkommandiert, 1st nicht 
Lazarettbewohner, sondern gesund und versorgt. WIe ware es, wenn 
Invalide zu Invaliden sprachen? Jene, die urn das Leiden wissen, zu 
jenen, die leiden? 



Im offenen Viehwagen 

Bei der Auflosung des Lazaretts Tegel wurden neun Kranke mit offe- 
ner Tuberkulose nach dem Potsdamer Lazarett uberfiihrt. Die neun 
mit offener Tuberkulose fuhren von Tegel nach Potsdam von 8 Uhr 
friih bis 8 Uhr abends in Viehwagen. Ohne arztliche Begleitung. Ich 
wette, dafi an demselben Tage, in der Zeit zwischen 8 Uhr morgens 
und 8 Uhr abends, eine Unzahl moderner und nichttuberkuloser Men- 
schen in Eisenbahnkupees erster Klasse Gold, Valuten und wertvoUe 
Waren iiber die Grenze schmuggelten. 



» Vollstdndig geheilt« 

Die Treuenbrietzener Lungenheilanstalt entliefi eines Tages hundert 
Patienten als »vollstandig geheilt«. Die Lungen dieser hundert kiim- 
merten sich aber nicht um den Refund von Treuenbrietzen und blieben 
ungeheilt. Die hundert suchten um Aufnahme in der Lungenheilanstalt 
Biesenthal an. Und in Biesenthal wollte man die »vollstandig Geheil- 
ten« nicht aufnehmen, well sie - an offener Tuherkulose krankten und 
ihr Aufenthalt in Biesenthal den anderen Patienten zu gefahrlich an- 
steckend geworden ware . . . 



Verhandlungen . . . 

Fiir den i. August dieses Jahres suchten die Lazarettbewohner um eine 
Unterredung im Arbeitsministerium an. Der Arbeitsminister erwi- 
derte: 

»AHf die Zuschrift vom zS.Juli ipzo telle ich Ihnen im Einverstdnd- 
nis mit dem Herren Reich sfinanzminister mit, dafi ich am Dienstag, 
den ^.August ipio bereit bin, Vertreter des Reichsbundes der 



1920 351 

Kriegsbeschadigteriy des Internationalen Bundes der Kriegsopfer und 
der Lazarette durch einen meiner Vertreter empfangen zu lasserij urn 
die Wiinsche der Kriegsbeschddigten entgegenzunehmen. Den 
Reich sfinanzminister habe ich gebeteriy einen Vertreter zu entsen- 
den. Ein Empfang am Sonntag, den i.Augusty ist nicht moglich. 
Am 3. empfing Ministerialdirektor Dr. Ritter die Deputation. Drau- 
Ken warteten 1000 Kriegsbeschadigte. Es kam zu keiner Verhandlung, 
weil im Amt das Geriicht laut wurde, dafi sich Zusammenstofie zwi- 
schen der Sicherheitspolizei und den wartenden Kriegsbeschadigten 
ereignet hatten. Die Deputation ging hinaus. Nachdem sie fiir Ruhe 
gesorgt hatte, kam sie zuriick und wurde - fiir Mittwoch bestelk. 
Am Mittwoch erhielt sie ein Telegramm: 
Fortsetzung der Besprechung uber Wiinsche der Lazarettinsassen 
nicht heutCy sondern Freitagy 6, August y vormittags lo'AUhr. 

Reich sarbeitsministeriumy Abt. B.A. 

Aber am Freitag war - der »DeHtsche Offizierbund« als Vertreter der 
Interessen einer halbzerschossenen Mannschaft geladen, Daran schei- 
certen wieder die Verhandlungen . . . 



Die Fratze der Grojien Zeit 

Ich war im Garnisonlazarett bei den »Kieferbeschadigten«. Wif^t Ihr, 
was das sind: Kieferbeschadigte? Es sind Menschen, die Gott nach sei- 
nem Ebenbilde schuf und die dann der Krieg nach seinem Ebenbild 
umarbeitete. Hier siehst du die Fratze der Grofien Zeit. So sah der 
Krieg aus : 

Das Kinn ist weggeschossen und Nase und Oberlippe hangen frei in 
der Luft. Oder nur ein halbes Kinn fehh. Und dafiir eine Nasenhalfte 
der Lange nach. Oder quer durch das ganze Gesicht fuhr eine Granate 
spazieren, und ihr Fiihrungsring bUeb im Ebenbilde Gottes haften, im 
Anthtz eines weifien Menschen. Oder irgendeinem fehlt der Mund, die 
Lippen fehlen, die Lippen, mit denen er kiissen, fliistern konnte. Die 
Lippen. Nur die Lippen . . . 

Es ist den »Kieferbeschddigten« verboteny Photographien ihrer eigenen 
Entstelltheit zu hesitzen. Es ist verboten, der Offentlichkeit Kieferbe- 
ichadigungen bzw. deren Gipsabgiisse, die im Lazarett aufbewahrt 



352 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sind, zu zeigen. Warum? In alien illustrierten Blattern der Welt, in 

alien Museen, an alien Litfafisaulen soUten Kieferbeschadigungen zu 

sehen sein. Und das Kultusministerium soUte fiir die Dauer eines hal- 

ben Jahres anordnen, dafi in samdichen Kinotheatern Deutschlands 

vor dem Beginn der Mefiterwoche und am Schlufi des siebenundsieb- 

zigsten Teils der »Vampire« ein Bild gezeigt werde: der Mann ohne 

Lippen. 

Und ahmte man dieses Beispiel in der ganzen Welt nach, so kame bald 

ein Volkerbund zustande, dessen Vorsitzender der Soldat ohne Lippen 

ware. 

Dieser Volkerbund brauchte namlich gar nicht viel Erklarungen zu 

reden . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 31. 8. 1920 



SECHS FUSS TIEF 

Bei den Stammgdsten der »LebensqHelle« 

Sechs FuE tief unter dem Siindenpflaster der FriedrichstrafJe lernte ich 
Paule Pieker in der »Lebensquelle« kennen. Wir wurden Freunde. 
Paule Pieker lebt den ganzen Tag unterirdisch, in der Kaschemme in 
der Friedrichstrafie. Das Lokal wurde vor einiger Zeit »ausgehoben«, 
aber Paule Pieker war nicht dabei. Paule Pieker ist schlau: Wahrend die 
Behorde drunten in der Kaschemme nach Moralabnormitaten spiirte, 
stand Paule Pieker, der aussieht wie ein verkorpertes Delikt, draufien 
vor der Tiir und sah zu, wie die Polizei funktionierte. Er sah mit Span- 
nung und voUkommener Kiihle zu, als ware ihm Polizei eine erstaun- 
Hch neue Erfindung und eine Aushebung eine zum erstenmal erlebte 
Sensation. 

Nachdena die Polizei fort war, ging Paule Pieker in die Kaschemme, 
trank einen »Kirsch« und noch einen »Kirsch«, denn er hatte gerade 
einer Dame in der Friedrichstraf^e das Handtaschchen abgenommen, 
Es waren leider nur zwanzig Mark drin gewesen und eine Strafien- 
bahnsammelkarte. Acht Mark kostete der Schnaps. Fiir Zigaretten 
braucht Paule Pieker keinen Pfennig auszugeben. Die bekommt er von 



1920 353 

Seit einiger Zeit bin ich Stammgast in der Kneipe. 
Es ist ein bifichen starker Dunst drin und die Zimmerdecke mit einer 
Rauchwolkenschicht bestrichen. Wie kleine Leuchtkafer kampfen sich 
ein paar armselige Gluhbirnen durch das dichte Grau. Die kahlen 
Holztische stehen unordentlich im Weg, und die Stiihle wackeln be- 
trunken. Schweigsam und steif beobachtet ein eiserner Ofen vom Win- 
kel aus seine gesetzlose Umwelt. 

Ein Pudel, triefaugig und in schabigem Paletotfell, ist Wachter der 
Kasse, Er sitzt vor einer Pyramide aus Zigarrenkisten, Pflaumenku- 
chen und Sarotti-Schokolade und wedelt philosophisch mit seiner 
Schwanzquaste. Wenn sich Unberufene der Kasse nahern, erhebt er 
sich und bellt. 

Im Hintergrund fiillt ein weiblicher Fleischklumpen den Raum. Es ist 
Frau Berta. Ihre Koperformen breiten verschwimmend sich aus. Sie 
ist, aus zehn Schritt Entfernung gesehen, ein undeutUcher, geballter 
Nebel. Je naher man kommt, desto deutUcher wird der Kern. Ein Ant- 
litz, breit und kreidegrau wie ein pensionierter Klassentafelschwamm. 
Darunter kiinden iiberdimensionale Blusen und Rocke verhiillte 
Weibmasse. Frau Berta ist sozusagen ein kondensiertes Frauenreich. 
Wenn es gelingt, durch eine Frage (zum Beispiel: wo die Toilette sei) 
Frau Berta zum Aufheben eines ihrer Schlagbaumarme zu bewegen, 
kann man sehen, welch eine Welt sich hinter ihr auftut. Eine Welt aus 
Schachteln und Paketen. Frau Berta ist eigentlich als wohltatig Ver- 
dachtiges verhiillende Fleischmauer engagiert. 
Gegen zwei Uhr nachmittags fiillt sich das Lokal. 
Da kommen zum Beispiel Frieda und Emma. 

Am Tisch in der Ecke Hnks sitzen Paule Pieker und ein Mann mit 
Boxerfausten. Diese Fauste sind unwahrscheinlich grof^. Sie wachsen 
mit beunruhigender Plotzhchkeit, rot und blaugeadert - die Adern 
sind dick wie Waschestricke-, aus den blaugelb karierten schottischen 
Armeln hervor, Ich glaube, sie sind gar nicht natiirUch gewachsen, 
sondern von einer Faustfabrik hergestellt und geUefert. Und aufierdem 
ist Aujust da. 

Aujust ist Zuhalter und kann fabelhaft spucken. Aujust schief^t, feuert 
Spuckekugeln mit haargenauer Sicherheit in kiihngeschwungenem Bo- 
gen gegen gewisse Ziele, als da sind: Frieda und Emma. 
Frieda und Emma wischen sich mit aufgehobenen RockschoiSen das 
Gesicht trocken und sagen: » Aujust ist ein Schwein!« 



354 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Dann setzten sie sich an den Tisch. 

Frieda war sechs Wochen eingesperrt, weil sie mit falschen Papieren 
eine Dienstmadchenstelle angenommen und eine Brosche gestohlen 
hatte. Das heifit, Frieda hatte naturlich mehr gestohlen: Taschentii- 
cher, eine ParfUmflasche, Siegellack. Den Siegellack stahl sie aus Pas- 
sion. Frieda liebt Siegellack. Sie hat eine Leidenschaft: Sie siegelt alle 
gestohlenen Pakete. Eingesperrt war sie nur wegen der Brosche. Das 
andere hatte sie gut versteckt, und sie gibt es auch nicht heraus, die 
Frieda. 

Emma aber war acht Wochen im Spital. Emma schamt sich naturlich. 
Sie erzahlt nicht, dafi sie krank gewesen. Sie sagt, sie hatte auch geses- 
sen. Emma ist nicht so dumm: Sie kann doch nicht jedem vom Spital 
erzahlen. 

Paule Picker nur sagt es mir im Vertrauen: »Emma is 'n Luderchen. 
Jetzt prunkt se mit 'n KriminaL Krank war se jewesen. Pfui!« Sagt 
Paule Picker... 

Gegen drei Uhr kommt ein Liebesparchen. Er ist jung und ein bifichen 
zerzaust von wegen der Liebe. Sie geht im Hemd und tragt die Bluse 
auf dem Arm. Beide machen Toilette. Sie kleiden sich gegenseitig an, 
bestellen Klops und kiissen sich. Sie bindet ihm die Krawatte und sagt 
»Bubichen«. 

Sie essen beide mit einem Loffel. Es ist sehr niedlich. Sie sind ganz von 
sich eingenommen. Sie lieben sich ehrlich, iiberzeugt, briinstig. Sie 
drangen an Uberschwang in einen halben Tag, was andere iiber acht 
Flitterwochen dehnen. Es sind komprimierte Flittertage, und die Welt 
ist ein Sommerfest, ein Konigsbraten der Klops. Und Polizei ist iiber- 
haupt ein Marchen, mit dem man kleine Kinder schreckt. 

Wahrend ich in der Zeitung lese, fallt ein Schatten auf mein Blatt. Der 

Schatten gehort dem Herrn Ruck. Herr Ruck stammt aus Bayern und 

war in friiheren Jahren Ringkampfer. Allein zweckloses Kampfen 

hatte fiir ihn keinen Sinn, und Herr Ruck ist jetzt ein bifichen StralSen- 

rauber in Thiiringen. Von Zeit zu Zeit kommt er nach Berlin. 

Er ist imposant, und sein Korper setzt sich nicht aus Fleisch und Kno- 

chen, sondern aus Muskelquadern zusammen. Herr Ruck ist ein wan- 

delndes Bauwerk. 

Er sieht, dafi ich fremd bin, und er will mein Gesicht agnoszieren. Das 

bewirkt er, indem er, grofies Ereignis, das er ist, seinen Schatten auf 



1920 355 

neine Zeitung vorauswirft und mich zu einer Drehung des Kopfes 
/eranlafit. Da ich ihm nicht gefiel, machte er Miene, sich an melnen 
risch zu setzen. 

Da kommt Paule Pieker, mein Freund, dazu, und wir schwimmen in 
das ruhige Fahrwasser eines Gespraches. Paule Pieker erzahlt, dafi jetzt 
lauter »Pofel« mit der Untergrundbahn fahren. Kein Mensch hat was 
bei sich, und die Zeiten sind so schwer. 

Dennoch ist, wie ich schon haufig erwahnte, Paule mein Freund. Und 

^r wurde es eines Abends, als eine Gesellschaft von fiinf oder sechs 

Mannern Mundharmonika spielte. 

Es war eine billige Mundharmonika, und sie gUtt von Hand zu Hand, 

70n Mund zu Mund. Unter den Mannern waren: ein Ungar, ein Russe, 

^in Italiener, ein Schwabe. Jeder von den vieren spielte Mundharmo- 

lika. Jeder ein Lied, das man in seinem Lande singt. Alle vier spielten 

mmer wieder dieselben Lieder. Das ging zwei Stunden so. 

Paule Pieker, der mir kurz vorher noch iibermiitig eine halbe Zigarette, 

in der ich geraucht, aus dem Munde schlankweg weggenommen hatte, 

jtand sehr traurig da und lauschte, Er konnte nicht spielen, und er war 

jehr niedergeschlagen. 

lie weinen? - fragte ich ihn. 

Mee! sagte Pieker- aber nu - nu wein' ick. 

Jnd Paule Pieker weinte wirklich. 

>o wurde er mein Freund. Sechs Fufi tief unter dem Siindenpflaster 

Berlins lebt mein Freund, Paule Pieker. - 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2.9. 1920 



KABARETT »SCHALL UND RAUCH« 



H[ans V. Wolzogen bemiiht sich, Literarisches mit Unterhaltendem zu 
)ringen. Wo beides getrennt marschiert, ist beides gut, wo beides 
lurcheinanderfliefit, ist beides weniger gut. Das Ideal ist Joachim Rin- 
\elnatz, Wedekindscher Abstammung, reiner Humor plus bewufiter 
J^rechheit und erotisch exzedierende Poesie, wirkUch: Poesie. Hoerter 
xichnete witzig originell die Haarformen kulturgeschichtUcher Ent- 



356 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wicklung, Periicken als Zeichen der Zeit, Schnurrbarte »Es ist er- 
reicht!« als Zeichen der unsrigen. Else Ward tragt ausgezeichnet - mit 
gelassener Uberlegenheit, innerlich iiber Objekt, Thema, Publikum, 
sich selbst - Theobald Tiger und Willi Prager vor. 
»Die Kuhssen der Seele«, ein Undrama von dem Russen Evreinoff, ist 
Experiment. Nicht ganz gelungen. Der Einfall, auf der Biihne das In- 
nere des Menschen (das »Ich«) darzustellen, Gefiihl und Verstand 
agieren zu lassen, ist gut, wirksam, aber nicht »Theater«. Dem Theater 
nahme man diese Tanzerin iiber Tod und Leben und groteske Verzer- 
rung tragischer Probleme sehr iibeL Im Kabarett wird das Ding mifi- 
verstanden und fiir einen Sketch gehalten. Das ist grade gut so. 
Man miifite es aber ohne Masken spielen, die symboHschen Akteure 
charakterisieren, Der Verstand z.B. als Hofrat, das Gefiihl als Bonvi- 
vant, nicht als Puppen. 

Das Publikum war's zufrieden, klatschte Wolzogen heraus, und die 
liebliche Tanzerin Lola Hardmenger bekam siindhaft teure Blumen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2.9. 1920 



EINSTEIN, DER »FALL« 



Der neueste »Fall« heifit »Einstein«. »Falle« ereignen sich iiberall dort, 
wo Zeitungen, zu Wachhunden der Kultur dress iert, iiber Erfindun- 
gen, Entdeckungen, Phanomene, Premieren, Raubmorde, Wettrennen, 
Boxmatches, Aufklarungsfilme, Primaballerinen, Modetage, Sonnen- 
finsternisse, siamesische Zwillinge, Ministerkonferenzen und Wunder- 
kinder der wartenden Offentlichkeit »reportieren«. Reportage ist die 
Mittlerin zwischen Novitat und Nation, und aus Zeitungsberichten 
setzt sich schUef^lich die Kultur zusammen. Die Entdeckung Amerikas 
ginge heute so vonstatten, dafi Kolumbus ein Sonderberichterstatter 
als Presseattache beigegeben und der Ruf »Land, Land!« als zweispal- 
tiger Sensationsbericht »aufgemacht« wiirde. Der Reporter, Geburts- 
helfer der Kulturerrungenschaften, verursacht mehrspaltige Friihge- 
burten mit Wasserkopfen aus Cicerofett. 

Es kann keine Retorte mehr platzen, keine Froschmetamorphose sich 
voUziehen, kein Manschettenknopf erfunden, kein philosophisches 



1920 357 

System erbaut werden: Retorten, Frosche, Manschettenknopfe, Sy- 

steme sind »Falle«. Eine Relativitatstheorie mufSte zum Feuilleton 

werden, da der Journallsmus ja den Einstein der Weisen gefunden 

hatte. So ward Erkenntnis zum »Stoff«. 

Die christlich-germanische Weltanschauung aber, die Wahrheiten auf 

ihre arische Abstammung priift, war irritiert durch das Jiideln der bei 

UUstein und Mosse erschienenen Relativitatstheorie und horchte auf. 

Zwischen Reporter und Reportarier geworfen, verwandelte sich ein 

Forschungsergebnis zum politischen FuEbalL Im Saal der Disharmo- 

nie vereinigten sich deutsche Naturforscher zu wissenschaftlichen Dis- 

puten auf antisemitischer Grundlage. Aus Relativitats- wurde Rassen- 

theorie. 

Und Einstein selbst hauft Fehler auf Fehlen Es gibt wissenschaftHche 

Zeitschriften genug, in denen er sich mit seinen Gegnern auseinan- 

dersetzen konnte. Statt dessen hat er »nahestehende Seiten«, »Nahe- 

stehende Seiten« sind journalistische Stiitzpunkte, von denen aus die 

Reporter »Informationen« gegen die Offentlichkeit abfeuern, um »Ge- 

muter« zu bewegen. »Von Einstein nahestehender Seite verlautet«, dai5 

er fortreist. 

Es ist am besten so. Die Leitartikelspalte wird wieder dem rechtmafii- 

gen Taufpaten der Ereignisse freigegeben. Der Nationahsmus der Ver- 

einigung deutscher Naturforscher darf sich in Tanzkranzchen, Bier- 

abenden und gemiitUchen Zusammenklinften gegen die jiidische Welt- 

herrschaft organisieren. Und Einstein, das Opfer der Sensation und 

der rassereinen Borniertheit, darf wieder zuriick in seine Studierstube, 

wo er sich gewiE auskennt. 

Er verlasse das Land der Reportage und der Karikultur. Wenn die 

Jahrhunderte erweisen, daE seine Lehre eine wissenschafliche Tat von 

Bedeutung gewesen, bleibt der Ruhm der »deutschen Wissenschaft« ja 

doch ungeschmalert. 

Denn nichts beweist den deutschen Professor in Einstein besser als die 

Naivitat, mit der er fixen Reportern aufsitzt. 

Die deutschnationale Vereinigung der Naturforscher gegen Einstein 

aber braucht erst gar nicht zu beweisen, daE sie undeutsch ist. 

Freie Deutsche Buhne, 5,9. 1920 



IRRUNGEN, WIRRUNGEN 

Uberraschende Entdeckungen im Telephonbuch 

Das neue Telephonbuch, eine Spatgeburt der Reichspost, die sechzehn 
Monate - von April 1919 bis August 1920 - das Junge im Mutterleibe 
trug und unter Schmerzen zur Welt der falschen Anschliisse brachte, 
wurde begriifit wie ein Thronfolger: Zeitungen feuerten Leitartikel- 
bollerschusse ab, und Telephonabonnenten sanken auf die Knie und 
riefen Hallelujah! Lustige und peinliche Verwechslungen, die sich aus 
Anrufen nach dem alten, senil gewordenen Telephonbuch ergeben hat- 
ten, schienen ausgeschlossen. Nun hatte man ein Werk, auf das man 
sich verlassen konnte. 

Das neue Telephonbuch hat den Zweck, den Anschlufisuchenden - 
irrezufuhren. Das steht zwar nicht ausdriicklich im Vorwort, aber man 
sollte es eigentlich wissen. Wer etwas von der Parallelitat der Erschei- 
nungen versteht, weifi es. Wer sich also schon uberzeugt hat, daf5 die 
Einrichtung des Telephons iiberhaupt dazu dient, nicht Verstandigun- 
gen, sondern Mifiverstandnisse herbeizufiihren, der versteht auch, dafi 
der Zweck des Telephonbuchs der ist, falsche Anschliisse anzugeben. 
Uberwaltigend ist die Logik der Reichspost, die also kalkuliert: Ver- 
langst du, Abonnent, die richtige Nummer, so bekommst du die fal- 
sche. Also setzen wir ins Telephonbuch die falsche, auf dal5 die richtige 
sich melde! 

Das Reich swirtschaf tsmimsttnnm. hat im neuen Telephonbuch die 
Nummern »Zentrum 6634-39«. Ruft man die Nummer, so meldet 
sich - das Auswdrtige Amt. Fragt man die Auskunftsstelle vom Amt 
»Zentrum« nach dem Reichwirtschaftsministerium, so verweist sie auf 
die Auskunftsstelle vom Amt »Kurfurst«. Die Auskunftsstelle vom 
Amt »Kurfurst« hat keine Ahnung vom Reichswirtschaftsministerium. 
Die Dame hat den Segen dieser Institution noch nicht gespiirt. 
Das Reich sministerium des Inneren hat die Nummer »Zentrum 107 15«. 
Ruft man diese Nummer, so meldet sich die Wohnung des Reichsmini- 
sters. Das Reichsministerium hat in WirkUchkeit die Nummer »Zen- 
trum 69 6o«. Will man aber die Wohnung des Reichsministers Koch, so 
mufi man nicht etwa die Nummer seiner Wohnung verlangen, sondern 
»Lutzow ii6y<. Denn die Wohnung des Reichsministers ist nicht dort, 
wo er wohnt, sondern dort, wo er zufallig wohnt. 



1920 359 

Aus dem neuen Telephonbuch kann man ferner aufter Logik auch - 
Botanik studleren. Man erfahrt zum Beispiel, dafi es nicht nur rote und 
gelbe Riiben gibt, sondern auch - »Reichsruben«. Die Reichsriiben 
wachsen natiirlich im Deutschen Reich und sind gesetzUch geschiitzt: 
D.R.R Also Reichspost, Reichsministerium, Reichsriiben. Warum 
nicht? Die Reichsriiben haben einen ganz besonderen Saft, genannt: 
»Reichsriibensaft«. Und mit diesem Saft - ich weifi nicht, ob mit dem 
Genuf^ oder mit der Verwertung - beschaftigt sich eine »Reichsruben- 
saftgesellschaft«. Ruft man die »ReichsrHbensaftgesellschaft« an (Stein- 
platz 10473), ^"^ ^^ fragen, wie der Reichsriibensaft schmecke, so 
meldet sich - das Kinotheater »MotivhaHS« und gibt Auskunft iiber 
den Spielplan, der nicht einmal den »Riibe2ahl« Film enthalt. 
Seit einigen Wochen sind Speisefette (Margarine, Pflanzenfette aller 
Art) in freiem Handel erhaltlich. Aber die »Reichssteile fiir Speise- 
fette« hat 39 (neununddreifiig) Telephonnummern. Butter ist aller- 
dings noch rationiert, Aber erstens: ist die Butterration so gering, daft 
sie hochstens als Buttermenge auf dem Kopf einer Behorde in Betracht 
kommt, keinesfalls aber als »Speisefett«. Zweitens: beschaftigt sich die 
»Reichsstelle fiir Speisefette« dennoch mit der Butter (ich meine natiir- 
lich mit der Rationierung), so sind neununddreifSig Nummern fiir 
einige Gramm Wochenmenge ein bifichen zuviel. 
Auch Seiden- und WoUstoffe sind frei. Aber die »Reichswirtschafts- 
stellen fiir Seide und Wolle« haben noch je eine Telephonbuchnum- 
mer. Diese WoUe mufi in ganz besonders verworrenen Knaueln herge- 
stellt sein, da die - Abwicklung sich so langsam vollzieht. 
Wie besser machen? Man kann schwerlich eine zweite Auflage des 
neuen, ach so neuen Telephonbuches herstellen. Auch ist es umstand- 
lich, die Telephonanschliisse jetzt so herzustellen, wie sie das Tele- 
phonbuch falschlich angibt. Am besten also ware: Man nenne einfach 
die Kinder mit anderem Namen. Das Reichswirtschaftsministerium - 
Auswartiges Amt, das Reichsministerium des Innern - Wohnung des 
Reichsministers usw. Die Beamten mogen bleiben und, damit die Be- 
voikerung den Wechsel nicht merke, sich insgesamt mit der Zuberei- 
tung des Saftes aus deutschen Reichsriiben beschaftigen. 
Dieser Saft wirkt berauschend und verursacht neuerliche ulkige Ver- 
wechslungen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 7. 9. 1920 



BESUCHIMJENSEITS 



Das Jenseits befindet sich im Norden Berlins, in der Schultzendorfer 
Strafie, und man kann mit der Strafienbahn hinkommen, ohne selig 
geworden zu sein. Der Direktor des Jenseits ist nicht der liebe Gott, 
sondern der simple Herr Gustav K., ein Mann in den besten Jahren, 
verheiratet und Vater zweier Tochter, die, sehr diesseitig veranlagt, 
nicht gerade mit Geistern Verkehr pflegen. 

Herr Gustav K. wird von seiner Ehegesponsin »Justav« genannt, was 
gerade auch nicht sehr himmhsch klingt. Es ist nicht durchaus notwen- 
dig. Der eine nahrt sich vom Film, der andere vom Himmel, und Ju- 
stav, der Jute, dachte sehr richtig: janz oder jar nischt und, wenn's 
schon durchaus Schatten sein sollen, dann solche, von denen das Gru- 
seln kommt. Gustav K. richtete sich also ein Jenseitsetablissement ein 
und begann, von Toten zu leben. 

Am Vormittag von zehn bis zwolf legt Herr Gustav K. Karten und 
dirigiert Menschenschicksale. Auch vermittelt er Ehen; »nur bei Be- 
kannten«, sagt Herr K. Und aufterdem hat er sich der Magie ergeben, 
und zwar taglich von sieben his neun Uhr abends, 
Fiir diese Zeit halten sich die Geister der ganzen verstorbenen Nach- 
barschaft bereit, auf Justavs Ruf zu erscheinen. Im Hause Justavs wer- 
den namlich spiritistische »Sianzen« abgehalten, wie Frau Emma sagte. 
Frau Emma ist eine gebildete Frau, sie hat ihre Jugend in einer Schule 
verlebt, denn ihr Vater war Pedell, und sie hat oft beim Herrn Direktor 
die Fenster geputzt. (Das alles erzahlte mir Frau Emma aus purer 
Angst, ich konnte sie ewig fiir »$o eine« ansehen. Ich versicherte Frau 
Emma K., sie sei eine der gebildetsten Damen, die ich je gesprochen.) 



Gustav in der Geisterstunde 

Man mufS Herrn Gustav kennen: Er ist von Geburt etwas kurz geraten 
und sieht aus, als ob ihn sein Schopfer just, eh* das Werk fertig war, 
ungeduldig liegen gelassen hatte. So muEte Gustav, so gut es ging, 
selbst zusehen, dafi aus ihm etwas werde. Es wurde wenig. Gustav ist 
diinn und klapprig. Seine Gliedmafien schlenkern an den Gelenken, 
und ich hege die Vermutung, dafi sie mit solidem Bindfaden befestigt 



1920 }6i 

sind. Sein wallischer Nufikopf erhalt Bedeutung und Gewicht erst 
durch die Brilie, eine Hornbrille, die am Nasenbein ein bifichen geflickt 
ist, mit Baumwolle umwunden. Um sieben Uhr ist Geisterstunde. Gu- 
stav schlagt einen grauen Leinenkittel um seine dlirre Erbarmlichkeit, 
reibt sich die Hande, riickt an der Brilie und ruft: »Emmschen!« 
»Emmschen!« ist Emma, seine Frau. Gustavs haben zwei Zimmer im 
zweiten Stock, das dritte ist an ein junges Ehepaar vermietet, das Gu- 
stav, der Heiratsvermittler, auf deni Gewissen hat. Aus dem zweiten 
Zimmer, dem Schlafzimmer, kommt Emma mit der »Ampel«. Die 
»Ampel« ist eine elektrische Gliihbirne mit einem wunderbaren rosa 
Schirm, auf dem schatzungsweise fiinf Fliegengenerationen auf Som- 
merfrische gelebt haben. Die »Ampel« stellt »Emmschen« auf die 
schwarze Kommode, dreht das Hangehcht ab und offnet die Tiir : »FraH 
Wittek!!« 



Die Gaste 

Die Gaste sind verwitwete Nachbarinnen mit Anhang. Frau Wittek, 
Frau Leyden, Frau Kuhle, Frau Kohn, Ein paar halbwiichsige Madchen 
und ein achtjahriger Junge namens Max. Natiirhch Max! 
Das Entree hetr'igt funfzig Pfennig pro Person, ob voll- oder minderjah- 
rig, ist gleich; biUiger ist noch niemand ins Jenseits gekommen. Jeden 
Abend um sieben Uhr kommt die gleiche Nachbarschaft, um den Ver- 
kehr mit »liehen Verstorhenen« zu pflegen. Gustav kommandiert die 
Verstorbenen. Er allein ist mit alien per du, und er kennt sich in der 
Geisterwelt besser aus als ein Schutzmann in seinem Rayon. Gustavs 
Alltag ist die Geisterwelt. In den Raumen der Unendlichkeit hegt sein 
Biiro. Er geht taglich hin wie unsereiner in die irdische Arbeitsstatte. 
Die rosarote »Ampel« auf der Kommode iiberschwemmt das Zimmer 
mit Mystik. Alles ertrinkt in der roten Dammerung. Die Konturen der 
Mobel runden sich, Kanten werden von rosa Nebcin verschluckt, die 
Gesichter der Frauen glimmen rotHch, als waren sie von innen erleuch- 
tet, als staken in den Miindern kleine Olflammen, und die Kopfe wak- 
keln wie aufgesteckte Lampions. 

Da und dort klirrt ein Schliisselbund angsdich durch das Schweigen und 
verstummt erschrocken, da Gustav sein »Gebet« beginnt. 



362 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Beschworung 

Gustav beginnt die Beschworung mit einem Gebet, das ungefahr die- 
sen Wortlaut hat: 

»Wir alle hier Versammelten schworen zur heiligen Stunde Andacht 
und Aufmerksamkeit und geloben Stillschweigen und Glaube an der 
Seligkeit der Toten und ewiges Leben derselbigen!« 
Die Lampions der Frauen nicken, nicken, im Hintergrunde steht 
»Enimschen«, trocken und gerade, fiir sie ist diese Beschworung ein- 
fach wie eine Kaffeemlihle, sie ist, wie gesagt, nicht so eine, sondern 
eine gebildete Person, und Geist- und Geisternahe sind ihr wohlver- 
traut. Sie bringt einen Zug von Niichternheit in dieses HeiUgtum, sie 
ist kiihl wie eine Wasserleitungsrohre und bildet eine Art Pohzei der 
Geister. 

Gustav stelit sich hinter der Kommode auf, in seinen Brillenglasern 
blinken rote Piinktchen, doppeh spiegelt sich die Gliihbirne in seinen 
Augen. Er flatten mit den Armeln seines grauen Sackmantels wie eine 
grofie Fledermaus, er klopft mit einem Federstiel auf das Holz und 
wirft: »Eins, zwei drei!« die Zahlen wie drei spitze Glasscherben in die 
Erwartung. 

Dann wendet er sich mit dem Riicken zum PubUkum und klopft drei- 
mal an die Wand: »Lieber Friedrich!« 



Cohn mit » C« 

Friedrich ist der erste. Friedrich ist der sehge Herr Kuhle. Er ist schon 
zehn Jahre tot und hat das Prioritatsrecht. Er erscheint zuerst. Witwe 
Kuhle tritt vor. Einen Schritt nur. 
»Herr K., ach, dafi er nicht bose wird wegen Karl!« 
Ich vermute: Karl ist Friedrichs gliicklicher Nachfolger. 
Herr Gustav K. klopft an die Wand. Fiinf kurze Schlage. Und wirk- 
lich! Irgendwo, im Winkel rechts, erhebt sich ein Geraschel, flattert 
auf, eine Weile, man halt den Atem an. 

Dann fallt Gustavs »Nein!«, erlosend wie ein Gewicht, und zerreifit 
die Schwiile. 

Es sei heute ein schlimmer Tag, ein »atmosphdrischer Tag<(, sagt Gu- 
stav, und man konne nicht alle Verstorbenen bemiihen, und Gustav 



1920 3^3 

schaut iiber mich hiniiber zu »Emmschen« im Hintergrunde. Mit 

Herrn Kohn - mit dem will er's noch versuchen, Gustav, der Liebens- 

wiirdige. 

Frau Kohn ist lang und mager, sie sieht aus wie ein angezogenes BUgei- 

brett, dem man einen Kopf aus Grauhaaren und Knochenstiicken auf- 

gesetzt hat. Sie wird aufmerksam und steckt den Kopf vor wie ein 

Vogel, so beweglich und spitz. 

Gustav klopft, aber es riihrt sich nichts. 

Man horcht, dann kUrrt irgendwo ein Schliissel, aber Kohn ist nicht da. 

Unausgesprochene, aber deutlich fiihlbare Zweifel schweben in der 

Luft, die Stimmung ist zerrissen, die Gesichter bekommen wieder den 

alltaglichen Ausdruck, eine Maske aus Dumpfheit und Berechnung, da 

sagt Emmschen laut: 

»Jmtav, hat sich der Seliche nicht mit »C« geschrieben^« 



Die Tochter 

In diesem Augenblick steigt beizender Parfiimduft auf, fahrt scharf 

durch die Mystik des Raums, zwei weifi und blau gekleidete Frauen 

entrauschen der Schlafzimmertiir. Es sind Gustav K.s Tochter. 

»Nu is SchluC!« sagt eine. 

Gustav enthiillt die Leuchtbirne, die Witwen mit Anhang tropfen 

langsam aus dem Zimmer, und die Tochter erbHcken mich und mar- 

kieren eine Sekunde lang »Haltung«. Dann schaumen sie hinaus, und 

eine ruft nachtraglich durch den Tiirspalt ins Zimmer: »Nanu, komm- 

ste nich?!« 

Frau »Emmschen« bleibt fiinf Minuten drauften, indes Gustav seine 

Fledermausgewandung ablegt und mich mifStrauisch halb und halb 

vertraulich ansieht. 

»Emmschen« kehrt zuriick, weist mit der Hand gegen die Tiir und 

erklart: »Meine Tochter !« 

Denn »Emmschen« ist keine »so eine«. O nein! . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 9. 9. 1920 



wo 1ST DER SCHUTZMANN? 

Drei Stunden auf der Suche nach der Polizei 

Am achten September neunzehnhundertzwanzig, um sieben Uhr 
abends, machte ich mich von meiner Wohnung aus (GleditschstraKe in 
Schoneberg) auf die Suche nach einem Schutzmann. Von Zeit zu Zeit 
hat man ein bifichen Bediirfnis nach Sicherheit: Man bedarf fiir sich 
selbst des Beweises, dafi Berhn in Mitteleuropa Uegt und dafi man sich 
vor Sabri Mahir, wenn es ihm geiegentHch einfallen soUte, Boxmatches 
auf der Strafie mit Untrainierten zu improvisieren, nicht unbedingt 
fiirchten mufi. Griine und blaue Farbe wirkt besanftigend auf Auge 
und Gemiit. 

Man mufi fiihlen, dafi man Staatsbiirger, Einwohner ist, Registrierter, 
Katastrierter, unter dem Schutze der Gesetze Stehender, poUzeiUch 
Gemeldeter, zehnprozentige Steuer Zahlender, kurz: Kuhurmensch 
mit Niveau und Hemmungen. Zu solchem Zweck suchte ich einen 
Schutzmann. 

Um sieben Uhr war ich fortgegangen. Und um halb elf fand ich ihn. 
Inzwischen hatte sich manches ereignet. Uberraschendes, Peinliches, 
Segensreiches; 

Das Uberraschende 

Das Uberraschende ereignete sich Ecke Biilow- und Frobenstrafie. In 

die Biilowstrafie war ich vom Nollendorfplatz abgebogen. Der Nol- 

lendorfplatz ist Strafienbahnknotenpunkt und Untergrundbahnsta- 

tion. 

Hier stand nun kein Schutzmann. 

In der Biilowstraf^e auch nicht. 

Die Blilowstraf^e entlag, der Potsdamer Strafie zu, rasselte ein Leiter- 

wagen. Aus der Frobenstraf^e kam ein Mann und schob einen Biicher- 

karren vor sich her. Der Kutscher des Leiterwagens fuhr frisch-froh- 

Uch auf den Biicherkarren los. Der Karren kippte um, und die Biicher 

fielen aufs Pflaster. 

Was war zu erwarten? Daf^ Leiterwagenkutscher und Biicherkarrenbe- 

sitzer aneinandergeraten. Dafi der Mann der Biicher den Pferden mit 



1920 3^5 

Faustschlagen in die Ziigel fallen und der Kutscher unterdes systema- 
tisch mit dem griindlichen ZerreiEen der Biicher anfangen wiirde. 
Solches ware geschehen.- 

Wenn ein Schutzmann dabeigewesen ware. Sagte ich nicht, dafi Griin 
und Blau besanftigend wirken? Die Nahe des Gesetzes macht Verzagte 
kiihn, und fiihlt man die Anwesenheit einer Rechtsvertretung, so be- 
harrt man auf seinem »Recht«. 

Aber es war eben kein Schutzmann da. Und so ereignete sich das Uber- 
raschende: 

Der Mann vom Biicherkarren sagte: »Nette Bescherung! Jetzt suchst du 
mir aber die Biicher 2usammen!« 

Und der Leiterwagenkutscher - stieg vom Bock, biickte sich und sam- 
melte die verstreuten Bande. Schichtete sie sauberlich auf dem Karren 
und bestieg dann wieder seinen Bock, Nickte dem Biicherkarrenbesit- 
zer freundlich zu, sagte: hui! zu den Pferden und rasselte welter. 
Der Mann mit dem Biicherkarren ging seinen Weg, die Frobenstrafie 
hinunter. 

Das nennt man »gentlemanlike«, wenn es in London geschieht. In Ber- 
lin heifit es »iiberraschend«. 
Wo aber war der Schutzmann?! 



DasPeinliche 

Auch in der Potsdamer Straf^e war er nicht. 

In der Potsdamer Strafie ging ein Regenschirm aus der Provinz mit 
seinem Oberlehrer spazieren. Der Regenschirm war sehr grol^, so grofi, 
wie ein Regenschirm nur in kleinen Stadten gedeihen kann. Und der 
Oberlehrer war sehr klein und mager. Der Oberlehrer suchte die Schel- 
lingstral^e. 

Es waren wenig Leute in der Potsdamer Strafie, und es regnete sparlich, 
aber dauerhaft. 

Die Laternen trugen Schleier aus Regenwasser. 
Der Oberlehrer suchte die Scheilingstraf^e. 

Er trippelte vor mir her und hielt jeden Voriiberkommenden an: Wo ist 
die Schellingstraf^e? 

Niemand wufite genau. Einer wies rechts, ein anderer links. Der Regen- 
schirm ging im Zickzack mit dem Oberlehrer, und ich hinter beiden. 



l66 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Endlich wandte er sich um: Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo die 
Schellingstrafie ist?« 

»Ich suche einen Schutzmannl« sagte ich. »Wissen Sie, in Berlin fragt 
man einen Schutzmann nach einer unbekannten Strafie, und sofort er- 
fahrt man's. « 

»Es ist ja kein Schutzmann da, allerdings!« sagte der Oberlehrer. 
»Sie kennen eben Berlin nicht!« 

»Nein, nein!« sagte der Oberlehrer demiitig. »Ich kenne Berlin nicht!« 
Und er suchte die Schellingstrafie. 

Am Potsdamer Platz trat eine Dame aus einem Kaffeehaus. Sie hatte 
kelnen Mantel an. Sie stand in einem leichten Abendkleid da und fror 
und rief nach einer Droschke. 
Knapp vor ihr war der Standplatz der Droschken, 
Zwei Droschkenkutscher kamen, zogernd wie der Herbstregen und 
verdriefSlich. 

Die Dame woUte in die Monumentenstrafie, Die Kutscher schiittelten 
verneinend die Zylinder. 

Es kamen noch zwei, drei andere Droschkenlenken »Monumenten- 
strafie ist weit!« sagten ihre Zylinder. 
Die Dame fror im leichten Abendkleid. 

» Wissen Sie, Gnadige«, sagte ich griifiend, »man mufi einen Schutz- 
mann verstandigen!« 

»Ja, gewifi!« sagte die Dame, und ihre Zahne klapperten. 
Aber am achten September, zwischen ein Viertel vor acht und drei 
Viertel vor neun, war am Potsdamer Platz kein Schutzmann zu sehen. 
»Ich suche einen Schutzmann !« sagte ich zu der Dame, die klapperte 
»Guten Abend!« - und ging. 

Ich glaube, der Regenschirm mit dem Oberlehrer irrt immer noch im 
Zickzack nach der Schellingstrafie, und aus der Dame ist inzwischen 
ein leichtbekleideter Eiszapfen geworden. 
Wo aber war der Schutzmann? 



Das Segensreiche 

Auch in der Leipziger Strafie war der Schutzmann nicht. Infolge seiner 
Abwesenheit geschah das Segensreiche. Der abwesende Schutzmann 
machte sozusagen in der Leipziger Strafie gut, was er am Potsdamer 



1920 3^7 

Platz gesiindigt hatte. Denn jedes Ding in Berlin, auch die Abwesenheit 
der Polizei, hat zwei Seiten. 

Kam ein Lehrbursch aus der Konditorei Hilbrich mit einer Kaffeetasse, 
stiefi gegen einen dicken Herrn und liefi die Tasse fallen. Das Porzellan 
zerbrach. 

Der dicke Herr mufite ein paar Schritte zuriicktreten, um, von seinem 
eigenen Buch ungestort, auf den Boden sehen zu konnen. 
»Wie kann man nur!« schrie er. 
Der Lehrling aber piepste: »Sie werden bezahlen!« 
»Lausejunge!« schnob der Dicke. 

Eine Menschengruppe umringte beide. »Wart!« pustete der Herr und 
drehte sich im Kreise nach einem Schutzmann. Der Lehrling king an einer 
Rockklappe des Dicken und liefi nicht locker und drehte sich mit wie ein 
Planet um seine Sonne. 

Man suchte nach einem Schutzmann. Der Dicke und der Lehrling. Der 
Lehrling zwitscherte: »Warten Sie, bis ein Schutzmann kommt!« 
»Wart, bis ein Schutzmann kommt« , fauchte der Dicke. Sechsmal hinter- 
einander wiederholten beide dieselben Satze. 

Als aber kein Schutzmann kam, wurden beide wlitend - auf den Schutz- 
mann. 

Der gemeinsame Hafi versohnte sie. »Kein Schutzmann!« sagte der Herr. 
»Nein!« sagte der Lehrling. 

Da - zog der Herr sein Portemonnaie und gab dem Jungen f iinf Mark f iir 
das zerbrochene Geschirr. Das war das Segensreiche. 
Wo aber war der Schutzmann?! 



Da war er 

Als ich gegen halb elf Uhr wieder zum Potsdamer Platz kam, sah ich zwei 
griine Sicherheitswehrleute. Sie duckten sich zusammen und sahen hin- 
auf in die erste Etage des Cafes »Eins A« am Potsdamer Platz, wo ein 
Exzentrikkapellmeister gerade seine Nummer absolvierte. 
Versunken in den Anblick des flatternden, rudernden, larmenden Ka- 
pellmeisters, standen die beiden armen Menschen, Schulter an Schulter, 
mitten am Potsdamer Platz. 

Sie verdienen wahrscheinlich nicht soviel, um sich so einen Kapellmeister 
einmal naher ansehen zu konnen. Und das ist bedauerlich. 



368 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aber es ist bedauerlich, dafi erst ein Exzentrikkapellmeister die Polizei 
hervorlockt, indes so viel Polizeiwidriges bis dahin geschah: Uberra- 
schendes, Peinliches, Segensreiches. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 11. 9. 1920 



DAS GEHEIMNIS DER VERKEHRSSTORUNG 



Verkehrsstorungen sind geheimnisvoll. Sie ereignen sich immer, wenn 
man, in der Strafienbahn sitzend, einem heifiersehnten Ziel zugefahren 
wird und allmahlich die Uberzeugung gewinnt, dafi Haltestellen Erfin- 
dungen des Teufels sind, der merkwiirdigerweise neu Einsteigende 
durchaus nicht holen will. Zwischen zwei Haltestellen, nicht etwa an 
einer von beiden, ereignet sich das Geheimnis der Verkehrsstorung. 
Am Anfang ist ein Ruck wie bei einer mystischen Angelegenheit. Wie 
bei der Erschaffung der Welt zum Beispiel oder bei einer spiritistischen 
Sitzung. Dann steigt der Schaffner aus, und du siehst ihn nie wieder. 
So, ohne Lebewohl, mit jiinglinghafter Sorglosigkeit begibt sich der 
Brave in ungekannte, kaum erahnte Gefahr. 

Was ist geschehen? Vorne? Wohin man nicht sehen kann? Mufi man 
nicht absteigen? Schauen? Retten? Wenn iiberhaupt noch was zu ret- 
ten ist. . . Ach! Wenn du aussteigst, ist es nur ein verirrter Kieselstein 
gewesen, der sich in Rot und Verzweiflung auf die Schienen geworfen 
hat und den jetzt der Wagenfiihrer zuriickstofit. 
Ach! Wenn du aussteigst, fahrt dir die Strafienbahn davon! 
Steige nicht aus! Bleib sitzen! Auch, wenn's eine Stunde dauert und der 
Schaffner nicht wiederkehrt, um dir zu sagen: Das und das sei los. Es 
wahre noch zwei Minuten oder eine Viertelstunde! 
Nein! Er kommt nicht, er kommt nicht. Du weifit nichts von den rat- 
selhaften Vorgangen vorne. Vorne geht die Welt zugrunde, explodiert 
der Weitball, Kometenschwanze verfangen sich in den Radern der 
Strafienbahn, und du weiiSt nichts, nichts, nichts. 
Der Schaffner kommt nicht. Warum teilt bei Verkehrsstorungen der 
Schaffner den Fahrgasten nicht mit, ob sie aussteigen soUen oder war- 
ten konnen? Eine Betriebsstorung ist kein Amtsgeheimnis. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 16. 9. 1920 



DREI VIERTELSTUNDEN VON BERLIN 

Wallfahrt und Erntefest in Bernau 

Ein Sunder bin ich und der Verdammnis Anheimgefallener. Aber 
Wallfahrten und Bufigange mache ich mit. Grundsatzlich. Ich bin 
schon so. 

So machte ich die Wallfahrt nach Bernau mit, die die BerUner kaihoU- 
sche Gemeinde am vergangenen Sonntag veranstaltete. 

Es waren schatzungsweise etwa hundertfiinfzig Glaubige gekommen, 
und sie fanden reichlich Platz in der kleinen, alten Herz-Jesu-Kirche in 
Bernau, die eine Art familiarer Mystik, heimlicher Heiligkeit in Fen- 
sternischen, Mauerwinkeln, Altardecken eingefangen hat, Der Gottes- 
dienst war um halb zwolf beendet, die Chorknaben legten ihre 
Hemden ab und schliipften wieder in die Alitaglichkeit profanen Ber- 
nauer Jungentums. In dem kleinen Hof, in dem die Herz-Jesu-Kirche 
steht, war links an der Gartenmauer ein Verkaufszelt errichtet. Zwei 
Schwestern boten Gebetbiicher, Rosenkranze, Kruzifixe, Heiligenbil- 
der und Ansichtskarten feil. Um die Bude drangten sich die Leute. Die 
Heiligenbilder waren billig, sie kosteten fiinf oder zehn Pfennig das 
Stuck. 

Zwei Madchen trugen in Handkorben aus Stroh Ansichtskarten, Pho- 
tographien beriihmter katholischer Kirchenstatten herum. Es waren 
meist armliche Menschen zur Wallfahrt gekommen; man sah's an ihren 
Kleidern, die verschamte Bediirftigkeit so angstlich zu hiiten versuch- 
ten, dai^ sie offenbar wurde. Aber alle kauften, denn es waren Arme. 
Reiche kaufen nichts um Gottes willen, sondern der Niitzlichkeit hal- 
ber oder zum GenulS. 

Um halb eins war »Kaffeekochen« im Restaurant »Elysium«. Sie tru- 
gen Packchen, die Glaubigen, mit Kaffeebohnen und Brotstullen, und 
den Kaffee heEen sie sich im »Elysium« kochen. Die Frauen batten 
Geschirr und Kannen und Tassen mitgebracht. »Elysium« ist zwar ein 
heidnischer Name, aber es war ein braver, biirgerlicher Restaurations- 
garten mit ein paar heimischen Bernauer Linden, und man trank Boh- 
nen- und Ersatzkaffee, nicht Nektar, den Gottertrank. Die Frauen 
stellten sich in langen Reihen vor der Kuche an und liefien den Kaffee 
sieden. Stullenpapier verbreitete biirgerliches Ausflugsgerausch. Es 



3/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

war seltsam, wie menschliche Gemutlichkeit der Religiositat ein selbst- 

verstandliches, familiares Aussehen verlieh. 

Die Menschen hatten gebetet, gegessen, Gott und der Welt Geniige 

getan und schickten sich an heimzukehren. Glockenlauten in der Seele, 

schritt ich zum Bahnhof. 

Da verfiel ich der Siinde. 

Es standen drei Bauernwagen, ehrlich, breit und behabig, aber mit 
leichtsinnigem Papierschmuck bekranzt. Raderspeichen, Stangen, 
Bretter trugen sorglos bunte Papierschnitzel, griin, blau, rot. Im ersten 
Wagen safi die Musikkapelle. Es war eine wiirdige Kapelle, mit einer 
Kesselpauke und glattgestrichenem Kalbfell, mit einem Fliigelhorn, 
zwei Brummtrompeten und ein paar nebensachlichen Musikanten. Die 
Instrumente bliesen einen Heidenlarm im Marschtakt, die Pferde nick- 
ten mit den Kopfen, fromm und ergeben, wie Pferde sind. Im zweiten 
Wagen standen Madchen in weifigestreiften Kleidern und dufteten 
nach landlicher Unschuld und Waschestarke. Sie trugen Heugabeln, 
Krampen und Harken. AUe hatten bunte Miitzen aus Seidenpapier. Es 
war eine Maskerade der Feidgerate. 

Die drei Wagen setzten sich in Bewegung, die Pauke drohnte, ganz 
Bernau erzitterte. Fensterfliigel flogen automatisch auf, Eingeborenen- 
kopfe kommen zum Vorschein, Kinder rennen, Ziegenbocke und 
Ganse: Emtefest! 

Die Landstraf5e entlang, der Schrebergartenkolonie zu, roUt die Musik. 
Ein Sunder bin ich und der Verdammnis anheimgef alien: Ich lief mit. 
Draufien waren Garten und Villen bekranzt, die Zaune tanzeln kokett 
in papierenem Putz, die Kiirbisse haben vor Freude aufgedunsene Ge- 
sichter, Kaninchen rennen auf geregt in kleinen Kafigen, als miilSten sie 
Gedichte aufsagen beim Empfang der Gaste, und die Hahne wehen mit 
den Kammen wie mit roten Fahnen und benehmen sich iiberhaupt so 
couragiert, als hatten sie jemals Erntefeste veranstaltet und zum enge- 
ren Komitee gehort. Von allem Hausgeflugel aber am schonsten ist die 
Braut, ein fiinfzehnjahriges Madchen in weif^er Korpulenz, Lilie mar- 
kierend, mit Jungfernkranz und Brautigam, der, schiichtern noch und 
halb schon Unternehmungsgeist, den Zug ordnet, Voran der »Hoch" 
zeiter«, in weifien Striimpfen und Halbschuhen und kurzer Hose. Sein 
Lodenhiitchen sitzt locker und leichtsinnig auf dem Hnken Ohr, seine 
Pfeife baumelt bekranzt, und die Rauchwolkchen tanzeln iibermiitig 



1920 3/1 

blaue Ringel-Ringel-Reihen in der Luft. Dann die Musik, Brumm- 
trompeten in den Niederungen, Fliigelhorntone turnen spafiig auf den 
hochsten Sprossen einer schwankenden Tonleiter, und die Kessel- 
pauke schlagt ernste Locher in der Festtagsfreude. Dann eine Schar 
weifier, gestrahlter Kinder, blond und mit SchoUengeruch. Der Wind 
tragt Duft von Herbst und trocknendem Heu in vollen Schiisseln vor 
sich her. 
Erntefest. 

Der Zug marschiert zum Herrn Pfarrer. Seine Hochwiirden haben ei- 
tel Frohsinn angelegt und empfangen die Gaste mit Wohlbehagen. 
Kaum drei Viertelstunden von Berlin entfernt, ist die Welt wieder wie 
in »Hermann und Dorothea«. Die Braut sagt ein umfangreiches Ge- 
dicht auf, und es ist die Rede drin von gestreutem Segen und Frucht 
und Jahr, und zum Schlufi reimt sich »von dannen gehn« sinnreich auf 
»Wiedersehn«. 

Das Gedicht war lang, und dieses Aufsagen ohne Stottern eine Lei- 
stung, die altesten Bernauer nicken Bewunderung, und Bernau ist 
schon ein paar Jahrhunderte alt. Des Pfarrers vaterlicher Ernst lost sich 
in wohlgefalliges Schmunzeln und Dank, und der Zug zieht weiter, 
vom Pfarrer angefangen, von Haus zu Haus, hiibsch gesellschaftlichen 
Rang noch, und schliel^lich fangt es an zu regnen. 
Ich habe mich nicht geirrt, es stand irgendwo ein Tisch mit Bier, und in 
Bernau sind der Garten genug, und alle heiEen »Elysium«. Wie aus 
einem Wallfahrer ein Trunkener wurde, ist mir nicht genau erinner- 
lich. 

Ein Sunder bin ich namlich und der Verdammnis anheimgef alien. 
Gnade mir Gott! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 17. 9. 1920 



SONNTAG IN MITTELEUROPA 



Sonntage sind Briicken zur Wiederherstellung gelockerter Beziehun- 
gen zu Natur, Diele, Kirche, Kino und Verwandten. Sind Familien- 
brauche, sorgfaltig aufgebiigelte, duftend nach Starke und Naphtalin, 
durchtrankt von Wohlergehn und Gebet. 



3/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Am Vormittag findet Erbauung von Seelendomen start, die man ein- 

weiht mit Biertrank und Skat, Zu dieser Zeit sind Gottes- und Friseur- 

laden reichlich besucht. 

Kinder defilieren in weifSer Unschuldsparade vor dem lieben Gott, der 

Eisen wachsen liefi, und die Vogel in der Luft blasen aus Lesebiichern 

Gedichte vori Emanuel Geibel dazu. 

ijberhaupt sind die Tiere von Lafontaine und erwarten menschlichen 

Besuch im zoologischen Garten. Wenn ihnen ein Oberlehrer Lecker- 

brocken in die Kafige schiebt, zitieren sie hoflich: Der Oberlehrer ist 

gut. 

Die Ehemanner sind rasiert und tragen Regenschirme. Ehefrauen 

schmiicken ihre Kopfe mit Federn, die Straufie einmal weiter hinten 

getragen haben. 

Die Zeitungen machen fiinf Seiten mehr Kultur, gehen schwanger mit 

einer literarischen Bellage und tragen Heiratsannoncen am Hinterteil! 

Feuilletonisten managen den Fortschritt der Nation. 

Im Lunapark kann man dressierte Flohheit sehen und Menschen im 

Urzustand. Die Welt ist Karussell, Rutschbahn, Nigger, Wellblechsee. 

Andere wieder sind wettend bei ziellosen Pferden. Die armen Tiere 

heifien zum Beispiel - mein Ehrenwort! ich weifi es bestimmt aus dem 

Sportteil der B.Z.-: Pipifax, Lausbub, Kukulies, Goldseele, Taktfest, 

Mimose. 

Wahrend also Pferde eilen, fordert Bantam-Gewichtsmeister Bolander 

(so mu8 er heifien) samtliche Zeit- und Gewichtsgenossen zu Match 

und Mm. Rippenbriiche wirken erlosend. Mitteleuropa sehnt sich 

nach krachenden Wirbelsaulen, Gespaltene Unterkiefer lassen uns 

gleichmiitig. 

Rotes Amiisierblut gerinnt eindrucksvoll auf dem Kriegsschauplatz, 

bis die Polizeistunde schlagt. 

Und bereits um halb zwolf Uhr nachts geht im Westen des Cafes die 

Welt am Montag auf. 

Freie Deutsche Biihne, 19. 9. 1920 



BEI DEN HEIMATLOSEN 
Der Revers 

Nr,...RB. 

Verhandelt Berlin^ den . . . ip20. 
Der. . . 

wurde angewiesen^ binnen funf Tagen ein anderweitiges Unterkom- 
men sich zu beschaffen, widrigenfalls und wenn er nicht nachweisen 
konne, dafi er solches alter angewandten Bemiihungen ungeachtet 
nicht vermocht habe^ er wegen Nichtbeschaffung eines Unterkom- 
mens werde bestraft werden. Demselben wurde auch aHsdriicklich 
bedeutety dafi nach § }6iy Nr. 8^ des Strafgesetzbuches fur das Deut- 
sche Reich diese Strafe in Haft bis zu 6 Wochen besteht und nach 
§ j62 ebenfalls auch auf Uberweisung an die Landespolizeibehorde 
behufs Unterbringung in ein Arbeitshaus erkannt werden konne. 
v,g.u, 

Unterschrift des Obdachlosen. 
Unterschrift des Kriminalschutzmanns. 
Das ist die eigentliche Ursache der vorgestrigen Revoke der Obdachlo- 
sen in der Frobelstrafie. Es waren meist Jugendliche, von einem Aben- 
teurer Aufgehetzte, einem friiheren Baltikumer. Die jugendlichen Ob- 
dachlosen hielten in Weifienseee eine Versammlung ab und beschlos- 
sen, das Heim zu stiirmen. Ein Beamter, der sie beruhigen wollte, 
wurde blutig geschlagen und mufite ins Krankenhaus gebracht werden. 
Sicherheitspolizei muEte einschreiten. Einige der Missetater sind schon 
verhaftet. Alier wird man wohl nicht habhaft werden. 
Das oben zitierte Schriftstiick ist der Revers, den alle, die das Obdach- 
losenheim in der FrobelstraEe aufsuchen, unterzeichnen miissen. Das 
Deutsch, in dem diese Urkunde der Menschhchkeit abgefafit ist, ent- 
spricht der Menschlichkeit, die sie bekundet. Die jugendhchen Pseu- 
dorevolutionare haben sich gewifi nicht gegen das verschrobene 
Deutsch und die ungrammatikaHsche Humanitat emport. Sie wollten 
einfach ein bifichen stiirmen - »Freiheit«, rief die wilde Begierde-, ein 
biCchen zeigen, daf^ man »wer ist«, und den Tatbestand der Repubhk 
beweisen. Aber begreiflich ware die tathche Emporung auch dann 
(wenn auch nicht zu entschuldigen), wenn sie ehrHch ware und nicht 
die Folge des Gewissenlosigkeit eines sittlich Gestorten. »Widrigen- 



374 E)AS JOURNALISTISCHE WERK 

falls und wenn« jemand nicht nachweisen konne, dafi er ungeachtet 
aller Bemuhungen kein Unterkommen gefunden habe - mufi das straf- 
bar sein, Haft bis zu sechs Wochen? Beweist nicht eher die Geschick- 
lichkeit, sich nach fiinf Tagen heutzutage in Berlin eine Wohnung zu 
beschaffen, Reife fiirs Gefangnis? Die Verordnung ist alt, sie stinkt 
nach Moder, und sie wird ja jetzt auch abgeschafft werden. Jetzt, nach- 
dem ein pflichtbewuiSter Beamter, ein menschenfreundlicher, das Op- 
fer einer losgelassenen Bestiaiitat geworden, der eine gesetzUche Ver- 
ordnung selbst das Ventil geoffnet hat. 



Das Hans 

Rote Ziegelsteine. Die trostlose Uniform aus Strenge und Dauerhaftig- 
keit, an der bei uns zulande Behorden, Spitaler, Gefangnisse, Schulen, 
Postamter und Gotteshauser zu erkennen sind. Vergebhch bemiiht 
sich ein Garten mit herbstbunten Baumen, der StaatUchkeit des Unter- 
nehmens einen riihrenden Zug zu verleihen. Das Haus bleibt ziegelrot 
und Behorde und sieht aus, wie gewaltsam mitten in Natur hineinge- 
stellt Die Frobelstrafie ist iibrigens in einer Gegend Berlins, in der 
iiberhaupt eine ziegelrote Atmosphare herrscht. Rechts ein Bret- 
terzaun um einen freien oder halbfreien Platz, und etwas weiter ein 
einsamer Waggon, offenbar von fahrendem Volk. Die Prenzlauer AUee 
verdankt ihren verfiihrerischen Namen den paar schwindsiichtigen 
Baumen, die dem vorstadtischen Pflaster der Armut entsprossen und 
nicht der Natur, sondern einer Magistratsverordnung zufolge Baume 
sind. Vorn ist das Spital, riickwarts das Obdachlosenasyl. Vor dem 
Eingang griifit PoUzei freundliches Willkommen alien jenen, die ihr zu 
entgehen trachten. Die Gange sind kahl, mit weifSgetunchten Amtsge- 
sichtern. Der Oberinspektor, ein grofier, blonder, giitiger Mensch, der 
so viel versteht, weil er so viel schon gesehen. Die Beamten tragen hier 
iiberhaupt Menschlichkeit unter der Uniform. Wer das Elend zu be- 
aufsichtigen hat, kann das Laster verzeihen. AUe Beamten des Staates 
miifiten je einen Monat im Heim fiir Obdachlose Dienst tun, um Liebe 
zu lernen. 



1920 375 

Saal und Menschen 

Der Saal ist ungeheuer lang und verhaltnismafiig schmal. Man konnte 
hier spazierengehen, stiinden die Betten nicht quer, militarisch in zwei 
Reihen einander gegeniiber. In der Mitte im Gang der Lange nach auch 
Betten. Eiserne nackte Gestelle, BiifSerbetten aus Drahtnetzen. Jeder 
Obdachose bekommt eine diinne Decke aus Papierstoff, die allerdings 
rein und desinfiziert ist. Auf diesen Betten hocken sie, schlafen sie, 
lagern sie, die Heimatlosen. Groteske Gestalten, als kamen sie alle aus 
den Armen- und Abenteuerromanen der Weltliteratur. Fast sind sie 
unwirklich. Aite Manner in Lumpen, mit grauen Barten, Landstrei- 
cher, die Huckepack ein Biindei Vergangenheit auf gekriimmten Rlik- 
ken schleppen. Ihre Stiefel tragen den Staub zerwanderter Jahrzehnte. 
Manner in mittlerem Alter, in halben Uniformen, mit braunen Gesich- 
tern, aus Hunger und Harte gemeifielten. Jugendliche in schlotternden 
Beinkleidern, mit Augen, in denen sich Gehetztheit und Trotz mi- 
schen. Frauen in braunen Lumpen, schamlos und scheu, neugierig und 
gleichgiiltig, flackernd und resigniert. Je hundert in einem Saal. 
Frauen, erwachsene Manner und Jugendliche getrennt. Es dauert un- 
gefahr zwei Stunden, ehe ein Schub beisammen ist. Von vier Uhr nach- 
mittags bis neun Uhr abends ist Aufnahme. Eine Schiissel dampfender 
Suppe bekommt jeder. Wer gar zu elend aussieht, kriegt mehr. Jeden 
Morgen ist Krankenmeldung. Es melden sich viele. Viele haben Ful^- 
leiden. Es sind Menschen, die ein Lebensalter wandern miissen. Etwa 
fiinfzig Prozent Geschlechtskranke. Die meisten sind verlaust. Es ko- 
stet schwere Miihe, sie zu einer Reinigung zu bewegen. Durch die 
Desinfektion werden die Kleidungsstiicke ruiniert. Sie wollen lieber 
mit unversehrten Lausen leben als mit noch mehr zerfetzten Kleidern. 



Die Familien 

Die Familien wohnen in getrennten Holzbuden, die in den Salen zu- 
rechtgezimmert wurden. Manche haben sich's gemiithch eingerichtet. 
In jeder Saalecke ist eine Gasflamme und ein kleiner Herd. Hier kon- 
nen die Frauen kochen. Wasche hangt auf ausgespannten Schniiren 
und trocknet im Dunst von warmen Speiseresten, Verdauung und Ge- 
meinschaft. In jeder Stube eine Gaslampe. Fliichtlinge hausen hier. 



37^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aus Preufien, dem Rheinland, Holstein. Sie kennen einander. Sie stat- 
ten einander Besuche ab. Manche haben ein paar gerettete Mobel mit- 
gebracht oder miihselig neue zusammengerafft. Ich stelle mir vor, dafi 
die Frauen zuweilen auch miteinander streiten. Vielleicht eines Kindes 
oder eines Topfes wegen. Solcher Kleinigkeiten wegen konnen Arme 
streiten. Die Kinder sind blond und ein bifichen ungewaschen. Sie ha- 
ben keine schonen Spielzeuge, und ihre Welt ist ein Hof, zehn Kiesel- 
steine, ein Baum und die Umgebung. Oh, die Umgebung ist das 
schonste. 



Der Oherstleutnant 

Ich safi bei ihm, mit ihm in seiner Holzbude. Der Herr Oherstleutnant 
Bersin ist ein russischer, zaristischer, gefliichteter Offizier. Seit April 
in Berlin. Er ist alt und stolz und steif. Ein bifichen schief geht er, die 
Welt ist ja gar so schief geworden. Revolution! Batjuschka Zar ist nicht 
mehr. Wo ist der Zar? Wo sind die Epauletten? Wo ist der General- 
stab? Wo ist Rutland, das grofie Ruf^land? Er hat den chinesischen, 
den japanischen, den Weltkrieg mitgemacht. Er war Oherstleutnant im 
Generalstab. Zuletzt in Riga. Er spricht sehr gut Deutsch und freut 
sich, dafi er mit mir Russisch sprechen kann. Neben seinem Bett Hegen 
Zeitungen und Biicher. Er liest alles, was er bekommt. Seine Offiziers- 
kappe hangt an der Wand. Er zeigt sie mit sehr viel kindUchem, riih- 
rendem Stolz, wie ein Knabe eine Trommel etwa. Er mochte gerne 
arbeiten. Er will der Stadt nicht so zur Last fallen. Er ist Oherstleut- 
nant. Wie lange konnen noch die Bolschewiken herrschen? Noch ein 
klein wenig! Das ist ja Wahnsinn! Revolutionmachen! Offizieren Ach- 
selklappen herunterreifien! Wo ist der Zar? Batjuschka Zarf Wo ist 
Rui51and? Er hat Familie. Seine Kinder- vielleicht sind sie schon ver- 
heiratet, gefliichtet oder gar tot! Was ist das fiir eine Welt? Eine schiefe 
Welt! Armer, armer Oherstleutnant! Die Geschichte hat einen Purzel- 
baum geschlagen, und der Oherstleutnant ist ins Nachtasyl gefallen. 

Friiher einmal lebten Tausende voriibergehend im Obdachlosenheim. 
Jetzt durchschnittlich tausend jede Nacht. Am Morgen werden zwei, 
drei Sale von der Polizei durchforscht. Sie findet manchen, den sie 
gesucht hat. 



1920 377 

Es gibt auch andere, die man gar nicht mehr mustert. Man kennt sie. 
Seit zehn Jahren undmehr kommen sie ins Asyl. Stammgaste. Stamm- 
obdachlose. Das Vorlaufige ist ihnen unveranderliche Lebensform ge- 
worderi, und in der Heimatlosigkeit sind sie zu Hause. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 23, 9. 1920 



TRIANON-THEATER 

»Der Roman einerFrau«j Lustspiel in 3 Akten von Lothar Schmidt 

Pramissen: erstens: Der Ingenieur betriigt seine Frau; zweitens: mit 
der Gattin des Literaten. Seine eigene Frau ist eifersiichtig; seine 
Schwiegermutter ist eine kluge Schwiegermutter; der Literat ist ein 
dummer Ehemann; und beide Familien wohnen in einer und derselben 
Villa. Schlufifolgerung: Lustspiel in drei Akten. 

Eindeutigkeiten plumpsen ins Parkett. Es spriiht nicht: Es zischt. 
Keine Knallbonbons: Schwedische Ziindholzer. Die Technik nur fallt 
stellenweise anerkennenswert aus der Possenschablone hinauf in Lust- 
spielregion. 

Rosa Valetti beschwiegermutterte Eugen Burg, den mafiigen Inge- 
nieur, ausgezeichnet. Neben dieser Schwiegermutter kann sich Julius 
Falkenstein als Literat nur belachen lassen und Rolf Muller, der kleine 
Knabe Klaus, belacheln, aus dem - triigt nicht Lieblichkeit zu sehr - 
trotz Wunderknabentum noch einmal ein grofier Rolf Muller werden 
wird. Eugen Burgs Regie verrat Geschmack, Fleifi, Instinkt. Man rief 
nach dem Autor, den Schauspielern. Sie kamen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. 9. 1920 



HERBST IN BERLIN 



Morgenstunden, von Triibsalglasur sanft iiberhauchte, schaukeln, 
friihwindgeschwellt, pausbackig durch die Stadt. Von Pflichtwecker- 
geklingel aus weicher Bettheimhchkeit geschrillt, klettert der Mensch, 



3/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Herr der Schopfung, verspatet an frommen Morgenspriichleinsprossen 
empor zu Wachheit und Waschbecken. 

Hausverwalterbesen wischen Gewesenes und Gesten und welkes Laub 
aus der Pflastersteine Angesicht. 

Strafienbahnen schlottern, von der Insassen Tatendrang getrieben, 
stromsparend Schlenen entlang dem Segen der Arbeit zu. Und Kinder, 
mit Bravheit und Schulmappen verkehrend, Morgenkakaogeschmack 
in den Miindern, wiederkauen eiligst deutsche Dichter. Andre wirbeln 
aus nachtlicher Lauheit, blattergleich von Hungerwind geschiittelt, in 
den Maschinenbehalter Welt. Indes, kaum gesehen und nichtsdestowe- 
niger, eine Sonne liber marineblaue Himmel schlendert, sorglos, als 
waren Burostuhle, Treibriemen und Kultur unbekannt auf Erden. 

Bei Herbstmittagssonnenstrahl hauten sich die Litfafisaulen neu mit 
Offenbarungen profitsuchener Lebensfreude, die verfuhrerisch noch 
nach frischdiinstendem Klebekleister duftet. Aus den Dielen der Erde 
spriefit die Ernte der Saison. Damenhiite erbliihen auf Kleiderstengeln 
in den Schauscheibengarten von Wertheim und Tietz. 
Sonnensatte kehren heim zu Perserteppich und Premiere. Und schon 
klimmt der Spielplan aus sommerlichen Possenniederungen olympi- 
sche Hohen hinan. Grof^e Filmereignisse werfen ihre Schatten auf die 
Leinwand. 

Nachte sind passantenbelebt und von frisch errungener Amiisierfreude 
durchpulst. In den grofien Schauspielhausern der Welt gibt man das 
Spiel vom Leben des reichen Mannes. 

Aber im Tiergarten ist Herbst. Alleen wandeln trauerbunt durch die 
Welt. Herbst ist im Tiergarten. 

Prager Tagblatt, 26. 9. 1920 



ABENDGANG DURCH ALT-BERLIN 



Die Gerausche der Stadt werden leise und andachtig, ziehen sich die 
Schuhe aus und treten in Striimpfen in die schmale, wunderbare Gasse 
»Am Krogel« wie Glaubige in die Moschee. 



1920 379 

»Am Krogel«. Ein Name, glattgeschliffen von dem Wassersturz der 
Jahrhunderte, griinlich schimmernd von der Patina des Gewesenen. 
An einer Wand liest man: 

»ProduktenankaHf hinten am Wasser. 2ahle hochste Preise fiir Alt- 
papier, ZeitungeUy Akten, Geschaftsblicherj BedruckteSj Metallblechy 
Flaschen, Lumpen usw. Hdndlern zahle ich Extra-Preise.« 
Rechts und links Wande mit rostigen Gitterbrillen vor schlummernden 
Fensteraugen. Erinnerungen haben sich in Ritzen und Rillen festge- 
krallt. Verschollene Laute kauern in den Nischen. Fetzen verstorbener 
Worte flattern fledermausgespenstisch von Wand zu Wand. 
Die Gasse ist voll von vergangenen Dingen. Vergessenes hiillt Stein, 
Dach, Fenster und Mortel ein. AUes liegt eingebettet in flaumigen 
Wattebauschen der Vergessenheit wie kostbare alte Edelsteine in zart- 
lichen Etuis. 

Oben ein schmales Rechteck Herbsthimmel wie eigens zugeschnitte- 
ner Blaupapierstreifen. 

Unten das Pflaster, uneben und holprig von der Last der Ereignisse. 
Jahre sind iiber die Steine geschritten, haben sie in die Erde gedriickt. 
Schwere Lastwagen der Geschichte sind iiber das Pflaster gepoltert. 
»Hinten am Wasser« ist der Produktenankauf. Das Haus ist baufallig 
und unbewohnt, und der »Produktenankauf« voUzieht sich im Hof. 
Man darf iiber die zerbeulten, holzernen Stiegen hinauf in leerstehende 
Zimmer, die nach Kalte riechen. 

Die Reste gewesenen Lebens sind verflattert. Das Haus ist wie eine 
balsamierte Leiche, die nicht zerfallen kann. 
In irgendeinem Zimmer steht noch der Ansatz zu einem Herd. 
Und auf diesem Herdansatz hockt eine Katze. 

Die Katze ist vielleicht hundert Jahre alt, vielleicht alter. Sie ist auf 
diesem Herd grofi geworden und hat Mause gefangen und sich von 
Menschen kraulen lassen. Menschen und Mause sind nicht da. Die 
Katze kann es nicht begreifen. Sie facht plotzlich ihre Augen an wie 
zwei griine Kohlen. Es ist frostige, in Glas eingesperrte Glut. 
Unten trommelt ein Dutzend Jugendstimmen gegen Stille und Verges- 
senheit: Eine Schule ist da. Der Herr Lehrer hat mit den Kindern einen 
Ausflug nach Alt-BerHn gemacht. 

Zehn Knaben knattern wie Automobile die Treppe hinan. Da gibt es 
die Katze auf nachzudenken. Sie springt durch eine Luke hinaus, um 
zu sehen, ob die Welt sich wirklich so stark geandert habe. 



380 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Unten, die Gasse entlang, geht der Abend herum wie eine Schildwache 

und wartet auf die Nacht. Im Licht seiner Mondlaterne liest er die 

Preise des Produktenhandlers. 

Die einzige Gaslampe am Krogel erglimmt zaghaft. Ihr kleines Licht 

fallt zitternd wie ein silberner Tropfen ins Dunkel. 

»Hinten am Wasser« tutet die Sirene eines Spreedampfers. Und driiben 

am andern Ufer beginnt Berlin, eine schnurgrade, bequeme Welt mit 

Lift, Wasserleitung und Badezimmern. 

Die Katze sitzt jetzt just iiber dem Kanalgitter, in der Mitte des 

»Kr6gls«, und kann's nicht begreifen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 29. 9. 1920 



.SCHALL UND RAUCH« 



Das Oktoberprogramm raschelt amiisant: Wilhelm Bendow, Confe- 
render im Strafienanzug, sachliche Trockenheit in der humorigen Ak- 
tentasche; Anna Pohl, die junge Debiitantin, von einer entziickenden, 
lyrisch-sentimentalen Absinth-Dirnen-Verworfenheit und scheinwer- 
ferblauem Elend. Joachim Ringelnatz, gottlicher Spafimacher, vom 
Tisch der Cotter aufs Podium herabgestiegen; Mady Christians, so 
schon, so Kinostar, dafi jede ihrer Ubertreibungen verzeihHch ist. Lida 
Kresse, Tatarismus im Korper, Janitscharenklang in den GUedmafien, 
braun, geschmeidig. Angorakatze, die tanzen gelernt hat; Couplets 
von Theobald Tiger und »Wenn sie stoppte«, Szene von Hans Botti- 
cher, unterhaltend, manchmal mehr. Die Musik HoUaenders: Wiener 
Heuriger mit leichtem Sodawasserzusatz, nordlich gemischt. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Biatt, 2. 10. 1920 



DER TEMPEL SALOMONIS IN BERLIN 

Im Gasthaus des Ostens 

Konig Salomo, der von den bekannten salomonischen Spriichen, Psal- 
men und Urteilen abstammt und noch zu jener Zeit regieit hat, in der 
die Geschichte riickwarts ging, namlich von 1015 bis 975 vor Christi 
Geburt, liebte die Pracht und das Wohlleben und war freigebig Unter- 
tanen und Gott gegeniiber. Jenen schenkte er Steueredikte und 
Zehentverordnungen, diesem fromme Gebete und einen herrlichen 
Tempel. Gold, Marmor und ahnliches Baumaterial liefi sich der Konig 
von seinen Nachbarn liefern. Seine Konigsburg erbaute er mit Hilfe 
des Konigs Hiram von Tyrus, und damals offenbarte sich die Unhak- 
barkeit des Antisemitismus. Denn es ereignete sich, dafi der Konig Hi- 
ram, schlau, als ob er ein Salomo ware, dem Konig Salomo einen unbe- 
schrankten Kredit eroffnete und dafi der Konig Salomo, naiv, als ob er 
ein Hiram ware, so lange borgte, bis der Antisemit Hiram sein wahres 
jiidisches Wesen zeigte und, auf seinem Schein bestehend, den Salomo 
pfanden ging, Er erbeutete so zwanzig fruchtbare Gefilde im Norden 
des Judenreiches, denn Konig Salomo konnte seine Schulden just nicht 
bezahlen. Uberhaupt benahm sich der Konig Salomo wie ein leichtsin- 
niger Rittergutsbesitzer. Er hatte durchaus Monokelmanieren, und 
wenn ihn nur die Hakenkreuzler erlebt hatten, so ware alles anders 
gekommen . . . 

Herr L. Schwarzbach, nicht aus dem Lande Ophir, sondern aus Dro- 
hohycz, unternahm es, den Tempel Salomo s zu rekonstruieren^ »en mi- 
niatur naturlich«, wie er in seiner Anzeige sagte, in einer Verkleine- 
rung von 1:70. L. Schwarzbach arbeitete neun voile Jahre an der Er- 
bauung des Salomonischen Tempels, Ich sah mir die Photographic die- 
ses Mannes an, der neun Jahre seines Lebens an dem Tempel einer 
toten Majestat baut, von der man sich nicht einmal einen Bauratstitel 
erwarten kann. Es ist das Bild eines bartigen polnischen Juden mit 
Samtkappi und Stirnlocken und grofien, dunklen philosophischen Au- 
gen, in denen die Mystik die Spekulation totschlagt. Das Bild hangt 
iiber dem Tisch, auf dem der Salomonische Tempel aufgestellt ist, Und 
alles zusammen ist in der Hirtenstral^e, an der Ecke, wo ein kleines 
jiidisches Gasthaus nistet. 
Die Karten zum Eintritt in den Tempel Salomos bekommt man entwe- 



382 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

der im Gasthaus selbst oder, wenn man vorsichtig ist, doch lieber in 
der Buchhandlung - Sternkucker, GrenadierstraKe. Man bekommt fer- 
ner um zwei Mark noch eine Beschreibung und urn weitere zwei Mark 
eine Beschreibung in hebraischer Sprache. Man muK diese Behelfe ha- 
ben, will man den Tempel Salomos kennen. Man ist sonst hilflos wie 
ein Brautigam. 

Der Tempel Salomos von Herrn L. Schwarzbach besteht aus haltba- 
rem Pappendeckel, ist rot und weifi und golden bestrichen, hat eine 
Unzahl niedlicher Tiiren und Fenster und Tiirme und Erker und ist 
wirkHche, gute Kleinkunst. Schlanke Saulchen streben mit leichtem 
Aufwartsschwung gegen das diinne Gewolbe, tragend und gewachsen. 
Eigensinnige Zinnenzacken tanzeln in den Hohen wie Spafie, die sich 
der liebe Gott mit dem Gebaude seiner Erhabenheit erlaubt hat. 
Quarzgriine Fenster bereiten andeutend vor auf Predigt, Gottesdienst- 
kiihle und Konfirmation. Schmale Treppen eilen regelmafiig und un- 
iibersehbar schrag Hohen hinan, Kleine Hauser uberraschen unlo- 
gisch, wie Feldsteine mitten im Weg, auf dem glatten Parkett eines 
viereckigen Hofes. Wachterturme lugen, auf Zehenspitzen stehend, 
rings in die Welt um den Gasthaustisch. Ein Brunnen, winzig wie ein 
Westenknopf, birgt Tiefen en miniature, Wassermengen im MaKstab 
1:70. Das Ganze, ein Liliputinstitut, betragt Pomposes in Niedlich- 
keit. Liebliches Pathos. 

Man sieht: das Fundament, 300 Ellen hoch und 500 Ellen im Quadrat 
breit, unter dem der Strom Kidron flofi; den Eingang zum Blumengar- 
ten, »woher der Duft der Blumen in das AllerheiUgste drang«; die 71 
goldenen Stiihle der Sanhedrin-Richter; den Frauenhof, einen Qua- 
dratraum »von 135 auf 135 Ellen«; den Raum fiir die Nazaraer, in dem 
sie ihre Geliibde abgelegt hatten, keinen Wein zu trinken und sich das 
Haar nicht schneiden zu lassen; die 15 Levitenstufen, auf denen die 15 
Psalmen gesungen wurden, je ein Psalm auf einer Stufe; den Wacht- 
turm, auf dem die Priester so lange Wache hielten, wie das Opferfeuer 
brannte; das Dach aus purem Gold iiber dem Allerheiligsten, beschla- 
gen mit ellenlangen Spiefinageln, um unanstandige Vogel fernzuhalten; 
und schliefilich den Altar, der 32 Ellen im Quadrat grofi war. 
Es kommt kein Mensch in die Hirtenstrafie, in den Tempel Salomos. 
Denn das Volk ist gottlos und republikanisch. Im Nebenzimmer des 
Gasthauses starren trockene Schleie auf einem klebrigen Teller und 
strecken Gabelschwanze in die Luft. In einer Terrine trauert Einge- 



1^20 3^3 

machtes. Uber einer Stuhllehne walk, schlaff und leer, ein abgelegtes 

Frauenkleid. 

In der Wirtsstube zerkaut eine TIschrunde Ereignisse und Valuta. 

Sie sprechen nicht von Konig Salomo, dem Weisen, der eigentlich ein 

Asthet war, mit exzentrischen Neigungen, dem ich es zutraue, dafi er 

manchmal in den »Frauenhof von 135 auf 135 Ellen« kam und, wenn 

keiner es sah, in den Blumengarten schlich, um sich eine Oscar Wilde- 

sche griine Nelke ins Knopfloch zu stecken. 

Zuweilen gar wird er der Konigin Saba ein wunderbares goldenes 

Dachlein geschenkt haben. Dafiir wurde er nun von Hiram gepfandet 

und um zwanzig Landgebiete armer gemacht. Um ganze zwanzig 

Landgebiete!. . . 

So wunderschon war Saba, die Konigin. - 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2. 10. 1920 



FLUCHTLINGE AUS DEM OSTEN 



Fiirst Geza - (in Ungarn setzt man den Vornamen nach dem Familien- 
namen), und er heifSt nur so dank einem launigen Schicksal, das Bett- 
lern manchmal herrschaftliche Attribute beizulegen beliebt-, also 
eigentlich: Geza Fiirst war in einem Budapester Kolonialwarenge- 
schaft Lehrling selt seinem zwolften Lebensjahre. Als er sechzehn 
Jahre alt war, begann die ungarische Rateherrschaft, und der Kolonial- 
warenladen wurde geschlossen. Infolgedessen ging Geza zur roten Ar- 
mee. 

Als die Reaktion in Ungarn ans Ruder kam, fllichteten Geza Fiirst und 
seine Eltern in das von den Rumanen besetzte Gebiet Ungarns. Die 
Rumanen wiesen die Familie Fiirst aus. Der Vater Fiirst, ein jiidischer 
Schneidermeister, iibersiedelte mit Frau, vier Tochtern, Schere, File, 
Zwirn, Nadel und seinem jiingsten Sohn Geza in die Slowakei. Nach 
Budapest konnte der sechzehnjahrige Geza, der ja in der roten Armee 
gedient hatte, nicht zuriick. Also kam er nach Berlin. 
Nicht etwa, um in Berlin zu bleiben. Der Demobilmachungskommis- 
sar liefie es ja ohnehin nicht zu. Geza Fiirst, der kaum Siebzehnjahrige, 
will nach Hamburg. Auf ein Schiff. Als Schiffsjunge. Soil er etwa neu- 



384 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

erlich in einem Kramladen kunstvolle Tiiten drehn, Heringe bei steifen 
Schwanzen aus den Fassern ziehn und Rosinen hinter dem Ladentisch 
verschiitten? Oder sich bei Armeen anwerben lassen? Geza Fiirst will 
mit Recht auf ein Schiff. Sirenen tuten, weifie Kamine prusten Dampf, 
Schiffsglocken lauten, und die Welt hat kein Ende. Geza Fiirst wird 
einen guten Matrosen abgeben. Er ist breit gebaut und dennoch von 
leicht beweglichem Korper, und seine grauen Augen sehen schon 
Grenzenlosigkeit und blaue Horizonte. 

Nun kam Geza Fiirst nicht nach Hamburg, weil er vorlaufig keine 
Papiere hat. 

Geza Fiirst schhef in einem Logierhaus in der Grenadier strafie. Dort 
machte ich seine Bekanntschaft. Ich lernte noch andere kennen. In die- 
sem Logierhaus waren namHch etwa h under tiwanzig am dem Osten 
gefliichtete Juden untergebracht. Viele Manner waren geradewegs aus 
der russischen Kriegsgefangenschaft gekommen. Ihre Kleidung bildete 
eine groteske Monteurfetzeninternationale. In ihren Augen war tau- 
sendjahriges Leid zu sehen. Frauen waren da. Sie trugen ihre Kinder 
auf dem Riicken wie schmutzige WaschebiindeL Und Kinder, die auf 
krummen Beinen durch eine rachitische Welt krochen, knabberten an 
harten Brotrinden. 

Es waren Fliichtlinge. Man kennt sie allgemein unter dem Namen »Die 
Gefahr aus dem Osten«. Pogromangst schweifit sie zusammen zu einer 
Lawine aus Ungliick und Schmutz, die, langsam wachsend, aus dem 
Osten iiber Deutschland roUt. Im Berliner Ostviertel staut sich ein Teil 
in grol5eren Klumpen. Wenige sind jung und haben gesunde GUeder 
wie Geza Fiirst, der geborene Schiffsjunge. Fast alle sind alt, gebrech- 
lich und gebrochen. 

Sie stammen aus der Ukraine, Galizien, Ungarn. Hunderttausende 
sind zu Hause Pogromen zum Opfer gefallen. Hundertvierzigtausend 
fielen in der Ukraine. Uberlebende kommen nach Berhn. Von hier aus 
wandern sie nach dem Westen, nach Holland, Amerika und manche 
nach dem Siiden, nach Palastina. 

Im Logierhaus riecht es nach Schmutzwasche, Sauerkraut und Men- 
schenmasse, Auf dem Fufiboden lagern zusammengeroUte Korper wie 
Gepackstiicke auf einem Bahnsteig. Ein paar alte Juden rauchen Pfeife. 
Die Pfeife stinkt nach verbranntem Horn. Kinderkreischen flattert in 
den Winkeln herum. Seufzer verlieren sich in den Ritzen der Dielen- 



1920 3^5 

bretter. Einer Petroleumlampe rotlicher Schimmer kampft sich miih- 
sam durch eine Wand aus Rauch und Schweif^dunst. 
Geza Fiirst aber halt es nicht aus. Er steckt die Hande in die ausgefran- 
sten Rocktaschen, pfeift sich eins und geht auf die Strafie, frische Luft 
schopfen. Morgen wird er vielleicht in dem ostjiidischen Obdach- 
losenasyl in der Wiesenstrafie unterkommen. Wenn er nur Papiere 
hatte. Denn man ist sehr streng in der Wiesenstrafie und nimmt nicht 
so ohne weiteres jeden auf. 

Im ganzen sind 50000 Menschen aus dem Osten nach dem Kriege nach 
Deutschland gekommen. Es sieht freiHch aus, als waren es MilHonen. 
Denn das Elend sieht man doppelt, dreifach, zehnfach. So grofi ist es. 
Es sind mehr Arbeiter und Handwerker unter den Zugewanderten als 
Handler. Nach der beruflichen Gliederung sind 68y}0 Prozent Arbei- 
teVy 14,26 Prozent Lohnarbeiter und nur ii,i} Prozent freie Handler 
Sie konnen in keinem deutschen Betrieb untergebracht werden, ob- 
wohl die grofite Gefahr nur dann besteht, wenn die Leute nicht arbei- 
ten diirfen. Dann werden sie natiirlich Schieber, Schmuggler und sogar 
gemeine Verbrecher. Der Verein der Ostjuden in Berlin bemiiht sich 
vergebhch, die Offenthchkeit zu iiberzeugen, daf^ das Gesiindeste die 
Verteilung der zugewanderten Arbeitskrafte auf den gesamten deut- 
schen Arbeitsmarkt ware. Aber selbst die Abschiebung der Leute be- 
gegnet Schwierigkeiten bei den Behorden. Statt alien jenen, die ein 
Ausreisevisum verlangen, sofort die Abreise zu ermoglichen, versucht 
die Behorde, die Erledigung der Ausreisegesuche in die Lange zu Zie- 
hen. Wochenlang sterben die Gefliichteten hier von der Mildtatigkeit 
der Mitmenschen, eh' es ihnen moglich wird, das Weite zu suchen. Bis 
jetzt ist es zwolfhundertneununddreif^ig Personen gelungen, Berlin zu 
passieren, ohne Hungers gestorben zu sein. 

In der Wiesenstrafie, in dem stadtischen Asyl fiir Obdachlose, das eine 
Zeitlang geschlossen war, ist jetzt eine Unterkunftsstdtte fiir gefliich- 
tete Ostjuden geschaffen worden. Die Leute werden gebadet, desinfi- 
ziert, entlaust, gespeist, gewarmt und schlafen gelegt. Dann verschafft 
man ihnen die Moglichkeit, Deutschland zu veriassen. Es ist eines der 
segensreichsten Vorbeugungsmittel gegen die »Gefahr aus dem 
Osten«. 
Hie und da ist einer unter den Leuten, der Intelligenz und Unterneh- 



386 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

mungsgeist besitzt. Er wird nach New York gehen und DoUarprinz 
werden. 

Vielleicht gelingt es Geza Fiirst, nach Hamburg zu kommen und 
Schiffsjunge zu werden. Geza Fiirst, der jetzt in der Grenadierstrafie 
auf und ab geht, Hande in der Hosentasche, Rotgardist auf5er Dienst, 
Abenteurer und Seepirat in spe. Ich horte ihn letzthin ein ungarisches 
Lied singen, das hatte folgenden Text: Ich und der Wind, wir beide 
sind gut Freund; kein Haus und kein Hof und kein Menschenkind, das 
um uns weint . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 20. 10. 1920 



»DER TOR UND DER TOD« UND »ELEKTRA« 

Im Neuen Volkstheater 

Welch grausamer Einfall, Hoffmannsthals dekadent kompliziertes, 

sublimes Werk im Neuen Volkstheater! Wo unberufen gesunde Ober- 

buchhalter von Geburt und iiberhaupt »Absolventen« auf Biildung an 

numerierten Lostagen abonniert sind. Es war ein verlorener, verlore- 

ner Abend, In den Oswald-Lichtspielen war gerade gestern Katharina 

die Grofie uraufgefiihrt worden! 

Je lyrischer der Tor Claudio (Arnold Czempin) wurde, desto ver- 

schnupfter der Zuschauerraum. Nie horte ich so viel Niesen. Sie huste- 

ten auf Lyrik. 

Alle Schauspieler deklamierten. Stellten sich mitten auf unter dem 

Scheinwerferlicht, und indes safi der Tod (Twardowski) wie ein Ge- 

sangslehrer auf der Geige und »horte« ab. 

Dann war »Elektra«, und die Leute entsannen sich des Abonnements 

und horten auf zu niesen, weil nebenbei ja auch was geschah. Rose 

Liechtenstein (Elektra) leistete quantitativ Enormes. Dennoch war sie 

stellenweise sogar grofi. Dagegen die andern bemiihten sich alle, 

»Elektra« zu sein. Sie machten es auch so. Schrien, wo sie still sein 

sollten. Die ganze Tragodie ein Geschrei! Dachten sie. 

Regisseur Goldberg soUte dem Tod zur Geige nicht einen ausgewach- 

senen unproportionierten und storenden Cellobogen geben. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 23. 10. 1920 



KOMODIENHAUS: »DIE SACHE MIT LOLA« 

Schwank von Rudolf Bernauer und Rudolf Schanzer 

Rudolf Schanzer und Rudolf Bernauer singen altbekannte, liebver- 

traute Melodien. - Vom reichen Provinzonkel, der nach der Metropole 

kommt und einer Lola nachstrebt. Die Lola hat einen Korsettsalon. 

Einen stilisierten. 

Man lachte - pruschte vor Lachen. Der Raum lachte, die Sessel, die 

Kronleuchter. Bei jedem Wort, bei jeder Bewegung, bei jedem neuen 

und alten Witz. - Man erlachte der Direktion dreihundert Vorstellun- 

gen. - Hintereinander. 

Und das ist gut. Wir brauchen Lachen. 

Pallenberg war prachtvoll. Er geht nicht von der Biihne. - Er spielt, er 

spielt. - Mit sich, mit dem PubHkum, mit seinen Beinen, Fiifien, am 

wenigsten mit seinen eigenthchen Partnern. Er monologisiert, impro- 

visiert, karikiert, parodiert - sich und andere, macht Gegenstande zu 

Akteuren und zu seinen Partnern. 

Herzerfrischend war Josefine Hora als mif^trauische Gattin aus Zan- 

zenberg an der Zanze, pikant und toilettenbegabt Emma Sturm als 

Lola; Hermann Picha, Heinz Stieda und Bernhard Haskel rundeten 

die Sache ab. 

Im Parkett gratulierte man sich gegenseitig. 

Neue Berliner Zeitung, - 12-Uhr-Blatt, 25. 10. 1920 



SOWJETAUSSTELLUNG IN BERLIN 

Nur Plakate und Portrdts 

Etwas stimmt nicht an dieser Bezeichnung: Sowjetausstellung. Sie 
miilSte: Sowjetpropagandaausstellung heiCen. Sie zeigt nicht, was in 
Rutland vorgeht, geschaffen wurde, wirkt, zerstort und baut, sondern 
was in Ruf^land vorgehen soil, nach dem Willen derer, die es befehlen. 
»Befehligen« - hatte ich fast gesagt. 

Dafi hefohlen wird, spiirt man deutlich. Man befiehlt zum Beispiel: 
[dealismus, Gewissen, proletarisches Bewufitsein, Nachstenliebe. Der 



388 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Zarismus befahl: Mord, Pogrom, Barbarei. Ein Fortschritt ist also da. 
Nur: Es wird eben befohlen. Der Fortschritt ist anbefohlen. 
Die Ausstellung besteht im ganzen aus etwa sechzig Plakaten und 
mehreren hundert Bildern, Photographien. Und kommunistischen 
Broschiiren. Und Tannenreisig. 

Ein verhaltnismafiig kleiner Raum des Gewerkschaftshauses faf5t die 
Ausstellung. Darin liegt Unlogik. Bestiinde die Ausstellung aus den 
Abbildungen des bisher von den Sowjets Geleisteten, der kleine Raum 
ware verstandlich, denn es ist den Sowjets vielleicht beim besten Wil- 
len nicht moglich gewesen, mehr zu leisten in einem Land, das besat ist 
von den Triimmern zaristischer HoUenmaschinen. AUein, die Ausstel- 
lung gibt nur Sowjetpropagandatatigkeit wieder. Da hatte man mehr 
zeigen miissen als nur Plakate, Abbildungen von Volksreden und Phy- 
siognomien der Fiihrenden. 

Kurz, die Ausstellung vermittelt nicht »anschaulich«. Sie vermittelt 
Anzuschauendes. Man erfahrt, dafi man auch in RuCland Reden halt, 
Truppen ausriistet, verwahrloste Kinder saubert, die Hilflosen unter- 
stutzen will (ob es gelingt, sieht man nicht), bei Kongressen an griinen 
Tischen zusammenkommt, berat und sich schUef^lich photographieren 
lafit. 

Plakate sind durch kiinstlerische Mittel wirkende Tendenz. Solche Ge- 
wifiheit ist notig, um die Ausstellung unvoreingenommen besichtigen 
und geniefien zu konnen. 

Hat man sich mit der Tatsache vertraut gemacht, dafi in Rufiland so 
ziemUch alle Kunst im weiteren Sinn, das heifit alles Konnen in das 
Joch politischer Tendenzwirkung gespannt ist, so kann man seine 
Freude an beidem haben: am Ausdruck und an der Wirkung. 
Das Wertvollste an der ganzen Ausstellung ist ein Satz, das fiinfte von 
den zehn Geboten der SowjetrepubHk. Es lautete: Richte deine Kraft 
gegen die Reichen, die Mittleren lafit in Ruh, den Armen hilf! Das ist 
die Weltanschauung der politischen Nachstenliebe: Liebe nicht deinen 
Nachsten, sondern deinen nachsten Armen wie dich selbst! . . . 
Der Rest ist Farbe. Ein Sowjetbanner, wie ein roter Himmel aufge- 
schlagen liber den »V6lkern der ganzen Welt«. Politische Bilderbiicher 
fiir das russische Kindervolk: »Wie die Zaren das Volk marterten«; 
»Getreue Erzahlung fiir die Bauern, wie wir die Herren vertrieben ha- 
ben«; biedere Einfalt, heilige, zur Seele des russischen Bauern spre- 



1920 3^9 

chende, mit den Mitteln, mit denen stets zum russischen Bauern gespro- 

chen wurde: von den Zaren, den Korsaren, den Dichtern, den Grofiflir- 

sten, den Bolschewiken. »Wie der Deserteur dem Kapitalisten half«; 

wahrend redllche Soldaten dem iiber die Grenze fliichtenden Soldaten 

nachschiefSen (auch in Rufiland nachschiefien), entweicht der Kapitalist, 

der bose, oh, der Bose. 

Alles ist schwarz oder weifi. Schwarz ist schwarz, und Weifi ist gewohn- 

lich rot. 

Karikaturen iiberragen an Bedeutung und kiinstlerischem Wert nicht 

die in Westeuropa iiblichen. 

Ergreifend schlicht in der bewufiten Unbeholfenheit ist ein Bild, das 

Arbeiter und Arbeiterin an einem Ambo£ darstellt. Ungelenkes Bein, 

plumpe Stellung - es wirkt unmittelbar wie ein guter, alter Holzschnitt. 

Schlachtschitzen rasen blutig und grausam iiber »Gefilde«. JegoreWy 

Kommandant der Wrangel-Front, blickt wie ein Kommandant. Trotz- 

kis tiefes Auge und bewufite Geste an der Wand. Und kommunistische 

Broschiiren. Und Tannenreisig. 

Arbeiter mit rotem Stern kommen einzeln in die Ausstellung. Man 

stromt nicht, man tropft sozusagen. Bhckt andachtig und von Lenin- 

schauer durchbebt in eine ertraumte Welt, in eine bessere. AngebHch 

bessere. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 29, 10. 1920 



SHAKESPEARE UND DADA 



Gestern wirbelte Anton Knh, der Wiener Schriftsteller, im Vortrags- 
saale des Graphischen Kabinetts das Thema: »Dadaismus« auf. Kuh 
wzri den Dadaisten Verrat am Dadaismus vor. Er wies nach, dafi die 
Dadaisten vom Unsinn leben, nicht, weil sie nicht anders konnen, son- 
dern weil der Unsinn rentabel ist. Sie machten systematisch und ge- 
schaftstiichtig »in Unsinn«. 

Die Beziehung »Shakespeare und Dada« war nicht iiberzeugend genug, 
iber in der Form so elegant ausgedriickt, dafi sie glaubhaft wirkte. 
Es kommt iiberhaupt bei Kuh, dem Aphoristiker, mehr auf das Wie an. 
Darin enttauscht er niemals. 



390 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dialektisch in der Betrachtung, paradox im Ausdruck, salopp in der 
Gebundenheit, witzig im Ernsthaften, ernst bei Lacherlichkeiten und 
kostlich-anmutig selbst im Kaffeehauslichen: So ist Anton Kuh einer 
der elegantesten geistigen Leichtakrobaten. WertvoU, weil selten in 
einer Zeit, die nur deshalb brutal oder pathetisch, dumm oder poli- 
tisch wird, weil sie geistlos ist. 

Neue Berliner Zeitung - ii-Uhr-Blatt, 30. 10. 1920 



AUS DER UNTERWELT VON BERLIN 



Draufien sind die Menschen Passanten. Merkzeichen der Strafie wie 
Strafienbahn, Zaunpfahl, Laterne, Kiosk. Zu Hause eroffnen sie sich. 
Ich habe an einigen Sonntagnachmittagen fremde Menschen besucht, 
denen es schlechtgeht. 



Der Stuhl 

In der Bellermannstrafie 17 im Hof parterre nistet der Schneider O. 

mit Frau und Kind. 

Aber eigentUch ist nicht der Schneider O. Wohnungsinhaber, son- 

dern der Stuhl. 

Man konnte vielleicht sagen, das Bett sei Mieter. Nein, der Stuhl ist 

es. 

Denn das Bett hatte O. von Anbeginn. Mit dem Bett begann es liber- 

haupt. 

O. heiratete vor anderthalb Jahren. Dazu mufite er unbedingt ein Bett 

haben. Und anderthalb Jahre dauerte es, da war O. schUefiUch soweit, 

dafi er sich einen Stuhl kaufen konnte. Und nun ist der Stuhl der 

eigentliche Herr in Zimmer und Kiiche. 

Der Stuhl steht im Zimmer in der Ecke und wartet. Nur Gasten, 

Kundschaften des O., gewahrt er Platz, indes O., das Zentimetermafi 

um den Hals, eine Stecknadel zwischen den Lippen und die Kreide in 

der Linken, die Mafie notiert. 

Wenn der Cast fort ist, geht der Stuhl in seine Ecke zuriick. 



1920 39^ 

Bei besonderen Anlassen nur sitzt O, selbst auf dem Stuhl. Dann ist er 

selir feierllch. 

O. ist arm und schwachlich und erst am Anfang seiner Karriere. Er 

kam aus Danzig, wo er nicht bleiben durfte, nach dem Kriege nach 

Berlin. Zuerst wohnte er in einer Kiiche, nur in einer Kiiche. Jetzt hat 

er Zimmer und Kiiche, eine Wiege, ein Kind, einen Eimer, einen Tisch, 

ein Bett, und alles das beherrscht der Stuhl. Die Wohnung kostet sie- 

benundzwanzig Mark im Monat. 

Einen Anzug naht O. fiir zweihundertunddreiKig Mark fertig. Das ist 

billig. Aber es kommen verhaltnismafiig wenige, um sich Anzlige ma- 

chen zu lassen. Wenn O. Geld hatte, in der Zeitung zu inserieren, 

kamen vielleicht mehr. Denn nun hat O. einen Stuhl, und die Gaste 

konnen sich sogar setzen. 

Anderthalb Jahre mufiten die Gaste stehen. 

Die letzte Neuanschaffung ist ein Oberbett. Das kostet an die siebzig 

Mark, aber es war notwendig. Die Nachte im Winter sind kalt. 

Ich saf5 auf dem Stuhl. Meister O. safi auf dem Bett. Das Kind lag in 

der Wiege. Die Frau arbeitete in der Kiiche. 

Die Wohnung sieht aus wie kahlgeschoren. Sie riecht nach nichts. 

Es gibt noch ganz andere Wohnungen, die nach viel riechen, aber sie 

sind nur elend. Diese hier ist grausam. 

Und Wohnungsinhaber ist der Stuhl. Anderthalb Jahre hat alles auf ihn 

gewartet: der Schneider, der Kiibel, das Bett, die Wiege. 

Es ist ein ganz gewohnlicher holzerner Stuhl. Aber es ist der Stuhl. 

Und nun weifi ich auch, warum die Wohnung so grausam ist: weil ein 

Gegenstand sie bewohnt und der Mensch, der auch da ist, ein Ge- 

brauchsgegenstand ist. Als ware der Mensch ein Stuhl. Er ist aber nur 

ein Schneider, der Hunger hat. 

Dennoch bekommt seine Frau in der nachsten Zeit noch ein Kind. 

Und da wird fiir den Schneider vielleicht der Anlafi gegeben sein, sich 

auf den Stuhl zu setzen. 



Massenquartier 

E.S. wohnt in Neukolln, Karlsgartenstraf^e 5, vorn parterre. E.S. ist 

Rohrleger. 

Nachstens geht E.S. ins Gefangnis. Er hat namlich gestohlen, weil er 



392 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sechs Kinder hat. Eines der zehn Gebote miifite lauten: Du soUst nicht 
sechs Kinder haben! 

Bei E.S. wohnt ein Verbrecher, der ihn zum Diebstahl verleitet hat. 
Die Verhandlung hat noch nicht stattgefunden, die Gefangnisse sind 
iiberfulh, und der Rohrleger E.S. kann nicht fiiichten, weil er kein 
Geld hat. Er konnte hochstens aus diesem Grund noch einmal stehlen. 
Dann wiirde er eine noch einmal so lange Strafe bekommen. Vorlaufig 
aber ist er auf freiem Fufie. 

Mit seinen vorlaufig freien Fiifien geht E.S. Arbeit suchen. Man 
braucht nicht so viele Rohrleger. Infolgedessen hungert E.S., der 
Rohrleger. 

Er ist den ganzen Tag iiber nicht zu Hause. Man trifft ihn selten. 
Aus seiner Wohnung dringt Dunst wie aus einem Versammlungslokal, 
das fiinftausend eben verlassen. Ein Korridorschlund, eng und dunkel 
wie die Rohre, die E. S. zu legen pflegt. Vier Kinder zu Hause, zwei im 
Spital. 

In einem Zimmer drangt sich eine Anzahl Betten. Die Betten treten 
einander die Zehen ab. In der Wohnung des Rohrlegers schlafen Kin- 
der, Bettgeher, eine Frau. Bei Tag sieht es aus wie ein Magazin von 
Lagerstatten. 

In der Kiiche dammert die Bratpfanne auf dem kalten Herd. Vertrock- 
nete Reste langst gegessener, vergessener Speisen in Geschirr und Top- 
fen. 

Keines der Kinder hat Schuhe. Sie iagen herum wie erfrorene Spatzen. 
Die schulpflichtigen Kinder gehen nicht zur Schule. Sie liegen bis zum 
Mittag im Bett. 

Das Sofa in der Kiiche hat in der Mitte ein Loch. Daraus glotzt ein 
fahles Rofihaarbiischel. 

Dieses Loch im Sofa ist das schrecklichste. Schlimmer als die leeren 
Fensterrahmen, die der Wind ausfiillt. 

Das Loch im Sofa wachst und wachst. Es verschUngt die Bratpfanne, 
die sechs Kinder, die Frau, den Rohrleger. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 3. 11. 192c 



DER ELEKTRI2ITATSSTREIK 

Sonntagsgang durch die stumme Stadt 

Berlin in Dunkelheit 

Die Stadt ist nicht tot, die Stadt ist nicht einmal finster, sie ist nur 
stumm. 

Jetzt erst, da sie nicht ist, die Strafienbahn, glaubt man, sie zu horen. 
Eigentlich war sie es, die den eigentlichen »Larm der GroEstadt« macht. 
Und sie war es eigentlich, die das neue Menschenmaterial dieser Stadt 
beforderte. Jetzt larmt die Stadt nicht mehr, sie ist stumm. Und das 
Menschenmaterial fahrt nicht; es wandert. Es ist eine Stadt auf Beinen. 
Manchmal funktioniert das elektrische Licht, und manchmal hort es 
grundlos auf. Eine Stadtbahnstation leuchtend vorFrieden und Streitlo- 
sigkeit. Bogenlampen- und gliihbirnenbegabt. Man konnte glauben, 
Streik der stadtischen Elektrizitatsarbeiter sei eine feme, feme Angele- 
genheit aus dem Jahre 1920 zum Beispiel. Und eine andere Stadtbahn- 
station (z. B. der zoologische Garten) mit - Pechfackeln aus Museen fiir 
Altertumskunde an Kassenschaltern. Die Pechfackeln stinken Anklage 
und Emporung iiber Streik in die Luft. 

Friedrichstrafle'. Diese Straf^e besteht aus Tag und Nacht. Sie sieht aus 
wie ein experimenteller astronomischer Beweis. In der Behrenstraf^e 
scheiden sich die Tageszeiten. Noch ist Unter den Linden Nacht, tief- 
schwarze. Tritt man iiber die Grenze: Behrenstraf^e, ertrinkt man in 
einer Sintfiut von Licht, 

Cafes: friedlich nebeneinander Mittelalter und zwanzigstes Jahrhun- 
dert. Die Abstimmung der einzelnen Lichtstrome ist geheimisvoll und 
verschieden. Hier erweist sich, was pradestiniert ist zu Pech und gliick- 
Hchem ZufalL Ein Lokal in der Friedrichstrafle hat die silbernen Arm- 
leuchter seiner Urahnen zur Erhellung einer traurigen Gegenwart ange- 
wendet. Drinnen ist Gruftatmosphare. Wolbungen stromen seltsamen 
Totengeruch aus. Die Gesichter der Menschen sind halb und ein viertel 
beleuchtet. Gespenstererschimmern aus Hintergriinden: Sind das Kell- 
ner in weiten Sterbeservicegewandern? 

Und hart daneben, streikferne und mit Kulturerrungenschaften ausge- 
riistet, spriiht ein anderes expressionistisches Licht »Ballungen« in eine 
geblendete Menschheit. 



394 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In den Schaufensterladen am Potsdamer Platz und in der Leipziger 
Strafie verkummern Kerzen. Tropfenweise stirbt eine Strafienkultur aus 
Stearin, 

Die Stadt ist stumm. Verodet schleppen sich Schienen in die Unendlich- 
keit wie Streiks. Es sind zwei parallele Linien, die nach geometrischem 
Gesetz niemals zusammentref fen : wie zwei Parteien, die verhandeln . . . 
Die Menschen schieben nicht! Sie schieben sich. Es dauert eine Stunde, 
eh' man die Friedrichstrafie von der Behrenstrafie bis Unter den Linden 
durchschritten hat. Man schiebt sich. In der Mitte klafft finster der 
Abgrund, der Grundrifi der Friedrichstrafie, an dem der BerUner Magi- 
stral schon seit Ewigkeiten arbeitet, auf dafi wir hart an ihm wandeln . . . 
Strafienhandler sind Strafienhandler, seitdem Strafien finster wie Haus- 
tore sind. Und alles, was lichtscheu, scheut das Licht nicht mehr. 
Es ist alles symboUsch: BerUn ist ein Kintopp, ein dunkles Geschaft, ein 
expressionistisches Gemalde. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 8. 11. 1920 



ADRESSENSCHREIBER 

Ein Wintermorgen- und Kulturhild 

Der Novembermorgen liegt wie ein Eisblock in der Welt, starr und 
bleiern, Locher mufi man in ihn bohren, will man ihn durchschreiten. 
Alle Menschen stolen sich mit vorgeneigten Kopfen durch den Eis- 
block: Novembermorgen -vorwarts, kriimmen, Arbeit witternd, wilUg 
den Riicken, auf dem der Alltag reitet, blasen den letzten Morgenkaf fee- 
geschmack in die Liifte, immer noch eingehiillt in eine Art Dunstpelz 
aus nachtlicher Behaglichkeit und unterbrochener Bettwarme. 
Nur im Hof eines grofien Kohlenkaufhauses stehen die Menschen. 
Die Firma hat durch eine Tageszeitung Adressenschreiber gesucht. 
Filrifhundertj Alte und Junge, haben sich gemeldet. 
Die Jungen sehen aus wie die Sohne der Alten. Die Alten sehen aus wie 
die Zukunft der Jungen. 

Adressenschreiber erkennt man unter anderem daran, dafi sie gewa- 
schen und geflickt sind. 
Es ist ein peinlich gesaubertes Elend. Alle sehen so aus, als waren sie 



1920 395 

diinngescheuert und schwindsuchtgeschmirgelt. Wie alte Tischmesser, 

die durch jahrzehntelanges Geschliffenwerden degenschmal und bieg- 

sam werden. Es ist eine ganz eigene Rassearmut. 

Die Hande tragen gestopfte Zwirnhandschuhe, die das Frieren nicht 

verhindern, sondern verbergen soUen. Die Hemdkragen sind mit der 

Innenseite nach aufSen gekehrt und mattweif? und ohne Glanz. Die 

Stiefel sind blank, mit flehend zum Himmel gerichteten Spitzen. 2wi- 

schen Handschuh und Rockarmel rotet sich diinnes Handgelenk im 

Frost. Die Paletots sind »Ubergangskleider«. An kiihlen Sommernach- 

ten warmen sie. Sie gehoren zu den Sowohl-als-auch-Rocken, 

Wenn fiinfliundert mit den Zahnen klappern, ist es fast wie Miihlenge- 

rausch anzuhoren. 

Nicht zwei von den fiinfhundert sprechen miteinander. Sie klappern 

sich gegenseitig an. »Ich mochte dich gern hinausklappern«, denkt 

einer zum andern. 

In den Rocktaschen liegen Umschlage, graugrline, mit peinHch gebii- 

gelten, weil5en Zeugnissen. Dokumente, Bestatigungen, Schriftproben. 

Sie liegen schon seit Wochen, auskunftsbereit, in diesen Rocktaschen. 

Manchmal klopft jemand mit dem rechten Absatz gegen den linken, 

und plotzlich klopfen fiinfhundert Absatze gegeneinander. 

Es ist wie femes Trabgerausch einer Reiterkavalkade. 

Urn sieben Uhr gahnt ein Tor auf, dann ein Portier. Je zwanzig Adres- 

senschreiber sickern an dem dicken Portier vorbei in den Schlund des 

Hauses. 

Das Geschaftshaus braucht hundert Adressenschreiber. 

Franz A-t, StallschreiberstrafSe, in einem leeren, kalten Zimmer wohn- 
haft, war unter den andern Vierhundert. Er ist ein alterer Herr mit 
nervosen, kleinen grauen Augen, die gewohnt sind, iiber rote, griine, 
blaue Ziffernreihen und in Kontokorrentnischen mauschenhaft her- 
umzuhuschen. 

Er ist ein doppelter Buchhalter mit einfachem Hunger (fames vulga- 
ris), was iibrigens gut ware. Denn Franz A-t ist ein doppelter Buchhal- 
ter, ohne es ausniitzen zu konnen. Er ist kein doppelter Buchhalter, 
well er iiber sechzig ist und die Leut nur jugendliche doppelte Buch- 
halter mit ebensoviel Arbeitskraft woUen. 

Franz A-t wollte Adressenschreiber werden. Die Firma - eine der gro- 
Ken Berliner Firmen - bot ihm 25 DM fiir tausend Adressen. 



396 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

FUnpjundert kann man im Tag schreiben, wenn man lange geiibt hat. 
Das sind 12,50 DM im Tag, 

Das mit dem F.-A. nur nebenbei! Vierhundert Franz A-t gingen fort. 
Sie klapperten mit den Zahnen. Das Gerausch war genau so miihlen- 
klapperahnlich wie vorher. Ich konnte am Slang nicht deutlich unter- 
scheiden, ob es Frost oder nur Wut war. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 11. 11. 1920 



DER HERR HAUPTMANN UNTER LITERATEN 

Eine Prugelszene im Cafe Grojlenwahn 

Gestern um die neunte Abendstunde erlitt das »Cafe des Westens« den 
Besuch des Herrn Hauptmanns Hermann Freist, der, betrunken, in 
Zivil zwar, aber kriegerisch gesinnt, mit Todesverachtung einen fried- 
lichen Literatentisch stiirmte, das Geschirr zu Boden warf und den 
Schriftsteller Anton Kuh ins Gesicht schlug, ohne jede andere Veran- 
lassung als die, dafi ihn, den Orgeschmann, infolge seiner Trunkenheit 
die ganze Macht der Gewohnheit aus der Wilhelminischen Muskel- 
und Militardiktaturzeit iiberkam und also ein Grimm in ihm aufstieg 
gegen ein geistiges Antlitz, das derzeit nicht mehr von einer Helden- 
und Kanonenfutteruniform entstellt war. Wahrend um den iiberfalle- 
nen Tisch die emporten Gaste sich sammelten, um den Hauptmann 
Freist in die Wirklichkeit einer halbwegs republikanischen Freiheit zu- 
riickzurufen, erschien stockschwingend ein Herr namens Stephan 
Wassermann, der, unvermittelt zwar, aber offenbar aus angeborener 
Veranlagung, gegen »die Juden« zu wiiten anfing und die weiblichen 
Gaste des Cafes in jener gewahlten Weise beschimpfte, wie sie im Zei- 
chen des Hakenkreuzes selbstverstandlich und bei rechtsseitigen 
Putschorganisationen iiblich ist. 

Der iiberfallene Schriftsteller, der Herr Hauptmann, der Herr Was- 
sermann und die Zeugen begaben sich in das Polizeirevier in der 
Mommsenstra^e, wo der Hauptmann, niichtern geworden durch die 
Aufregung und infolgedessen ganz unmilitarisch-feige, die Lage so 
darzustellen versuchte, daf^ er selbst im Kaffeehaus iiberfallen worden 
sei und sich nur zur Wehr gesetzt habe. Es stellte sich heraus, daf^ der 



1920 397 

Hauptmann Freist und der Stephan Wassermunn Wohnungs- und Ge- 

sinnungsnachbarn sind und gemeinsam nach ungarischem Horthy-Sy- 

stem einen Feldzug unternommen hatten, um ihren Zorn gegen die 

noch vorhandene Geistigkeit auszutoben und die letzten Stinkgasreste 

der Grofien Zeit gegen jene zu blasen, die angeblich an der Republik 

schuldig sind. 

Die deutschosterreichische Staatsbiirgerschaft des Schrifts tellers Kuh 

veranlafite die Herren Freist und Wassermann^ die - AusweisHng sdmt- 

licher Ausldnder zu verlangen, Schliefilich wurden die Personaiien aller 

unmittelbar Beteiligten und der Zeugen aufgenommen. 

Der Herr Hauptmann und sein Begleiter zogen ab, obwohl die Polizei 

besser getan hatte, die Straf^en Berlins vor der Gefahr der beiden zu 

bewahren. Ob sie unbehelligend nach Hause gekommen sind, weifi ich 

nicht. 

Ich weifi nur, daf5 die Sitten der reaktionaren Ungarn trotz der gefor- 

derten »Ausweisung aller Auslander« in Deutschland von den Haken- 

kreuz-Kulturbazillentragern verbreitet werden. Daf^ wir anfangen 

miil^ten, Berlin und Budapest zu schiitzen und jene Berliner, die von 

Beruf Budapester sind, nach Ungarn auszuweisen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Ulir-Blatt, 13. 11. 1920 



DER KLUB DER ARMEN TURKEN 



Es gibt viele reiche Tiirken in Berhn, aber noch mehr arme. 

Die reichen wohnen im Westen, sind zwischen elf und zwolf vormit- 

tags auf der Borse und gewinnen Geld. Zwischen elf und zwolf Uhr 

nachts sind sie in westlichen Likorstuben, wo sie den Koran aus- 

schwitzen und das Geld verlieren. Noch mehr Geld verlieren sie in den 

Morphiumklubs, wo sie das Leben und Treiben der Harems mit Mufie 

studieren, Ich kenne einen Tiirken, der eigens aus Konstantlnopel nach 

Berlin gekommen ist, um eine richtige Anschauung von einem Harem 

zu gewinnen. Er schwor, dafS es in Konstantinopel lange nicht so tiir- 

kisch zugehe. 

Aber die armen Tiirken! 

Die nahren sich von Kartenlegen und Feuerschlucken und Handdeu- 



398 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ten, obwohl sie in ihrer Heimat Schuster oder Schneider oder Tischler 
gewesen sind. Wenn ein tiirkischer Schneider nach BerUn kommt, 
kniipft er sofort Beziehungen mit hoheren Machten an und kennt sich 
in der Zukunft eines Berliner Schneiders so genau aus wie in einer 
Tasche, die er selbst genaht hat. 

Es gibt auch tiirkische Handwerker in Berlin, gewifi, die auf dem gol- 
denen Boden ihres Berufes stehenbleiben. Aber das sind einfach keine 
Tiirken. Sondern Berliner, die zufallig in der nachsten Nahe der Hagia 
Sophia zur Welt gekommen sind, well ihr Storch sich in den Baustilen 
nicht ausgekannt und eine Moschee fiir die Kaiser- Wilhelm-Gedacht- 
nis-Kirche gehalten hat, Diese verirrten Berliner Tiirken heiraten deut- 
sche Frauen, sohlen deutsche Stiefel und singen: Der Gott, der Eisen 
wachsen liefi. Ja, einen kenn' ich, der sogar Feuer schluckt im Passage- 
Panoptikum, Abdul Rahim Miligi, Sohn des grofien Miligi aus Kairo in 
Agypten, der, selbst schwarz wie die Finsternis seiner Heimat und or- 
thodox mohammedanisch, blonde evangelische Kinder hat, mit einer 
weifien, pietistischen HoUanderin im Osten Berlins ein biirgerlich- 
gliickliches Familiendasein fiihrt und Konigsberger Klopse sein Leib- 
gericht nennt. 

Doch woUte ich von dem Klub der armen Tiirken in der Grenadier- 
strafie erzahlen: 

Der ist in den riickwartigen Raumen eines jiidischen Tiirkengasthau- 
ses, dessen Besitzer seit ungefahr zehn Jahren in Berlin lebt und dessen 
Tochter einen preuflischen Wachtmeister geheiratet hat. Der Jude tragt 
Bart und Fez, wandelt in einem gebliimten Kattunschlafrock mit un- 
zahligen Troddeln durch die zweieinhalb Stuben und sagt, was ein 
Tiirke sagen mufi, namlich: Salem Aleikum! Seine Frau steht hinter 
einem Glasschrank in der Kiiche und kredenzt verbotene Getranke. 
Ein Tiirke sagte mir, dafi mohammedanische Tiirken zwar keinen 
Schnaps trinken dlirfen, aber noch weniger verkaufen. Der Jude aber, 
der kein Glaubiger des Korans sei, sondern nur ein Glaubiger der bei 
ihm verkehrenden Tiirken, diirfe Schnaps ausschenken. 
Um sieben Uhr im Winter, im Sommer erst gegen zehn, kommen die 
Gaste. Die meisten sind exotisch braun und schwarz und gar keine 
echten Tiirken. Das sind die Kartenleger, Handliniendeuter, Feuer- 
schlucker. Sie setzen sich zu einem kleinen Skatspiel zusammen, verlie- 
ren sehr viel, trinken noch mehr und rauchen, rauchen, leider nicht aus 
Schlauchen und Saugnapfen wie der Konig auf dem Titelbild von Tau- 



1920 399 

sendundeiner Nacht, sondern agyptische Zigaretten, die genauso wie 
die Harems in Berlin erzeugt werden. Manchmal steht einer auf und halt 
eine politische Rede; sie sprechen Tiirkisch, aber es dreht sich nie um 
tiirkische Verhaltnisse, sondern um Berliner Putschabsichten. Die mei- 
sten Tiirken in diesem Klub sind konservativ, das Bild des vorletzten 
tiirkischen Sultans Abdul Hamid hangt in der Kiiche uber dem Glas- 
schrank. Ja, auf der Busenwolbung der Frau Wirtin ist in einer Brosche 
der Stand der Weltgeschichte von 1916 festgehalten: Man sieht den 
deutschen, den osterreichischen, den tiirkischen Monarchen noch 
Schulter an Schulter. 

Anders die tiirkischen Jud en. Die sprechen Deutsch und sagen: nee! Sie 
lesen hebraische und jiidische Blatter und unterhalten sich iiber Zionis- 
mus und Orenstein und Koppel. NeuHch sagte einer: »Orenstein ist 
eine schwere Sache. Der Mann ist nicht ein Schlaukopf, sondern hun- 
dert. Und von alien diesen hundert ist jeder einzelne noch ein ganzer 
Schlaukopf fiir sich. 

Diese Juden sehen aus wie weise Nathans, und sie spielen auch stunden- 
lang Schach. Manchmal Domino. Sie schliirfen 100 Grad Celsius heifien 
Mokka aus kleinen Tellern, ziehen schmutzige Zuckerwiirfel aus den 
Taschen und beifien den Zucker. Dann kommt »Aldjelis«, die Kellne- 
rin. 

Von ihr erzahlt man, dafi sie die Tochter eines europaischen Professors 
sei. Sie sieht dementsprechend sehr orientaUsch aus, mag einmal hiibsch 
gewesen sein und tragt eine echte Bernsteinkette. Sie duzt alle Gaste, die 
sie schon lange kennt, und wenn sie jemanden iiberhaupt nicht kennt, 
duzt sie ihn auch. Sie reprasentiert hier allein tiirkisches Frauenleben. 
Sie bekommt sehr viel Trinkgeld und Spielgeld, sieht jedesmal nach der 
Uhr und kennt sich auf dem Zifferblatt nicht aus. Gegen neun verkiin- 
det sie Mitternacht und beginnt einzukassieren. Aus der Tatsache, da£ 
man ihr nicht zahlt, schlieEt sie, daf^ es erst neun ist. 
Manchmal kommt Iwan Krecevic, ein Bosniake, lang, ungeheuer wie 
das Elend, und blast Mundharmonika. AldjeUs tanzt - nicht tiirkische 
Tanze wie europaische Tanzerinnen, sondern Lieschen, Lieschen . . . 
Die zwei Stuben sind einfach, sozusagen vernachlassigt spartanisch. Ein 
Sofa an der Wand hinter dem Spieltisch konnte vielleicht orientalisch 
sein und stammt, ich wette, aus einer Berliner Fabrik. Nur an der Wand 
ist ein echter Smyrnateppich, und den hat der Wirt in Berlin unter der 
Hand erstanden. 



400 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Um zwolf Uhr hat sich »Aldjelis« mit ihrem Spielmann Iwan Krecevic 
langst zuriickgezogen, und der Wirt selbst mufS einkassieren. Die Ga- 
ste versuchen, einige Getranke abzuleugnen, aber der Jude droht mit 
Aldjelis. Dann zahlen sie. 

Die Frau geht mit Schliissel und Laterne zum Tor den Gasten aufsper- 
ren. Und sagt, was jede Tiirkin sagen mu8, namlich: Addjah! 
Daraus erhorte ich, dafi sie aus Leipzig stammt. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 19. 11. 1920 



SPIEL2EUG 

2ur Ausstellung des Berliner Hausfrauenvereins 

Im Warenhaus Tietz, im zweiten Stock, haben die Berliner Hausfrauen 
mit viel Miih' und Fleifi »Spielzeug, das man selbst gemacht, und Spiel- 
zeug aus altem Familienbesitz« ausgestellt. An der Ausstellung betei- 
ligten sich Erwachsene und Kinder, Zoglinge verschiedener Kinder- 
heime und -horte, 

Und das ist der Fehler der Spielzeugausstellung, Man liel^ Erwachsene 
und Kinder Waldschulen, Puppen, Hausgerate, Baume, Tiere, Hauschen 
und Spielzeugmaterial - Pappe, Ziindschachteln, Papierstreifen - herstel- 
len. Dann verteilte man die Preise. Den ersten Preis erhielt ein Mann, der 
Schachfiguren und Gefliigel mit wirklich wunderbarer Genauigkeit und 
unendlich viel kiinstlerischer Sicherheit hergestelit hatte. 
Ein Erwachsener erhielt den ersten Preis. In einer Ausstellung, die auch 
von Kindern beschickt war. Man hatte die Erzeugnisse der Grofien von 
denen der Kinder trennen soilen. Respekt vor dem Mann, der, erwachsen 
und in einem Berufe, vielleicht sogar unmittelbarer Teilnehmer der Gro- 
fien Zeit, dennoch Gott nicht verloren hat, ein Kiinstler wird am Spiel- 
zeug. Aber Andacht vor dem Kinde, das mit stiffen, ungelenken Fingern 
sich seine Welt, seine ganze und grofSe Welt aus bunten Papierstreifen 
klebt, so dal^ dann eine lacherliche Kleinigkeit entsteht. 
Es sind zwei Ausstellungen. 

Den ersten Preis hatte ich dem hilflosesten, ungeschicktesten Piipp- 
chen aus Knetgummi gegeben, das das jiingste Kind erschaffen hat. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 20. 11. 1920 



1ST BERLIN EHRLICH? 



Seit ungefahr einem Monat fiihre ich Menschen in Versuchung. Ich 
habe es mir vorgenommen, die »Ehrlichkeit« (im Sinne der geltenden 
Sitten und Gesetze) der Menschen dieser Stadt zu priifen, indem ich sie 
zu Vergehen wohliiberlegt verleite. Es hat sich erwiesen, daC ein sol- 
ches Vorgehen nie zum Ziel fiihren kann: Denn ist in der Mehrzahl der 
Falle, die ich verursachte, auch die absolute »Ehrhchkeit« zum Vor- 
schein gekommen, so gilt das noch nicht als Beweis fiir die Ehrlichkeit 
der absoluten Mehrzahl iiberhaupt. Dennoch seien hier die Ergebnisse 
meiner Missetaten mitgeteilt: Sie sind, wenn auch nicht typisch, so 
doch kennzeichnend. 



Apfel und Geld 

Am sechzehnten Oktober, gegen zwolf Uhr mittags, Nahe des Spittel- 
marktes. Ich kaufe mir ein Pfund ApfeL Gehe zu einem »fliegenden« 
Zeitungshandler. Bezahle eine Zeitung mit fiinf Mark und warte auf 
den Rest. Der Handler zahlt: eine Mark, zwei, drei, vier. 
Ich sehe zerstreut in die Luft, auf Ladenschilder, auf meine Tiite mit 
den Apfeln. 

Klappe plotzHch die hingestreckte Hand zu, ich weifi, es fehlt noch 
eine Mark siebzig, aber ich tue so, als wiif^te ich es nicht, und gehe fort, 
hiniiber, schrag, auf die andere Seite. Schiele nach dem Handler. Er 
packt spontan sein Zeitungsbiindel fester unter den Arm und lauft mir 
nach. Und gibt mir den Restbetrag mit einem selbstverstandlichen Ge- 
sicht. 

»Verzeihen Sie, bitte«, sage ich, »hatten Sie die Giite, mir meine Apfel 
einen Augenblick zu bewahren! Ich habe drin zu tun und bin gleich 
wieder da. Bedienen Sie sich, bitte, mit einem Apfel !« Er iiberzeugte 
sich durch einen Blick, ob ich es ernst meine. 
»Bitte sehr!« sagt er. 

Ich gehe in den Hausflur, der eine Glastiir hat, und betrachte den Zei- 
tungshandler. Er offnet die Tiite, sucht offenbar nach dem ertragreich- 
sten Apfel, und plotzlich, es dauert eine Sekunde, hat er den EntschluE 
gefafit. Er geht mit den Apfeln fort, nicht hiniiber zu seinem friiheren 



402 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Standplatz, sondern die Strafie entlang. Ich trete aus dem Hausflur, er 

biegt in die nachste Seitengasse. 

Dem Geld, um das er sich ja Apfel hatte kaufen konnen, widerstand 

er. 

Dem Apfel, als dem Nahrungsmittel in natura, der korperlichen Er- 

scheinung, konnte er nicht widerstehen, 

Er defraudierte. 



Der Gurtel und die drei Untergrundbahnkarten 

22. Oktober, ii Uhr abends. Regina-Diele. Kurz vor Schlufi. 

Ich safi am Tisch mit einem jungen Paare. Ihn taxierte ich sofort: Giir- 

teltier. 

Er war im englischen Sakko, aber ich sah deutlich seine Uberkleider 

auswendig: weiter, brauner Paletot mit Gurtel und malerischen, wei- 

chen Falten. Das Halstuch ist weifi mit knallvioletten Langsstreifen. Er 

tragt es uber dem Paletot, gar nicht um den Hals, obwohl es doch ein 

Halstuch ist. 

Ich ging mit den beiden zur Garderobe. Sein Paletot war nicht braun, 

sondern schnupftabakgriin. Aber der Giirtel war da. Und das Halstuch 

war nicht violett, sondern ziegelrot und marineblau quergestreift. 

Aber er trug es liher dem Paletot. 

Er hatte im Kaffeehaus zwei Torten verzehrt, zwei Molle getrunken, 

vier Likore. 

Ich ging hart vor beiden zur Untergrundbahnstation Zoologischer 

Garten. 

Auf der Treppe zur Untergrundbahnstation liefi ich den Rest eines 

Fahrkartenblocks fallen. Es waren noch drei Karten zu neunzig. 

Ich war fiinf Schritte vor beiden. Sie machte ihn auf den Block auf- 

merksam. Er steckte ihn ein. 

Es war ein Giirteltier zwar, aber kein grof^ziigiger Schieber. Er war ein 

kleinbiirgerlicher Hochstapler. 

Er hat mich enttauscht. 



1920 4^3 

Eine Woche Pech 

Dann hatte ich eine Woche ungefahr Pech. Das heifit, ich begegnete 

lauter ehrlichen Leuten: Am 25.0ktober, 3Uhr nachmittags, Stadt- 

bahnstation Friedrichstrafie. Ich lose zwei Fahrkarten zu fiinfzig, 

lasse eine auf dem Schalterbrett liegen. Der Dienstmann, der daneben 

stand, ist alt und gebrechlich. Er keucht mir nach: mit der Karte. Als 

galte es, mich, sich selbst, den Bahnhof, die ganze Welt vor einem 

unermefilichen Ungliick zu bewahren. 

Am 26. Oktober Anhalter Bahnhof, jUhr morgens, Ich habe eine 

alte Pappendeckelschachtel mit Zeitungspapier und Holz gefiillt. 

Morgens auf dem Weg zur Arbeit gehe ich in den Wartesaal 2. Klasse 

einen Kaffee trinken. Ich trete hinaus, geschaftig, zerstreut, ein Rei- 

sender. Gebe die Schachtel einem verdiichtigen, jungen Menschen, 

der an der Wand lehnt, eine Zigarette raucht. Offenbar ein Koffer- 

trager. »Wollen Sie mir das bitte halten? Ich mul^ im Wartesaal Ziga- 

retten kaufen!« Ich kam nach fiinf Minuten zuriick. Er hielt die 

Schachtel unter dem linken Arm. Sie war intakt. Es war ihm nicht 

eingefallen, sie anzuriihren. Er rauchte noch seinen Zigarettenrest 

und lehnte an der Wand. 

Ich gab die Schachtel einer armlich aussehenden Frau vor dem Ein- 

gang am Droschkenstandplatz. Sie hielt sie redlich. 

Als ich herauskam, sagte ich: »Ich schenke Ihnen das Paket!« 

»Ach nee!« 

»Ja, nehmen Sie, bitte! Es ist nichts drin! Ein paar Holzspane und 

Zeitungspapier. Wollen Sie sehen?« 

Ich offnete das Paket. »Nehmen Sie die Schachtel !« 

Sie sah mich mifitrauisch an, liefS Papier und Holz drin sein, stUlpte 

den Deckel iiber alles und dankte, dankte, als hatte ich ihr ein Stiick 

Seligkeit in der Pappschachtel geschenkt. 

Ein Herr in Pelz und mittleren Jahren klopfte mir seinen Stock auf 

die Schulter, als ich, knapp neben ihm, .vor einem Schaufenster der 

Konditorei Hildrich in der Leipziger StraEe meine - allerdings leere - 

Brieftasche fallen lieC. (29. Oktober, 11 Uhr vormittags.) 

Am 31. fuhr ich nach dem Armen- und Arbeiterviertel Griiner Weg, 

Patzenhofer Bierstube. Trank, bezahlte mit einem Zehnmarkschein, 

\ie& sieben Mark fiinfzig auf dem Tisch liegen. 

Zwei Kutscher safien in der Nahe. Ich ging fort, kam nach einer Vier- 



404 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

telstunde wieder. »Det is er ja!« sagte der eine Kutscher zum Wirt. Ich 
bekam mein Geld. 



Der Zigarettenstummel schon, die Zigarre nicht 

Bahnhof Charlottenburg, Mitternacht. Zehnter November. Eine Mark 

liefi ich am Fahrkartenschalter liegen. Himer mir war nur eine (gutge- 

kleidete) Dame. Die Mark verschwand. 

Ich stieg am Bahnhof Borse aus. Ging die Oranienburger Strafie ent- 

lang. Sie war leer und dunkel. 

Ein Mann ging gebiickt herum. Er suchte nach Zigarettenstummeln. 

Ich trat vor ihn in seine Bahn. Ich liefi eine Papiertiite mit einer Zigarre 

fallen. Ich horte, wie er hinter mir einen raschen Schritt anschlug. Er 

hob die Zigarre auf. 

Und schrie: »Sie! Sie! Ihre Zigarre!« 

Ich tat, als horte ich nicht. Da hatte er mich schon erreicht. Er gab mir 

die Zigarre. 

Er suchte nur nach Zigarettenrestew. Ordnung mufi sein! Und seit da- 

mals bin ich tief beschamt. Dafi jemand, der in Not ist, einen Fund, der 

in sein Each sozusagen einschlagt, ehrlich zuriickerstattet. 



Bargeld undAchterkarte, und dock glaub' ich 

Zehn Mark, die ich in der Zimmerstrafie vor einer Konditorei fallen 

liefi, hob eine Zeitungstragerin auf, die neben dem Schaufenster stand. 

Sie war hungrig. 

Ein Herr von gutem Aussehen, etwa Kaufmann, mit dem ich in der 

Strafienbahn 62 safi, steckte meine eben geloste Achterkarte ein, die ich 

auf meinem Platz Hegen liefi. Ich ging auf die Plattform, und er dachte 

offenbar, ich ware ausgestiegen. 

Aber waren selbst alle Menschen, die ich in Versuchung fiihrte, erle- 

gen, ich glaube an den Mann, der Zigarettenstummel gesammelt und 

eine Zigarre verschmaht hat. 

Ich bereue meine Siinden. Gott und der Stummelsucher seien mir gna- 

dig! Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. 11. 1920 



WARTESAAL IV. KLASSE 

Die Passagiere, die nicht reisen 

Grofi, gelb, schmutzig schwimmt die Laterne im Korridor. Man sieht 
die Kette nicht, an der sie hangen diirfte, weil eine schwefeifarbene 
Wolke aus Kohlendunst, Schweifi, Staub - vielgefraf^iges Ungeheuer - 
rastlos Dunkles verschiuckt und nur Leuchtendes erkennen lafit. Aus 
dichter Nebelwatteverpackung glimmen elektrische Birnen wie ge- 
schwollene Gliihwurmchen auf 

Der Wartesaal IV. Klasse pustet feuchte Warme aus, wenn die Tiir auf- 
geht. 

Er macht sich Luft wie jemand, der in Gefahr war zu ersticken. 
Im rotlichen Duster schwanken formlos verschwommen Mensch und 
Gegenstand. Der Rauch beifSt dem Biifettschrank, den Banken, den 
Koffern die Kanten ab. Er amputiert dem Kellner die Rockschofie, 
verschiuckt die Nasen der Passagiere. Mischt einen Brei aus Kleidung, 
Holz, Korper, Lichtschimmer. 

Die Frau am Biifett ist eingeschlafen. Unbewacht blinken Flaschen 
und Glaser, wolben Zigarren ihre Bauche in rotgoldenen Livreewe- 
sten, verkiimmern Heringe auf klebrigem Porzellan, verschrumpeln 
Wiirste sichtlich im Dunst. Man sieht das Vorwartskriechen einer gro- 
fien Verwesung. 

Einmal war der Wartesaal ein Gefaf^ mit ewig wechselndem Inhalt. Er 
sog einen Strom Passagiere ein und spie ihn wieder auf die Bahnsteige 
aus. 

Er roch siifilich nach Steinkohle und Lederkoffer, nach Abenteuern. 
Er roch nach Welt. Heute ist er Asyl fiir Obdachlose. Er riecht nur 
mehr nach StraEe, er ist nicht mehr Ouvertiire der Welt, sondern In- 
termezzo der Stadt. 

Um Mitternacht fiillt er sich mit Menschen, die von Beruf heimatlos 
sind: Zigarrenrestesucher und StraUenmadchen und so. Paule Pieker 
aus der Lebensquelle traf ich an und Anneliese, das Matrosenmadchen 
aus Hamburg, das eine Tatowierung auf der rechten Brust hat: F.W., 
zwei runde, blaue, sorgfaltig kalligraphierte Buchstaben, die bedeuten 
Fritz Wutt. Nach allem, was man so von Fritz Wutt hort, mufi er ein 
Teufelskerl gewesen sein, ein Hamburger Hafenlowe, der ein Boot mit 
den Zahnen flottmachen konnte und mit den Augen die Weiber. An- 



406 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

neliese ist blonden Gemiits und sehr fromm. Sie war Pietistin in Ham- 
burg, und sie tragt immer noch im Handtaschchen ein gotter^ebenes 
Liederbiichlein, und das dritte Lied kann sie auswendig singen: »Herr 
Christ, dem ich mich ganz ergeben.« Und sie meint sicher Fritz Wutt, 
den Hafenlowen, dessen Namen sie auf der Brust tragt. 
Oh, die PoUzei! Manchmal kommt ein BahnpoHzist mit einer weifien 
Armbinde und fragt, ob die Herrschaften »wirkhch reisen«. Man reist 
nicht wirkHch: 

Man lost nur eine Fahrkarte vierter Klasse bis zur nachsten Station, um 
im Wartesaal sitzen zu konnen. 

Liebesparchen kommen, Grauschadel entriisten sich sitthch, der War- 
tesaal sei kein Tiergarten; er ist aber doch einer, Tiergartenfortsetzung 
im Winter. In den Winkeln, sorgsam verhiillt von einem Oberbett aus 
Dammerflaum, fliistern sie Zwiesprache der Liebe. 
Kutscher trotten herein, blaugekittelt. Sie haben etwas Pferdehaftes, 
sie konnen, glaube ich, wenn sie woUen, jeden Augenblick wiehern. Sie 
schneuzen sich, es klingt wie Pferdeniesen, und sie wecken den Kell- 
ner: Einen Kiimmel! Sie werfen trinkend Kopf mit Zylinder rasch 
hinteniiber, schiitteln sich, zahlen, wollen noch ein wenig in der 
Warme bleiben, sie hamstern Warme und gehen hinaus, wenn sie ge- 
nug haben. 

Anneliese, blonden Gemiits, summt diinn und glasern: Herr Christ, 
dem ich mich ganz ergeben. Ein junger Mensch zahlt die aufgelesenen 
Zigaretten. 

Ein dreifach gegabelter Heringsschwanz starrt von einem Biifetteller in 
die Hohe, um aus Zeitvertreib den Plafond aufzuspielen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. 11. 1920 



HAAS-HAYE-BALLETT 



Haas-Hay Cy den Schopfer der dies jahri gen grofien Modepantomime 
»Die ostliche Gottin«, sah ich gestern im geschlossenen Raum der 
Scala proben. Das Ballett war, soweit mannlich, in Hemdsarmeln, die 
Frauen in AUtagskleidern, und man sah nur die Konturen des kiinfti- 
gen Balletts, die Wochentagskonturen. Doch konnte man, ohne der 



1920 407 

Kritik vorzugreifen, schon wohl sagen, dafi die Tanzer ein mitreifien- 
des Tempo haben und wahrscheinlich ein paar farbenbunte Biihnenbil- 
der ergeben werden. 

Kostiime sah ich. Sie lagen, eben abgeliefert, auf Stiihlen herum und 
waren noch nicht lebendig. Ich kann sie mir wohl an den Korpern der 
Tanzer denken, die iibrigens zum Teil Russen sind, also Tradition ha- 
ben. 

Vielleicht ergibt sich nun eine Renaissance des Varietetanzes. Er war 
lang genug verkitscht. 

Neue Berliner Zeitung, 12-Uhr-Blatt, 30. 11. 1920 



VON RITTERN UND ROSSEN 



»Tatter$all«, der Name ist nicht eigens erfunden worden flir die Insti- 
tution, sondern sie ist die Erfindung eines Mannes, der »Tattersall« 
hiefS. Wer so heiiSt, mui^ ein Traber sein. Man hat nicht einen Namen, 
der aus Pferdehufgetrappel besteht, und ist dabei doppelter Buchhalter 
oder Oberlehrer. Der Mann lebte im iS.Jahrhundert, war Englander, 
Traber und griindete 1777 in London den ersten »Tattersall«, eine An- 
stalt zur Wartung und Aufzucht der Pferde. Die nahen Beziehungen, 
die seit jeher zwischen Pferden und der vornehmen Welt bestanden 
haben, verursachten es, da{^ die englischen Adeligen den Tattersall zu 
einem Zusammenkunftsort erhoben, einer Art Klub. So bildete sich 
mit der Zeit jener Tattersall heraus, wie wir ihn kennen. Seit einigen 
Jahrzehnten schon werden in den europaischen Tattersalls nicht nur 
Pferde geziichtet und gewartet, sondern auch Reiter. 
Im Tattersall riecht es nach Pferdemist, Parfiim und Leder. Es ist knal- 
lendes Aroma. Damoklespeitschen hangen sozusagen in der Luft. So 
riecht es auf Junkergiitern, in Kasernenhofen und in den Romanen der 
Natalie von Eschstruth. Stroh und Hacksel auf dem Boden im Um- 
kreis. Im Hof ist die Erde lockerer. Hufdressierter Sand wie auf dem 
Rennplatz. Unten ist Garderobenraum. Aus Seitengangen hort man 
Pferdewiehern, Hufescharren. »Tattersall, Tattersall« scharren die 
Hufe. 
Drinnen reitet man. Zwanzig Mark die Stunde ist in den meisten Tat- 



408 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tersalls der iibliche Preis. AUerdings kann man unter Musikbegleitung 
reiten oder ohne. Das musikalische Reiten ist nicht nur gesund, son- 
dern auch festlich. Die Reiter sind durch besondere Unternehmungs- 
lust gedopt und die Pferde drefigestriegelt. Die Herren haben gebiahte 
Niistern, und die Damen tragen schwarze und blonde Mahnen prak- 
tisch unter steifen Mannerhiiten, die wie Feurwehrhelme um das Ge- 
sicht geschnallt sind. Die Rosse bemiihen sich, moglichst gerauschlos 
aufzutreten, und machen den Eindruck, als batten sie sich Gummiab- 
satze unter die Hufe nageln lassen. Sie traben immer im Kreis, immer 
im Kreis, es sieht aus wie ein lebendig gewordenes Karussell. Die 
Pferde halten gleichen Schntt und achten gegenseitig darauf. Wenn ein 
Pferd - Gott behiite! - den Schritt wechselt, ist es gesellschaftlich bla- 
miert, und das ist bei Pferden schrecklich. 

Die Musik ist diinn, es ist die Ballmusik der Pferde, sie hort sich an, als 
bestiinde sie aus Blech und Glas. Die Melodien sind die alten Schlager, 
bei den Rossen sehr beliebt. Nicht die neuesten Dielen-Foxtrotts, denn 
die Pferde fiihlen aristokratisch, haben eine durchaus reaktionare 
Weltanschauung und verachten die Schiebe- und Schiebertanze. Es 
sind ewig die gleichen Melodien. Das Fliigelhorn prustet ernste Lagen, 
die Jiingste Trompete schlagt eine steife, gefrorene Kapriole, da fahrt 
ihr eine alte Bafitrompete riigend dazwischen, und aus ist's. 
PlotzUch kippt die Melodic um, die Reiter setzen feierliche Mienen 
auf, man konnte meinen, jetzt habe sich eine griindhche Wandlung in 
ihrer Seele vollzogen, und wirklich! Siehe da: Die Pferde wechseln den 
Schritt. Links, rechts, links, rechts. Oder gar, sie machen alle kehrt und 
spielen umgekehrtes Karussell. 

Dann schlagt die Musik einen wiitenden Galopp an, und Rof^ und Rei- 
ter schnauben, machen Windsbraut, spielen Elemente, die steifen 
Feuerwehrhelme der Damen verschieben sich ein bif^chen, der Herren 
Niistern spriihen Funken, der Sand spritzt auf in feinen Staubwolk- 
chen, man zittert um das Monokel und versucht dennoch zu beweisen, 
dafi man - oho! - mit Monokel galoppieren kann, es sind schreckiiche 
fiinf Minuten, hilf, lieber Gott, bis die Musik ein Einsehen hat und 
stillehalt und die Pferde langsamer atmen und die Reiter verschnaufen. 

Hinter der Barriere, auf einer Art Estrade, sitzen die Familien und 
freuen sich, wie gut Emma und Kurt »sich halten«. An der Barriere mit 
dem Pferd stehenzubleiben und der Xante Minne einen Gru£ zuzuru- 



1920 4^9 

fen, die hinten Tee schliirft und Kuchenreste sorgfaltig mit dem Teelof- 
fel sammelt, ist verboten, aber geduldet. Man halt sehr gerne ein Weil- 
chen im Reiten inne und zeigt sich seinen Erziehern: Seht ihr, wie gut 
das Geld angelegt war? 

Oh, Reiten ist eine vornehme Angelegenheit! Deshalb hat sich ihrer der 
neue Adel bemachtigt. Sie sitzen heute schon auf stolzen Rossen, die 
gesterri noch, um nicht durch die Brust geschossen zu werden, Armee- 
lieferanten waren. In einem BerHner Tattersall zeigte man mir einen 
Dehkatessenhandler, der mit keinen anderen Tieren je etwas zu tun 
gehabt hatte als mit geraucherten Heringen. Heute hat er zwei Rappen 
im Stall, und er reitet im Tattersall musikalisch im Dre£, mit franzosi- 
schen Reithandschuhen, die er sich eigens aus Paris kommen lief5. 
Auch kleine Landwirte kommen nach Berlin an bestimmten Tagen, um 
sich hier zur Vornehmheit emporzureiten, Sie haben Reitvereine ge- 
griindet und arrangieren sich Galoppaden in Berlin. Sie sitzen zwar 
nicht schlecht auf den Pferden, aber sie benehmen sich etwas unge- 
tiincht. Das heifit, sagte mir ein Stallmeister, sie geben zuwenig oder 
zuviel Trinkgeld. Und daran erkennt man die Menschen und die Rei- 
ter... 

Prager Tagblatt, 30. 11. 1920 



EINE HUNDEHANDLERLIST 



Die Hundestrafienverkaufer leben schlecht mit der PoHzei, der blauen 

und der griinen. Sie diirfen keine Hunde verkaufen. 

In der Friedrichstral^e aber sah ich einen Mann, der fiihrte einen wun- 

derschonen Dobermann an der Leine. Der Hund trug am Halse die 

Aufschrift: »Nicht zu verkaufen! <( 

Infolgedessen bemiihten sich ein paar Leute, den Hund zu erstehen. 

Ohnmachtig war der Schutzmann, der dazukam. Denn der Besitzer des 

Hundes gestand ja offentlich, daf^ er den Hund nicht verkaufen wolle. 

Er hatte das Gesetz iibertrumpft, indem er es zu strenge ausfiihrte. 

Wahrend er sich fiigte, revoltierte er schon. Denn er verkaufte schlieE- 

lich doch den schonen Dobermann. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 1. 12. 1920 



DER WOCHENMARKT DER MODELLE 



Aula der Akademie der bildenden Kiinste. Eine Vormittagsstunde. Ma- 
dame Dubarry, Napoleon, ein Bettler, Venus Anadyomene, Tannhau- 
ser, Herakles, der griechische Jiingling, das Madchen vom Lande, der 
Friihling und iiberhaupt Themen fiir Maler, Kosten fiinf Mark die 
Stunde, sind hier abzuholen. Modellborse. 

Einmal wochentlich zwischen zwolf und eins kommen die Modelle 
Berlins in der Aula zusammen, um sich anzubieten. Sie sind ausgestellt 
wie Puppen in einem Laden. Jedes Gebrechen ist hier Vorzug. Der 
Bucklige freut sich seines Buckels. Jede Tugend ist hier doppelte Tugend. 
Die Gutgewachsene freut sich ihres Wuchses. Die Hafiliche mufi ausge- 
sprochen haClich sein. Objekte der kiinstlerischen Darstellung miissen 
alle Merkzeichen des Typischen besitzen, um symbolisch zu wirken. Die 
Hokerin mufi Hokerin sein, doppelt unterstrichen. Eines jeden Eigen- 
schaften miissen so aussehen, als schaute man sie durch ein Vergrofie- 
rungsglas. Ein Bettler soil das Bettlertum der Welt verkorpern. Sonst ist 
er keiner. Es geniigt nicht, dafi er Lumpen tragt. Er mufi zum Lumpentra- 
gen geboren sein. Dann ist er »Modell«. 

Also kommen hier alle Gegenstande zusammen und alle »Charakteristi- 
schen«. Junge Madchen in der Mehrzahl. Denn man mufi nichts gelernt 
haben zum Modellstehen. Man mufi nur aussehen. Die personliche Er- 
scheinung als Beruf. 

Alle, die noch nicht gefriihstiickt haben und nicht wissen, ob sie zu Mittag 
essen werden, kommen hierher. Maler haben gute Herzen. Sie bezahlen 
nicht nur, sie geben auch zu essen. Man mufi nur Gliick haben. 
Es sind viele darunter, die das Sich-Anbieten verstehen. Sie sind schon 
lange Modelle. Sie haben ein halbes Leben »gestanden« und »gesessen«. 
Es sind namenlos Beriihmte darunter. Ihre Portrats hangen in den grofi- 
ten Museen der Welt, zwischen kostbarsten Sammlungen. Ihre Korper 
sind verewigt, werden von Kennern mit zugekniffenen Augen bestaunt. 
Die Originale selbst stehen immer noch in der Aula. Sind im Wert nicht 
gestiegen, sondern eher gefallen. 

Seit einiger Zeit ist Lohnbewegung unter den Modellen. Sie organisieren 
sich zu einer Art freier Gewerkschaft. Sie woUen mehr Geld fiir die 
Stunde. Eine Zeitlang haben sie gestreikt. Einen Mindestpreis fiirs Mo- 
dellstehen haben sie noch nicht erreicht. 



1920 4^1 

Sle stehen da, willenlos, ergeben, und warten. Maler kommen und prii- 
fen. Ihre Augen dringen geiibt durch Mantel, Rock, Bluse, tasten Briiste, 
Arme, Schenkel ab. Es ist Menschenjahrmarkt. 

Am interessantesten sind die Manner. Jeder einzelne ist Typus. Repra- 
sentant eines Menschenschlages, einer Klasse, eines Berufes. 
Da ist ein alter, wiirdiger Herr mit Backenbart. Er kennt alle Kunstrich- 
tungen. Die alten, die neuen, die zukiinftigen. Er ist sein Leben lang 
herrschaftlicher Diener. Das heifSt, er ist eigentlich nie Herrschaftsdiener 
gewesen. Aber in seinem zweiten Leben ist er Herrschaftsdiener, Er ist 
dreiundzwanzigmal als Herrschaftsdiener portratiert worden. Er ist nie 
im wirklichen Leben in einem Grafenschlofi gewesen. Er war in seiner 
Jugend Kulissenschieber. 

Da ist Napoleon. Er war vier zehnmal Napoleon . Davon viermal nach der 
Schlacht bei Moskau. Er steckt mitten in einem grofSen Deckengemalde 
eines herzoglich anhaltinischen Schlosses. Von Beruf war er Privatbeam- 
ter. Er versteht nichts von Schlachten. Er hat einmal bei den Pionieren 
gedient. Er weifi, was ein Ponton ist. Er ist dennoch Napoleon. Sechsmal 
auf Elba. Zweimal auf St. Helena. Er hat Napoleons Leben auswendig 
gelernt. Er wei{^ samtUche Napoleonanekdoten. Er hat sich iiber seine 
eigene Biographic ordentlich informiert. 

In der Nahe der Akademie, in einem kleinen Gasthaus in der Goethe- 
straf^e, kommen die Modelle am Nachmittag zusammen. Auch von hier 
aus werden sie von Malern geholt. Hier erledigen sie Standesfragen. 
Seitdem die Filmindustrie ins ungeheuere wachst, haben die Modelle 
reichhch Nebenbeschaftigung als Statisten. Da bekommt man fiinfzig 
Mark fiir den Tag, aber es ist eben ein ganzer Tag, und es ist doch nicht 
dasselbe. Es ist nicht die richtige, hohe Kunst. 

Dennoch wandern die Jungen alle ab. Nur die Alten bleiben dem Modell- 
stehen treu. 

Ein Berliner Dienstmann in Pension, schon an die Sechzig, ist einmal als 
der Seher Kalchas zu einem grofSen Wandgemalde im Hause eines Berli- 
ner Bankiers verwendet worden. Seitdem ist er Kalchas. Manchmal lalSt 
er sich herbei, auch einen Bettlertyp abzugeben. In der Hauptsache ist er 
Kalchas, der Seher, und das ist sein wichtigstes Erlebnis. Er feierte vor 
einem Jahr sein zwolfjahriges Kalchas jubilaum, und die Kollegen veran- 
stalteten ihm zu Ehren ein bescheidenes Fest. 

Er hatte haufig Gelegenheit, im Film zu statieren, aber er tut's nicht um 
ein Konigreich. Er verachtet den Film. 



412 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Er kommt jede Woche, stellt sich an eine Saule und wartet. Kein Maler 
hat fiir ihn Verwendung. Aber er geht nicht zum Film. Er ist eine 
Schopfung Homers. Er ist eben Kalchas, der Seher. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 3. 12. 1920 



HANSI NIESE 



Buchbinderoperette im Thaliatheater. Maria Theresia, Marie Antoi- 
nette, Wiener Hof, Pariser Hof. 

Von der »grofien Kaiserin« zur »armen Konigin« nach Paris gesandt, 
wird die »Frau aus dem Volke« sozusagen Botschafterin fiir Haus- und 
Kiichengebrauch. Engagiert als Reinmachefrau fiir die Kulissen der 
Weltgeschichte, des habsburgischen Hauses und franzosischen Hofes 
Schutz- und Putzgeist zugleich, scheuert sie mit Mutterwitzbesen flei- 
Eig Luge und Lack, halt die briichige Ehe der Marie Antoinette in 
Ordnung, sieht nach dem Rechten und erlauscht rechtzeitig das Un- 
rechte. 

Mit der Anekdote »Maria Theresia als Taufpatin« aus dem Lesebuch 
fiir osterreichische Volks- und Biirgerschulen schHefSt Buchbinder, 
diesmal vom Film beeinflufit, bildhaft feierlich mit einem plastischen 
»Gott erhalte«. 

Leo Aschers Melodien schlottern siiffig um Vers und Prosa. Altes ist 
verdiinnt, Heuriger verwassert. Osterreichlerisch, nicht osterreichisch. 
Kein Duhoh - eine DuHochelei. Unvermittelt artet sie iiberdies noch in 
eine Bartarantella aus, weil neuerdings Kastagnettengeklapper Dielen- 
erbgesessene heimatlich anmutet. Der Kapellmeister Grzyb hatte viele 
Miihe, ehe er es so weit gebracht, dafS Musik und Text nicht auseinan- 
derfielen wie zusammengelegte Nufischalen. 

Hansi die Niese aber, die »Botschafterin Leni«, wachst hier zum weib- 
lichen Girardi heran. (Auch »Mein Leopold« war miserabel, und Gi- 
rardi war darin Girardi.) Fesch und resch, Kratzbiirste und Engel, 
g'miiatbegabt und robust, Wienerin, nicht Operettenwienerin, unge- 
fahr, was Aschers Musik sein miif^te und mehr. 

Sie kann jeden Augenblick, man zittert drum, aus dieser Operettenleni 
eine tieftragische werden. Immer auf der Kippe, immer vor dem Ab- 



1920 4^3 

grund. Der groEe Erfolg am Schlufi ist Wirkung einer Entspannung: 

Gott sei Dank! es ist also Komik! 

Hauptmann oder Buchbinder, das ware also gleichgliltig. Giiltig ist der 

wirkliche Mensch hinter Buchbinder. Gelobt sei der Niese Unabhan- 

gigkeit von Text und Rolle. 

Man mufi, wenn es darauf ankommt, die Leni Niese sein. Die Hansi ist 

es; selbststandig wie alle groEen Komodienspieler, die Menschlichkei- 

ten schopfen, wenn sie Kitsch anfassen. 

Alle anderen Mitwirkenden, auch die Josephi als Maria Theresia, so 

brav und bemiiht, dafi ich schweige. 

Freie Deutsche Biihne, 5. 12. 1920 



»SCHALL UND RAUCH« (II) 



Schon droht dieses einzige literarische Cabaret BerUns mit Variete. Es 
ist auf dem Wege vom Cabaret zum Kabarett. 

Aber das macht nichts! Ach! Tate der Conferencier und Dichter Al- 
fred Richard Meyer nur nicht unablassig so, als hatte er Geist zu ver- 
bergen hinter Worten und Wortern und als ware er ein Ringelnatz. 
Das ist er nicht. Sondern ein zersprengter Lyriker, Die Eier, die sein 
Pegasus legte, waren faul. 

Erst als aus dem schwachen Cabaret ein gutes Kabarett wurde, mit 
Lola Herdmengers Tanzen, mit den Chansons des herrUch russischen 
Naturburschen Gregor Ratoff, mit Trude Hesterhergs drolligen, star- 
ken, heiteren Liedern; mit Theobald Tigers gutem Chanson »Immer 
die Landstrafie lang«, das Paul Graetz, unverwiistHch ein Nuancen- 
multimiUiardar, wunderbar sprudelte, sprach, sang, kam »Stimmung« 
auf und erfolgversprechender Beifall. 

Aus dem ersten Teil muf^ man lobend retten: Kammersanger Desidor 
Zador, der zwei Dingerchen souveran, galant, humorvoll sang, und Lia 
ManjUj die natiirlich-naive Liedersangerin. 

Neue Berliner Zeitung, - 12-Uhr-Blatt, 9. 12. 1920 



ERWERBSLOSES VOLK 

Wie die Arbeitslosen studieren 

Im Museum fiir deutsche Volkskunde in der KlosterstraRe traf ich die 
Erwerbslosen. Zwolf im ganzen. Zwolf Erwerbslose im Museum fiir 
deutsche Volkskunde sind mehr als hundert Professoren an der Aka- 
demie der Wissenschaften. Zwolf Erwerbslose sind zehntausend, hun- 
derttausend, Millionen, sind das ganze deutsche Volk. Gestern sah ich 
das ganze besiegte deutsche Volk siegreich im Museum fiir deutsche 
Volkskunde. Seit ungefahr zwei Monaten finden FUhrungen Erwerbs- 
loser dutch die Muse en und Galerien Berlins start. Arbeitslose, die 
nicht wissen, wovon sie in der nachsten Woche ihre Frau, ihre Kinder, 
sich selbst ernahren werden, suchen einen Vormittag lang nicht nach 
Beschaftigung wie sonst alle Vormittage. Sie kommen ins Museum, 
zeigen ihre Erwerbslosenkarte vor, und wenn zehn beisammen sind, 
fangt das Studium an. Ein Doktor, ein Professor, ein Kunsthistoriker 
fiihrt und erlautert, Zwolf, zehn, vierzehn Erwerbslose folgen, lau- 
schen, lernen. Ein boshaftes Schicksal kann es zustande bringen, dafi 
dem einen oder dem andern von den zwolf just an dem Vormittag, an 
dem er schlesische Spinnrocken aus dem siebzehnten Jahrhundert stu- 
diert, eine gutbezahlte Stellung verlorengeht. Er aber studiert schlesi- 
sche Spinnrocken . . . 

In der Nahe der Klosterstrafie ist die alte Kirche mit dem wunderbaren 
Glockenklang. Ich glaube, die alten Glocken in dem verstaubten Ge- 
stiihle oben sind riickwarts lebende Propheten. Es sind gewifi die 
schonsten Glocken von Berlin. Sie kiinden nicht die Stunden, sie sin- 
gen Abschnitte, Psalmen der Ewigkeit. Wenn sie den zehnten Morgen- 
psalm gesungen haben, kommen die zwolf Erwerbslosen ins Museum 
fiir deutsche Volkskunde. 

Es sind zwei Weil^haarige unter den studierenden Erwerbslosen, Set- 
zer oder so. Die legen umstandHch ihre Brillen an. Die iibrigen sind 
jiinger. Satt sieht keiner aus. In diesen diinnen Paletots friert man si- 
cherlich draufien. Das Museum ist geheizt. 

Da der Herr Fiihrer kommt - er hat einen graumelierten Bart und 
Brillenglaser, und er sieht sehr museal aus in seinem sympathisch-alt- 
modischen Cutaway, als kame er soeben aus irgendeinem der alten 



1920 4^5 

Museumsschranke-, greifen zwei, drei Hande zogernd zu den Hiiten, 
und einer griifit, und es ist wie ein Wieder-jung-Werden und Schul- 
knabe-Sein, und man ist gar nicht mehr Erwerbsloser, und die Er- 
werbslosenkarte ist ein Schulzeugnis, und man freut sich wie damals, 
als man die Banke verlassen durfte, um mit dem Herrn Lehrer »auf 
Anschauungsunterricht« zu gehen. 

Der Fiihrer spricht von den Unterschieden nieder- und oberdeutscher 
Wohnkultur. Einer der Erwerbslosen weifi etwas. Er hat auf seiner 
Reise durch den Norden Deutschlands diese und jene Beobachtung 
gemacht. Er freut sich, sie mitteilen zu konnen, Er erzahlt wie ein 
Schiiler, der froh ist, im geeigneten Augenbiick etwas unbedingt Wich- 
tiges zu wissen. Ich wlirde mich gar nicht wundern, wenn jetzt der 
Herr Fiihrer sein Klassenbuch hervorzoge: Brav, Schulze, sehr brav! 

Die Vertreter der Entente miifiten einmal zu einem Erwerbslosenun- 
terricht eingeladen werden. Und dann diirfen sie Deutschland die Auf- 
nahme in den Volkerbund verweigern. Weil ein Volk, dessen Arbeits- 
lose ins Museum studieren gehen, anders ist. 

Mit Ludendorff haben wir nicht gesiegt. Sondern mit den Erwerbslo- 
sen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 10. 12. 1920 



FENSTER (II) 

Krank bin ich, krank. 

Weil ich krank bin, wird die Umwelt gesund und lebhaft. Xante Minna 
ist gekommen. Sie tragt ein schiefes Kapotthiitchen mit zerdriickten 
Glastrauben. 

Tante Minna riickt mich mit dem Lehnstuhl ans Fenster. Ihre Glas- 
trauben klimpern. 

Gegeniiber ist die Wand mit den vielen Fenstern. Manchmal, ist es 
warm draufien, spannt die Wand ihre vielen Fensterscheiben aus wie 
glaserne Fliigel, um - hast du nicht gesehen! - auf und davon zu flat- 
tern. 
Manchmal schmettert ein Wind einen Fensterfliigel aufs Pflaster. Dann 



4l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hore ich, wie eine Frauenstimme sich kreischend in rostigen Angeln 
dreht. 

Ich sehe in aile fremden Stuben. 

Im ersten Stock, in der Ofennische, dorrt Rhododendron neben einem 
silbernen Vogelhaus. Der Kanarienvogel schleift seinen Schnabel an 
den Kafigstabchen scharf. Der Kanarienvogel tragt ein kleines gelbes 
Kapotthiitchen wie Xante Minna, Morgans bekommt er Vogelfutten 
Dann zwitschert er ein Morgenhed von Eichendorff. 
Quer iiber den Tisch ist ein Tischlaufer gelegt, weifigestickt. Die Kin- 
der stiitzen die Ellenbogen auf den Tischlaufer, wahrend sie den Kana- 
rienvogel Gedichte aufsagen horen. Davon bekommt der Tischlaufer 
Fallen. Die Mutter tragt einen Schlafrock mit gemalten Chrysanthe- 
men. Der Schlafrock sieht aus wie ein Blumenbeet aus Kattun. Die 
Mutter streichelt den ganzen Tag den Tischlaufer und besanftigt die 
Falten. 

Einmal schickte ich ihr zwei Reifinagel mit einer Gebrauchsanweisung 
fiir den Tischlaufen 
Aber sie streichelt ihn immer noch, 

Der Vater kommt abends heim und spielt mit der Frau Domino. Sie 
kampfen im Spiel die Bitterkeit einer zehnjahrigen Ehe gegeneinander 
aus. 

Sie fiihren ein friedUches FamiHenleben. 

Im dritten Stock bewohnt ein Grammophon ein Zimmer mit zwei 
Fens tern. 

Das Grammophon steht auf einer Konsole und singt aus groEer, me- 
tallener Trichterkehle, so zum Spafi, fiir sich. 
Vielleicht leben auch noch Menschen dort. 

Ich stelle mir vor, da£ auf dem Mieterverzeichnis im Hausflur steht: 
Drei Treppen, Nummer 33 : Grammophon. 

Im vierten Stockwerk, just mir gegeniiber, nistet eine grauweiEge- 
sprenkelte Katze. Sie halt sich ein altliches Madchen. Die Katze sitzt 
tagsiiber am Festerbrett. Wenn das Madchen nicht piinktlich nach 
Hause kommt, sieht sie ungehalten nach der Wanduhr. Und dann 
schlagt es sechs, und das Madchen ist noch nicht da. Die Katze stellt 
sich steif auf die Beine und fuchtelt mit dem Schwanz, weil sie ja kei- 
nen Zeigefinger hat. 
Ich werde sie dock am Ersten entlassen! - denkt die Katze. 

Freie Deutsche Biihne, 12. 12. 1920 



UKRAINOMANIE 

Berlins neueste Mode 

Manchmal wird eine Nation modern. Griechen und Polen und Russen 
waren es eine Zeitlang. Nun sind es die Ukrainer. 
Die Ukrainer, von denen man bei uns und im iibrigen Westen nicht 
viel mehr weifi, als daf5 sie irgendwo zwischen Kaukasus und Karpaten 
wohnen, in einem Land, das Steppen und Siimpfe hat, dafi die ukraini- 
sche Etappe wegen der erhohten Etappenzulage eine verhaltnismafJig 
angenehme war. Aufierdem hat man die hochst unbestimmte Vorstel- 
lung von einem »ukrainischen Brotfrieden« dank dem politischen Di- 
lettantismus eines osterreichischen Kriegsdiplomaten. Im iibrigen sind 
»Ukrainer« eines jener Volker, von denen man nicht bestimmt sagen 
kann, ob sie nur Menschenfresser oder gar auch Analphabeten sind. 
Ihrer Abstammung nach sicher »Russen und dergleichen«, ihrem 
Glaubensbekenntnis nach urkathoUsche Heiden mit bartumwalltem 
Priestertum aus Gold, Myrrhen und Weihrauch. 
Diese Operettenbegriffe von Land und Volk sind zu verfiihrerisch. 
Die Polen sind schon zu verwestlicht, auch von den Griechen weifi 
man bereits Genaueres, seitdem Mitteleuropa erfahren hat, da{S auch 
griechische Konige von Affen gebissen werden konnen wie Filmschau- 
spielerinnen. RufSland ist durch die zahlreichen deutschen Auswande- 
rer und Kriegsgefangenen bereits ein heimischer Begriff, flir Variete 
und Operette also nicht mehr zu gebrauchen. Bleibt die »Ukraine«. 
Ein armer, aus Lublin (im ehemaligen Kongref^polen) eingewanderter 
Jude eroffnet sich im Osten BerHns einen Zigarrenladen, schreibt auf 
ein Schild ein paar kyrillische Buchstaben und nennt seinen Laden 
einen »original-ukrainischen«. In Kaffeehausern tanzen Madchen den 
neuesten amerikanischen Jazz und nennen ihn »ukrainischen Natio- 
naltanz«. Am modernsten aber sind die »ukrainischen« Pantomimen 
und Ballette. 

Berlin schv^^elgt in groteskem Operetten-Ukrainertum. Jede Melodie 
von irgendwelcher slawischen Klangfarbe ist »ukrainisch«. Zu dieser 
Mode haben freilich die echten Ukrainer selbst den Anlaf^ gegeben, 
und zwar durch den ukrainischen Sangerchor, der hier, wie in mehre- 
ren europaischen Grof^stadten, einige Male mit riesengrofiem Erfolg 
aufgetreten ist und der Konjunktur selbst einen »Tip« gegeben hat, wie 



4l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aus einem nationalen und politischen Begriff Geld zu machen ware. 
Aufierdem bewirken die Zustande im Osten Europas eine Auswande- 
rung von Russen und Ukrainern und Polen nach dem Westen, wo sie 
alte »Ukramer« sind, weil »ukrainisch« eben Mode geworden ist. 
In den »ukrainischen« Balletten geht es demgemafi stark gemischt zu: 
ein bifSchen tatarisch, ein bifichen russisch, ein wenig allerdings auch 
kosakisch. Schliefilich ist es die Aufgabe der Varieteunternehmungen, 
denen diese Abhandlung gewidmet ist, zu unterhalten und nicht wis- 
senschaftlich-ethnologische Studien zu treiben. Aber man soUte 
Volkskunst nicht entstellen, schon gar nicht die Kunst eines augen- 
blicklich wehrlosen Volkes, dem Bolschewisten und Polen die Heimat 
geraubt haben. 

Im Eispalast, dessen Ballett vorziiglich geschult ist und in dem wirk- 
lich kiinstlerische Leistungen zustande kommen, werden »Die roten 
Schuhe«, eine Ballettpantomime, getanzt. Es soli eine ukrainische Le- 
gende sein. Die Kulissenkirche im Hintergrund ist nicht ukrainisch 
(also griechisch-katholisch), sondern russisch, also orthodox. Die Hel- 
din des Balletts tragt den russischen Kopfschmuck - Ukrainerinnen 
tragen nur Blumen im Haar, weiCe Blusen mit blauroten Ornamenten 
an den Armeln und Randern, niemals seidene, goldbetrefite Jacken. 
Tscherkessen haben nie in der Ukraine gelebt, sondern im Kaukasus. 
Die ukrainischen Bauerinnen tragen kurze Stiefel, niemals weifie Tanz- 
schuhe. Die Tanze sind mit Ausnahme eines sogenannten »Hoppaks« 
und einer »Kolomejka« russisch. 

Die Geschichte des ukrainischen Kosakenhelden und Aufriihrers Ma- 
zeppa, der, wie aus der Geschichte bekannt ist, vom polnischen Konig 
nackt auf den Riicken eines Pferdes gebunden und so ein paar Tage 
durch die ukrainische Steppe geschleppt wird, kann man in Sarrasanis 
Zirkus sehen. Auch hier spieien russische Motive in ukrainische Natio- 
nalhistorie hinein. Ukrainische GeistUche sind griechisch-katholisch 
und tragen keine Popenbarte. 

Das ukrainische Ballett Glazeroffs ist ukrainisch, tut aber noch ukrai- 
nischer und tanzt - mit Messern, wie Indianer tanzen. Es sind ganz 
famose Tanzer aus Kiew, die sich verpflichtet fiihlen, den »wilden 
Mann« zu spieien vor einem westHchen Publikum, dem eine Kolo- 
mejka zu zahm ist fiir das hohe Entree. Ukrainer haben in ihrem Leben 
nicht mit Messern im Munde getanzt. 
Die ukrainische Volkskunst ist eine ganz eigene, mit stark ausgeprag- 



1920 4^9 

:en nationalen Kennzeichen, und hat weder mit der russischen noch 

nnit der polnischen oder tatarischen etwas gemein. Interessant aber ist 

ias Phanomen als solches: dafi eine Nation, sobald sie ihre staatliche 

Selbstandigkeit verliert, in den Operetten und Varietes zu herrschen 

beginnt. 

Berlin, das Barometer westllcher Operettenmode, zeigt andauernd auf 

»Ukrainertum«. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 13, 12. 1920 



KREDIT! 

Drei Prohen 

Immer noch, wenn ich ohne Geld war - und ich war es haufig- hatte 
ich Angst, ein Lokal zu betreten, einen Laden, weil das Genossene 
oder Gekaufte immer noch mehr kosten konnte, als ich hatte. Im Zu- 
stand einer Geldleere empfindet man die Preise der Waren doppelt 
grofi, selbst wenn man ihre einfache Grofie schwarz auf weifS im La- 
denfenster oder auf dem Speisezettel sieht. Es ist eine gewisse Laden- 
und Kaffeehausplatzangst, die stets dann eintritt, wenn man gerade so 
viel hat, um rechnen zu miissen. 

Vorgestern aber nahm ich Vorschufi auf meine Weihnachtsgratifika- 
tion von 1921, die von 1922 bekomme ich am 24. Dezember dj., und 
versuchte, Vertrauen zu erwecken, indem ich Mittellosigkeit vor- 
tauschte. Das heifit, ich kehrte die Ladenplatzangst sozusagen in eine 
Ladenplatztapferkeit um, Es fiel mir leicht, Verlegenheit zu spielen, da 
ich Besitz hatte. Und ich versuchte, a) mein Aufieres auf seine Vertrau- 
enswiirdigkeit zu priifen und b) das Innere der anderen auf ihre Ver- 
trauensseligkeit. Ich teile hier drei Proben mit: 



Der Kellner 

Lines der groCeren Lokale in der Friedrichstrafie, Verbindung von 
Cafe und Konditorei mit leisem Ansatz zu hoffnungsvoUer Barent- 
wicklung unter sanfter Nachmittagskonzertbegleitung. Sonntag. Es 



420 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sind sehr viele Gaste da, die nur des Sonntags wegen gekommen sind. 
Der Kellner kennt sie nicht. Er flitzt, weifi, flink, wie ein Korper ge- 
wordenes Strahlenbiindel, durch das Lokal und jongliert auf drei Fin- 
gerspitzen mit Sacharin, Kaffee-Ersatz und milchgefiillten Fingerhiiten 
aus Porzellan. 

Ich bestelle eine Tasse Mokka. Mit Musikbegleitung kostet sie 3.50 
Mark. Kuchen a 2 Mark drei Stiick. Ich rauche bei dieser Gelegenheit 
eine umfangreiche, den bessern Standen angehorende Zigarre mit Li- 
vreeweste und trage ein Monokel. Und sehe iiberhaupt nach etwas aus. 
, Der Kellner flitzt nicht, wenn er in meine Nahe kommt. Er bremst 
achtungsvoU. Und dann bestelle ich noch eine Selter, 
Nach fiinf Minuten rufe ich: »Zahlen!« Da der Kellner kommt, sage 
ich: »Herr Ober, ich habe mein Geld zu Hause hegengelassen. Ich 
werde mich bei Ihnen legitimieren, wenn Sie wiinschen, ich kann Ih- 
nen aber auch meine goldene Uhr zurucklassen.« Meine Uhr ist aus 
Silber. 

Der Ober sah mich an und tat so, als ware er Menschenkenner. Er 
sagte: »Bitte, bitte sehr, mein Herr!« Und dann: »Man weif^ ja, mit 
wem man es zu tun hat.« Oh, er wuEte es. Nach zehn Minuten kam ich 
wieder und zahlte. Und gab eine Mark Trinkgeld, weil an der Wand 
ein Zettel das Trinkgeld geb en verbot. Der Kellner - ich mache ihn 
besonders darauf aufmerksam - wird nachstens samtliche Zechpreller 
in der Hoffnung auf eine Mark Trinkgeld durchgehen lassen. 



Der Friseur 

Ein Friseurladen in der Potsdamer Stra£e. Ich war bereits rasiert, aber 
ich liefi mich frisieren. Scheitel durchziehen? fragte der Meister. Er 
massierte galant und mit Takt, seine Fingerspitzen vollfiihrten eine 
Quadrille auf meinem Kopfe. Er liebkoste jedes Haarbiischel. Es war 
kein Kopfwaschen. Es war eine Art Liebesverhaltnis zwischen ihm 
und meinem Kopfhaar. 

Und nachdem der Scheitel »durchgezogen« war, griff ich an jene Stelle, 
wo andere Menschen eine Brusttasche zu haben pflegen und ich nur 
ein Loch im Unterfutter, sah kindlich, lammfromm erschrocken aus 
wie ein Kalenderheiliger und erklarte, mein Geld sei mir gestohlen 
worden. Der Meister blickte zum Gesellen, der Geselle zum Lehrjun- 



19^0 4^1 

gen und der Lehrjunge wieder zum Meister, und es war das erstemal, 
dafi der Lehrjunge sich im Einverstandnis mit dem Meister befand, 
denn sie tauschten einen Blick aus, den sie mir gemeinsam dann zuwar- 
fen und der an meiner kiihlen Unschuld hinunterglitt wie ein glattge- 
schliffener Kiesel an nasser Bordwand. Sie hatten mich vielleicht nicht 
gehen lassen, wenn ich nicht meine Uhr, sie war diesmal silbern, her- 
ausgezogen und den Versuch gemacht hatte, sie zu hinterlassen. Der 
Meister pendeite sichtHch zwischen Mifitrauen und Unterwurfigkeit. 
Er iiberiegte: Mache ich Skandal, verUere ich vielleicht einen Kunden, 
bleibt er mir schuldig, verliere ich 1,50 Mark - und ich ging. Als ich 
zuriickkam, konnte ich deutlich bemerken, wie im Meister, Gesellen 
und Lehrjungen der Glaube an die Menschheit wuchs und stark 
wurde. 



Das Peinliche 

Das wird man verstehen, auch wenn ich es nicht beim Namen nenne 
oder es nur als Anstalt bezeichne, in der eine Frau sitzt als vom Magi- 
strat designierte Vestalin menschUcher Bediirfnisse, Geld einnimmt 
oder auch nicht. Eine dieser Frauen an einem der verkehrsreichsten 
Punkte Berhns, gewitzigt durch Erfahrung, ware mir hereingefallen. 
Mit Riicksicht auf die DringUchkeit zahlte ich nicht im voraus, son- 
dern blieb im nachhinein schuldig. Die durch viele Gaste bereits ent- 
tauschte Frau ware imstande gewesen, ein Geschrei zu erheben, wenn 
ich ihr nicht eine mit Photographic versehene Legitimation der oster- 
reichischen Eisenbahnen zurlickgelassen hatte. Sie hatte Achtung vor 
einem fremden Stempel aus angeborener Achtung vor Stempeln iiber- 
haupt. Und als ich wiederkam, lachelte sie mir entgegen, verheif^end. 
Ich vermute, sie hatte die ganze Zeit meine Gesichtsziige studiert, und 
sie ware auch sonst einem etwaigen Verhaltnis nicht abgeneigt gewesen 
und hatte mir alles Schuldenmachen verziehen, denn sie erzahlte un- 
aufgefordert von ihrem trostlosen Leben und dafi sie nicht einmal den 
Heiligen Abend frei haben wiirde. 

So verwandelt sich jeder Humor in soziale Tragodie. Deshalb horte ich 
auf. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 15. 12. 1920 



MALVINE BIVIAND, DIE TANZERIN 

Vor einigen Tagen endete die spanische Tdnzerin Malvine Biviand 
durch Selhstmord in Meran 

Spanische Kiiste. Fischerkneipe. Im Sommer, wenn die Fischer ihre 
Kahne dichtmachen und sich zum Langostasfang riisten, wird viel ge- 
soffen und geliebt. Die Langostas sind Heuschreckenkrebse, keine Fi- 
sche. Man kann an ihnen nicht reich werden. Man kann ein paar Pese- 
tas verdienen, um iiber den Winter auszukommen. 
Die Kneipe, das Ufer, die ganze Weh riecht nach Teer und Pech. Die 
Fischer rauchen dazu, und das stinkt nicht minder. Vielleicht ist 
manchmal auch Musik, Wie Kastagnetten, Tarantella. Wie der spani- 
sche Scirocs, den man »Solano« nennt. Ehe sie den Segura, den Jucar, 
den Guadalviar hinauffahren, hinunterfahren, woUen sie noch einmal 
tanzen sehen, die Fischer. Die Tochter des Wirtes tanzt ihnen vor. Sie 
kann tanzen. Alle Spanierinnen konnen, glaub' ich, tanzen. In einem 
Land, in dem die Garten »Huertas« heifien, sind alle Frauen geborene 
Tanzerinnen. 

Die Wirtstochter ist arm, sie tragt einen zerschUssenen Rock. Man 
sieht ihre Haut leuchten. Weil das Leben ein Film ist und der liebe 
Gott Regisseur, kommt der machtig reiche deutsche Zigarrenfabrikant 
in jenes Fischerdorf und just in jene Kneipe. Und just ist Musik. Mit 
Kastagnetten, Tarantella. Und just tanzt die Wirtstochter. 
In Deutschland heifien die »Huertas« nur »Garten«, und die Frauen, 
die in den Bars tanzen, sind nackt oder kostbar angezogen und tragen 
kein zerschlissenes Kostiim. Auch riecht es nach »Moschus«, »Diva«, 
»Venustrane«, Puder, nicht nach Teer und Pech. Diese Filmregie ist zu 
verfiihrerisch in Spanien. Dem kinologischen Weltgesetz zufolge ver- 
liebt sich der machtig reiche Fabrikant in die tanzende Spanierin und 
nimmt sie nach Deutschland mit und »zeigt ihr die Welt«, und sie heif^t 
»die spanische Tan2erin«. 
Und er heiratet sie, heifit es. 

Nun darf sie kostspielige Launen haben. Sie Mt sich einen spanischen 
Tanzer nach Berlin kommen. Er wird ihr Partner. »Das spanische Tan- 
zerpaar.« Kastagnetten, Tarantella. 

Dieser spanische Tanzer bringt einen Solanohauch mit und ein bif^chen 
Parfiim aus den heimatlichen Huertas. Er spielt mit Leidenschaft. 



19^0 4^3 

Seine Tanzpartnerin spielt mit. So nebenbei ereignet sich ein wenig 

Wekgeschichte. In Berlin ist Revolution. Alle Menschen spielen, auch 

wenn sie nicht Spanier sind. Die Spanier erst recht. 

Die spanische Tanzerin - sie hei{5t Malvine Biviand - wird beriihrnt, 

Nicht auf der Biihne, sondern im Klub. In vielen Klubs. In den vor- 

nehmen. Sie gewinnt und verliert Tausende. Hunderttausende Spanier 

gewinnen und verlieren immer viel. 

Neue Manner treten auf: ein rumanischer Doktor, ein ukrainischer 

Diplomat. In einem Spielsalon, dessen Besitzer ein Falschspieler ist, 

verliert die Biviand mit einem Mai sechshunderttausend Mark. Sie ver- 

setzt ihren Schmuck. 

Sie ist egoistisch, weiblich-hysterisch, mondan, gebieterisch, wild, 

vielleicht brutal unter Umstanden. Jedenfalls elemantar. Obwohl sie 

die europaische Salonphraseologie aller Kultursprachen beherrscht. 

Das kinologische Weltgesetz schreibt ihr »Seele mit Kastagnetten« vor. 

Sie darf den Operettenglauben einer zivilisierten Berliner Menschheit 

nicht enttauschen. Sie mufi »Affaren« haben, Bogenlampenglorie, Ku- 

lissenhintergrund. Die Welt ist wirklich aus Pappendeckel: Ein Spie- 

lerskandal folgt dem anderen. Die Kriminalpolizei tut dem Filmregis- 

seur den Gef alien und greift ein. Nach einer durchspielten Nacht. In 

einem beriihrnt-beriichtigten Spielsalon in der Wilhelmstraf^e. 

Eine Biviand darf sich nicht banal verhaften lassen. Es muf? Steigerung, 

Hohepunkt, Niedergang, Uberraschung sein. Eine BerUner Spielklub- 

besitzerin aus Pankow kann ohne weiteres vor die Richter kommen. 

Die spanische Tanzerin mul5 »verschwinden«. 

Sie verschwindet. Taucht im Sommer plotzlich in Marienbad auf. Wo 

es »international« ist. Sie spielt. Sie spielt gegen das Gesetz. Gegen die 

Geselischaftsordnung. Sie wird verhaftet. Endlich. 

Malvine Biviand darf nicht in der Untersuchungshaft vor Aufregung 

krank werden und zum Beispiel sterben. Vielleicht mochte sie sterben. 

Oder wieder ein kleines Fischermadchen sein und in der Kneipe tan- 

zen, wo es nach Teer und Pech riecht. Aber sie darf die Welt nicht 

enttauschen. Sie wird frei. Sie »verschwindet«. 

Vorgestern spielte sie im Kasino in Meran. Sie verUert hundertsechzig- 

tausend Lire. In der Meraner Kurhausbar sprudelt Sekt aus geheimen 

Springbrunnen in diinngeschliffene Glaser. 

Vor Malvine Biviand steht ein halbgeleertes Sektglas. Sie hat - offenbar 

in einer goldenen Kapsel - ZyankaU, FriedenszyankaH. Sicher. Sofort 



424 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wirkend. Sie schuttet Zyankali in das halbgefiillte Sektglas. Keinei 

hat's gesehen. 

Sie trinkt und stirbt. Unter Kastagnettengeklapper tanzt ihre Seek ins 

Jenseits. 

Prager Tagblatt, 15. 12. 192c 



DIE WELT IM STIFT 



Der einundzwanzigjahrige Maler, Zeichner, Radierer L, Boris hat seine 
»Schatten«, ein paar Radierungen im Verlag Friedrich Dehne, Leipzig 
herausgegeben. Die »Schatten« bestehen aus drei Abbildungen: »Erst€ 
Liebe«, »Geld«, »Buhne«. 

Aus diesen drei Dingen besteht das Leben. Die Welt birgt und offen- 
bart sich in einer hingeworfenen Kleidfalte. Daf^ sie mit Kunst und 
Konnen hingeworfen ist, bewiese nur das Talent des Einundzwanzig- 
jahrigen. Aber da{5 in jedem Strich die Wahrheit einer Weltanschauung 
liegt, beweist den grofien, starken Kiinstler, der einundzwanzig Jahre 
oder zweitausend alt ist. »Geld«: Nacht. Strafie. Bogenlampe. Dime, 
Bettler, Strolche, Geld zahlend. Ein Bettler und ein Hund. Der Hund 
frifSt Brot. Der Bettler tragt einen zylinderformigen Hut und hat Kral- 
len statt der Finger. Sonst nichts. Eine Welt in einem Strich !- 
Erste Liebe: Ob es Knabe und Madchen vor einer Badewanne sind und 
die Wasserleitung im Hintergrund eine menschUch-tierische SinnUch- 
keitsfratze annimmt oder die junge Frau, die der Erfiillung schlank, 
rank, wehmiitig entgegenwachst, immer ist es eine organische Verbin- 
dung von franzosischer Form und altklassischer Lebensauffassung mit 
einem deutsch-tragischen Einschlag, der merkwiirdigerweise diesem 
jungen Ungarn eigen ist. Irgendwo blitzt immer Originalitat auf, in der 
formalen Behandlung oder in der Auswahi des rein Stofflichen, wie 
zum Beispiel in der Abteilung »Theater«. Hier liegt die Originalitat 
besonders in der Unterstreichung jener stofflichen Momente, die dem 
durchschnittUchen Kiinstler gewif^ verlorengehen: Anwarter und An- 
warterin, die im Vorzimmer auf das Engagement warten; die Toilet- 
tenfrau, die im Korridor interesselos, gelangweilt, nicht mehr gelang- 
weilt, weil sie fiir Langeweile bezahlt ist, dumpf, stumpf ihrer Pflicht 



1920 4^5 

obliegt, indem sie sitzt. Hat man den Mut, uber solche Bilder den Titel 
»Theater« zu setzen, so ist man neu, nicht originell allein. 
Denn das ist mafigebend: Der Stoff nicht als »Inhalt«, sondern als Aus- 
drucksmitttel fiir Gesinnung, Wille, Garung, Kraft. - Boris: Einund- 
zwanzigjahriger! Tausendjahriger! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 22. 12. 1920 



MONTMARTRE IN BERLIN 

Bdnkel und Buhne: Grofienwahn 

Die »Diele« im alten Cafe des Westens, die mit ihrem Lieschen- 
komm-ein-bil^chen-Stil wie ein Paradox aus Monokelglanz und Salon- 
pomade iiber den Hauptern schuldender Literaten schwebte, ist nicht 
mehr vorhanden. In der Diele des »alten Cafes« hat Rosa Valetti ge- 
stern vor Presse und geladenem Publikum ihr - wie sag' ich nur?- 
Kabarett? Cabaret?- ihr »Bankel« und ihre »Buhne« eroffnet. 
Der Name »Grof5enwahn« konnte irrefiihren. Der »Grofienwahn« 
aber hat mit dem im Parterre wenig zu tun. Unten ist Wahn vielleicht. 
Man muf$ wohl nur von Grofie sprechen, sooft oben Rosa Valetti auf- 
tritt. 

Sie singt das alte franzosische, von Paul Wiegler iibertragene Lied »Die 
Dirnen« von Aristide Bruant, »Warum sind wir arm« von dem Frei- 
heitsdichter Karl Beck (um 1840), »Die kranke Liese« von Georg Her- 
wegh (1848). Sie spielt das schwangere Dienstmadchen in dem drama- 
tischen »Scherz«: »Adele ist schwanger.« 

Ich glaube nicht, dafi jemand jene Lieder mit so viel zitterndem 
Schmerz und Jubel auf offenen Handen einem Publikum darreichen 
kann, das, anders als in der Kirche und dennoch so, ohne es selbst zu 
wissen, zur Gemeinde wird. Ich glaube, daf5 nur Rosa Valetti so singen 
kann: mit behutsamer Scheu um das Werk tastend und zugleich von 
ihm ganz erfiillt. Schopfer sein und Anbetender. Gott und Demiitiger. 
Und so schhcht! Pathos und Wirkung so zart einhiillend in die blauen 
Nebel einer herzlichen Lyrik. Rosa Valetti singt ein DirnenUed, und es 
svirkt wie ein altes, frommes Gedicht von Angelus Silesius etwa. 
[ch glaube nicht, daf^ jemand eine solch schwangere Adele leben kann. 



426 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

So stumpf und lauernd. So keifend und feig. So hiindisch-heulend und 
so auftrumpfend-pobelhaft. So lacherlich und so unsagbar traurig. So 
mit einem heitern, einem nassen Aug'.- 

Neben Rosa Valetti bleiben ihr beriihrnter Bruder Hermann Vallentin 
mit dem »Berliner Morgenchoral« von Hans Janowitz und den Kla- 
bundschen »Schieber« und »Margot« und die kleine grofie Schauspie- 
lerin Blandine Ebinger (Klabundsche Texte und Hollaendersche Mu- 
sik) von nachhaltender Wucht und Wirkung. Kathe Kiihl sang Frank 
Wedekinds »Gebet einer Jungfrau« und »Das Lied vom gehorsamen 
Magdelein« (Musik von Reinitz) ein wenig zu distanziert. Sita Staub 
gab die Dime in einer Montmartre-Szene etwas literarisch. So: Dime 
vom Horensagen. Schablonendirne. Maja Seringa Erich Walter taten 
brav ihre Pflicht. 

»Grofienwahn« ist nur Name, offenbar der klanglichen Volkstiimlich- 
keit wegen gewahlt. »Grofienwahn« ist kein Kabarett, kein Theater, 
kein Uberbrettl, es ist ein Eigenes der Valetti. Gelingt es ihr, ihre 
Schopfung »durchzuhaiten«, so hat sie ein neues Genre geschaffen. 
Die »Valetti-Bankelbuhne«. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Biatt, 23. 12. 192c 



»REIGEN« 

Kleines Schauspielhaus 

Vor dem Aufgehn des Vorhangs berichtete Frau Gertrud Eysoldt, dafi 
die Staatsanwaltschaft zwei Stunden vor der Premiere den »Reigen« 
verboten habe und dafi dennoch gespielt werde. Pfui, Herr Staatsan- 
walt! Wir stehen bereits nach Wedekind und knapp vor Silvester 1920 
- Hoch, Frau Eysoldt! Sie haben Mut und Entschlossenheit bewieser 
fur die Kunst. 

Nachdem dieses gesagt ist, darf auch folgendes erzahlt werden: dafi dej 
»Reigen« von Arthur Schnitzler selbst nicht fur die Biihne und nich' 
fiir das LesepubUkum bestimmt war, sondern fiir einen intimen Freun- 
deskreis. Dafi das Manuskript lange Zeit in der Lade des Autors lag 
weil er Bedenken hatte. Und dafi er schliefilich gezwungen war, e; 
doch zu veroffentlichen. Es ist Pflicht des Referenten, Schnitzler einer- 



1920 4^7 

seits vor dem Staatsanwalt, andererseits vor dem »Reigen« in Schutz zu 
nehmen. 

In jeder der zehn Szenen wird feuilletonistisch-witzig nachgewiesen, 
daE die Brunst des Mannchens nach der Vereinigung erloschen ist. 
(Von den Tieren weiE man das schon langst.) Robert Forster-Larri- 
nago mufSte deshalb eine »verbindende Musik« schreiben, die in jeder 
Szene dort einsetzt, wo der Vorhang liber einer zensurwidrigen Inti- 
mitat sittig sich senkt. Um begiinstigend anzudeuten, dafi hinter dem 
Vorhang die Peripetie sich vollzieht, spielt ein verborgenes Orchester 
sozusagen eine Erotica. Die Musik wirkt gut und ist notwendig. Das 
spricht gegen den »Reigen«. 

Else Back gab die »Dirne«. Wahr und jede Nuance mathematisch fest- 
stellend. Eine gut durchkomponierte Dime mit stillen, etwas zu stillen 
Theatereffekten. Kurt Gotz als »junger Herr«, Viktor Schwanneke als 
Ehemann, Poldi Miiller als »suEes Madel« waren »guter Durch- 
schnitt«. Forster-Larrinaga karikiert zu sehr den »Grafen«, Blanche 
Dergau gibt eine fast hysterische »Schauspielerin«, und es soil nur eine 
»Schauspielerin« schlechthin sein. Karl Etlinger aber war »der Dich- 
ter«. Himmelblau-verschmockt, instinktiv-gescheit, Frauenverfiihrer 
ohne personhches Verdienst. Tanzelnd iiber Ernst und Lacherlichkeit, 
Herrchen jeder Situation, unmiindig und mutterwitzig. Eine Art tapfe- 
res Dichterlein. - Hubert Reuschs Regie ist geschmackvoU. 

Neue Berliner-Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. 12. 1920 



WEIHNACHTEN BEI DEN ALTEN 



Um mich herum saEen: Herr Wiedermut, Herr Balke und Frau 
Kiirschstein, die Hausmutter, und sie waren zusammen rund zweihun- 
dertdrei£ig Jahre alt. Wir sprachen von Weihnachten, 
»Das war einmal ganz anders«, sagte Herr Wiedermut. »Heute ist das 
nicht mehr so. Ich weifi noch, wie es - ach Jott, war das ein Rummel 
rar Weihnachten. « »Da war der Weihnachtsmarkt noch am Schlofi- 
platz«, warf Herr Balke von Zimmer 20 ein. »Da kamen selbst die 
Prinzen und die hohen Herrschaften herunter vom SchloE und betei- 
ligten sich an den Volksbelustigungen. Und die Studenten zogen in 



428 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Couleur daher und trieben Ulk, und die Arbeiter und die Gewerk- 
schaftsinnungen, au je!« »Na, und erst die Schlowaken«, sagte die 
Hausmutter Frau Kiirschstein. »Was die nicht alles zu verkaufen hat- 
ten. « »Und manche darunter waren gar keine Schlowaken«, sagte Herr 
Wiedermut, der die Wahrheit liebt. »Es waren verkleidete Berliner. « 
»Freilich, freilich«, sagte Herr Balke. 

»Ich safi am Vormittag in einem Zimmer der Weydringer-Stiftung und 
sprach mit den alten Leuten iiber Weihnachten von einst. Das war eine 
Zeit, in der es noch keine Marburger Studenten gab, sondern solche, 
die mit Arbeitern gemeinsam Ulk trieben. Und die Prinzen safien nicht 
auf fernen Schlossern, sondern mischten sich unter das Volk. Und der 
Schlofiplatz und der Lustgarten und uberhaupt die ganze Stadt, das 
war ein einziges Weihnachtsfest. Sozusagen eine Weihnachtswaren- 
stadt. 

Am Biirgersteig, es muf5 furchtbar kalt gewesen sein, safien die kleinen 
Kinder und riefen: Een Sechser die Knarre! 'n Dreier det Schaf! Een 
Sechser die laufende Maus! Und sie mufiten alles verkaufen, die armen 
Kinder, denn wenn sie ohne Erlos nach Hause kamen, gab's Keile. 
Und da safi einmal ein Madelchen, das hatte drei Biicher zu verkaufen, 
und die drei Biicher kosteten dreifiig Pfennig. Weil aber damals um die 
Weihnachtszeit jeder Mensch seinen Bildungshunger mit Pfefferku- 
chen sattigen konnte, kaufte dem armen Madchen niemand etwas ab. 
Als es aber finster wurde, raffte sie sich zu einem verzweifelten Ent- 
schlufi auf: Sie rief einen reichen Herrn an und erzahlte ihm ihr Leid. 
Der reiche Herr war so unerhort reich, dafi er dem kleinen Madchen 
die Biicher abkaufte und funfzig Pfennig gab. Dreifiig fiir die Biicher 
und zwanzig so. Weil es aber ein Herr aus einer vergangenen Zeit ist, 
sagte er zu dem Madchen: Aber nicht vernaschen! I wo! sagte das 
Madchen und ging nach Hause. 

Diese Geschichte hat auf Frau Kiirschstein einen so unerhorten Ein- 
druck gemacht, dafi sie sie mir heute wieder erzahlt. »Oh, welch ein 
Herr! Fiinfzig Pfennig gab er statt dreifiig. « 

»Merkwiirdig ist diese neue Mode der Tannenbaume, der vielen Tan- 
nenbaume«, sagt Herr Balke. »In friiherer Zeit hat es namlich gar nicht 
so viele Tannenbaume gegeben. Man gebrauchte Pyramiden und Kro- 
nen, die waren aus Holz geschnitzt und bunt verziert. Heute sind al- 
lerdings Tannen modern geworden, Vielleicht, weil die Menschen 
keine Geduld mehr haben, Kronen zu schnitzen, oder weil die Welt so 



1920 4^9 

liederlich unpraktisch ist und einen haltbaren Kronenbaum ver- 
schmaht, der zwanzig und dreifiig Jahre als Weihnachtsbaum dienen 
konnte.« 

Damals war Herr Wiedermut noch Weber. Er gehort immer noch der 
Innung an, aber er webt nicht mehr. Er wird zu Weihnachten erst zu 
seinen Kindern gehen und dann nach Weihnachten zu seinen Enkeln. 
Unter Umstanden ist es sehr gut, wenn man ah wird, weii sozusagen 
der Bekanntenkreis sich mit jedem Jahr vermehrt. 
Wahrend ich mich mit den Ahen unterhiek, safien die kleinen Buben, 
die Enkel des Hausverwahers, respektvoU hinter den Greisen und hat- 
ten ganz grofie, runde Augen. Sie dachten fortwahrend an die Knarren 
um einen Sechser. Und an den Schio^platz und an Schlowaken, die 
ohne Einreisebewilhgung und Pafi nach Deutschland kommen durften 
und librigens gar keine Schlowaken waren, sondern BerUner, 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. 12. 1920 



LESEBUCH GEGEN WELTGESCHICHTE 



Die alte Verlogenheit idyllischer Begriffe von dem patriarchalischen 
Verhaltnis zwischen Fiirst und Untertan, Vorgesetzten und Unterge- 
benen, von Schulter an Schulter und Konigstreue, und das gesamte 
FibelriJstzeug der Orgescheriche und die ganzen Potemkinschen Lu- 
dendorfer sind immer noch erhalten: in den Schullese- und Lehrbii- 
chern der republikanischen Mittelschulen Preuf^ens. 
Da diese Auseinandersetzung zu MiEverstandnissen fiihren konnte, sei 
von vornherein festgestellt, daf^ hier keinerlei Krankungsabsicht vor- 
Uegt, Hier soil nicht mit irgendeiner Tendenz fiir oder gegen gespro- 
chen, sondern der Versuch gemacht werden, durch eine Aufzahlung 
von Lesestiicken und die Gegeniiberstellung von Wirklichkeit und 
vergangenen Traumgebilden einer braven, aber unerfahrenen Zeit den 
Kultusminister auf den grol^en Widerspruch aufmerksam zu machen, 
der zwischen dem, was die deutsche Jugend hest, und dem, was sie 
erlebt, besteht. Nur weil die Wahrheit sitthcher ist als jedes wie immer 
auch geartete Ideal, sind unzeitgemaEe Ideale schadUch. 
Aus den Lehr- und Lesebuchern der preufiischen Mittelschulen steigt 



430 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

immer noch alter Weihrauch zwecklos auf. Es sind immer noch die 
alten Lesebiicher, Man hat an alien moglichen und unmoglichen Ande- 
rungen im Reich nach dem Umsturz gedacht. Aber das Papier der 
Schulbiicher erwies sich starker als die Weltgeschichte. 
Vor mir liegt ein »Deutsches Lesebuch« fiir die Sexta von J. Hopf und 
R. Paulsiek, Abteilung: »Beschreibende Prosa.« Da ist ein Kapitel iiber 
das Samenkorn. Die Erlauterung des Samenkorns beginnt wortlich: 
»Wenn du in den Ostertagen dein buntes Ei verzehrst, so merkst du 
gewifS, dafi ein Ei aus drei Teilen besteht.« »Aber auch jede deiner 
bunten Bohnen, welche dir die Mutter vor Ostern in den Winteraben- 
den zum Spielen gab-« Abgesehen von dem mangelhaften und veralte- 
ten Deutsch mufi diese Abhandlung jedes Kind der Sexta sofort stutzig 
machen. Wie viele Schiiler der Sexta haben bunte Eier zu Ostern? Wel- 
che Mutter gibt »in den Winterabenden« Bohnen »zum Spielen« her? 

In dem Absatz vom »Sperling« heifit es: »Friedrich der Grofie erliefi 
den Befehl, diese Tiere uberall wegzufangen (!), totzuschiefSen oder 
auf jegliche Weise (!) zu vertilgen. Auf den Kopf eines jeden SpeHings 
setzte er den Preis von sechs Pfennigen. Da derselhe (!) annehmbar 
war. . .« Welche Vorstellung hat ein Sextaner von sechs Pfennigen? 
Wie lange mufi ihm der Lehrer erlautern, dalS sechs Pfennige eine 
Summe und kein Phantom sind? Nichts davon, dafi sechs Pfennige 
damals noch einen Wert hatten. Und - »derselbe«? Jeder Deutschleh- 
rer streicht diesen Fehler zweimal mit roter Tinte an. Und diese um- 
standliche Art, die Niitzhchkeit der Spatzen zu erklaren! Da mufi 
Friedrich der Grofie herhalten und sein gerade nicht sehr herzlicher 
Erlafi, alle Spatzen totzuschiefien. Entspricht diese Form wirklich der 
Auffassungsfahigkeit und dem Interesse der modernen Jugend? 
Immer noch sind Kopisch und Sturm die offiziellen Jugenddichter. Aus 
den diinnen Gefiihlsaufgiissen jener Gartenlaubennachkommen soil 
die deutsche Jugend Trost und Mut in der schweren Zeit finden! 
Georg Ludwig Hesekiel dichtet immer noch: 

Zu Charlottenburg im Garten 

In den dustern Fichtenhain (!) 

Tritt, gesenkt das Haupt, das greise, 

Unser teurer Konig ein. 
Welcher Sextaner interessiert sich noch ernstlich fiir den dustern Fich- 
tenhain, der obendrein noch im Garten steht? 



1^20 43^ 

Schlimmer ist es mit dem Geschichtsunterricht. In den »Geschichtli- 

clien Charakterziigen und Lebensbildern« las ich von der Feuertaufe 

des Prinzen Wilhelm: Konig Friedrich Wilhelm lafit seine beiden 

Sohne rufen. »Wir haben heute einen Angriff beschlossen. Kann also 

heifi hergehen. Darum sollt ihr euch das ansehen! Reitet voraus, ich 

komme nach! Doch setzt euch nicht mutwillig der Gefahr aHs[« 

Ob Wilhelm Petsch, der Verfasser dieses Berichtes, ist dabeigestanden? 

Hat wohl diesen Aufzeichenstil mitstenographiert. Ach, welch ein 

Pressequartier! 

Eines Tages tritt Konig Wilhelm an das Krankenbett eines dem Tode 

geweihten Soldaten. Auf dem Bett liegt des Soldaten Tagebuch. Konig 

Wilhelm schreibt in das Tagebuch: »Mein Sohn! Gedenke Deines 

treuen Konigs! Wilhelm !« 

Richtig! Der Soldat stirbt. Aber vor dem Tode geschieht folgendes: 

»Seine Augen verloren ihr gldsemes Aussehen (!) und mit der letzten 

Kraft richtete er sich auf und sagte: >Ja! Majestat! Ich werde Ihrer ewig 

gedenken! Auch dort oben!< 

Dann sank er zuriick und atmete nicht mehr!« 

Man versuche ernstlich, einem Quintaner, dessen Vater im Felde gefal- 

len ist oder Kameraden sterben gesehen hat, diese siifiliche Geschichte 

einzureden. Seine Schwester, die Krankenpflegerin im Hospital gewe- 

sen, weifi ganz andere Ausspriiche sterbender Soldaten zu zitieren. 

Wozu dieser ganze verlogene Kitsch, da wir alle die Wahrheit gesehen 

haben? Man tut selbst den alten Konigen unrecht, die in ihrer Zeit 

gewif^ auch Gutes und Gro£es geschaffen, wenn man ihnen dererlei 

Albernheiten andichtet. 

Herr Haenisch konnte sich wirklich einmal die Schulbiicher ansehn! 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 28. 12. 1920 



AUSBLICKE IN DAS JAHR 1921 

Ahs Unterredungen mit »fHhrenden« und »hohen^ Personlichkeiten 

Die europaische Presse pflegt seit langem die Sine, zu Beginn eines 
jeden neuen Jahres hervorragende Personlichkeiten um ihre Meinung 
iiber das kommende Jahr zu befragen. Stehen doch die besagten her- 
vorragenden Personlichkeiten insgesamt an alien jenen Stellen im 
Staate, von denen aus ein freierer Blick iiber die nachsten und weiteren 
Weltereignisse moglich ist. Wollte sich einer die Miihe nehmen, in al- 
ten Zeitungsjahrgangen nachzulesen, ob die Voraussagen der fiihren- 
den Manner wirtschaftlich eingetroffen sind, so wiirde es sich erwei- 
sen, dafi die Weltereignisse Launen haben und oft aus purem Eigensinn 
ihren Lauf anders gestalten, obwohl sie so eigentlich schon aus Ehr- 
furcht vor den Interviewten wie vor den Interviewern genau so gesche- 
hen miifiten, wie in den Neujahrsnummern vorausgesagt war. Aber 
Ereignisse konnen sich eben irren. Im grofien ist doch anzunehmen, 
dafi die PersonUchkeiten recht behalten. Von dieser Erwagung ausge- 
hend, haben auch wir es unternommen, einige fiihrende und hohe Per- 
sonlichkeiten von einem unserer Mitarbeiter iiber die Aussichten im 
neuen Jahr zu befragen und hier die Antworten der befragten Manner 
wiederzugeben: 

Der Droschkenkutscher 

Der Droschkenkutscher, den ich um Mitternacht in der Nahe des zoo- 

logischen Gartens interviewte, auEerte sich sehr pessimistisch. 

»Wat de Zeitungen schreiben«, sagte er, »ist Quatsch, Sch . . .e. Von 

Politik vasteh ick nischt. Aber eh dafi ick de Zeitungen lese, frefi ick 

lieber Hafer an der Plempe, wie der Jaul. 

In det neie Jahr komme ick lieber jar nischt mehr rin. So janz rin. In 

Silvester wird*s noch wat jeben. Det is imma so. In Silvester ist Jut und 

Jeid und den Taxameter sehn se jar nischt, weil sie besoffen sind un ick 

auch. Aber dann schlaf ick mir aus, und dann ist wieder, wie im alten 

Jahre. Janz jenau so. Quatsch! mit det neie Jahr. Ick brauche keens. 

WoUn Se fahren?« 

»Nein! Ich danke Ihnen sehr — « 



1920 433 

»Quatsch!« sagte der Droschkenkutscher und schmatzte mit den Lip- 
pen, bewegte die Ziigel und fuhr langsam davon. 



Der Strafienbahnfahrer 

Dem Strafienbahnfahrer ist zwar das Reden wahrend der Fahrt verbo- 

ten. Ich sprach also zogernd und mit erwartungsvoUem Herzklopfen 

vor jeder Antwort. Wahrend wir auf glatten, wie geschUffenen Schie- 

nen, die sich nackt und kiihl iiber die Strafie bahnten, vorwartsglitten, 

sagte er: 

»Ich werde Dienst haben in der Silvesternacht!« 

»Dann fahren Sie ja geradewegs ins neue Jahr hinein!« 

»Ja. Aber ohne Zusammenstofi, Einmal schon hatt' ich einen Zusam- 

menstofi, das war 1899, und niemals mehr. Das war nicht meine 

Schuld.« 

»Wie's im neuen Jahr wird? Herr, das weifi niemand nicht. Da miissen 

Sie schon einen von de Herren fragen, die wat's Regieren vastehn.« 

»Sie sind aber eine fiihrende Personlichkeit?« 

»Ach so!« lachte er. »Freihch! Eine fiihrende Personlichkeit! Ich weifi 

nur, daE es besser warden. mufi. Es mu& doch einmal besser werden?!« 

»Ich wei£ es eben nicht!« sagte ich dunkel. 

Er sprach gar nichts mehr. 



Der Mann mit dem Staatsruder 

Am Schiffbauerdamm sah ich gestern um die Mittagstunde einen, der 

gerade mit seinem Boot angelegt hatte. Es war warm, die Sonne schien 

geradezu aprilhaft. 

Ich ging zu dem Mann und bat ihn um Feuer. Wahrend er mir arglos 

ein Streichholz zwischen hohlen Handen vorhielt, sagte ich tiickisch: 

»Sie rudern wohl so, den ganzen Tag?« 

»I wo! Ick rudere nur zum Verjniejen! Weil die Sonne so warm is. Det 

is jar nischt mein Kahn! Den hab ick Iosjelost!« 

»Ach so! Sie fiihrten also das Staatsruder? Sozusagen?!« 

»GewiE! det Staatsruder !« Er lachte und schiittelte seinen Oberkorper 

kunstvoU, ohne die Beine zu riihren. 



434 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

»Wie wird's im neuen Jahre werden?« 

»Jut wird's werden! Hoffentlich! De Brotkarten werden abjeschafft. 

Det ist jut. Haben Sie Brotkarten, Herr?!« 

»Wo sind denn Ihre Brotkarten?« 

»Ick habe jar keene, weil ick keene Wohnung - Sie vastehn, Herr?! 

Also die Brotkarten« - begann er hochdeutsch und nahm dabei eine 

stramme Korperstellung, so eine gesellschaftliche Korperstellung ein, 

»mussen unbedingt abgeschafft werden! Dann wird's jut. Schenken Sie 

mir wat, Herr!« 

Ich iiberreichte dem Mann, der ein Staatsruder gefiihrt hatte, eine 

Mark mit Hochachtung. 

»Ich danke schon!« sagte ich. 

»Ick auch!« erwiderte er hoflich. 



Der Turmer aufder Siegessdule 

Der alte Herr auf der Siegessaule ist sicherlich eine hohe Personlich- 

keit, dachte ich. Er sieht vielleicht am fernen Horizont Ereignisse auf- 

tauchen, von denen wir Parterremenschen erst iiberrascht werden, 

wenn sie bereits am Potsdamer Platz sind. Ich stieg also erst die brei- 

ten, dann die schmalen Stufen hinauf. Es waren viele Fremde oben, die 

fiir die Weihnachtstage und den Neujahrstag nach Berlin gekommen 

waren, um Ansichtskarteneindriicke zu hamstern. 

Der alte Turmer, ein wackerer InvaHde, gewesener Unteroffizier, 

sagte: 

»Heute ist klares Wetter, da sieht man ja alles, fast wie im Sommer. Im 

Winter, wenn's nebhg ist, ist*s ja nicht sehr gut.« 

»Sehn Sie heute in die Zukunft?« 

Er lachelte nachsichtig und gab mir sein Fernglas. 

»Hoffentlich wird's besser im neuen Jahr!« sagte ich so harmlos und 

iiberleitend als moglich. 

»Ja, ja!« sagte der Turmer. »Es muE hilliger werden! Das ist die 

Hauptsache. Ich sage immer: Sie streiken so viel we gen der hoheren 

Lohne. Warum streiken sie nicht for die Billigkeit? Da{^ man wieder 

was kaufen kann? 

Sehn Sie, soiange dieser Mantel noch halt, ist ja gut! Aber dann, wenn 

ich erst Kleider kaufen soil, das ist ja gar nicht moglich! 



1920 435 

Deshalb also sage ich: Es mufi billiger werden! Ich habe ein klelnes 
Madchen angenommen, sie ist eindreiviertel Jahre, ein schones, intelli- 
gentes Kind, wenn ich nach Hause komme - ich habe immer vierund- 
zwanzig Stunden Dienst -, sagt sie: Der Papa kommt! Aber es kostet 
alles so viel, die Milch und alles, dafi ich nicht weil^, wie ich sie halten 
soil. 

Deshalb sage ich: Sie sollen heber streiken, daf^ es billiger wird!« 
»Na denn, auf Wiedersehen!« entlieft mich der Tiirmer freundlich. 



Der Riese au$ dem Friesenland 

Auf der mehrtagigen Suche nach Grofien kam mir auch zufallig ein 

Riese in den Weg. Es ist der aus dem Friesenland stammende F.S., der 

erst seit kurzer Zeit in Berlin weilt. Der Mann ist mit seiner Schwester, 

einer Riesin, hier. Er war Handwerker in seinem friesischen Dorf, ist 

von einer unerhorten Grof^e, etwa 2,50 oder mehr, und kam auf den 

guten Einfall, aus seiner Korperlange ein Geschaft zu machen. Er will 

jetzt mit seiner Schwester als »Riesenpaar« auftreten. 

»Ich bin nur grofier als Sie«, meinte der Riese, »aber Sie wissen sicher 

besser Bescheid in politischen Angelegenheiten. Ich errege iiberall 

Aufsehen, wo ich hinkomme, hoffentlich gewohnen es sich die Leute 

im neuen Jahr ab, mir auf der Straf^e nachzusehen. 

Ich lese ja auch Zeitungen, auch Ihre Zeitung, aber alles ist so iiberra- 

schend, da{^ man nichts voraussagen darf. Das werden sich die Herren 

oben auch hiiten! 

Ich hoffe, da£ ich im neuen Jahr ein gutes Engagement finde. Glauben 

Sie nicht, da{$ die Leute zu mir kommen werden? Das ist doch interes- 

sant!« sagte er. 

Ich wiinschte dem Riesen guten Erfolg, sah noch, wie sein Haupt in 

den Wolken verschwand und eilte in die Redaktion. 

Neue Berliner- Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 31. 12. 1920 



192 1 



JENSEITS... 

Zwei Stunden hinter dem Fahrkartensch alter der Hochbahn 

Angenommen, es kame einmal ein Wilder unvorbereitet an einen 
mitteleuropaischen Kassenschalter. Er befande sich vor dem grofiten 
aller Zivilisationswunder. Menschen stehen vor einer undurchsichti- 
gen Glasscheibe und blasen Wortgebilde durch ein kreisrundes 
Loch. Jenseits der Glasscheibe schwebt eine Frauenstimme in Alt- 
und Diskantspharen und gibt Frage und Antwort. Durch einen qua- 
dratischen Ausschnitt reicht eine ratselhaft selbstandige Hand rote, 
blaue, gelbe Billetts und streicht Geld ein. Was geht hinter der Glas- 
scheibe vor? 

Immer gehorte der Kassenschalter zu jenen Mysterien der AUtag- 
lichkeit, vor denen selbst der Grofistadteuropaer, hastend von Ma- 
schine zu Maschine und von Wundern verwohnt, in einem Augen- 
biick des Riickfalls in Urzustand und Kindheit haltmachte und sich 
unbewufit die Erlaubnis gab zu staunen. Das Undurchdringliche 
weckte Forschertrieb und vulgare Neugier. Die Schalterbeamtin be- 
steht im Sommer aus einem Stiickchen Batistbluse, im Winter aus 
einem Sweatertorso und zwei Handen. Ob ein Schalterbeamter 
iiberhaupt so gebaut ist wie jeder andere Mensch, ist sehr fraghch. 
Hat er einen geraden, einen krummen Riicken? Hat er Beine? 
Gestern ging ich mit pochendem Herzen hinter einen Schalter. Ich 
kam in einen Schalterraum. Der Schalter ist gar nichts Merkwiirdi- 
ges. Er ist nur das offizielle Gesicht des Kassenraumes. Das gla- 
serne, mattangestrichene, undurchdringHche Gesicht. 
Im Kassenraum lachelt ein kleiner eiserner Ofen mit offenem Mund 
und zeigt behaghch glimmende Kohlen. An drei Schaltern sitzen 
drei Damen, Sie sind jung und gut gebaut, nach dem Ebenbild Got- 
tes geschaffen, aufrecht und mit alien Merkmalen einer fehlerlosen 
menschlichen Korperlichkeit versehen. Die eiserne Tiir ist abge- 
sperrt, seit jenem Uberfall vor zwei Jahren, dem die Schalterbeamtin 
am Zoo zum Opfer gefallen ist. Die Damen haben seitwarts an klei- 
nen Tischen Banknoten nach der Grofie aufgeschichtet. In ihrer 
Schiirze hauft sich ein flatterndes Geld. Sie sprechen plotzUch sehr 
laut, scheint mir. Ich habe vergessen, daf^ ich nicht mehr draul^en 
stehe, nicht mehr Publikum bin. DraufSen hore ich sie gerade so, 



440 . DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wie ich's brauche. Dafi sie drinnen lauter als gewohnlich sprechen 
miissen, damit ich sie, wenn ich Publikum bin, verstehe, wird mir jetzt 
erst offenbar. 

Plotzlich bin ich selbst Schalterbeamter. Ich sehe von jenem Etwas, das 
draufSen mit belegter Stimme »eine Dritte Alexander« fordert, nur ein 
schwarzbekleidetes Bauchviereck und ein Fingerbiindel, das einen 
runzligen Einmarkschein auf das Fensterbrett wirft, Ich versuche, das 
Aussehen des Mannes zu erraten. Er tragt gewifi einen griinen Pliisch- 
hut und hat einen karierten Kragen an. Alle Manner mit solch vierecki- 
gen Fingerenden haben griine Pliischhiite und karierte Hemdkragen. 
Dann schwebt ein schwarzer Muff heran, ein Ungetiim mit Atlasrie- 
senriischen. Aus dem Muff schliipft eine Hand in gelbem Leder, noch 
eine gelbe Lederhand. Eine Hand zerrt ungeduldig an der zweiten. 
Was haben diese vornehmen Hande gegeneinander? Die Linke hat der 
Rechten den Handschuh ausgezogen. Die Rechte, seh' ich, ist mani- 
kiirt. Die Fingernagel glanzen wie Paradeknopfchen. Diese Hand ver- 
langt sicher »eine Zweite Wilhelm«. Das ist eine Hand aus dem We- 
sten, Sie duftet so westlich. 

Das ist ein Portemonnaie aus griinem Krokodilleder. Zwei behand- 
schuhte Fingerspitzen tupfen vorsichtig hinein und fassen mit Zangen- 
griff einen blauen Zwanzigmarkschein. Ich sehe Lederhandschuhe, 
Wollhandschuhe, das Fragment einer gestreiften Hose, tiber der der 
Mantel auseinandergeht, und eine Hand, die in die riickwartige Ho- 
sentasche greift. Diese Hand, dieser Mantel, dieses Hosenfragment 
sind mir hochst zuwider. Ich kann mir ganz gut denken, dafi diese 
Hand eine Viertelstunde friiher in jene geheimnisvoUe Tasche hatte 
greifen konnen. Ich weifi: Hinten warten noch so viele Bauchvierecke, 
Hande, Portemonnaies, Hosenstiicke! 

Ich sitze ganz ruhig da. Die Madchen an den Schaltern kiimmern sich 
nicht um mich. Es ist merkwiirdig, wie sie ganz bei der Arbeit sein 
konnen. 

Sie bekommen eine verhaltnismafiig gute Entlohnung. Schon das An- 
fangsgehalt betragt ungefahr 800 Mark. Dafiir miissen sie achtundvier- 
zig Stunden in der Woche Dienst machen. Dienst machen, das heifit: 
mechanisch Geld zahlen, kleine rote und gelbe Kartons ausgeben, 
Ich habe Zeit, hier in diesem Schalterraum, und benutze sie, um nach- 
zudenken, ob es leicht ist, Schalterbeamter zu sein. 



1921 44^ 

Es ist nicht leicht. Ich konnte zum Beispiel niemals Schalterbeamter 

sein. 

Ich miifite fortwahrend dariiber nachdenken, wie die Menschen ausse- 

hen, die zu den Handen und Armeln gehoren. 

Ich wiirde wahnsinnig werden vor lauter Kombinieren. Ich wlirde 

vielleicht plotzlich aufspringen, meinen Geldhaufen zu Boden schmei- 

fien und hinter der Dame im Chinchillapelz herfahren. Was hat sie am 

Alexanderplatz zu suchen? 

Ich habe das Geheimnis gefunden, wie man Schaherbeamter sein kann: 

Man muf5 gegen alles in der Wek achtundvierzig Stunden lang gleich- 

giiltig sein. Nur nicht gegen das Problem: fiinfundachtzig Pfennig oder 

eine Mark; rote und gelbe Karte. 

Eine Frau schiebt ein Biindel herein. Das Biindel zerfaUt in einen Fiinf- 

zigpfennigschein, zwei doppekgefaltete Briefmarken, ein polnisches 

Fiinfpfennigstiick und eine blaue i^-Pfennigkarte. 

»[. . .]« sagt das Fraulein am Schaiter. »Briefmarken nehmen wir nicht, 

und das ist ein >Pole<.« 

»Sie nehmen keine Briefmarke?« Es ist eine eingerostete Stimme. Gott 

weifi, woher sie kommt. 

»Aber Sie hangen einem alles an!« 

»Wir hangen nichts an!« 

»Sie nicht, aber Ihre Kollegen!« 

»Meine Kollegen hangen auch nichts an!« 

»So, von wem hab' ich denn diesen Mist?« 

»Von uns nicht. « 

»Na, denn nicht! Denn fahr' ich auch nicht !« 

Die Frau schaufelt ihren »Mist« wieder ins Taschchen. Die Unter- 

grundbahn hat sich's mit ihr verdorben. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 3. i. 1921 



LAUTER JUXEN 



»Juxartikel« sind gewissermai^en aus Blech, Pappe, Holz und anderen 
Materialien hergestellte Pointen, die zwecks Irre- und Nasfiihrung 
einer harmlosen Mitmenschheit durch eine mechanische Tatigkeit aus- 
gelost werden. Ich stelle mir vor, dafi »Juxartikel« ungefahr wie Volks- 
lieder entstehen; so, von Hand zu Hand wandernd, immer grofierer 
Vollendung, feinerer Wirkung entgegengehen. Sie haben schon so was 
Urspriingliches in ihrem Wesen. 

Ich kann mir allerdings auch einen genialen Erfinder denken, der, sei- 
nen Nachsten wie sich selbst liebend, in der Einsamkeit seiner Giebel- 
stube Tag und Nacht iiber eine onginelle Methode nachdenkt, wie die 
zivilisierte Menschheit unangenehm zu verbliiffen ware. Seiche Erfin- 
der sterben vielleicht vor der Patentierung ihrer Lebenswerke einen 
freudiosen Hungertod, indes draufien das Volk aus ihren Kuhurtaten 
Mut und Hoffnung fiir ein neues Jahr schopft. Das Volk ist undank- 
bar. 

Rastlos schreitet mit jedem Jahr die Entwicklung der Karnevalkultur 
vorwarts. Aus einer Unterredung mit einem fliegenden Juxbasarbesit- 
zer gebe ich folgendes wieder: 

Wahrend des Krieges ruhte der Forscherbetrieb der Juxerfinder fast 
vollkommen. Man beschrankte sich auf Niespulver, explodierende 2i- 
garren, zusammenkrachende Stuhllehnen, Inter arma silent musae. 
In den letzten Kriegsjahren begannen die Invaliden sich mit der Erfin- 
dung und Herstellung der »Juxe« zu befassen. Heute beschaftigen sich 
ungefahr zweitausend Invaliden in Deutschland mit der Herstellung 
und Erfindung von Juxartikeln. 

Der Erfinder des ersten explodierenden »Frosches« war ein slawischer 
Triestiner. Er hiefi Iwan Krak und war von Beruf Uhrmacher. Er lebte 
in der zweiten Halfte des i9.Jahrhunderts. Es ist nett von dem Mann, 
dafS er »Krak« hicE. WirkUch: »Krak!« Deshalb nannte man den ex- 
plodierenden Frosch lange Zeit »Krak-Krak«. Ein Beweis fiir die Exi- 
stenz einer regulierenden Bestimmungsmacht im menschHchen Ge- 
schehen. Hier rief nicht ein Ereignis eine onomatopoetische Bezeich- 
nung hervor, sondern die Onomatopoesie eines Namens verursachte 
ein Ereignis. 



I92I 443 

Alljahrlich wurden vor dem Kriege in Deutschland ungefahr 200 Jux- 
artikel erfunden und zur Patentierung eingereicht. Ein seltsames Ver- 
hangnis verursachte es, dafi samtliche Juxartikel nur in der Hand ihrer 
Erzeuger funktionieren. Die herrlichsten Gemeinheiten warden im Pa- 
tentamt eingeschiichtert und verpuffen blindgangerisch. 
Interessant ist die Feststellung, dafi die meisten Erzeugnisse aus Bay- 
ern kommen. In Niirnberg werden sehr viele Juxe ersonnen. Bayern 
hat seit jeher sehr viel Sinn fiir Jux. 

Auf dem Wege durch die Friedrichstrafie, die Lindenpassage entlang 
bis zum Bahnhof Friedrichstrafie, werden die »Juxe« verkauft. Nur die 
»Zauberartikel« miissen besonders erlautert werden. Das versteht man 
so ohne weiteres nicht. Erst wenn's erlautert wird, versteht man's auch 
nicht. 

Das Fraulein, das die Zauberdinge erklart, hat flatternde Pupiilen und 
rudernde Handbewegungen. Sie platschert in Wundern. 
Drei kleine Jungen haben gemeinsam einen eisernen Nagel gekauft. So 
einen, den man durch die Finger durchstofit, wobei schmerzverzerrtes 
Antlitz zu mimen ware. In Wirklichkeit ist der Nagel eigentlich gar 
nicht durchs Fleisch gegangen, sondern - das sage ich nicht. 
Die drei kleinen Jungen gehen sehr gliicklich mit dem Nagel hinaus. 
Nach fiinf Minuten kommen sie wieder. Sie haben das Kunststiick ver- 
gessen. Sie lernen's wieder. 

Nach fiinf Minuten geht die Ladentiir: die drei kleinen Jungen. Sie 
haben das Kunststiick vergessen. 

Das Fraulein mit den flatternden Pupiilen nimmt ihnen den Nagel ab 
und gibt ihnen daflir ein Zauberei. Die Geschichte mit dem Zauberei 
ist leichter zu kapieren. Die drei kleinen Jungen gehen mit dem Zau- 
berei auf die Stra£e und lassen es fallen. Es ist aus sehr diinnem Holz 
und zerbricht auf dem Pfl aster. 

Dariiber lacht ein Erwachsener, der soeben einen Zaubernagel und 
einen Nirvanaloffel erstanden hat. Der Erwachsene hat buschige Au- 
genbrauen. Er hat ganze Tannenforste iiber den Augen. 
Ich basse ihn. 

Josephus 
Prager Tagblatt, 6. i. 1921 



KUNSTASYL 

Das Heim der hungrigen Kunstler 

Einem einzigen Menschen in Berlin - Grofi-Berlin hat rund vier Mil- 
lionen Einwohner - war es aufgefallen, dafi Kunstler hungern und zu- 
grunde gehen. Dieser Mensch mietete in der KlosterstraKe 62 einen 
Laden, in dem - sagen wir vielleicht Adam Krause oder so - einen 
Handel mit Patenthosenknopfen (oder so) betrieben hatte, Kate Hyan, 
so heifit der Mensch, sagte: Dieser Laden ist ein Kunstasyl. 
Maler kamen und Bildhauer und Dichter, brachten ihre Werke, aus 
dem Laden wurde ein kleines Museum, und Kate Hyan mietete noch 
die riickwarts gelegene Wohnung dazu. Der Hauswirt straubte sich 
gegen Kunstasyl. Hauswirten ist Asyl ein fremder Begriff Vielleicht 
aber riihrte Kate Hyan just an jene Stelle seines Innern, wo nach Lese- 
buchbegriffen das Gewissen des Menschen sitzt. Die Wohnung be- 
stand aus zwei Zimmern und einer Kiiche. Aus der Kiiche wurde ein 
Biihnengarderobenraum. Der Herd ist auch noch da, und aus einem 
Zimmer wurde eine Biihne, nachdem eine Wand durchbrochen wor- 
den war. 

Wichtiger aber als all die ausgestellten Sachen sind zwei Dutzend Kaf- 
feetassen vorn im Laden. Aus diesen Kaffeetassen trinken Kunstler, die 
hungrig sind und durstig. 

Was ist Kunstasyl? Berlin braucht eines selbst fur Kunstler, die nicht 
hungrig sind. Einen Zufluchtsort fiir die von der Strafie Verfolgten, 
von den Strafien, die erfiillt sind von Dieben, Polizei, Borse und Film. 
Kunstasyl heifit: Obdachlosenasyl. Wenn jemand obdachlos ist in die- 
ser Stadt, so ist es der Kunstler. Nicht die Kunst, Die Kunst ist Objeki 
der Snobandacht, Gottin im Tempel des Westens; der Kunstler sucht 
Zuflucht in der Klosterstrafie. 

Vorgestern abend war ich dort. Die Untergrundbahnstation Kloster- 
straEe driickte sich schiichtern in die Ecke, die Strafien waren schwacb 
erleuchtet. Von der Parochialkirche mit dem unwahrscheinlich wun- 
derbaren Glockenspiel loste sich Klang um Klang los. Irgendwie be- 
kam die Trostlosigkeit dieser Gegend Physiognomic, unberlinische. 
die StraEenbahn, die die Stralauer Straf^e entlang daherflitzte, war wie 
eine anachronistische GroEstadtvision. 
Frau Hyan hatte ein paar Leute von der Presse eingeladen, geeichte 



I92I 445 

Posauner offentlicher Einrichtungen, und ein paar Zuhorer. Dieses 
Publikum bestand aus Neugierigen, nicht Beflissenen. Sie waren skep- 
tisch, nicht enthusiastisch. Vielleicht lockte es sie, die Erfolge einer 
Kiihnheit zu sehen und eines Glaubens an die Giite der besitzenden 
Menschheit. Beides hatte Kate Hyan. Das Geld fur die Januarmiete 
undfiir die StUhle hat sie noch immer nicht. 

Ich mochte von den Leistungen sprechen : Eine Schauspielerin las Ra- 
bindranath Tagore. Ein junger Dichter eigene politische Satiren, eine 
junge Sangerin sang aus der Boheme, und eine Dichterin trug Gedichte 
vor. 

Vor dem weifien Autoritatsbart Rabindranath Tagores batten die 
Leute Respekt. Sie gahnten nicht. Sie stocherten sogar mit interessier- 
tem Aug' in den indischen Bliitenkranzen herum. Die poUtischen Sati- 
ren gefielen ihnen hie und da. Wenn ihnen auch die Gesinnung nicht 
entsprach, so glaubten sie doch, die Luft eines politischen Witzblattes, 
einer satirischen Sonntagsbeilage zu atmen, und sie iachelten wohlwol- 
lend Beifall. Aber die Dichterin verstanden sie schon gar nicht. Sie 
waren emport, weil sie zwanzig oder dreifiig oder hundert Mark wohl- 
tatigen Herzens gespendet hatten und Gedichte vorgesetzt erhielten, 
fiir deren Verstandnis mehr als Wohltatigkeit und Geld notig war. 
Halb befriedigt gingen sie heim. Ich sehe sie noch heute die Kopfe 
schiitteln iiber ein Kunstasyi. Obwohl sie, ich bin uberzeugt, als sie die 
Glocken der Parochialkirche um ii Uhr nachts horten, »ach wie 
schon !« riefen. 

Dieses sei nur erzahlt, um zu beweisen, daft das Kunstasyi autoritati- 

ven Schutz braucht und Vormundschaft der Geachteten und Aner- 

kannten. Frau Hyan hat Geschmack, aber wenig Kritik. Fast ist jeder 

Hungrige iiber sie schon wertvoller Kiinstler. Sie erzahlte mir eine sehr 

riihrende Geschichte: 

Am Sonntagvormittag kam ein Mann auf zwei Kriicken herangehum- 

pelt, den sie fur einen Bettler hielt. Sie woUte ihm Brot geben, er aber 

bot ihr seine Werke an. 

Nichts Wunderbares, daft Menschen auf Kriicken, die Werke geschaf- 

fen haben, wie Bettler aussehen. Aber das Bettlertum befahigt sie noch 

nicht zu kiinstlerischem Wirken. 



44^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In der Klosterstrafie liegt der Anfang eines sehr schonen Werks. Dei 
Kultusminister Haenisch soil sich darum kummern. Die Presse, di( 
Schriftstellergenossenschaft, der Biihnenverein, die Kunstakademier 
soUten sich darum kummern. Es konnte namlich sein, dafi aus den 
Kunstasyl ein Obdachlosenasyl, oder noch schlimmer, ein Dilet- 
tantenasyl wird. 

Neue Berliner Zeitung- i2-Uhr-Blatt, 7. i. 192] 



YU-SHITANZT...! 



»Yu-Shi tan2t«, cine alte, verspatet nach Berlin geratene Operette voi 
Jacobson und Bodanzky, eine Art Limonade aus Teebliiten mit euro 
paischen Zusatzen, wird im Neuen Operettenhaus mit einem grofier 
Aufwand an Toiletten, Kulissen, elektrischem Licht gespielt. Einer 
normalen Amerikaner von der Ehe mit einem siifien kleinen Geisha- 
madchen, welches Yushi heifit, zu befreien ist Sinn des Lebens jenej 
Gesellschaft der amerikanischen Kolonie in Yokohama, die sich ent- 
setzlich benimmt, scheufiliche Hiite tragt, aus mehr oder weniger un- 
sympathischen Frauen besteht. Die Musik ist von Ralph Benatzk) 
»geliefert« worden. Als hatte wer Teebliitenmusiksamen zwischer 
Grinzing und Sievering ausgestreut, und nun ware ein Melodienkom- 
plex hervorgegangen, der silberne Taubenrohrentone auf Heurigengei 
gen setzt. Aus dem Einerseits-Milieutreue, Andererseits-Milieubluf: 
ist eine fiir naive Operettenbesucher recht nette, fiir verwohnte immej 
noch ertragliche Amiisierangelegenheit geworden. 
Lilly Flohr ist Yu-Shi. Ich kann mir eine bessere, eine leichtere Yu-Sh 
denken. Eine japanischere. Man kann Pathos, Schmerz, LacherUchkei' 
markieren. Niemals Unbeholfenheit. Lilly Flohr aber vergifit jed< 
Viertelstunde, dafi sie Kimono tragt. Sie verfallt in Abendtoilette. Ir 
dem Augenbhck, in dem sie das Duett mit dem Liebesgestandnis be- 
ginnt, breitet sie die Arme aus, wird Primadonna, Ekstase, entfaltei 
sich aus japanischer Knospe zur europaischen Dame. Sie kann nichtj 
dafur. Man kann wirklich nicht Soireemelodie mit Geishamanierer 
singen. Daran ist Benatzky mehr schuld als Lilly Flohr. 



I92I 447 

Es ist iiber die anderen nichts mehr, nichts weniger zu sagen, als dafi 
sie ihre Pflicht erfullt haben. Die Regie Victor Paffis verrat Routine mit 
Geschmack. 

Freie Deutsche Biihne, 9. i. 1921 



WENN BERLIN WOLKENKRATZER BEKAME . . . 

Vorschldge zur Behebung der Wohnungsnot 

Seit einiger Zeit denkt man daran, Wolkenkratzer in Berlin zu bauen. 
Die Veranlassung dazu bote die ungeheure Wohnungsnot und die In- 
anspruchnahme biirgerlicher Wohnungen durch Behorden, Kommis- 
sionen und dergleichen. Gegen die Errichtung von Wolkenkratzern 
sprache nur der Umstand, dafi der Bau sehr teuer ware. Manche, die es 
verstehen woUen, behaupten, dafi die Zeit fiir die Wolkenkratzer 
heute, wenigstens fiir eine Weile, vorbei sei. Wolkenkratzer, meinen 
sie, hatten nur dann einen Sinn, wenn es sich darum handeln wiirde, 
am kostspieligen Bauterrain zu sparen. Heute nun, da die Baukosten 
so enorm seien, spiele der Bodenpreis eine Im Verhaltnis so geringe 
Rolle, dafi man ruhig einfache Hauser bauen konnte, ware das Material 
nur billig zu beschaffen. 

Nun scheinen aber Wolkenkratzer aufier ihrem Hauptzweck, Raum 
zu ersparen, auch noch andere, nicht minder wichtige Zwecke und 
Vorteile zu haben. Ihre Errichtung wiirde zwar viel kosten, aber die 
Mietpreise fiir Biiros, Geschaftshauser, Kaufladen, Warenhauser waren 
entsprechend hohen Die Einrichtung der Wolkenkratzer bietet viel 
Komfort, einfachen, verhaltnismafiig biUigen Komfort, und die Re- 
klamCy die ein Geschaft dadurch allein schon fur sich macht, dafi es in 
einem Wolkenkratzer untergebracht ist, ist nicht gering anzuschlagen. 

Und im iibrigen ist es wirklich an der Zeit, den ohdachlosen Mietern 
ihre Wohnungen zuriickzugeben und Kommissionen und Behorden in 
eigens fiir sie errichteten Raumen unterzubringen. Es ist sinnloseste 
Raumverschwendung, wenn Amter sich in Wohnungen festsetzen, in 
denen Badezimmer, Kiichen, Dienstbotenzimmer ihren eigentlichen 
Zwecken entzogen werden. In den meisten Amtern kann man die Be- 



448 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

obachtung machen, dafi oft ein einziges Tippfraulein an ihrer Schreib- 
maschine beim Fenster sitzt, wahrend der iibrige Teil des Zimmers 
infolge seiner Lichtlosigkeit nicht als Arbeits-, sondern hochstens als 
Durchgangsraum benutzt warden kann. Amter und Biiros miissen 
eigens fiir ihre Zwecke eingerichtete Raume haben. Das Problem der 
Wohnungsnot ware mit der Errichtung von Wolkenkratzern behoben. 

So erwagen denn die Behorden jetzt, nachdem sie sich zuerst etwas 
gestarkt zu haben scheinen, ernstlich die Errichtung wenigstens eines 
Probe-Wolkenkratzers in Berlin. Er konnte im Zeitraum von neun 
Monaten fertig sein. Die Kosten sind heute schwer zu bestimmen. 
Die Zahl der Stockwerke spielte dabei keine Rolle. Ob man 8 oder 16 
Stockwerke errichtet - das macht im Preis keinen so enormen Unter- 
schied. Jedenfalls miifite das Haus mindestens zehn Stockwerke hoch 
sein, um den Namen »Wolkenkratzer« tragen zu diirfen. 
Die Bezeichnung »Wolkenkratzer« stammt aus der Seemannssprache 
und bedeutet urspriinglich die am hochsten angebrachten Schiffssegel, 
die bereits »die Wolken kratzen« konnen. Das Wesen der Wolken- 
kratzer aber besteht nicht allein darin, dafi sie hoch sind. Es ist viel- 
mehr ein eigenes Bausystem, das erst die enorme Hohe der Wolken- 
kratzer iiberhaupt moglich macht. 

Wolhe man ein nach dem einfachen Bausystem errichtetes Haus um 
so zahlreiche Stockwerke erhohen, so miifiten die Grundmauern un- 
glaubhch stark sein, denn sie batten die Aufgabe zu »tragen«. Bei den 
Wolkenkratzern aber ist das Tragprinzip nicht angewendet. Es ist 
eine Art Meisenbausystem, wie ein bekannter Berliner Architekt sagt. 
Jedes Stockwerk ist selbstandig und tragt sich selbst. Man kann einen 
halbfertigen Wolkenkratzer vom hochsten Stockwerk aus bauen. Die 
tieferen werden dadurch nicht beriihrt. Es sind Eisenkonstruktionen, 
die die Kanten der Hauser bilden, und das Viereck einer Stockwerk- 
mauer ist gleichsam durch eine Diagonale in Dreiecke geschnitten 
und also tragfahig und einsturzsicher. Zu Ende des i9.Jahrhunderts 
wendete Meister Buffington in Minneapolis zum erstenmal dieses Sy- 
stem an. Es bewahrte sich ausgezeichnet bei Branden und sogar bei 
Erdbeben, So diirfte vielleicht die auf den ersten Bhck paradox wir- 
kende Tatsache bekannt sein, dafi bei dem grofien Erdbeben in San 
Franzisko die Wolkenkratzer allein verschont blieben. Es konnte 
eben nichts »einsturzen«, weil jedes Stockwerk sich selbst tragt und 



19 2 1 449 

die oberen Stockwerke von einer Erschiitterung der unteren nicht ab- 
hangig sind. Die Mauern sind nicht mehr tragendes Element, nur Fiil- 
lungen. 

Die Fundumentierung der Wolkenkratzer mufi aufierst solide sein. In 
Chicago wendet man besondere Sorgfait an, man grub zwanzig Meter 
tief, legte haufig flache Schwellroste oder etwa 15 Meter lange Pfahle 
ein und iiberdeckte ihre »Kopfe« wieder mit Beton. 
Die Inneneinrichtung der Wolkenkratzer ist aufierst komfortabel. Ein 
Wolkenkratzer beschaftigt unter Umstanden 20000 HaHsangestellte, 
hat eine eigene Wasserversorgung, Vakuumreinigung, Pumpwerke, 
Feuerwehrschlauche und eine eigene Feuerwehrkompanie mit einem 
Hauptmann. In grofien Tanks sind Wasserreserven vorhanden, von 
unten aus fiihren Steigrohre zu den Tanks. Die Aufziige sind natiirlich 
von besonders fester Konstruktion. Die Arbeiter des Wolkenkratzers 
gehen Tag fiir Tag zu Fufi alle Stockwerke ab, schichtweise, kontroUie- 
ren alle Einrichtungen. 

Die Wolkenkratzer sind eigentlich die Ausdrucksform unseres Jahr- 
hunderts. In ihren Pfeilern und Drahtgeriisten schwingt der Treibrie- 
menrhythmus der Gegenwart. Sie sind die Uberwindung des Problems 
von Babel. Siehe da: Man baut Tiirme, die in den Himmel ragen, Erd- 
beben kommen, und die Tiirme von Babel stiirzen nicht ein. - Warum 
soUte Berlin keine Wolkenkratzer haben? 

Ich safi mehr als eine Stunde bei dem weitgereisten Architekten, dem 
Baurat Jaffe. Er zeigte mir Bilder vom Eiffelturm, der zart und leise, 
fast singend gegen den Pariser Himmel anstrebt. Ich sah die riesenhaf- 
ten Zentauren- und Zyklopenwerke von New York, den Chicagoer 
Massonic-Tempel, das Ferris-Rad, das sich wie ein aufgestellter Aqua- 
tor unermiidlich dreht, die Gesamtansicht von East River, New York 
aus der Vogelschau. Alles ist unerhort, iiberdimensional, wuchtig und 
doch schlank, irdisch und dennoch siegreich zum Himmel schwin- 
gend. 
Warum solite Berlin keine Wolkenkratzer haben? 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 18. 2. 1921 



DIE WELT 1ST KLEIN 



Mein Friseur war Gefangener in einem franzosischen Lager. Er wurde 
von amerikanischen Soldaten bewacht. Eines Tages sagte ihm ein Ame- 
rikaner: Borg mir deine Uhr. Wenn der Krieg aus ist, schicke ich sie dir 
zuriick. 

Haha! lachte der Friseur. Wenn der Krieg aus ist! - Nahm herzlichen 
Abschied von seiner Uhr und gab sie dem Amerikaner. 
Der konditionale Teil des amerikanischen Versprechens erfiillte sich: 
Der Krieg war aus. Am Weihnachtstage erhielt mein Friseur einen Brief 
aus Amerika. Von dem Soldaten, der inzwischen wieder Apotheker 
geworden war. In dem Brief schrieb der Amerikaner: Teurer Kamerad, 
schreib mir, ob du die Uhr willst oder ihren DoUarwert. Vielleicht 
magst du auch Lebensmittelpakete? Ich bin dein treuer Kamerad. 

Ein anderer Amerikaner hatte im Kriege einen schwerverletzten Deut- 

schen gefangengenommen. Der Amerikaner transportierte »seinen« 

Gefangenen in ein belgisches Hospital, nahm Urlaub von der Front und 

beschlofi, den Deutschen gesund zu pflegen. 

Vor dem Tode gab er dem Amerikaner einen Ring zum Andenken. Der 

Ring war aus Eisen, mit einem Reichsadler auf schwarzweifirotem Hin- 

tergrunde. Es war ein armer, gesinnungstuchtiger Ring, 

Die Eltern des Deutschen inserierten in der Zeitung: Unser Sohn ist 

verschollen, wahrscheinlich in fremder Erde begraben. Wer etwas von 

ihm weifi, moge es uns mitteilen. 

Die Eltern des Deutschen bekamen eines Tages den Ring und einen 

Brief aus Amerika. In dem Brief stand: Hier ist der Ring cures Sohnes. 

Schneidet ihn entzwei, und schickt mir die Halfte zuriick. Es ist ein 

Andenken an einen Gefahrten. 

Gestern las ich in einer Zeitung: Zwei Freunde ersuchen vermogende 
Sportsleute, Klubs, Filmstars, Kriegsgewinner, ihnen zu einer kleinen 
Ausriistung zu verhelfen, damit sie zu Fufi und im Paddelboot um die 
Welt reisen konnen. 

Die Manner, die wackeren, die zu Fuft und im Paddelboot um die Welt 
reisen wollen, gefallen mir. Sie haben nie Geographic gelernt. Deshalb 
ist ihnen die Welt klein. 



1921 451 

Erst die Berechnung schafft Entfernung, Distanz. AUes Bose kommt 
iaher und alles MifSverstandnis. Weil wir glauben, dafS wir zu weit 
raneinander entfernt sind, als dafi wir uns horen und verstehen kon- 
len, schweigen wir und sprechen miteinander. 

Prager Tagblatt, 21. i. 1921 



INDIEN IN BERLIN 

Im ganzen 60 Mann - Ein Klub - Unterm grunen Buddha 

^or einigen Tagen erregte der Mord an dem Inder Singh in Berlin 
^rofies Aufsehen. Die Filmphantasie der Offentlichkeit wob um die 
lackte Mordtatsache eine Fiille von politischen und sonstigen Ge- 
tieimnissen. Es ist, als ob der Angehorige eines exotischen Volkes nicht 
sinem gewohnlichen Morder zum Opfer fallen konnte. Um elnen In- 
der mu£ unbedingt ein Ring von Verschworungen sein. 
Es ist eine dankbare Aufgabe, dergleichen Wunderglauben der Wirk- 
lichkeit gegeniiberzustellen. Ich lie£ es mir angelegen sein, die Inder in 
Berlin aufzusuchen. Sie sind gar nicht geheimnisvolL Drei Fakire sind 
im ganzen unter ihnen, und auch die sind in Berliner Varietes und 
Zirkussen tatig und haben ihren Zauber erst in Europa gelernt. Die 
Librigen Inder sind zumeist Kaufleute^ zum geringen Teil Handwerker, 
fiinf sind - Stenotypisten in Berliner Buros. Die meisten sind verheira- 
cet, haben Kinder - vielleicht sogar blonde -, die Kinder besuchen 
deutsche Schulen und lernen in der Gesangsstunde: Kuckuck, Kuk- 
kuck, ruft's durch den Wald . . . 

Im alten Charlottenburg ist eine Art indischerKlub, Eine kleine Kon- 
ditorei, die die Inder zum Teil aus eigenen Mitteln, zum Teil mit Un- 
terstiitzung der deutschen Behorden errichtet haben, weil es den mei- 
sten unmoglich war, nach Hause zuriickzukehren. Vor dem Kriege 
lebten im ganzen etwa hundert Inder in Berlin, nach dem Kriege 
schmolz ihre Zahl auf etwa fiinfzig bis sechzig zusammen. Der Rest 
hat sich iiber alle Gegenden des Deutschen Reiches zerstreut, und nur 
einzelne haben den Weg in die Heimat angetreten. Ob es ihnen gelun- 
gen ist, nach Hause zu gelangen, ist unbestimmt. 
Der Inder Nana, den ich kennenlernte, wahrend ich in der Daily Mail 



452 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

las, ist fiinfundvierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren in Europa und 
Sportsmann von Beruf. Er behauptet, im Hamburger Hafen eine Per- 
sonlichkeit ersten Ranges zu sein, die Maschinen- und Heizraume allei 
grofien englischen und amerikanischen Schiffe zu kennen und zweimal 
mit reichen Englanderinnen verheiratet gewesen zu sein. Wahrend des 
Krieges will er vom deutschen Auswartigen Amt gelebt haben. Die 
deutsche Regierung soil namlich Indern gegeniiber ganz besonders zu- 
vorkommend gewesen sein. Viele von den Indern wurden zu Spiona- 
gezwecken gegen England verwendet. Die braven Inder liefien sich das 
Geld geben und etablierten sich hauslich in Berlin. 
Nach dem Kriege mufite man irgendwie fiir sie sorgen. Man gewahrte 
ihnen - Zucker, und sie griindeten eine kleine »Bonbonniederlage«. Im 
Anschlufi an diese entstand eine Konditorei, und in dieser leben jetzt 
jene Inder, die familienlos, ohne hauslichen Herd, Anlehnung an 
Landsleute in der grofien fremden Stadt suchen. 
Die Ermordung Singhs ist Tagesgesprach in der indischen Stube. 
Uber dem Kamin riickwarts in einer Nische sitzt ein grliner Buddha. 
Er hat Augen aus saphirahnlichem Gestein und das Gesicht eines ewig 
lachelnden Besserwissers. Er wei£ ganz gut, dafS er hier niemandem 
iibermafiigen Respekt einflofit. Er sitzt da und sucht sich an Europa zu 
assimilieren. 

Neben Buddha rechts ist die Federzeichnung eines europaischen Ma- 
lers, die Rabindranath Tagore darstellen soil. Der Dichter hat einen 
Prophetenbart aus Kreidestrichen, und seine Augen sehen versonnen, 
wie es sich gehort, gen Osten. 

Im librigen spielen die Inder zuweilen Karten, indes das blonde Ser- 
viermadchen (aus irgendeiner Spreegegend) Tassen, Karten, Schwamm 
und Kreide bringt. Sie spielen ohne Hast, mit sehr viel Uberlegung, 
und sie klatschen nicht mit den Karten ohrfeigenahnlich wie europai- 
sche Spieler, sondern legen sie sachte an den Rand des Tisches, wie 
kostbare GefalSe etwa. 

Nana und seine Freunde gehoren der nationalistischen Partei an. Im 
Grunde sind sie europaerfeindlich, das heilSt eher englandfeindlich, 
und Deutschland scheint ihnen sympathisch zu sein. Ein indischer Stu- 
dent, der hier ein Handelshochschulstudium absolviert, sagte mir sehr 
weise: »Die Inder Heben immer besiegte Volker.« 
In den ersten Abendstunden gehen die braven Inder nach Hause. 
Einige haben zu Hause Weib und Kind, wie gesagt, und sie schlucken 



I92I 453 

kein Feuer und lassen sich auch nicht lebendig begraben, sondern neh- 

men wahrscheinlich das Rechenheft ihrer kleinsten Tochter her, um es 

auszubessern. 

Nur Nana, meinem Freund, dem Europamenschen, begegnete ich 

nach Mitternacht wieder In der »2oodiele« im Wartesaal des Bahnhofs 

»2oologischer Garten«. Er saf5 da mit einem bekannten Filmreglsseur. 

Ich glaube, er hat bereits eine Filmidee . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 24. i. 1921 



DER TOD IM ZIRKUS 

Das Ende eines Berliner Clowns 

Am letzten Sonnabend starb wahrend der Abendvorstellung im Zirkus 
Sarrasani der Clown Richard Maerkl. Maerkl bekam in dem Augen- 
bhck, in dem er die Arena betreten soUte, einen Blutsturz, fiel nieder, 
verlor das Bewu^tsein und stand nicht mehr auf. Er starb den Tod 
eines Clowns. Geschminkt und im Narrengewand, mit flatternden 
FrackschofSen und einem zerbeulten Hiitchen auf der blonden Schopf- 
periicke rutschte er ins Jenseits hiniiber, 

Wer Artisten kennt, wei£, was das hei^t: Clown sein. Weifi, wie trau- 
rig-possenhaft so ein Doppelleben ist, in dem zur Hervorbringung la- 
cherlichster Effekte das grof^te Raffinement notig ist. Weif^, dal^ in der 
Personlichkeit des Clowns, der sein literarisch fixiertes Portrat in den 
zahlreichen Narren Shakespeares hat, die Grenze zwischen Trauerspiel 
und Komodie, Weinen und Lachen, Gewitztheit und Hilflosigkeit 
nicht vorhanden ist und dafi hier die Gegenpole A^s Weltgesetzes zu- 
sammentreffen um der kiinstlerischen Wirkung willen allein. Der 
Clown ist ein Witz der Schopfung. 

Wer wird Clown? Wie wird man Clown? Wer bringt jenen personli- 
chen Mut und jene geistige Uberlegenheit auf, die ein freiwilliges Nar- 
rentum erfordert? Wer hat den seltsamen Ehrgeiz, sein Leben lang 
peinliche Verlegenheiten zu erdulden und ewig ausgelacht zu werden? 
Der Clown Maerkl stammt aus einer alten Zirkusfamilie. Sein Vater, 
ein dreiundachtzigjahriger Greis, hatte einst einen grof^en Wanderzir- 
kus und war beriihmt. Ein Ungliicksfall - es soil ein Brand gewesen 



454 E»^S JOURNALISTISCHE WERK 

sein - brachte dem grofien Zirkus kein jahes, sondern ein langsames, 
trauriges Ende. Der alte Maerkl leht und wurde bis jetzt von seinem 
Sohn, der selbst verheiratet war und Familie hatte, unterstutzt. 
Maerkl, der junge, machte alle Artistenkunststiicke mit. Er lernte 
Reckturnen, Kopfstehen und versuchte sich am Seil und auf dem Rad. 
Aber er hatte die innere Unstetheit eines Poeten und konnte die Ver- 
biirgerlichung des artistischen Spezialberufes nicht begreifen. Die Zeit 
der wandernden Komodianten, von denen jeder alles konnen mufite, 
ist seit ungefahr dreifiig Jahren vorbei. Ein Artist aus der guten alten 
Zeit, der noch auf Jahrmarkten Schaustellungen gab, machte alles. Er 
turnte am freien Hangedreieck und tanzte am Drahtseil, war Zauber- 
kiinstler und Exzentriker und hatte fiinf RoUen in fiinf Kostiimen. Der 
moderne Artist ist Fachmann auf einem Spezialgebiet und versteht von 
andern Dingen nichts oder nur sehr wenig. Er hat seinen meist selbst 
erfundenen Trick und verdient damit Geld wie ein Handwerker oder 
ein Kaufmann. Er »betreibt« seinen Trick wie ein Geschaft. Wer aber, 
wie Maerkl, der Clown, sich nicht speziahsieren kann, weil er alles 
Artistische innerlich durchlebt, wird Clown. Das heifit: Er bewahrt 
sich die innere Freiheit. Er steht iiber den Dingen, weit zwischen den 
Fachgebieten. Er ist der Bohemien der Bohemiens. Eine vermensch- 
Uchte Pointe des Vagantentums. 

Dennoch war Maerkl nicht immer Clown. Er ritt eine Zeitlang, war 
Exzentriker in Osterreich, erlitt einen Unfall, erkrankte und wurde 
schliefilich alter. Er konnte nur noch Clown sein, weil es gerade sein 
Talent war und ihm seine Anstrengung bedeutete, Seine Hauptrolle im 
Zirkus bestand darin, auf dem Boden der Arena ausgestreckt zu Uegen 
und, Angst und Bangen markierend, den grofien Elefanten zu erwar- 
ten, der mit einer riihrend-zartlichen Plumpheit dahertappte und liber 
den Korper des Clowns schntt, wahrend der Elefantendresseur in 
blendendweifier Uniform, mit Peitschenknall und Lackstiefelglanz, 
Herr der Situation, siegreich vor Parkett und Logen sich verneigte. 
Vielleicht hat nur ein Kind auf den Dresseur weniger als auf den 
Clown geachtet. Der Clown Maerkl starb knapp vor seiner Nummer. 
Als der Elefant heraustrat, suchte er vergeblich auf dem Boden nach 
Teppich und Clownskorper und schiittelte verwundert den Riissel. 
Von einem MitgUed des Artistenvereins (F.U.B.) erfuhr ich zufaUig 
Namen und Aufenthaltsort eines Jugendfreundes des toten Clowns. 
Der Freund heilSt A. J., ist durch Trunk und Verbrechen herabgekom- 



I92I 455 

men, aus dem Artistenverband ausgeschlossen und mufi in einem der 
traurigsten Etablissements im Berliner Norden fur funf Mark Fixum 
nebst Trinkgeldern jeden Abend als Ausrufer, Schwergewichtsstem- 
mer und Hypnotiseur ein winterliches Rummelplatzpublikum unter- 
halten. 

Ich sprach mit A.J. Er steht seitwarts vor dem Vorhang einer primiti- 
ven Biihne in einem Raum, der kaum fiinfzig Personen faEt, und fiihrt 
Regie. Die Vorstellung samt alien Nummern wird fiinf- oder sechsmal 
am Abend abgehaspelt, der Eintritt kostet eine Mark fur Erwachsene, 
»Kinder diirfen nicht« hinein, zahlen aber nur fiinfzig Pfennig. A.J. 
zieht einen schmalen, ach zu schmalen Vorhang nach jeder Nummer 
und besonders vor der »Nacktkultur« zu. Zieht er rechts, bleibt Hnks 
eine Liicke und umgekehrt. Das PubHkum briillt. 
A.J. bekam hie und da - keiner wufite es - kleine Unterstiitzungen von 
Maerkl. Ich weifi nicht, ob alles wahr ist, was mir der Lebende von 
dem Toten und iiber sich selbst erzahlte. Ich weifi nur, dafi der Le- 
bende den Toten beneidete. Er log gewifi nicht, und es war auch nicht 
angelerntes Pathos, als er sagte: So mocht' ich sterben! 
Ich woilte ihm Geld geben, er nahm's nicht. »Geben Sie's in die Kasse, 
wir teilen dann alle«, sagte er. »Mutschi ist krank.« 
Er meinte das oxydiert blonde Madchen aus der »Nacktkultur«-Num- 
mer, das er vielleicht Uebhat. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. i. 1921 



WAS LIEST DER BERLINER? 



Man gelangt, wenn man durch einige LeihbibUotheken und einige 
Buchhandlungen Berlins gegangen ist, zu den widersprechendsten 
Meinungen dariiber, welche Lekture der Berliner bevorzugt. Ein be- 
sonders nach einer gewissen literarischen Richtung hinausgebildeter 
Geschmack scheint den meisten abzugehen. In anderen Stadten kann 
man die Beobachtung machen, da£ gewisse, nach dem sozialen und 
intellektuellen Standpunkt geschiedene Bevolkerungsklassen einen ty- 
pischen Geschmack in der Auswahl der Lekture aufiern. Natiirlich 
kommt hierbei nur die Belletristik in Betracht. WissenschaftUche und 



4$6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

andere Biicher werden ja gewohnlich von Fachgebildeten oder Studie- 
renden entliehen. Der Berliner liest alles. In diesem Satz komprimiert 
sich das Urteil liber seine Stellung zur Literatur, 
Schwankungen bestehen nur zwischen den verschiedenen Stadtgegen- 
den Berlins. Eine kleine Stichprobe bei Leihbibliotheken des Zen- 
trums, des Nordens und des Westens ergab in einer Beziehung iiberra- 
schende Resultate. Wollte man das Bild, das sich aus dieser Umfrage 
ergibt, als das bezeichnende gelten lassen (und man darf es wahrschein- 
lich tun), so ergabe sich, dafi man gemeinhin im Norden das Ewige 
liest, wovon man eigentlich annimmt, dafi es im Westen gelesen wiirde, 
und umgekehrt. So kam in der letzten Woche in einer LeihbibUothek 
des sogenannten alten Westens ein Roman der Courths-Mahler nicht 
weniger als in fiinfundvierzig Ausgaben an ebenso viele Abonnenten. 
In einer kleinen LeihbibUothek nahe der Frankfurter Allee waren 
Courths-Mahler und ihre Artgenossinnen mit zusammen etwa elf Bii- 
chern zusammen vertreten. Dagegen sind Theodor Storm, Gottfried 
Keller, Heyse, Herzog in i86 Exemplaren vorhanden. Zu den meistge- 
lesenen Autoren dieser LeihbibUothek gehort - Ehre dem Berliner 
Norden! - Theodor Storm. 

Bezeichnend fiir die Zusammensetzung des LeihbibUothekspublikums 
des Stadtzentrums ist der Umstand, dafi in den LeihbibUotheken und 
Buchhandlungen der inneren Stadtgebiete Courths-Mahler, Olga 
Wohlbriick und ahnliche moderne Familienschriftstellerinnen in fast 
demselben Ausmafi gelesen werden wie die ganz groflen Dichter: Knut 
Hamsun, Panin, Dostojewski. Das LeihbibUothekspublikum dieser 
Gegenden setzt sich eben aus den verschiedensten Elementen zusam- 
men: den InteUektueOen, den Halbgebildeten, den Ungebildeten. In 
der Stadt sind sie alle tatig. Sie holen und tauschen ihre Lektiire auf 
dem Wege von oder zu der ArbeitssteUe. In einer LeihbibUothek des 
»2entrums« wurden zum Beispid Jensens »Gletscher« innerhalb eines 
Monats von fiinfundvierzig Abonnenten verlangt, von zwanzig gele- 
sen. Kellermanns »Tunnel« ist heute noch - trotz der starken Abge- 
nutztheit durch die Verfilmung - eines der meistbegehrten Biicher. 
Dagegen wird sein neuestes Buch »Der neunte November« fast nur im 
Westen sehr stark verlangt. Und auch hier finden verhaltnismafiig viel 
mehr Kdufer als LeihbibUotheksabonnenten Interesse fiir den »Neun- 
ten November*. Eine Buchhandlung am Kurfurstendamm verkaufte 
an dem Tage, an dem eine umfangreiche Besprechung des Buches in 



I92I 457 

einer Berliner Tageszeitung erschienen war, nicht weniger als achtund- 
fjinfzig Exemplare. 

Zu den typischen Leihbibliotheksschriftstellern gehort Hans Heinz 
Ewers noch immer. Seine Biicher miissen immer wieder neu gebunden 
werden. Es scheint, als ob die Leser den Versuch machten, diese Ro- 
mane im wahrsten Sinne des Wortes zu verschlingen. 
Eines Kuriosums soil hier noch gedacht werden: In der Leihbibliothek 
Ewald Luck, im Norden, in der Grabbestrafie, wurde im vergangenen 
Monat - Ludwig Borne von etwa fiinfzehn Abonnenten gelesen. Der 
Band, in dem sich die »Rede auf Jean Paul« befindet, war sechsmal 
entlehnt worden. Ein seltsamer und seltener Beweis fiir die Wiederauf- 
erstehungsmoglichkeit eines Schrifts tellers, der vor hundert Jahren die 
Fehler der Deutschen geifielte, und ein Beweis dafiir, dafi wir uns nicht 
geandert haben - und die Bornes notig hatten. 

Klassiker werden weder gekauft noch in den Leihbibliotheken ver- 
langt. Der Grund dafur mag einerseits darin liegen, dafi fast jedes deut- 
sche Haus mit einem Schiller mindestens versehen ist, andererseits aber 
auch in dem Verstandnis fiir die Klassiker und in der Lieblosigkeit, mit 
der sie in den offentlichen Lehranstalten zerrissen und kommentiert, 
den Generationen als »Lescstoff« aufoktroyiert werden, Kein Volk 
versiindigt sich so an seinen Klassikern wie wir. Zehn Jahre nach der 
Absolvierung der Schule verwischt sich im Hirn des Durchschnitts- 
biirgers der Unterschied zwischen dem Oberlehrer und dem Dichter, 
den jener gelehrt hat. Lessing, Herder, Klopstock sind in den deut- 
schen Schulen geradezu »Unterrichtsgegenstande« geworden. 
Im allgemeinen lafit sich weder ein klares Bild iiber die literarischen 
Neigungen der Bevolkerung gewinnen, noch darf man gewisse 
Schliisse aus den Ergebnissen einer solchen Rundfrage aufstellen. So- 
viel nur versichern alle Buchhandler, Verleger, Leihbibliotheksverwal- 
ter und Inhaber iibereinstimmend, dafS sich der Geschmack des Publi- 
kums bedeutend gehessert habe im Vergleich zur Zeit vor dem Kriege. 
Der Krieg war gewifi keine »sittliche Lauterung«. Er war nur ein 
»Stahlbad«. Aber er ware kein Ungliick gewesen, wenn er nicht eine 
:nnere Vertiefung der deutschen Menschheit mitverursacht hatte. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 28. i. 1921 



WENN MAN ARBEIT SUCHT. . . 



Wer einmal einem bettelnden Invaliden schon statt des verlangten Al- 
mosens den Rat gegeben hat, doch »etwas zu arbeiten«, und wer sich 
iiber die Hohe der Erwerbslosenfursorge argert, der nehme sich einmal 
drei Tage Zeit und versuche es, Arbeit zu finden. Stellung suchen ge- 
hen ist viel peinhcher noch, als im Kaffeehaus von einem Invahden 
belastigt zu werden. 

Ich suchte im Zentrum der Stadt und im »alten W€sten« und in der 
Nahe des Alexanderplatzes jeden Tag drei Stunden. Drei Tage dauerte 
meine Arbeitssuche. Nach dieser Zeit erwies es sich, dafi von etwa 
funfzehn Besuchen in offenen Laden, Export-, Engrosfirmen und klei- 
neren Unternehmungen nur drei - allerdings schwache - Aussichten 
bheben: Ein Herrenartikelladen hatte mich zum nochmaUgen Besuch 
eingeladen, eine Scherenschleiferei versprach, mir zu schreiben, und 
der Lagermeister einer grofien Kohlenfirma, der meine Korperlichkeit 
mit eindringlicher Sachkenntnis gemustert und mich wegen zu grofier 
Schwache abgewiesen hatte, sagte, er wiirde sich umsehen, ob im Biiro 
noch eine Kanzleikraft gebraucht wiirde. 

Ich begann in der Biilowstrafie in einem Laden, in dem Stahlwaren 
verkauft und RasierkHngen zum Schleifen angenommen werden. In 
diesem Laden hatte ich einmal eine Taschenschere gekauft, und der 
Inhaber und eine blonde Verkauferin hatten sich meiner mit besonde- 
rer Warme angenommen. Nun kam ich gegen 5 Uhr nachmittags in 
einer nicht mehr ganz vorteilhaften Uniform, nahm den Hut in der 
Tiir ab und blieb drei Schritte vor dem Ladentisch stehen. Die blonde 
Verkauferin - oh, ich entsinne mich noch ihrer friihlingshaften 
Freundhchkeit der »Kundschaft« gegeniiber, die damals Handschuhe 
und ein kultiviertes Zivil trug - sah mifitrauisch iiber eines Herrn 
Schulter hinweg, der eine Nagelfeile betrachtete. Sie HE bereits mil 
einer Hand eine Schublade auf, offenbar, um mir Geld zu geben. Aus 
einer Offnung in der Ladenwand trat ein Mann, wahrscheinUch dei 
Besitzer. Er trug eine hellgraue Weste und einen Zwicker an einem 
schwarzen Seidenband. Er hatte graue, kurzgestutzte Haare und einen 
kleinen, schwarzen Schnurrbart, der so eingefettet war, dafi ich ihn 
riechen konnte. Auf seiner hellen Weste hing ein brauner Oltropfen- 
fleck wie eine gemalte Trane. 



I92I 459 

»Ich will kein Geld. Ich bin arbeitslos und mochte bei Ihnen arbei- 

ten.« 

Der Herr neigte den Kopf, runzelte die Stirn, liefi den Kneifer fallen 

- der baumelte noch ein bifichen nervos am Bande - und sah mich 

aus verrenkten Augapfeln an. Das war sein »prufender Blick«. 

»Waren Sie in der Branche?« 

»Nein. - Ich bin Buchhalter von Beruf.« 

»Buchhalter! - Konnen Sie die Herrschaften behandeln?« 

»Ja!« 

»Wie konnen Sie das?« 

»Ich habe ein gutes Benehmen,« 

»Nun, Frida, schreiben Sie seine Adresse auf. Wir werden Ihnen 

schreiben«, sagte der Mann und setzte den Kneifer auf und sah zu, 

wie Frida meine Adresse schrieb. 

Als ich fortging, machte ich eine ungeschickte Verbeugung. Frida sah 

mich an und sagte nichts, und der Inhaber nickte ein paarmal heftig 

mit dem Kopf, als ware der am Halse angesetzt und miifite auf seine 

Haltbarkeit ausprobiert werden. 

Ein Wdscheladen in der Potsdamer Strafie geriet in Aufruhr, als ich 

um Arbeit bat. Die Besitzerin war dick und trug ein welfJes Schiir- 

zenkleid mit knisternden Riesenriischen. Sie fa£te mich am Oberarm, 

drehte mich zur Tiir und besah sich dann ihre Hand. 

Ein Handschuhladen besafi eine nette Verkauferin, sie sagte: »Leider 

nichts !« und war sehr ergriffen. 

Ein Mann, der mit einem Handwagen gegeniiber dem Potsdamer 

Bahnhof stand und Apfelsinen verkaufte, sagte, ich mochte um 8 Uhr 

wiederkommen, er wolle sehen: »Wenn meine Alte nicht kommt, 

helfen Sie mit!« Und er gab mir, nachdem er lange gesucht hatte, eine 

A.pfelsine mit einem Griinspanfleck. 

Der Kohlenhandler, eigentlich der »Platzmeister« in der Gegend des 

»Gleisdreiecks«, besah mich sehr scharf. Er trug eine braune Sport- 

kappe mit grofiem Schild und hatte schwarze Kugelaugen. Er war 

jehr klein, hiipfte ein bifSchen hoch, griff nach meinem Oberarm und 

jagte: »Nee!« Als ich »Danke!« sagte, rief er: »He!« Ich bUeb stehen. 

>Konnen Sie gut schreiben?« - und er machte die Bewegung des 

5chreibens nach. »Ja!« »Ich werde in der Kanzlei nachfragen! Kom- 

nen Sie nur vorbei!« - Er meinte natiirlich »wieder«. »Ich mufi es 

)estimmt wissen!« - sagte ich. »Sehr wahrscheinlich!« erwiderte der 



460 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Platzmeister. »Kommen Sie nur vorbei!« Und er winkte mir mit der 

Hand freundlich, als safie ich im Zuge und er hatte mich zum Bahn- 

steig begleitet. 

Eine Bankfiliale in der Nahe des Bahnhofs Friedrichstrafie. Hinter den 

messingdrahtvergitterten Scheiben und Schubfenstern sitzen viele 

Herren und kritzeln. Ein Bote, der das Monogramm seiner Firma auf 

alien Korper- und Bekleidungsteilen eingraviert hat, als ware er ein 

Efibesteck, macht Anstalten, auf mich zuzukommen. Ich gehe ihm 

entgegen: »Ich mochte den Herrn Vorstand sprechen.« 

Der Herr Vorstand hat sparliches, glattgescheiteltes Haar und ist im 

Cutaway. Er halt einen Bleistift an die Lippen gep refit und fragt: »Was 

wiinschen Sie?« 

»Ich mochte Arbeit!« 

»Wir haben keine.« 

»Ich bin akademisch gebildet.« 

»Konnen Sie Englisch?« 

»Ein wenig.« 

»Briefe lesen, iibersetzen. Correspondence ?« 

Er sagte Correspondence mit franzosischer Aussprache. Es ist, als spra- 

che er etwas sehr Gewichtiges. So eingefettet klingt sein »ans«. 

»Wahrscheinlich treff ich*s.« 

»Schreiben Sie ein ausfiihrliches Offert, CurricHlum vitae, Beruf, Stel- 

lungen und so weiter. Guten Tag!« Er wedelte mit dem langen Bleistift 

in der rechten Hand, wahrend er abgeht. Der gravierte Bote geleitete 

mich zur Tiir. - 

Drei Lebensmittelgeschafte in der Nahe des Alexanderplatzes gaben 

mir verstaubte Gardinen, alte Leber wurst, zwei harte Semmeln. Damit 

endete meine Arbeitssuche. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2. 2. 1921 



BEZIEHUNGEN 



Jeden Morgen kommt der Oberlehrer um zwei Minuten zu spat aus 
dem Hause. Er tragt einen Pack Hefte in der Hand. Aus dem ersten 
Heft lugt ein graues Loschpapier mit roten Tintenmensurstrichen her- 



19 2 1 461 

vor. Auf dem weifien Heftumschlag steht in violetter Schrift: »Friedrich 
Kulpe, Obersekunda«. 

Der Oberlehrer hat den Morgenkaffeegeschmack noch im Mund und 
denkt an Friedrich Kulpe, der die Partizipialkonstruktion nicht versteht. 
- Kulpe wird nicht versetzt, 

Indessen rollt driiben die » i6i« heran, und der Oberlehrer ist noch lange 
nicht an der Haltestelle. Jetzt halt die Strafienbahn, und der Oberlehrer 
denkt: Noch eine Minute! . . . 

Aber just an dieser Haltestelle steigt kein Mensch aus, und der Wagen 
fahrt sehr rasch weiter. Der Oberlehrer setzt sich in Trab, wahrend er die 
Hefte an seine Brust driickt. Den Wagen aber erreicht er nimmermehr. 
Wahrend er auf den nachsten wartet, denkt er nicht mehr an die Partizi- 
pialkonstruktion und auch nicht an Friedrich Kulpe, Er denkt daran, dal5 
er morgen nur zwei Minuten friiher aufstehen wird. 
»Das ist zu dumm«, sagt der Oberlehrer und kauft eine Zeitung beim 
Strafienhandler. 

Am nachsten Morgen kommt der Oberlehrer zwei Minuten zu spat aus 
dem Hause. Er hat den Morgenkaffeegeschmack noch im Mund, tragt 
einen Pack Hefte, erreicht die »i62« nicht mehr und denkt: »Das ist zu 
dumm« und kauft eine Morgenzeitung beim Strafienhandlcr. 
Zwischen gestern und heute ist sonst kein Unterschied. Nur dalS auf dem 
ersten Heft heute »Thomas Ungewinn« steht. Und es ist nicht die Partizi- 
pialkonstruktion, sondern das Gerundium. 

Der Zeitungshandler kennt den Herrn Professor. An dieser Haltestelle 
steigt kein anderer ein. Der Oberlehrer ist der erste Zeitungskaufer. 
Manchmal denkt der Oberlehrer: »Stunde ich um zwei Minuten friiher 
auf, ich erreichte die StraEenbahn punktHch, konnte mir aber allerdings 
kein Blatt kaufen. Ich wiirde mir eben eine Zeitung an der Stral^enecke 
vor dem Schulgebaude kaufen und das Neueste in der Zehn-Uhr- Pause 
lesen.« 

Manchmal denkt der Zeitungshandler: »Wenn der Herr Professor nicht 
auf den Wagen warten miifSte, wiirde er keine Zeitung kaufen. Gesegnet 
sei der Morgenschlaf des Oberlehrers! . . .« 

Wenn der Zeitungshandler die Umrisse des Herrn Professors am Stra- 
Eenende auftauchen sieht, faltet er jenes Morgenblatt zusammen, das der 
Oberlehrer allmorgendlich kauft. 

Wenn die »i62« daherkommt und der Oberlehrer sich in Trab setzt, 
denkt der Zeitungshandler: »Oh, daE er sie doch nicht erreichte! . . .« 



462 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Sparer sitzt der Oberlehrer im Klassenzimmer, priift Friedrich Kulpe 
und Thomas Ungewinn, den einen in Partizipialkonstruktion, den an- 
dern im Gerundium, und denkt: »Versetzen? - Oder nicht versetzen?« 
Aber an den Strafienhandler denkt der Herr Professor nicht. 
Der Strafienhandler hat die Morgenblatter verkauft und wartet auf die 
Mittagszeitungen. Er geht in die nachste Patzenhofer-Stube, ifit Ko- 
nigsberger Klops und trinkt ein grofies Hell und denkt an das schlechte 
Geschaft, weil es gerade regnet. 

Aber an den Herrn Professor denkt der Strafienhandler gar nicht. 
Morgen, um halb acht Uhr friih, wird dennoch der Oberlehrer aus 
dem Hause kommen, einen Pack Hefte unter dem Arm, Morgenkaf- 
feegeschmack noch im Mund, piinktlich zwei Minuten zu spat. Die 
»i62« wird fortfahren. »Noch eine halbe Minute! . . ,« wird der Ober- 
lehrer denken. 

Aber wehe! - Driiben an der Strafienecke wird der Handler schon das 
bewufite Morgenblatt zusammenfalten . . . 

Berliner Borsen-Courier, 6. 2. 1921 



DIE PASSION 

Im Grofien Schauspielhaus 

In sieben Bildern die Leidensgeschichte Christi, Das mittelalterUche 
franzosische Mysterienspiel der Briider Grehan hat Wilhelm Schmidt- 
honn nicht nur - wie es auf dem Theaterzettel heifit - »frei ubertra- 
gen«, sondern auch aus dem Naiven ins Problematische geriickt. Nie- 
mals ist selbst das Premierenpublikum des Grofien Schauspielhauses so 
empfanglich gewesen fiir die Passionsgeschichte Christi wie heute, im 
Jahre 1921, Aber nicht Christi Schmerz um die Menscheit des Kurfiir- 
stendamms wurde ihr gezeigt, sondern eine literarische Kuriositat. 
Deshalb und weil in Meinhardts Kolossalmanege alle reHglose Lyrik 
sich in pathetische Bildhaftigkeit wandeln mufi, um nicht ganz verlo- 
renzugehen, weil in der Pause zwischen einer gottlichen Erscheinung 
und einem wunderbaren Leid sichtbar und horbar die Buhnentechnik 
des zwanzigsten Jahrhunderts mit Scheinwerfern, elektrisch gehobe- 
nen und gesenkten Kulissen, mit Dielengepolter und Maschinenkrach 



1921 4^3 

den Fortschritt der Zivilisation beweist; und well schliefilich das Publi- 
kum das Pausendunkel als Aufforderung der Regie auffaEt, durch 
Rauspern, Stuhlklappen, Niesen seine Anwesenheit darzutun - war 
man weder ergriffen noch bewegt, sondern nur »interessiert«, obwohl 
alle Schauspieler ausgezeichnet, Fritz Wendhausens Regie stilgemafi 
(wenn man von dem leider Gegebenen der Zirkusraumlichkeit und 
-technik absieht) und Klaus Pringsheims Musik schlicht-fromm wirk- 
ten. 

Klopfer (als Jesus) mufite, Manegevoraussetzungen Rechnung tragend, 
die sanfte Innerlichkeit des Christusleids mit antik plastischem Gebar- 
denschmerz verbinden. Es gelang ihm, Erschiitternd menschlich 
wirkte die plotzliche Briichigkeit in der Stimme, als er Judas umarmte, 
wissend um den Verrat und um den Verrater leidend, - Lina Lossen 
(als Maria) traf den naiven Schmerz der Mutter, die selbst als Mutter 
Gottes - Mutter ist, die die Notwendigkeit versteht, aber nicht fassen 
kann, und die sich endlich nur deshalb fiigt, weil sie dariiber sterben 
darf, so iiberzeugend, dafi ich glaubte, die Miitterlichkeit aller Frauen 
der Welt in ihr verkorpert zu sehen. - R5misch-heroenhaft, heldisch- 
schon und fremd war Raul Lange (Pontius Pilatus). - Der Frauenchor 
klang manchmal zu irdisch-nahe. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 7. 2. 1921 



WELTUNTERGANG (II) 



Jahrlich, mindestens einmal, droht die Welt unterzugehen. Nun mel- 
den die Blatter, daE der Komet Pons-Winnecke, der zwischen den 
Nachtlokalen des Athers beschwipst umhertaumelt, unwiderstehlich 
angezogen von den Berechnungen der Astronomic, in den nachsten 
Wochen wieder in den Bannkreis einer Sternwarte gerat und der Erde 
mit seinem leuchtenden Flederwisch liebkosend iibers Angesicht 
fahrt. - Aber die Welt geht bestimmt nicht unter. 
In einer Wiener »Reformschule« - einer Anstalt, in der Schulkinder 
manchmal auch unterrichtet werden - sah ich die Zeichnung eines klei- 
nen Madchens: Wie die Welt untergeht. Die roten Linien auf der Klas- 
sentafel kriimmten sich in einer Art Krampf-Zickzack. Und die Kreide 



464 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

lag in Mehlstaub verwandelt auf dem Katheder. Hefte und Biicher flo- 

gen mit gestraubten Blattern in dem windschiefen Klassenzimmer um- 

her. Der Herr Lehrer safi mit einem gebrochenen Lineal in Handen, 

eine geknickte Autoritat, auf dem Boden neben dem Stuhl. AUe Kinder 

lagen tot und verletzt in den Banken, die sich vertikal aufbaumten. 

Rote Kreide rann in Stromen. 

Einen gewaltsamen Weltuntergang durch Explosion hatte ich mir frii- 

her, vor dem Kriege, vorstellen konnen, wie die Welt, Elektrizitat und 

Fortschritt unaufhorlich einatmend, mit technischen Sensationen zum 

Bersten gefiillt, eines Tages ganz allein, ohne Zusammenstofi, wirklich 

geborsten ware. Aber heute ist kein Zerplatzen mehr moglich. Das 

Stadium der Einschrumpfung durchlaufend, wird die Welt schimmlich 

verdorren wie eine Zitrone, die in der Schublade vergessen liegenge- 

blieben ist. 

In einem verschwiegenen Raum eines Berliner Bahnhofes fand ich 

diese Tafelinschrift: »Der Schliissel befindet sich bei der Warterin, die 

als solche kenntlich gemacht ist.« 

Die Warterin, von Gott »als solche« kenntlich gemacht, afi eine 

Schmalzstulle. Ich hatte sie agnosziert, wenn ich ihr im wilden Wald 

begegnet ware oder auf dem Ball des Witwenklubs »Rosentugend« 

oder auf der Nasenspitze des Montblanc. Aber sie war »als solche« 

nicht behordhch kenntlich gemacht. 

Ich fragte sie: wodurch sie kenntlich gemacht ware? 

Durch eine Armbinde, sagte sie. Aber die Armbinde triige man jetzt 

nicht mehr, seit der Revolution. 

Und das, seht Ihr, ist Weltuntergang. 

Prager Tagblatt, 10. 2. 1921 



FULDA ALS WELTANSCHAUUNG 



Am 22.Januar fand im Trianon-Theater die Urauffiihrung von »Das 
Wundermittel«, Lustspiel von Ludwig Fulda mit Kathe Haack und 
Julius Falkenstein, statt. 

Ich hielt Fulda bislang fiir einen harmlosen Prologisten bei funfzigjah- 
rigen Bestanden frommer Kunstvereine, einen Turnenkel Jahns am 



1^11 4^5 

christlichen germanischen Schonheitsidealreck. Seine Seele, deuchte mir, 
schritte Parade in einexerziertem Epigonenjambenmarsch durch die 
klassisch gezierten Portale fremder und deutscher Burgtheaterliteratur. 
Stammte er nicht aus dem Volke der Gelegenheitsdichter und Anlafiden- 
ker? In Blumentalern lustwandelnd, auf Kadelburgen Gastfreundschaft 
geniefiend, war er ertraglicher Aufputz der Zivilisation. Plotzlich aber 
ward er uns offenbar als Weltanschauung. 

Nun wird er gefahrlich, da er den Gipfel seines Wirkens erreicht. Es zeigt 
sich namlich, daI5 er nicht zu den Bourgeoisinstinktziichtern gehort, 
sondern dafi er diese ganze Ziichtung reprasentiert. Er kommt nicht der 
Weltanschauung des Spiefiers entgegen - diese Weltanschauung lebt in 
ihm, literarisch verkorpert in seinen Gestalten und Tendenzen. 
Die sinnig-sittige Atmosphare eines Ateliers, in dem zwei erwachsene 
Manner und eine voUjahrige Jungfrau kameradschaftlich hausen und zu 
dritt einen Kettenhandel treiben mit Fulda-Sentenzen und -Gefiihlen, 
diimmlicher Keuschheit, vernageltem IdeaHsmus - das ist die Atmo- 
sphare »aus des Dichters Werkstatte«.-Eine junge, fesche, flick-, stopf-, 
tipp- und tatbereite Frau, die unberiihrt und meilenfern jeder Verderbnis 
dennoch mit einer widerlichen Altklugheit Dirnenweisheiten iiber »die 
Manner« zu sagen weifi (alle wollen sic von uns dasselbe) - das ist Fuldas 
Idealweib. - Die Rapiditat, mit der teutsche Jiinglinge aus der Stille der 
Begabtheit in den Schieberstrom der Welt schieEen und iiberzeugt sind 
von ihrer gelungenen Charakterbildung und der Notwendigkeit ihres 
Seins, das erklart Fuldas eigene Existenz restlos. Selbst er, der den 
Schwindel erf and, glaubt heute bereits an sein eigenes »Wundermittel«. 
Aufier ihm glaubt's (wie in seinem Stiick) die ganze Welt. Indem er eine 
Satire gegen sie zu schreiben glaubte, schrieb er eine gegen sich. Denn die 
Welt glaubt nicht nur an moderne unverstandliche Bilder, sie glaubt noch 
mehr an schlechte Wundermittel. Sie geht aus Snobismus mit der ver- 
riicktesten Kunstrichtung. Aber mit Ludwig Fulda aus natiirlicher Ver- 
anlagung. 

Die gefahrhchsten, weil verstandlichsten Gegenargumentationen sind 
die platten. Fulda beniitzt dem Burger gelaufige Gegenbeweise. Er »ent- 
hullt« nach Reportermanier: Der »Unternehmer« des »Expressionis- 
naus« ist - man sieht es ja - ein ganz gemeiner Schwindler. Und weil es 
wirklich derlei gibt oder mindestens geben kann, ist Fuldas Feldzug 
^egen das Werdende erfolgreich. 
Beschrankte sich der Erfolg Fuldas nur auf die Austreibung des Snobis- 



466 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

mus allein, so ware er anstandig. Aber Ludwig nimmt dem Biir^er den 

Snobismus vielleicht und gibt ihm dafiir den Glauben an das Wunder- 

mittel: Fulda. Und well die Welt mehr biirgerlkh als anderswie ist, 

mehr Fulda-verwandt als snobistisch veranlagt, ist Fulda gefahrlich ge- 

worden. 

Von nun an werde ich sie fiirchten, die Fuldanaer, selbst wenn sie Fest- 

prologe bringen. 

Freie Deutsche Biihne, 13. 2. 1921 



KINDER OHNE HEIMAT 

Die Tatigkeit des Berliner Vormundschaftsamtes 

Anlafilich der Umwandlung der einzelnen Stadtgemeinden Berlins in 
ein »GroJi-Berlin« war die Verfiigung erlassen worden, samtliche bis 
jetzt zentralisierten Behorden, insofern es nicht den Grundbedingun- 
gen ihrer Wirksamkeit widersprache, zu dezentralisieren und ihre Ta- 
tigkeit den einzelnen Bezirksamtern der Gemeinde Grofi-Berlin zu 
iibertragen. Von dieser Verfiigung wurde auch das seit dem Jahre 1912 
bestehende Vormundschaftsamt der Gemeinde Grofi-Berlin, dessen 
Wirkungskreis im Laufe der Kriegsjahre sich allmahlich erweiterte, so 
dafi dem Vormundschaftsamt heute die Obhut liber zwanzigtausend 
eltemlose Kinder obliegt, betroffen. Sowohl die Vormundschaftsrichter 
als auch die Beamten wehrten sich und wehren sich noch heute gegen 
eine Dezentralisation des Vormundschaftsamtes. Die Vormund- 
schaftsrichter legten in einem Schreiben an den Berliner Magistrat alle 
Grlinde fiir die Beibehaltung des zentraHsierten Vormundschaftsamtes 
im Dezember v.J. dar. Auf dieses Schreiben hin erhielten die Berliner 
Vormundschaftsrichter vom Magistrat eine schroffe Antwort, die fast 
einer Riige gleichkam. Der Magistrat stellt sich namlich auf den Stand- 
punkt, dais durch das Gesetz der Schaffung Grofi-Berlins die Dezen- 
tralisierung des Vormundschaftsamtes erfolgen musse, wahrend die 
Vormundschaftsrichter auf die Einschrankung in dem Gesetze hinwei- 
sen, die darauf hindeutet, dafi alle jene Behorden, deren Wirkung 
durch eine Dezentralisierung geschwacht wiirde, wie bis jetzt bestehen 
bleiben. Ein zweites Schreiben, das die Vormundschaftsrichter in der- 



192 1 467 

selben Angelegenheit an den Magistrat sandten und das Anfang Januar 
abging, ist bis jetzt vorderhand noch nicht erledigt. Man mufi aber 
annehmen, dafi die Schwierigkeiten der Aufstellung des Vormund- 
schaftsamtes schon bei Beginn der Aufteilung in dem Mafie in Erschei- 
nung treten werden, da£ von einer Dezentralisierung wird abgesehen 
warden miissen. 



VormUnder und Richter 

Nebst vielen anderen Griinden fiir die Beibehaltung des geeinten Vor- 
mundschaftsamtes sprechen auch die folgenden: Berlin hat nicht in al- 
ien Bezirken eine gleich grofSe Zahl Waisen beziehungsweise uneheli- 
cher Kinder. Zwei Bezirksamter, Moabit und bedding zum Beispiel, 
waren also mit Arbeit iiberlastet, wahrend die andern Bezirke im Ver- 
haltnis sehr wenig in Vormundschaftsangelegenheiten zu tun hatten. 
Aufierdem ist bekanntlich der Wohnungswechsel der unehelichen Kin- 
der so haufig, daC durch die Ubersendung der Papiere aus einem Be- 
zirk in den anderen Zeit- und Geldverlust entstehen wiirden. Die Pro- 
zefivertreter, die bis jetzt mit den einzelnen Vormiindern um so besser 
auskamen, als Jeder Vormund sein Vormundschaftsgericht kannte und 
ein personliches Verhaltnis zu den Richtern hatte, kamen jetzt nach 
der Dezentralisation vor ungeahnte Komplikationen. Fiir zweiund- 
zwanzig Abteilungen des Vormundschaftsgerichtes arbeiten gegen- 
wartig funfzehn Buchh alter in einem gemeinsamen Raum und stehen 
in fortwahrender Verbindung miteinander. Im Hause des Vormund- 
schaftsamtes in der Landsberger StraEe 43/47 ist alles vorhanden: ein 
Arzt, der die Schwangeren untersucht, ein Notar, der Urkunden aus- 
stellt, ein Rechtsheirat, der Frauen und Kinder berat, eine Schwester 
mit vierzehn Helferinnen, eine Schwangerschaftshilfe, die Adoptivab- 
teilung, die Kasse. Die Dezentralisation aller dieser Amter ist rein tech- 
nisch ein Ding der Unmoglichkeit. Dal^ der Magistrat die Aufteilung 
des Vormundschaftsamtes beschlossen hat, ohne mit den Beamten und 
den Vormundschafsrichtern vorher beraten zu haben, beweist nur das 
Kleben der Behorde am starren Buchstaben und eine Einsichtslosig- 
keit, die ihresgleichen sucht. 



468 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Sprechstunde 

Das Gebaude des Vormundschaftsamtes in der Landsberger Strafie ist 
sehr grofi, umfafit drei Nummern, einen quadratischen Hauserkom- 
plex (43 bis 47). Das Vormundschaftsamt ist in drei Stockwerken un- 
tergebracht. Um zehn Uhr vormittags fiillen sich die Gange. Frauen 
aus alien Standen und Bevolkerungskreisen mit Kindern auf dem Arm 
und Manner. Auf den Banken in den Korridoren sitzen sie. Die Kinder 
larmen, spielen. Die Frauen erzahlen einander ihre Schicksale. Bei der 
einen hat es der Vormund durchgedriickt, dafi sie zwanzigtausend 
Mark bekommt, die andere erhalt nur zweitausend. Rasch ist sie beim 
Vormund, um sich dariiber zu beklagen. »Ja«, sagt der Vormund (er ist 
ein weiser Herr), »hatten Sie sich halt den Vater ihres Kindes in reiche- 
ren Kreisen gesucht. Ich kann nichts dafiir.« Schwangere Frauen sind 
in grofier Anzahl da. Sie belagern den Rechtsbeirat Dr, Ehlers. Dr. 
Ehlers war aktiver Hauptmann und wurde im Kriege blind. Er hat es 
durch eine unermiidliche Ausdauer dazu gebracht, dafi er jetzt alle ein- 
schlagigen Gesetze und Paragraphen beherrscht, sich in jede Sache ver- 
tieft, auswendig Bescheid weifi, fast alle Namen seiner Klienten kennt, 
Briefe diktiert und mit den Vatern verhandelt. 



Verwickelte Lage 

Den meisten schwangeren Frauen handelt es sich darum, Geld fiir die 
Zeit ihrer Niederkunft und die ersten Wochen nach der Geburt des 
Kindes zu bekommen. Nach dem Gesetze ist der uneheliche Vater erst 
nach der Geburt des Kindes verpflichtet zu zahlen. Es handelt sich also 
um eine »einstweilige Verfiigung zur Pfandung«. Der uneheUche Vater 
erlegt beim Vormundschaftsamt eine Summe fur die Mutter und fiir 
die ersten drei Monate nach der Geburt des Kindes. Bei den meisten 
Vatern geht es glatt. Ein einundzwanzigjahriger Bursche, Handwerker 
von Beruf, mit 250 Mark Wochenlohn, erlegt piinktlich jede Woche 
h under tfunfzig Mark fiir das Kind. Es gilt aber, meist sehr verzwickte 
Fragen zu erledigen: Eine verheiratete Frau, die gegenwartig von ih- 
rem Mann geschieden werden soil, ist schwanger. Das erwartete Kind 
ist die Frucht eines Ehebruches. Dieser Ehebruch hat die Scheidung 
veranlafit. Das Kind, das nun geboren wird, tragt den Namen des Ehe- 



19 2 1 469 

gatten der Mutter, nicht den seines wirklichen Vaters. Dieser Ehegatte 
kann fur die Versorgung des Kindes nicht in Anspruch genommen 
werden, da er ja eben dieses Kindes wegen die Scheidung beantragt hat. 
Das Kind ist aber dennoch gesetzlich nicht das Kind des uneheUchen 
Vaters. Es handelt sich also darum, der ratlosen Frau Geld zu beschaf- 
fen. Auf giitlichem Wege, durch Vorladungen und Verhandlungen mit 
dem Vater, wird der Frau, so gut es geht, geholfen. Es regnet Adop- 
tionsfragen, Erbschaftsregulierungen, Voiljahrigkeitserklarungen. 



Sie erinnert sich nicht mehr 

Ein junges Weib, neunzehnjahrig kaum, blond, Stirnlockchen, Halb- 
schuh, hoher Absatz, blaues Kostiim, schwanger. Anscheinend aus 
kleinbiii^erlichem Hause. Sie ist einmal, abenteuersiichtig, ins Cafe ge- 
gangen, hat sich »ansprechen« lassen, hat - unvorsichtig genug ~ nicht 
nach dem Namen des Herrn gefragt und soil jetzt ein Kind bekom- 
men. Sie kennt den Vater nicht. Aber sie schdmt sich, vor dem Vor- 
mundschaftsamt die wahre Sachlage anzugeben, und erfindet einen 
Vater. Einen fremden Namen. Die Nachforschungen des Amtes blei- 
ben natiirlich ergebnislos. Nach langem Zureden gesteht das Madchen, 
dafi es sich des Vaters seines Kindes nicht mehr erinnere, Man iibergibt 
sie der Schwangerschaftsfiirsorge. 



Er ist es nicht 

Ein wiirdiger Herr, Scheitel, glattrasiert, vierzigjahrig. Eine Frau hat 
ihn als Vater ihres Kindes bezeichnet. Er ist offenbar aus besseren 
Kreisen. Er schwort, dafi er nicht der Vater ist. Die Frau soil eine 
eidesstattliche Versicherung abgeben. Sie ist jung. Es ist vielleicht das 
erste Mai, vor den Folgen einer falschen eidesstattlichen Versicherung 
wird ihr ein biEchen bange. Es ist vielleicht doch ein anderer gewesen. 



470 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In der Schwangerschafts-Fursorgestelle 

Die Frauen, die die Schwangerschafts-Fiirsorgestelie aufsuchen, stehen 
im Alter zwischen sechzehn und einundzwanzig und gehoren ver- 
schiedenen Berufen und Standen an. Meist sind es Arbeiterinnen, Ta- 
gelohnerinnen, Dienstmadchen, Kellnerinnen. Aber auch eine Opern- 
sdngerin kommt hierher, eine Adelige, eine Offizierstochter. Es ist sehr 
charakteristisch, dafi, obwohl die Zahl der Hebammen und Arzte, die 
in Berlin fur verhaltnismafiig biliiges Geld Abtreibungen vornehmen, 
sehr grofi ist, die jungen Frauen dennoch entbinden wollen. AUerdings 
versagen bei den meisten die Abtreibungsmittel, viele sind zu unerfah- 
ren, um ihren Zustand rechtzeitig zu erkennen, und die meisten hof- 
fen, dafi ihnen wahrend der Zeit der Schwangerschaft doch noch ir- 
gendwie plotzlich Hilfe kommen wiirde: durch eine Heirat oder auf 
andere Weise. 



Dreiundzwanzig vom Hundert 

Der Arzt, der zweimal in der Woche Sprechstunde hat, gibt den 
Frauen sogenannte »Schwangerschaftsbescheinigungen« und verweist 
sie an die Armen- oder Krankenkasse. Die Frauen bekommen Milch- 
scheine, finden, wenn sie unterkunftslos sind, Aufnahme im Frauen- 
heim, wo sie sich mit Heimarbeit beschaftigen. Die Unterstiitzung aus 
den Krankenkassenbeitragen betragt etwa zehntausend Mark jdhrlich. 
Die Schwangerschaftsfiirsorge unterstiitzt jahrlich vier- bis fiinf- 
tausend schwangere Frauen, das sind dreiundzwanzig vom Hundert in 
Berlin. Die Auszahlung der Mietsbeitrage an den Wirt der Schwange- 
ren, die Versorgung der Frau mit Lebensmitteln, Wasche fiir das Kind 
und die Zuweisung an Entbindungsanstalten (gewohnlich das Bir- 
chow-Krankenhaus) gehorten ebenfalls zu den Obliegenheiten dieser 
Fiirsorgestelle. 



I92I 471 

Ein vierzehnjdhriger Vater 

Auch in der Fiirsorgestelle gibt es komplizierte Falle. Verschiedene 
Geldzuschtisse fiir die Schwangeren tniissen, wie schon erwahnt, 
durch eine sogenannte einstweilige Verfiigung vom Vater mit vieler 
Miihe erlangt werden. In der letzten Zeit ereignete es sich, dafS eine 
dreiundzwanzigjdhrige Frau von einem Vierzehnjdhrigen schwanger 
war. Die Geschichte spielt im Norden Berlins. Der vierzehnjahrige 
Vater, der gesetzlich gar nicht zu verklagen ist, muCte auf dem Um- 
wege tiher seinen Vater belangt werden. So kommt es, dafi ein GroC va- 
ter zur Zahlung der Alimente verpflichtet werden kann. 



Adoptiveltern und -kinder 

Im allgemeinen kann man sich kaum einen Begriff machen, wie viele 
kinderlose Familien Adoptivkinder anzunehmen wiinschen. Die 
Adoptivstelle bringt die elternlosen Kinder meist sehr gut unter. Auf 
dem Land, in wohlhabenden biirgerlichen Familien, in der letzten Zeit 
sogar bei ausldndischen Valutafursten. Nicht weniger als siehenhun- 
dert Kinder sind augenblicklich an Adoptiveltern abzugeben. Im ver- 
gangenen Jahr sind zweihundertdreiflig Kinder untergebracht worden. 
Der Wunsch der meisten Adoptiveltern geht nach einem Mddchen im 
Alter von zwei bis drei Jahren. Knaben sind weniger begehrt. Psycho- 
logisch ist diese Tatsache einerseits durch den Krieg zu erklaren, der 
den Eltern gezeigt hat, welch eine undankbare Aufgabe es ist, Sohne 
groi^zuziehen, die man dann opfern muf^, andererseits aber auch so, 
da£ der Wunsch nach dem Kinde ja gewohnUch von der Frau ausgeht, 
die sich meist nach einem Madchen sehnt. Die Wiinsche der Adoptiv- 
eltern sind sehr verschieden und natiirlich sehr schwer zu befriedigen. 
Sie wiinschen zum Beispiel »blaue Augen«, »intelUgentes, sanftes 
Temperament«, »gute Herkunft«, Besonders aber sind zwei Begriffe 
zu Schlagworten geworden: »eheliche Vollwaise« und »Kriegswaise«. 
Die Trennung von den natiirHchen Muttern ist gewohnhch sehr leicht. 
Es gibt Adoptiveltern, die hintereinander fast jdhrlich Adoptivkinder 
aus der Adoptivstelle holen, wie zum Beispiel ein Hamburger Ehepaar, 
das bereits dreijungen zu sich genommen hat. 



472 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Roman des kleinen Rudi 

Ein chilenischer Milliardar und GroKindustrieller, der vor einiger Zeit 
bei seinen Verwandten in Berlin weilte, wollte, da er kinderlos ist, 
einen Erben aus Deutschland holen und liefi sich die Knaben aus der 
Ad optivs telle vorfiihren. Am besten gefiel ihm der funfjahrige Rudi, 
Sohn einer Kellnerin und eines unbekannten Vaters. Der funfjahrige 
Knabe fahrt nun als Milliardarssohn nach Chile y nachdem von der Ge- 
sandtschaft des Fremden dem Vormundschaftsamt genaue Auskunft 
iiber das ungeheure Vermogen des Grofiindustrieilen erteilt worden 
war. 



Schwindelannoncen 

In der letzten Zeit nehmen infolge der eifrigen Recherchen des Vor- 
mundschaftsamtes die Schwindelannoncen in den Tageszeitungen be- 
deutend ab. Sie bezogen sich zumeist 2Lui falsche Adoptionen, gewis- 
senlose Hebammen, die von den Madchen, den jungen Miittern, Geld 
bekamen und fiir das Kind beziehungsweise fiir eine Adoption zu sor- 
gen versprachen, standen mit Schwindlerpaaren in Verbindung, teilten 
die Beute, und nachdem die Mutter bereits eine Menge Geld gezahlt 
hatte, stellte es sich heraus, daE von einer Adoption keine Rede sei, 
Heute sind die Adoptivschwindler bereits so vorsichtig, daf^ ihr Vor- 
gehen gesetzlich nicht strafbar erscheint und den Behorden keine 
Handhabe, gegen sie einzuschreiten, geboten werden kann. Ein noch 
nicht aufgeklarter Fall spiel te vor einiger Zeit in einem Berliner Hotel. 
Es war wahrscheinlich eine sogenannte falsche Adoption. Das Eingrei- 
fen des Vormundschaftsamtes verscheuchte sofort den Fremden, der 
annonciert hatte. (Es war ein Schwede.) 



Die schwarze Liste 

Das Vormundschaftsamt hat viele Adoptiveltern auf die sogenannte 
schwarze Liste gesetzt. Es sind Familien, die sich zur Erziehung der 
Kinder nicht eignen, Vorbestrafte, Kranke und seiche, iiber die die 
eingeholten Auskiinfte ungiinstig lauten. Jene Eitern, denen ein Kind 



19 2 1 473 

iibergeben wird, miissen einen Probeantrag fiir drei Monate mit dem 
Vormundschaftsamt schlief5en. Die sogenannte Gehurtsurkunde bleibt 
dem Kinde sein Leben lang erhalten, so dafi eine Verheimlichung sei- 
ner Abstammung unmogiich ist. Es ist dies eine Hane im Gesetz, das 
in der Republik bald abgeschafft werden sollte. Bekannt ist wahr- 
scheinlich allgemein das Gesetz, das Eheleute unter fiinfzig Jahren die 
Adoption verbietet. Der Staat schiitzt den noch ungeborenen natiir- 
iichen Nachkommen vor dem Blutsfremden. Ausnahmen sind nur 
dann gestattet, wenn ein arztliches Attest die Sterilitdt des Ehepaares 
Dezeugt. 



Die Kleiderkammer 

[n der Kleiderkammer des Vormundschaftsamtes, die Weihnachten 
[919 mit einem vom Roten Kreuz gestifteten Stammkapital von zehn- 
•ausend Mark gegriindet wurde, verkauft man um dreifiig bis fiinfzig 
^^rozent billiger als in Kaufladen den Miittern Kleidungsstiicke, Win- 
leln, Gummitiicher, Nahrungsmittel. Mittellose, schwangere Frauen 
;rhalten Waren und Lebensmittel nmsonst, beziehungsweise werden 
hre Einkaufe auf das Konto des Vaters gebucht, nachdem eine soge- 
lannte einstweilige Verfiigung vorausgegangen ist. Der Umsatz der 
iCleiderkammer betragt dreifiig- bis vierzigtausend Mark im Monat 
md hat taglich einen Besuch Yon fiinfzig bis sechzig Kunden aufzuwei- 
;en. 



Pflegeelternschaft als Gewerbe 

Is wird den meisten unbekannt sein, dafi die Pflegeelternschaft gewis- 
lermaEen ein Berliner Beruf ist. Das Vormundschaftsamt hat einen 
liesenstamm von sogenannten/ixew Pflegeeltern, von denen achthun- 
iert eingetragen, aber noch vie! mehr gewiE vorhanden sind. Die Pfle- 
;eeltern sind durchwegs Proletarier. Sie miissen eine sogenannte »Hal- 
ekindererlaHbnis« besitzen und sich bei der Behorde eines guten Leu- 
nunds erfreuen. Eine Liicke im Vormundschaftsgesetz bedeutet die 
fatsache, daf^ fiir Kinder Uber seeks Jahre die Pflegeeltern keine Halte- 
:indererlaubnis besitzen miissen. (Als ob ein siebenjahriges Kind den 



474 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schlechten Einfliissen seiner Umgebung nicht mehr verf alien konnte!] 
Mit dem Kind, das sich bei den Pflegeeltern befindet und mit diesen 
selbst steht der betreffende Berufsvormund foitwahrend in Verbin- 
dung. Diese Privatpflegestellen sind einerseits ungeeignet, weil jede 
Kontrolle von seiten des Vormundschaftsamtes iiber den Verbrauch an 
Milch, Zucker und dergleichen unmoglich ist. Es kommt vor, daft 6\i 
Pflegemiitter Zucker- und Milchkarten verkaufen und dem Kinde Sac- 
charin und Ersatz geben. Ware die Gefahr der Infektionskrankheiter 
in den Heimen nicht so grofi und lehrte die Erfahrung nicht, dafi ir 
Heimen aufgezogene Kinder typische »Heimkinder« sind, d. h. geisti^ 
und korperlich zuriickgeblieben, so ware die Unterbringung in Hei- 
men noch am zweckmafiigsten. Aber sowohl die erwahnten Gefahrer 
als auch die Tats ache, dafi jede Art von Kasernierung - auch die hygie- 
nische - die individuelle Entwicklung hemmt, lassen Pflegeelternschafi 
als das kleinere Ubel erscheinen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 18. /21. 2. 19 2 j 



AUTORITATEN 



Autoritat wird von Gott selbst verliehen. Ihre aufieren Kennzeicher 
sind seiten Zepter und Reichsapfel, sondern meist Gebrauchsgegen- 
stande, einfache wochentagliche, wie zum Beispiel ein Schnurrbar 
oder eine Goldborte. 

Unser Griechischlehrer, der einen griinen Rock trug und von einen 
Patinaschimmer umgeben war wie ein seltener Aorist, schwang einer 
grofien schwarzgebundenen Katalog, gewissermafien ein Damokles' 
Klassenbuch iiber unseren Hauptern und war doch keine Autoritat 
Der Schuldiener aber, der Valentin hiefi, einfach Valentin, hatte nu] 
einen rechteckigen Schnurrbart mit geschliffenen Spitzen und aller 
dings eine Schulglocke. Und war eine Autoritat. 
Papierene Autoritaten wie die eines Lehrers zum Beispiel - ob sie nur 
auf Kathedern oder Thronstiihlen sitzen - kann eine Revolution stiir 
zen. Die Autoritaten von Gottes Gnaden mit den diinngeschliffenei 
Schnurrbartenden und der Goldbortenglorie um den Kopf sind da: 
stets Bleibende im welthistorischen Wechsel der Gesinnungen. 



I92I 475 

Wer zur Autoritat geboren ist, wird nicht Staatsmann oder Professor, 
sondern irgend etwas Beliebiges, Subordiniertes. Zum Beispiel Wetter- 
prophet. 

Jeden Morgen tritt ein kleiner Mann mit einem Regenschirm in den 
Friseurladen. Er ist lacherlich wie ein Scherzartikel; so als bestiinde er 
nicht wirkhch, sondern gewissermafien in Anfiihrungszeichen. Er muE 
jede seiner Bewegungen irgendwie besonders hervorheben, damit man 
sie bemerke. Aber er ist einc Autoritat kraft seines Regenschirms und 
mit Gottes Willen. 

Ich Stella mir vor, dafi er einmal, vor grauen Zeiten, an einem wolkenlo- 
sen Sommermorgen in den Laden kam und seine Autoritat mit einer 
Regenprophezeiung begriindete. Dann regnete es wirkHch. Und der 
kleine Mann wurde Autoritat in Wettersachen. Der Friseur richtet sich 
nach den Antworten des Mannes. Der Gehilfe, weifi er nicht, ob er am 
Sonntag nach Potsdam soil oder in die Komische Oper, fragt den Mann 
mit dem Regenschirm, Nur der Lehrling fragt nicht, well er ohne Riick- 
sicht auf Wetterverhaltnisse zu Hause Ohrfeigen bekommen muf^. 

Taglich sehe ich den tanzenden Tisch an der StraEenecke. Den tanzen- 

den Tisch zeigt ein Mann, der offenbar Autoritat hat. Sein Tisch tanzt 

nur, wenn fiinf oder sechs Leute ihre Hande auf der Platte halten. Der 

Mann tragt eine grofSkarierte Sportmiitze und einen wehenden Schlips. 

Er flattert mit einem grofien roten Taschentuch. Seiner Autoritat gehor- 

:hend, stiitzen sechs Leute ihre Hande auf die Tischplatte. 

Dann rotiert der Tisch mit den Sechsen schnell, immer schneller, bis der 

/^utoritare »halt!« ruft. 

Der Tisch bleibt plotzHch stehen, und alle sechs fallen in den Straf^en- 

ireck. 

Das Geheimnis des tanzenden Tisches besteht in einem Trick. Das Ge- 

leimnis erfahrt man nur um den Preis von zwei Mark. 

^er einmal im Dreck gelegen hat, entschadigt sich fiir den eigenen 

ichaden und den Spott der UnbeteiHgten durch den Ankauf des Ge- 

leimnisses, um mit dem Respekt, den seine erhandelte Macht hervor- 

-uft, seine friihere Lacherlichkeit auszugleichen. 

Dbwohl auf^er dem Zauberkiinstler keiner die Anwendung des Tricks 

;o gut versteht, dafi er andere tanzen lassen und aufs Pflaster schmeii^en 

connte, tut jeder so, als wiifite er's und - oh! - wiirde es ihnen schon 

:eigen. 



47^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Einer nach dem andern legt seine Hande auf die Tischplatte, wirbelt 

und fallt und zahlt, auf das Pflaster gezwungen von der Autoritat des 

Strafienhandlers. 

Der Strafienhandler stromt Autoritat aus wie ein Motor elektrischen 

Treibstrom und richtet um sich einen Autoritatswall auf. Und ist nur 

ein Strafienhandler. 

Autoritat haben alle Besteckmenschen. Das sind Wesen, die das Zei- 
chen ihrer Horigkeit, als waren sic Messer oder Gabel, in Gestalt eines 
Monogramms auf Livreeknopfen und Miitzenschildern eingraviert ha- 
ben. Autoritaten sind Pfortner und Schaffner. Was dir ein Strafienbau- 
ingenieur in Zivil sagt, mufi nicht richtig sein. Aber ein Mann aus Tres- 
sen, Schnurrbart und Farbentuch weifi alles. Bei einem Backenbartigen 
gar ist ein Irrtum ausgeschlossen. Seine Worte schreiten im Parade- 
marsch zum Takt einer unhorbaren Militarmusik in sicherer Defilie- 
rung auf gerader Luftlinie dem »Direktion« gewordenen Ziel zu. 
Eine Autoritat ist der unbekannte, alle kennende Herr im Cutaway, 
der mich im Kaffeehaus hoflich griifiend stort, sanft beruflich schau- 
kelnd zwischen Tisch und TiscK einhergeht, freudige Uberraschung im 
Antlitz, wenn er mich sieht, weil er so lang, lang schon auf mich ge- 
wartet hat und die Sehnsucht seiner Kindheit endUch in Erfiillung ge- 
gangen ist. Alle Kellner, die frackfliigelschlagend zwischen sich off- 
nenden Gastereihen durchschiefien, schlangeln sich in EUipsenbiegung 
um den Herrn, und sein Blick, der streng werden kann, macht eine 
wehende Serviette erstarren. 

Autoritat auch ist die Kassiererin, die wie eine riesengrofie Likorfla- 
sche in Frauenform, wahrscheinlich zu Reklamezwecken, hinter Glas 
und Zuckerpyramiden auf erhohtem, lehnelosem Stuhl sitzt; und 
nichts ist, was ihr entginge. 

Minister hebt und senkt die Waage der Gelegenheit wie eine Wasser- 
welle Schiffsplankenbretter. Ihre Autoritat ist verganglich, weil sie er- 
worben ist. 

Ewig bleibt der Pfortner des Gebaudes, Freskobildnis, das aus dem 
Portal, zu plotzlichem Leben erweckt, herausgetreten ist, weil seine 
Autoritat Gottesgnadentum ist. 

Berliner Borsen-Courier, 19. 2. 1921 



NACHTE IN KASCHEMMEN 



Die Romantik der Kaschemmennachte bricht am Bahnhof Alexan- 
derplatz, Ausgang Miinzstrafie, ein und iiberwuchert grofi, schwel- 
lend die Gegend, ich glaube, die ganze Welt. 2u dem Weseri dieser 
Kaschemmennachte gehort die Neue Schonhauser Strafie, aus deren 
Pflastersteinen, als waren es Laternenpfahle oder sonstwie der Strafie 
gehorende Gegenstande, Zuhalter und ihre Madchen wachsen, und 
auch die Polizeidirektion, deren Tore bereits zu sind und von zwei 
Griinen bewacht. Die Sehnsucht dieser zwei Schutzpohzisten ist 
eine Zigarette, die man nicht rauchen darf im Dienst, oder eine 
Stunde in einem rotUch angehauchten Lokal und nicht eine Dime, 
die man abfassen kann, weil ihr Zuhalter nicht rasch genug zur 
Stelle war, sondern ein Zigarettengeschaft gewissenlos, pflichtverges- 
sen in einer Haustornische abwickelte. Ohne die Weinmeisterstrafie, 
an deren Ecken Gesindel wuchert, kann ich mir die Kaschemmen- 
nacht auch nicht denken. Und ganz bestimmt nicht ohne den Spit- 
zel, der in Zivil, aber uniformiert, inkognito und kenntUch, weil 
seine Schnurrbartspitzen treue Pflichterfiillung und Wachtmeister- 
dienstzeit verraten, Autoritat und Sicherheit in Schritt und Blick, 
nach den Unsicheren spaht. Und ware er selbst unscheinbarer, mi- 
mikryhafter, als er ist, an Schritt und Blick allein wurde ich ihn er- 
kennen, an der Furchtlosigkeit, in der er aufragt, leise gestiitzt von 
einem Schanktisch oder einer Mauer. Die anderen haben keine 
Furchtlosigkeit, nur Frechheit. 



Cafe Dalles 

Das Cafe Dalles in der Neuen Schonhauser StrafSe 13 hiefi einmal 
Engelspalast. So andern sich die Zeiten. Es war eine Zeitlang offent- 
liche Speisehalle, und ich glaube, das ist wohl seine urspriingliche 
Bestimmung. Engelspalaste werden nicht von vornherein so gebaut: 
mit langen Schlunden, deren aui^erstes Ende, wie das Ufer eines 
sveiten Sees, unsichtbar in Rauchnebeln verschwindet; und mit 
einem zweiten Eingang links, in dem einmal vielleicht ein Separee 
fiir Engel aufier Dienst war und heute ein Roulettetisch steht und 



4/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Roulettespiele an den Wanden hangen, Kasten mit Glasscheiben, mix 
buntbemalten Ansichtskartenhintergrund, harmlos wie Spielzeuge fiir 
die heranreifende Jugend. 

Kirsch, der Einbrecher, und Tegler Willy und der Apachenfritz sitzen 
am Tisch, und gegeniiber steht der Herr Wachtmeister. Hinten am 
Ende des Schlundes sitzt EUi auf irgend jemandes Knien, denn sie hat 
neue Striimpfe an. Es geht nicht, da{5 man die neuen Striimpfe nicht 
zeigt. Sie hat blonde Lockchen ins Gesicht gekammt. Die Lockchen 
sind etwas steif und baumeln, wie gestarkte Riischen, urn das Gesicht. 
Ich glaube, sie hat keinen anderen Wunsch als den nach einem halb- 
geleerten Ailasch. Mag sie ihn trinken. Mein Freund gibt ihr ein But- 
terbrot. Ich glaube, sie hat gar keine Wiinsche mehr. Neue Striimpfe, 
einen AUasch und ein Butterbrot. Es ist wirkUch ein Engelspalast. 
Kirsch (ich weifi nicht, wie er augenblicklich mit der Polizei steht, 
sein Verhaltnis zu dem Wachtmeister lafit auf einen Waffenstillstand 
schliefien) dreht vielleicht eine neue Sache, oder er bespricht eine 
Skatpartie, eine harmlose, oder wird bald hiniibergehen, links, wo der 
Roulettetisch steht. In der Ecke rechts beim Eingang spielt jemand 
Klavier, und Kirsch geht Geld einsammeln. Vielleicht fiihlt er die 
Notwendigkeit, sich irgend wie zu betatigen. Alle geben ihm aus Re- 
spekt oder weil sie eben geben wollen, obwohl sie das Spiel kaum ho- 
ren. Die diinnen Klange sind in Zigarrendunst, wie in Wattebausche, 
eingewickelt. - 



Das Reeselokal 

Das Reeselokal schwimmt in rotem Licht. Alle Lampen tragen dun- 
kelrote Papierservietten um die Schultern, wie Pelerinen, und auf dem 
Podium spielt die Musik, und die Gaste sind etwas niiancierter. Reese 
ist das Lokal, zu dem man hingeht. Die anderen sind Lokale, in de- 
nen man sich aupjdlt. Man tut gewissermaf^en einen tiefen Atemzug, 
ehe man zu Reese kommt. Und man geht gewohnlich nach 8 Uhr 
abends hin. Und die Musik heifit »Kon2ert«, 

Auch kann man bei Reese den Hut abnehmen, und kein Mensch sieht 
dich an. Und manchmal taucht, niederschwebend aus westlichen 
Spharen, ein Falschspieler auf. Und nicht etwa Kirsch geht fiir die 



19 2 I 479 

Musik einsammeln, sondern ein Mann, der mit kleinen, griinen, nume- 

rierten Kartons versehen ist. So ist es bei Reese. 

Bei Reese werden die Gaste zwar »hoflichst ersucht, sofort zu 2ahlen«, 

aber der Kellner hat Anstand genug, sich zu entfernen, wenn man's 

nicht tut. Bei Reese tragt man auch ein Kostum, wenn man Dame ist, 

und manchmal sagt der Kellner wirklich: Die Dame, bitte! Die Dame 

aber sagt dem Kellner: du. Neue Striimpfe sind bei Reese keine Selten- 

heit. 

Auch steigt man drei Stufen empor in den riickwartigen Saal, wo man 

Skat spielt. Und der junge, verlotterte Schauspieler, der ein ganz be- 

gabter Bursche war, ist hier Stammgast. Er sucht sich eine Skatpartie 

zusammen. 

Manchmal mischt sich bei Reese Politik und Verbrechen. Und Kern 

sah ich wieder. Ich kenne ihn von Budapest und Wien her. Es war eine 

Zeit der Umstiirze, und ich war auch einmal in Ungarn eingesperrt . . . 

Bei Reese spielt die Kapelle ohne Pause, und sie ist schwarz gekleidet. 

Es ist zwar kein ausgesprochener Kapellmeister da, aber ein erster Gei- 

ger, der mit den Augen dirigiert. Und die Musik spielt gut. 

Manchmal ist bei Reese auch ein kleiner Skandal. Aber es sind immer 

Ehrensachen. Es geht nie ums Geld, sondern um die Frauen. 

So ist es bei Reese. 



DerAlhert-Keller 

Der Albert-Keller dagegen in der Weinmeisterstrafie ist still und ohne 
Musik und auch nicht in Rot getaucht. Der Besitzer ist ein rumani- 
scher Einwanderer und heifit mit dem Namen Albert. Man versteht 
den Namen »Albert-Keller«. 

Der Albert-Keller hat Stammgaste von einer solchen Dauerhaftigkeit, 
dal^ sie sogar ihre Post dort abholen. Gewisse Institutionen des Albert- 
Kellers erinnern an die eines Liter atencafes. Man kann zum Beispiel im 
Albert-Keller einen ganzen Nachmittag schlafen. Paul schlief gerade 
die vierte Stunde, als wir ankamen. Er schlief den Kopf auf dem Tisch, 
und es war, als sagte er mit der Nase die Tischplatte durch. Neben ihm 
bewachte Regine, glasbrillantengeschmiickt, seinen Schlaf. Paula war 
mit ihrem Zuhalter da. Der trank ein Glas Bier, klopfte dem Madchen 
die Schulter ab und sagte: Guten Tag. Sie bUeb sitzen, in einer schmut- 



480 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

zigen Bluse, mit schwammigen hangenden Briisten, und trank den 
Kaffee meines Freundes aus. Vorgestern war sie in der Hirtenstraf^e in 
einem feinen Lokal gewesen und hatte guten Kaffee getrunken. Und 
dieser hier schmeckte ihr gar nicht, pfui! Ein anderes Madchen lehnte 
am eisernen Ofen. Sie fror und war still, und wenn sie sprach (sie sagte 
nur: »Was machst du?«), sah man, dafi sie keine Zahne hatte. Ihr Ru- 
dolf hat einen plombengefiillten Mund. Es ist gar kein Mund, as ist 
eine ganze Goldkiste. 

Therese ist blond, ganz oxydiert, und ich begleite sie zum Stand am 
Aiexanderplatz. Sie ist augenblicklich in einer Art Krise. Der Rudolf 
namlich, dem sein Madchen eingesperrt wurde, "sah sich plotzUch al- 
lein, und er engagierte Therese. Inzwischen aber (kaum eine Woche 
war sie drin gewesen) kam die andere wieder heraus, und die war rou- 
tinierter, auch uppiger an Gestalt. Sie hatte es bereits im Fufigelenk 
sozusagen und war ein unvergleichlich besseres Geschaft. Infolgedes- 
sen liefi Rudolf Therese. Sie sucht eine Stiitze. »Das ist kein Charakter, 
der Rudolf«, sagt sie. »Er hatte sich doch mit mir aussprechen kon- 
nen.« 

Ja. Ich meine auch, Rudolf ist kein Charakter. Wie kann man nur so 
auf Geschaft sehen! 

Ich muf^ Therese beim Abschied den Daumen driicken, damit sie 
Gliick hat. Und dann ist sie zufrieden. Ich glaube, sie ist ein Charakter. 



Die Zigarrenkiste 

Auch die Welt der Kaschemmen hat ihre Symbole und geheiligten 
Merkmale. Das Abzeichen eines Tambours zum B^ispiel ist eine re- 
spektable, ausgewachsene Keule mit Goldtressen. Das Kennzeichen 
eines Einbrechers ist eine Zigarrenkiste. 

In der Zigarrenkiste Hegen keine hollandischen Zigarren, sondern je 
nach ihrer GroEe: »Tendel« oder »Ellen« oder »Knacker«. Oder: 
»Einfach-Mittelbruch« und »Doppel-Mittelbruch«. 
In der Welt der Kaschemmen haben namlich sogar die Einbruchswerk- 
zeuge ihre Spitznamen. Ein Dietrich heiiSt »Tendel«, ein Brecheisen 
»Ellen«, ein Bohrwerkzeug, das allerdings dank dem rapiden Fort- 
schritt der Technik ein uberholtes Kulturmittel ist, heifit »Knacker«. 
Ein Mann, der mit »Knackern« arbeitet, hat bei mir alle Achtung ver- 



1921 4^1 

loren. Er ist zuriickgeblieben. Wer etwas auf sich halt, verdient, was er 
zum Leben braucht, mit Sprengstoffen, Sauerstoffen und Geblase. Ein 
Knacker?! -Pfui! 

In der Zigarrenschachtel liegen auch »S-Haken«. S-Haken heifien so, 
weil sie die Form eines lateinischen »S« haben. Fiir einfache Korridor- 
tiiren geniigt ein S-Haken. Franz aber hat niemals S-Haken. Einfache 
Korridortiiren offnet er mit einem Taschenmesser. Franz hat es weit 
gebracht! 

Franz tragt die Zigarrenkiste immer in der Rocktasche. Franz aber 
pfeift iiberhaupt auf Symbole. Er braucht keine Zigarrenkiste. Und er 
ist doch der Franz!... 

Die Zigarrenkiste - sie muE ramponiert sein und abgegriffen und einen 
widerspenstig gegen die Strippe ankampfenden Deckel haben - ist das 
Kenn- und Erkennungszeichen. Es kann nicht etwa eine beliebige Ki- 
ste sein! - Eine Zigarettenschachtel gewifi nicht! Es mufi eine ganz 
zweifellose Zigarrenkiste sein. 

Siehst du: Ein Mann, der ohne Zigarrenkiste liber die Schwelle tritt - 
was ist er schon? Hochstens Zuhalter! Dem sagt der Wirt so leicht von 
oben herab: »Na! Wie geht's?« - und es ist so, als wiirde er dem An- 
kommling jede einzelne Silbe allergnadigst auf die Schulter klopfen. 
Aber ein Mann, der mit einer Zigarrenkiste kommt, findet eine freie 
Gasse, durch die er tritt, und minderwertige Zuhalter machen einen 
Respektsbogen um ihn. Das ist die Bannmeile der Zigarrenkiste. Man 
sollte nicht glauben, was so eine harmlose Zigarrenkiste vermag. Sie ist 
das Sinnbild der Autoritat und bildet sozusagen fiir jeden Anfanger 
und neuen Kaschemmenweltbiirger den Tornister, in dem er seinen 
Marschallstab tragt. Ehre der Zigarrenkiste !- 



In der Mulackstrafie 

Um elf Uhr nachts sieht die Mulackstrafie aus wie ein Teil einer ausge- 
grabenen Stadt. Eine Laterne an der Ecke der Schonhauser StraEe 
schielt furchtsam quer heriiber. Ein Madchen patrouilliert auf und ab, 
unaufhorlich und gleichmaf^ig wie ein Pendel, als wiirde sie von einem 
unsichtbaren Raderwerk in Bewegung gesetzt. 

An der Ecke links ist Willys Budike. Sein Gehilfe Hans ist auch da, 
Dieser Gehilfe ist von einer geschniegelt-unschuldigen Haartracht, ge- 



482 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

scheitelt und pomadisiert. Und Gustav, der Lithograph, fiihlt sich 

hier ganz wie zu Hause. Er tragt weiche Filzpantoffeln, und sein Ge- 

sicht ist wie ein herbstliches Stoppelfeld. 

Willy ist Buchmacher. Einmal sind ihm ein paar Offiziere hereinge- 

fallen, die eigentlich nichts mit Buchmachern zu tun haben diirfen. 

Willy begriifite eben einen dem Auto entstiegenen Freund. Vor dem 

Auto bekamen die Offiziere Respekt. Sie glaubten, ein Buchmacher, 

der einen Autobesitzer zum Freund hat, sei kein Buchmacher. Sie ga- 

ben Willy Geld. Sehr viel Geld. Dann verschwand Willy. 

Gegen halb zwolf kommt der »lange Hermann«. Er hat ein sehr ge- 

miitliches, breites Gesicht. Seine Augen sind klein und verschwom- 

men, es sieht aus, als verbergen sie sich hinter einem leisen Tranen- 

schleier, urn ungesehen zu beobachten. 

Um dieselbe Zeit verschwindet Gustav, Ich weifi nicht, was Gustav 

im Keller macht. - 



Die Tippelkneipe 

In der Tippelkneipe (Linsenstrafie) sitzen »Kloppbruder« und Stra- 

fienfeger, »Kloppbruder« sind Bettler. Ihre Uniformen sind weit und 

haben Raum genug fiir »Gelegenheitsware«. Die »Kloppbruder« sind 

alle diinn und erfroren, die Kalte sitzt in alien Poren ihrer Haut. Die 

Kalte ist in zehn afrikanischen Sommern nicht auszutreiben. Es ist 

gewifi nicht leicht, »Kloppbruder« zu sein. 

Sie spielen Karten. Ihre schmutzigen Pappkartons klatschen jedesmal 

auf den Tisch wie gedampfte Ohrfeigen. 

Fred und Karlchen sind keine Kloppbriider. Es ist iiberhaupt sehr 

nett von ihnen, dafi sie hier sitzen. Das haben sie, Gott sei Dank, 

nicht no tig. - Fred und Karlchen: verdienen jeden Tag zweihundert 

Mark. 

Fred und Karlchen sind im Westen tatig. Als GliihlampenspeziaUsten. 

Nur vornehme Hauser kommen in Betracht. 

In so einem Hausflur ist manche Gliihbirne angebracht. Da steigt 

Karlchen auf Freds Schulter und schraubt die Gliihbirne ab. Vier his 

sechs Mark das Stiick zahlen zwei Firmen in der Elsasser Strafie. Die 

Elektrotechniker fragen nicht nach der Herkunft der Gluhbirnen. 

Elektrotechniker sind nicht neugierig. 



1921 4^3 

Seht Ihr ein, dafi es eigentlich nett ist von Fred und Karlchen, hier zu 
sitzen? Unter gewohnlichen Kloppbriidern bei einem Skat?!- 
Es ist sehr still in der Tippelkneipe. Ein alter Hund lagert vor dem 
eisernen Ofen. Das Aufklatschen der Karten stort ihn nicht. »So ist das 
Hundeleben!« - denkt er. 



Gipsdiele 

Diese Diele hei£t deshalb so, weil sie in der Gipsstrafie liegt. Es ist alles 

so einfach in dieser Welt! 

[ch bin sehr gerne in der Gipsdiele. Es ist ein gemlitliches Lokal. Klein, 

schmalbriistig, und der Mann hinterm Tisch, dick und rundlich, der in 

seiner Gewandung aussieht wie ein kleines kostiimiertes Bierfafi auf 

einer Maskerade, dem jemand einen Kopf aufgesetzt hat, nimmt selbst 

sinen betrachtlichen Raum ein. Viel bleibt fiir die zwanzig anderen 

auch nicht iibrig. 

Es sind viele Bekannte hier. Der »lange Max«, Stukkateur (aber nur am 

Tage), die Grete, die eigentlich Margot heiEt, die kleine Berta, Else 

(ohne Zunamen) und schliefilich Anny, die schlesische, zum Unter- 

schied von der bayerischen. 

Es empfiehlt sich, beide nicht zu verwechseln; die bayerische Anny hat 

ihren Stand am Schonhauser Tor und kommt nie in diese Gegend. 

Aufierdem ist sie erst vor einer Woche zuriickgekommen. Aus dem 

Zuchthaus, behauptet sie. Aber ich glaube ihr nicht. Sie ist, wie Max 

ganz richtig sagt, aus dem Krankenhaus gekommen und schamt sich 

nur, es zu sagen, 

Anny, die schlesische, zahlt Geld. Wenn ich hinsehe, hort sie auf zu 

zahlen. Ich weifi nicht, warum. Ich erzahPs doch niemandem. 

femand hat seine Zigarrenkiste hingestellt und bestellt zwei Allasch. 

Das Hinstellen der Kiste und die Bestellung haben ein grofies Loch in 

die Unterhaltung der Gesellschaft geschlagen: Sie schweigen. Ein 

Mann mit einer Hoteldienerkappe denkt eifrig nach: Was hat er nur 

gedreht? 

Max sagt zu dem Mann mit der Kappe: »Ich brauche eine Frau und 

eine >Doppelte Mittelbruch<.« - Die »Doppelte Mittelbruch« kann 

man leicht haben. Morgen schon. Aber eine Frau - das geht augen- 

blicklich nicht. 



484 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Um jeder Eventualitat vorzubeugen, kreischt Erna: »Ich bin beset2t!« 
Erna liebt den Franz. Erna hat seit einer Woche eine Goldplombe und 
lacht infolgedessen unaufhorlich. Sie kann doch nicht etwa den Mund 
offenhalten wie ein hungriges Krokodii! Nein! Wenn die Welt sehen 
soil, dafi sie eine Goldplombe hat, mu& Erna lachen. Erna lacht bei den 
traurigsten Gelegenheiten. 

Franz ist grofi und breit und tritt gerade ein. Einen Augenblick lang 
fiillt seine Personlichkeit das Lokal vollkommen, Er strotzt vor Auto- 
ritat. Alle Zuhalter warden klein, fallen schlaff in sich zusammen wie 
geplatzte Gummiballons. 

Erna erhalt einen Rippenstofi, dafi sie gegen die Bank taumelt. Aber 
Erna lacht . . . 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 23728. 2. 1921 



DIE PROMINENTEN 



Die »Prominenten« heifien die Hervorragenden, wortlich: die Glan- 
zenden, bildlich: die Helden. Diejenigen, denen, verbiirgten Uberliefe- 
rungen zufolge, schon in die Wiege gutgesinnte Wesen himmlischer 
Struktur Gaben hineinwerfen wie Miinzen in einen Opferstock. Sie 
allein haben Anspruch auf »Schicksal«, wahrend alle andern, Minder- 
wertigen sich mit Zufallen (unsinnigen oder geistreichen) begniigen 
miissen. Im Leben der Prominenten tragt jede Geringfligigkeit Lese- 
buchfriichte. Alle Ereignisse, die fiir die Weltgeschichte unbrauchbar 
sind, fallen dennoch nicht in den Papierkorb, sondern geben Veranlas- 
sung zu Anekdoten. So, von der Vorsehung bewacht, von Gott selbst 
gewissermafien durch ein Fernglas beobachtet, treten sie nach antiken 
Mustern ihren Scheideweg an, der gewohnlich zu Lorbeer und Me- 
moiren steil hinanfiihrt. 

Die Weltgeschichte kennt viele »Prominente«. Zum Beispiel: Napo- 
leon, oder: Goethe, oder: Friedrich den GrofSen. Der Leser weiE be- 
reits, was ein »Prominenter« ist. 

Bis nun war das so, da{S ein wirklich »Prominenter« zu Lebzeiten zwar 
schon von seiner Prominenz wul^te, aber nicht viel mehr davon sprach, 
als gerade notig war. Der Respekt - auch der Prominenten - vor der 



I92I 4^5 

Nachwelt war zu grofi, als dafi man ihr ein Urteil vorwegzunehmen 
gewagt hatte. Auch ging es den meisten Prominenten im Leben nicht 
so, wie sie es verdient hatten. Just in den entscheidenden Augenblicken 
erwachte der traditionelle Neid der Gotten Die Prominenten aber dul- 
deten gerne und iiberliefien alles getrost der Nachwelt, der sie iiber- 
haupt das grofite Vertrauen entgegenbrachten. 

Neuerdings haben sich die Prominenten eines andern besonnen. Sie 
sind entschlossen, sich gegen einen ungerechtfertigten Gotterneid zur 
Wehr zu setzen und alle Anspriiche, die sie dank ihrer Prominenz an 
das Leben stellen zu miissen glauben, auch »durchzudrucken«. Sie ha- 
ben von der Revolution und dem Sozialismus die Notwendigkeit der 
Organisation gelernt. Die Prominenten organisieren sich. 

Die prominenten Schauspieler Deutschlands organisieren sich. Die 
Buhnengenossenschaft hat bereits festgestellt, dafi die Prominentenbe- 
wegung von Berlin ausgeht. Die prominenten Schauspieler Deutsch- 
lands wiinschen eine ihrer Prominenz entsprechende Behandlung. Sie 
woUen sich ihr Startum sichern. Durch Organisation Grofie bewahren. 

Ich kann mir keine rapidere Niederlage des Helden- und Fuhrergedan- 
kens vorstellen: Organisation ist die Kampfmethode der Schwachen. 
Die Gedriickten, ZufalUgen und Ausgebeuteten, die Nachtrottenden, 
nicht die Wegesuchenden, die Befohlenen und zum Gehorsam Gebo- 
renen gelangen nur durch das Mittel der Einigkeit zur widerstandsfahi- 
gen Starke. Die von Geburt Starken sind am machtigsten allein. 
Die prominenten Schauspieler, die ihre Prominenz widerlegen, indem 
sie ihre Bedeutung durch eine behordlich konzessionierte Vereinigung 
festlegen, besitzen die gliickliche Geistesart kleinstadtischer Hautevo- 
lee. Sie griinden eine Art Stammtisch der besseren Kreise. 

Wer darf iiber die Prominenz eines Schauspielers entscheiden? Der 
Theaterdirektor, der Kritikerverband oder die Tafelrunde der Promi- 
nenten selbst? Wenn die Knie zittrig, die Kehle heiser, das Auge glanz- 
los werden, ist man dann noch Prominenter? Oder tritt man aus und 
verlangt seinen Mitgliedsbeitrag fiir das letzte Halbjahr zuriick? 
Ich stelle mir einen Verein der mythologischen Prominenten vor: Her- 
kules, Zeus', des Donnerers, Sohn, der seinen Krankenkassenbeitrag 
entrichtet; Siegfried, der Drachentoter, mit einer MitgUedskarte in der 



486 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Brieftasche; Odysseus, der den Kassierer um ein Monatsgeld beschwin- 
delt. Gunther - Gunther? - War der iiberhaupt prominent? 

Nein! pfui! sagte der Prominente. Niemals wird ein Statist mein Be- 

triebsrat sein! Die alphabetische Reihenfolge der Mitglieder einer Ge- 

nossenschaft - oh, wie blamabel! 

Ich verstiinde einen, der so sprache und entschlossen ware, einsam aui 

steilem Bergesgrat zu wandeln, 

Nie werde ich zehn verstehen, die mit der Mehrzahl eine Einsamkeit 

begriinden wollen: zwecks Unternehmung einer Kletterpartie auf den 

Hohen der Menschheit. 

Ich begreife den Auserkorenen, dem der Herr im Dornbusch sich zeigt. 

Einem organisierten Dutzend Auserkorener erscheint kein flammender 

Herrgott. 

Es gibt eine Gleichartigkeit der Unbedeutenden. 

Die GroCen der einzelnen sind nicht einmal ahnlich: weder in der Art 

noch in der Wirkung. 

Wohl aber verstehe ich eine Star-Gewerkschaft. Moissi, Asta Nielsen, 

Trude Hesterberg, Celly de Rheydt. Was voile Hauser bringt. 

Dann aber mogen die Prominenten ehrlich sein und sich nur Stars nen- 

nen. Es kann eine Ritterkaste geben. Eine Kaste der Helden ist unmog- 

Hch. 

Eine Genossenschaft der Konige ist absurd. 

Berliner Borsen-Courier, 23.2. 1921 



EIN PROFESSOR 

Vor einigen Tagen wurde der ordentliche Professor der Philosophic an 
der Wiener Universitat, Adolf Stbhr, begraben. Er starb, fiinfundsech- 
zig Jahre alt, an den Folgen eines simplen Rotlaufs, nachdem er sein 
Lebenswerk (»Wege des GlaHbens«) vollendet hatte, Er war ein origi- 
neller Philosoph und im Leben so still und einfach, dafi selbst nach 
seinem Tode die Zeitungen nicht laut wurden. Ich glaube, dafi an der 
grof^en Stille um ihn ein paar Kleinigkeiten schuld sind. Zum Beispiel: 
sein graukarierter Salonrock. 



1921 4^7 

[ch war vier Jahre lang sein Schiiler und trug und zerrifS verschiedene 
Knxuge. Adolf Stohr aber trug immer seinen graukarierten Salonrock, 
in dem er wahrscheinlich grofi und alt geworden war und alle seine 
Biicher geschrieben hatte. (Ich nenne nur: »Let2te Lebenselnheiten 
und ihr Verband im Kleinplasma«; »Der Begriff des Lebens«; »Ana- 
lyse der reinen Naturwissenschaft Kants«; »Die Vieldeutigkeit des Ur- 
teils«; »Psychologie der Aussage«.) Er war ein griindlicher Sprachen- 
kenner und behandelte das Wort fast naturwissenschaftlich wie ein ge- 
ziichtetes Experimentierobjekt. Er glaubte an die Gewalt der Sprache 
Liber die Sprechenden und daf^ die Dummheit der meisten Menschen 
ran der Ubermacht des Ausdrucks komme. 2u den vom Wort Verlei- 
teten zahlte er: die Frauen, die Journalisten und - die ordentlichen 
Professoren der Philosophie. Und auch das gehort zu den Kleinigkei- 
ten, die eine grofie Stille verursachen. 

Dazu gehorte auch seine groCe Rondeschrift, deren Buchstaben rund- 
rollendet und deutlich waren wie knusprige Mohnkringel. Er kam von 
der Naturwissenschaft her und baute kiihne Metaphysik auf biologi- 
5chen Ergebnissen wie ein Bergmann, der zwischen vitalischen Harm- 
iosigkeiten Mysterien findet, mineraUschen Tiefen entsteigt, um sich 
Lum Gottsucher zu wandeln. 

Adolf Stohr ist in wissenschaftlichen Kreisen bekannt geworden. Po- 
pular wurde er nicht, denn er trug einen graukarierten Salonrock und 
schrieb eine fiir einen Philosophen straflich lesbare Handschrift. Auch 
las er von acht bis neun Uhr friih, da die Unberufenen und Ruhmkiin- 
der noch schliefen und ihn nicht horen konnten. Andere Philosophen 
waren schwarz gekleidet, lasen von sieben bis acht Uhr abends und 
wurden popular. Die Philosophie ist auch ein Beruf und erfordert Re- 
prasentation. 

[ch glaube nicht, dafi die Historie den Philosophen der Gegenwart 
Physiognomien und personliche Symbolik verleihen wird wie den 
Weisen des klassischen Altertums. Obwohl ein Bratenrock, ein grau- 
karierter, doch so etwas wie eine Tonne ist und Stille erzeugt wie ein 
ausgewachsenes Riesenfaf^ . , . 

Berliner Tageblatt, 26.2. 1921 



IM DAMPFBAD BEI NACHT 

Das Asyl der Reinlichen 

Das Dampfbad im Admiralspalast ist wieder die ganze Nacht offen. 
nachdem sein Nachtbetneb wahrend des Krieges zuerst eingeschrankt. 
dann vollkommen eingestellt war. Man kann des Nachts dampfbaden. 

Vor dem Kriege war es der unbedingt erforderliche Abschlufi verbum- 
melter Nachte und die neue Menschwerdung des freiwilligen Nacht- 
wandlers. Er spiilte das Gestern in den Bassins ab und entstieg der 
Wassern des Admiralspalastes, dem Heute geweiht, frisch rasiert. 
neuen Taten entgegen, in die Morgenluft der FriedrichstrafSe. Daj 
Dampfbad war die Zasur zwischen nachtlichem Pofelbacchanal und 
taglicher Berufstatigkeit. Es stand zwischen Barbiifett und Burotisch. 
Anders hatte man - man erinnere sich - jenen Vergniigenspolterdienst 
in Permanenz nicht durchhalten kdnnen. 

Heute, da das Lustgeschaft in der Diele schwebt und der Mensch der 
neuen Generation es nicht mehr notig hat, in reinen Gewassern zu 
baden, weil ihm alle Salben, mit denen er geschmiert ist, abgeschlemmt 
wurden, ist das Dampfbad ein Nachtasyl geworden. Wer kein Hotel- 
zimmer findet, geht ins Dampfbad, Eine Nacht kostet zwanzig Mark. 
Fiir diesen Preis hat man sich sozusagen reingeschlafen und ausge- 
schwitzt. Man miifite iiber dem Dampfbad ein Motto anbringen. 
Etwa: »Durch Schweifi zum Licht!« 

Von dem nahegelegenen Bahnhof Friedrichstrafie kommen gegen Mit- 
ternacht Reisende mit Koffern. Von ergebnislosen Wanderungen 
durch die Hotels der Stadt zuriickgekehrt, atmen die Menschen Erlo- 
sung vor dem Eingang ins Bad. Es ist langsam eine notwendige Institu- 
tion dieser Grofistadt geworden! Es fordert und reinigt den Fremden- 
verkehr. 

Der groteske Anbhck eines nachthchen Heifiluftzimmers, in dem 
sechzehn spUtternackte Obdachlose den KohlenruE einer Eisenbahn- 
fahrt auszudiinsten bestrebt sind, erweckt infernahsche Vorstellungen. 
Es ist wie eine lUustrationskette zu Dantes Rekognoszierungsfahrten 
in der Unterweh. Der kraft hoherer Weisungen einzig Bekleidete und 
seiner Schrubberpfiicht VoUbewuf^te, der drauend mit Foherfaust und 
Frottierinstrument griffbereit dasteht, konnte ganz gut ein Diener der 



1921 4^9 

Unterwelt sein, wiifite man nicht, dafi sein Hollencharakter sich linden, 
wenn zum Schlufi nach iiberstandener Bufie ein Trinkgeld seinen wahren 
Beruf offenbart. 

Ich weif^ nicht, ob die Menschen auch in der HoUe so lacherlich sind. 
Wenn auch unten die Sitte besteht, sie nackt auszuziehen, dann sind sie es 
trotz der Tragik sicherhch. Ich glaube, dafi die mitternachdiche Zeit die 
an und fiir sich komische Nacktheit der Menschen noch verstarkt. So 
grotesk ist die Vorstellung, daE jemand in der Zeit zwischen zwolf und 
zwei Heif51uft geniefien will. 

Irgendwer macht mit schlottrigen Gelenken, die aussehen, als waren sie 
mit Zwirnfaden probeweise zusammengeheftet, in einem Bassin 
Schwimmiibungen, eine ganze nachtliche Stunde hindurch. Der andere, 
der dick ist und der zum Festhalten seines Bademantels sich eigens von 
der Erde den Aquator borgen mlifite, sieht mit grauenhaft schadenfroher 
Miene dem Gelenkeschlottrigen zu, bis ihn selbst frostelt und er be- 
schhei^t, sich im heif^en Bassin die durch den Anblick des Schwimmenden 
verlorengegangene Warmeenergie zuzufiihren. Er tappt vorsichtig mit 
dem rechten Fuf^ hinein, es ist ihm doch zu heiB, ich glaube, er mochte 
gerne sehen, wie er schreitet — aber sein Bauch ist nicht aus Glas. 
Das Schlafzimmer sieht aus wie ein ausgehohltes Polygon aus der Geo- 
metrie. Die Sofas sind klein, niedrig und zahlreich. Sie stehen da wie 
ibsichtslos, als hatte man sie gerade noch nur hier aufbewahren konnen. 
Die Frottierten versuchen, sich auf den Sofas Ruhe zu holen. 
Bei dieser Gelegenheit lassen sie dem andern keine. Es ist ganz unglaub- 
iich, was die Reinlichkeit fiir versteckte Sehnsiichte aus den Schlupfwin- 
keln ausgeschwitzter Seelen heraufzuholen imstande ist. Der Appetit 
svachst ungeheuerhch. Ich glaube fast, dafi das Dampfbad wahrend des 
K^rieges nur deshalb geschlossen war, weil England uns blockierte. Sech- 
^ehn griindlich gereinigte Menschen konnen die Vorrate einer groflen 
StadtfUr ein halbesjahr vollkommen verzehren. 
Dh, wenn Stullen nicht die Eigenschaft batten, in Knisterpapier einge- 
wickelt zu sein! Als wiirde weiches Papier nicht geniigen! Drei Herren, 
die von der Bahn gekommen sind, lassen sich ihre Handkoffer heriiberge- 
3en. Ich hoffte, einer wiirde den Proviant fiir alle drei in seinem Koffer 
laben. Ich hoffte weiter, der Hunger wiirde bei alien dreien gleichzeitig 
luftreten, da sie doch mit demselben Zug gekommen und gleichzeitig mit 
lem Bad fertig waren. Sie aber, hinterUstig, beniitzten ihren Appetit als 
leizmittel fiir mich. 



490 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Abwechselnd klinkte je einer von den dreien seinen Koffer auf, sein 
kleiner Schliissel quietschte im Schlofi wie ein junger Hund, und dann 
kam das Auspacken; mit samtlichen Stadien einer regelrechten Friih- 
stucksentfaltung, als waren wir nicht in einem Dampfbad bei Nacht, 
sondern auf einer griinen Wiese am Sonntagnachmittag. 
Mit der Zeit lernte ich die drei Reisenden deutlich voneinander unter- 
scheiden. Der eine entwickelte sein Brot rasch und sicher, und er ra- 
schelte nicht, sondern rauschte. Der andere rauschte nicht, sondern 
war ungeduldig und n& immer seine Papiere durch. Der dritte wahrte 
am langsten. Er packte umstandHch und mit viel Sorgfah das Papier 
wieder zusammen. Ich glaube, der hatte noch eine lange Reise vor sich. 
Sehsam, wie einer sich bemiiht, alien Anwesenden klarzumachen, dafi 
er's gar nicht notwendig hat, hier zu baden. Nein, gewifi nicht. Er war 
schon gestern rein. Wer zweifelt daran? Aber so ein unfreiwilliges Bad, 
meint er, weil man kein Hotel findet, ist auch nicht unangenehm. Und 
obwohl ich ihm herzlich gern glaube, dafi er unbedingt reingewaschen 
war, noch ehe er ankam, hort er nicht auf, mich zu iiberzeugen, Er ist 
aus der Provinz. Es kommt ihm sehr spafihaft vor, und ich sehe schon. 
er nimmt sich vor, es der nachsten Stammtischrunde zu erzahlen, was 
man alles in BeHin erleben kann. 

Man schlaft nicht schlecht auf diesen Sofas, wenn man bereits gesat- 
tigte Schlafnachbarn hat. Tritt man in den Korridor, sieht man ein Pla- 
kat, das einerseits das Rauchen verbietet (woher soUte man auch Ziga- 
retten nehmen?), andererseits das Betreten des Manikiirzimmers ir 
»unbekleidetem 2ustande«. Dennoch sah ich Unbekleidete aus einem 
Manikiirzimmer treten. 

Menschen im Urzustand wandeln durch die Gange des Admiralspala- 
stes. So miissen die Landstrafien der Welt ausgesehen haben, als sic 
noch ganz jung war und die Herren- und Damenkonfektion noch keir 
bliihender Erwerbszweig. 

Geht man um 5 Uhr friih auf die finstere Stral^e, sieht man gerade nocl: 
das letzte Stadium eines Trennungsprozesses zwischen Mann und Frau 
und das miide Geschlurf eines Friedrichstrafienmadchens, das in diesei 
Nacht Pech gehabt hat und leer nach Hause geht. Es regnet, irgendwc 
roilt ein Lastwagen, und man friert bitterlich. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 4. 3. 1921 



IM LAUFSCHRITT NACH LEIPZIG 

Dauerlauf auf der Landstrafie 

Der Zentralverband der deutschen Leichtathleten hatte mich fiir Frei- 
tag, sieben Uhr friih, eingeladen. Um neun Uhr begann der Wettlauf 
Berlin- Leipzig, Ich sollte mit dem Auto mitfahren. 
Um sieben Uhr friih trank ich in der Geschaftsstelle, Binger Weinstu- 
ben, BriickenstrafSe 4, acht Kognak. Als ich fertig war, kam der Chauf- 
feur und sagte: Es ist kalt drauf^en. Er woUte auch einen Kognak. Dar- 
auf trank ich weitere sechs Kognak. Da horte es auf, drauf^en kak zu 
sein. 

Wir fuhren nach Potsdam. Im Potsdamer Lustgarten stand der Mann 
von der MefSterwoche und kurbelte. Der Starter schoE eine bHnde Pa- 
trone ab, und die Laufer setzten sich in Bewegung. Dann begann die 
Fahrt auf der Landstrafie. 

Es ist eine straflich kahle Landschaft zwischen Berlin und Wittenberg. 
An den Randern der Landstrafie ragt hie und da ein Wettlaufer auf. 
Die Laufer tragen Pappendeckelschilder auf Brust und Riicken, bunte 
Trikots mit ganz kurzen Hoschen. Ihre Schenkel sind stramm und ar- 
beiten wie Mechanismen, piinkthch, zuverlassig, wie Hebel, die von 
irgendeinem Uhrwerk in Bewegung gesetzt werden. Der Abstand zwi- 
schen den einzelnen Laufern ist verhahnismaf5ig grof^. Jeder lauft, die 
Fauste an die Brust gepreEt, den Oberkorper vorgeneigt, hinter seinem 
Radfahrer oder vor ihm. Der Radfahrer heiEt »Schrittmacher«. Aber es 
kommt vor, daf$ der Laufer rascher ist und sein eigener Schrittmacher 
sein muf5. Er hat namHch keinen fremden Mechanismus, der versagen 
konnte. Er hat nur seine Maschine aus Fleisch, Blut, Muskeln und 
Knochen: zwei Beine, auf die er sich verlassen kann. 
Bis Wittenberg steigt die Landstrafie langsam an. Es sieht aus, als be- 
Tiiihe sie sich, freie Ausschau zu gewinnen, Kilometer- und Prellsteine 
Piihren vorbei und zuriick, kleine weifSe Dingerchen, die plotzHch Eile 
Dekommen zu haben scheinen, weil sie nicht langer auf einem Fleck 
;varten wollen. Bis wir nach Treuenbrietzen kommen. 

■.n Treuenbrietzen tragen die Schornsteinfeger Zylinder. Auf der 
JtraEe wickelt sich der lebhafte Verkehr eines Brieftragers ab, und vier 



492 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

oder fiinf semmelblonde Kinder werden in ihrem Wiirfeln aufge- 
scheucht durch das heranratternde Auto. In Treuenbrietzen halt ein 
Auto selten. In dem kleinen Kaffeehaus tragt die Serviermamsell eine 
hochaufgesteckte Oxydfrisur und heizt den eisernen Ofen. Wir brin- 
gen mindestens zwanzig Kilometer Kalte in das Kaffeehaus. Und trin- 
ken Kognak . , . 

Nach einer Weile kommt der erste Laufer. Es ist zwolf Uhr und einige 
Minuten. Der erste Laufer heifit Sillier. Er war 1913 im Wettlauf Ber- 
lin-Breslau Sieger. Er ist klein und schwarz und tragt ein schwarzes 
Trikot und hat ein ruhiges Gleichmafi in Bewegung und im Gesicht. Er 
hat einen slawisch-romanischen Typus und tiefliegende, gescheite 
schwarze Augen. Es sind die flinken Augen eines sehr schnellen, ge- 
wandten Menschen. 

Ich bewundere ihn aufrichtig. Ich hatte diese Mechanisierung der Kor- 
perkrafte niemals geglaubt, wenn ich sie nicht an ihm erlebt hatte. Er 
macht den Eindruck einer ganz auf Laufen eingestellten menschlichen 
Maschinerie. Die Energie aller Korperteile riickt gewissermafien ab- 
warts, legt sich in die Beine. Es ist, als triige er im Innern ein Uhrwerk, 
das aufgezogen wird, sechs Stunden, zwolf Stunden lang lauft und die 
Bewegungen der Beine zu regulieren hat. So piinktlich und exakt ist 
jedes Muskelspiel. Ich sah SiUier nach den ersten zehn Kilometern, 
nach dreifiig, am nachsten Tage, am drittnachsten Tage in Leipzig beim 
Mefi wettlauf. Sillier lauft immer noch so, wie er die ersten fiinf zehn 
Schritte gelaufen ist. 

In Treuenbrietzen mufi man alle Laufer passieren lassen, dann kann 
man erst weiter. Einer der letzten, aber immer noch nicht der letzte, ist 
der Meistergeher BialoblockL Er ist marode geworden, er lauft nicht 
weiter, aber er geht. Geht, geht, unermiidlich, Ellenbogen rhythmisch 
vor- und riickwartsstofiend, nach der zehnten Stunde immer noch so 
lachelnd, als ginge er Sonntag nachmittags auf einer griinen Wiese spa- 
zieren. 

Ganz Treuenbrietzen (der Postbote, der Schornsteinfeger im Zylinder, 
die fiinf Kinder) hat den Mund offen. Es ist eine au{^erordentlich giin- 
stige Fiigung des Schicksals, eine besondere gottUche auf Treuenbriet- 
zen herabgetraufelte Gnade Gottes, dafi es mitten auf dem Weg dei 
Dauerlaufer liegt. Unser Auto rattert dem Ausgang zu, begleitet von 
den erstaunten Blicken des Postboten und dem bewundernden Glan- 
zen des Schornsteinfegerzylinders. 



I92I 493 

Wittenberg ist eine historische Stadt, wie man weifi. Aber man merkt 
es gar nicht, wenn man nicht so gebildet ware, Wahrend wir aussteigen 
und die Leinwand zwischen zwei Baumen ausspannen, auf der mit 
machtigen schwarzen Buchstaben das Wort »Ziel« in die Feme stiert, 
laufen die Kinder und die Grof^en am Eingang der Stadt Wittenberg 
zusammen, vielleicht genauso, wie sie einmal zusammenliefen, als et- 
was viel Wichtigeres geschah und irgend jemand fiinfundneunzig The- 
sen anschlug. Ganz Wittenberg widerhallt von der Ankunft der Dauer- 
wettlaufer. Die Reformation hat wahrscheinlich eine ahnliche Aufre- 
gung hervorgerufen. 

Am nachsten Morgen ist in Wittenberg Musik. Vor dem Cafe, das zu- 
gleich eine Backerei ist und in dem sich die Laufer umkleiden, das 
heifit auskleiden, haben vier Mann Wandermusikanten mit Flugelhorn 
und Trompeten und Pauke Aufstellung genommen. Sie spielen »Pupp- 
chen« im Marschtakt. Sie sind uberhaupt sehr begabt. »An der Quelle 
safi der Knabe« ist ein Foxtrott. Die Wittenberger sind musikaUsche 
Leute. Irgendwo hoch oben im zweiten Stock klinkt ein sorgsam auf 
Erziehung bedachter Vater sein Fenster auf, um seinem Sprof^ling 
Dauerlaufer und Musikanten zu zeigen. Wahrend der Starter seine 
blinde Patrone abschielSt und die Laufer sich in Bewegung setzen, geht 
in Trompeten und Flugelhorn ein machtiger Sturm los, und Witten- 
berg erzittert. 

Die Bitterfelder gehen ahnungslos in dem kleinen Stadtchen ihrem ge- 
wiE sehr redlichen Tagewerk nach, bis auf einmal ein Laufer, halb- 
nackt, schwitzend, Sensation ausstromend, durch die Hauptverkehrs- 
straEen lauft, Frauen vor Schreck ihre Markttaschen fallen lassen, Kin- 
der die Schulranzen in die Ecke werfen, ein Lehrer, der, mit einem 
Morgenkaffeetropfen noch auf dem Schnurrbart, seinen Regenschirm 
spazierenfiihrt, mitten auf dem Pflaster angewurzelt stehenbleibt und 
das Erlebnis Dauerwettlaufer miihsam zu verdauen versucht. Bitter- 
feld ist sehr aufgeregt. Es sieht einen Laufer nach dem anderen ankom- 
men und verschwinden, Alle fragen nach 2iel und Woher, und sie ha- 
ben sich erst heute beruhigt, ich wette.- 

[n Leipzig ist Messe. Auf dem Briihl hangen Felle, Tiicher, Kleider, 
und die ganze Stadt ist ein riesiger Marktplatz. Die Schutzleute haben 
ihre alten Helme hervorgesucht, um die Autoritat zu starken. Sie kon- 



494 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nen wieder reiten und traben von Zeit zu Zeit gemachlich auf einem 
Klepper zwecks Regulierung des Verkehrs. 

Mitten durch den Rummel knattert unser Auto, rennen unsere Laufer. 
Ihre schone Nacktheit macht Aufsehen. Die Leipziger sind sehr er- 
staunt, dafi man von Berlin nach Leipzig zu Fufi lauft. (Ein richtiger 
Leipziger fahrt auch schwerlich mit der Eisenbahn nach Berlin.) In der 
ersten Reihe lauft Sillier, mein Freund, klein, gelenkig, immer noch in 
demselben rhythmisch abgehackten Tempo wie gestern und vorge- 
stern. Ich glaube, wenn die Erde eine Scheibe ware und keine Kugel, er 
konnte unaufgehalten bis an den Rand der Welt laufen und noch wei- 
terhin im Weltenraum. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 8. 3. 1921 



UNTER FRANZOSISCHEN FAHNEN 

Franzosische Fahnen - Die Brotkarte ah Ausweis - Viel Musik 
General DegOHttes Bewachung - Wiirdelose Anbiederung 

Diisseldorf 
Dusseldorf leidet bis jetzt unter der Besetzung nicht allzusehr, die mo- 
ralische Wirkung ist allerdings schlimmer. Franzosische Flaggen und 
Far ben verleihen der Stadt zwar noch immer nicht ein franzosisches 
Geprage, aber immerhin deutlich das einer Okkupation. Heute kehrte 
ich schon von einem Fufimarsch durch Dusseldorf und Duisburg zu- 
riick. Als Ausweis diente mir eine Berliner Brotkarte. Vor der Kunst- 
akademie lagerten Abteilungen franzosischer Infanterie. Auf dem 
Markt stehen Gewehrpyramiden und liegen die Blasinstrumente einer 
franzosischen Militarkapelle. Es ist iiberhaupt bezeichnend, dafi die 
Franzosen mit verhaltnismafiig viel Musik Besatzungen vornehmen. 
Jede dritte Gruppe marschierender Soldaten, die ich in Dusseldorf und 
auf dem Wege zwischen Duisburg und Ruhrort sah, hatte Militarmu- 
sik. In der Bismarckstrafie (vielleicht, weil sie so heifit) hat sich eine 
verhaltnismafiig grofie Zahl franzosischer Offiziere und Unteroffiziere 
einquartiert. In der Benrather Strafie ware es beinahe zu einem Zusam- 
menstofi gekommen, weil ein franzosischer Unteroffizier, selbstver- 



I92I 495 

standlich unabsichtlich, eine Auslagenscheibe ein wenig eingedriickt 
hatte. Die Angst der Besatzungstruppen ist jedenfalls deutlicher zu be- 
merken als irgendeine Beunruhigung der Diisseldorfer Bevolkerung. 
General Degoutte geht, wenn er in Dusseldorf ist, nicht anders aus als 
in Begleitung dreier Offiziere und, wie versichert, eines Geheimagen- 
ten in Zivil. An den Ufern des Rheins ruhen am Nachmittag die Poilus 
aus, die auf dem nahegelegenen Marktplatz ihren Dienst versehen ha- 
ben und abgelost wurden. Einige unangenehme Symptome niedriger 
Kriecherei konnte ich in Dusseldorf auch schon feststellen. Ein paar 
flinke Geschaftsleute haben es nicht unterlassen konnen, franzosische 
Worte in ihren geschdftlichen AnkUndigungen und auf den Schildern 
anzubringen. Vor samtlichen offentlichen Ans taken, vor den groEten 
und grofieren Hotels und vor den Eingangen des Hofgartens stehen 
franzosische Posten. Wenn sich auch die einzelnen Kommandos be- 
miihen, besondere Harten zu vermeiden, und gestern sogar die Ab- 
sperrungsmaf^nahmen bereits gemildert haben, so konnen doch ein- 
zelne kleine Tragodien nicht ungeschehen gemacht werden. Ich sah, 
wie ein Diisseldorfer Kriegerverein sich von seinen alten Degen tren- 
nen muf^te. Ein alter, wurdiger Herr mit weifiem Schnurrbart packte 
die Waffen ein, um sie ins Rathaus zu tragen. Dabei kann selbst ein 
Antimilitarist Mitgefiihl nicht verleugnen. Der Anblick eines Marok- 
kaners oder eines gelben Anamiten vor dem Diisseldorfer Denkmal 
eines europaischen Genies verletzt, selbst wenn man an die durch den 
Krieg bewiesene Minderwertigkeit der europaischen Rasse glaubte. 
Der Diisseldorfer Giiterbahnhof ist von einem Halbzug Infanterie mit 
fiinf Maschinengewehren und zwei Tankwagen besetzt. Der unvermit- 
celte Anblick eines Tankwagens oder eines kleinen Geschiitzes wirkt 
ingesichts der friedlich spielenden Kinder und der Frauen, die mit 
Markttaschen am Arm iiber die Absperrungsmafinahmen und Identi- 
tatsausweise sprechen, grotesk und lacherlich, Der Eindruck aber, den 
ille diese Geschiitze, Tanks und die voile Kriegsausriistung der Infan- 
:erie erwecken, ferner die Vorbereitungen, die ich auf meiner Fufiwan- 
ierung durch das Gebiet von Diisseldorf, Duisburg und Miilheim 
jammeln konnte, lassen darauf schliefien, dafS zumindest der strategi- 
;che bzw. praktische, wenn auch nicht politische Plan besteht, die Be- 
etzung eines viel grofieren Teils des Industriegebiets vorzunehmen. 
^ine scharfe Abgrenzung dreier oder mehrerer Stadte ist iiberhaupt 
ingesichts der geographischen Lage schwer moglich. Fiir diese An- 



49^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nahme spricht auch die Beunruhigung, die sich seit gestern plotzlich 
der Industriekreise bemachtigt zu haben scheint. Die in Mulheim an- 
sassige Firma Thyssen sowie Stinnes treffen Vorbereitungen, und in der 
Bevolkerung ist die Nachricht laut geworden, dafi Thyssen verreisen 
will. Eine gewisse Nervositat hat sich auch der Bevolkerung der an die 
besetzten Stadte angrenzenden Ortschaften bemachtigt. Wilde Ge- 
riichte flattern auf, man will da und dort Patrouillen gesehen haben, 
Quartiermacher und dergleichen. Es kommt vor, dafi einzelne Solda- 
ten der Besatzungstruppen oder auch kleinere und grofiere Trupps in 
eine unbesetzte Stadt hiniiberschwarmen, entweder aus Versehen oder 
auch aus Ubermut. Es verlautet, dafi die Belgier in grofierer Anzahl 
hierherkommen werden. Wie ich von franzosischen Besatzungstrup- 
pen erfuhr, beabsichtigen die Franzosen, die Besetzung dieser drei 
Stadte uberhaupt den Belgiern zu uberlassen. Bekanntlich soil heute 
bereits ein belgischer General ankommen. Gestern sind mehrere Batte- 
rien belgischer Artillerie in Duisburg eingezogen. Aus der Richtung 
Hamborn ist belgische Kavallerie im Anzug, angeblich, um den Ab- 
sperrungsdienst vorzunehmen, 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 11. 3. 1921 



DIE HANDBEWEGUNG DES BURGERMEISTERS 



Duisburg 
Ich will versuchen, die Duisburger Stadtverordnetenversammlung 
vom 8. Marz dieses Jahres der Vergessenheit zu entreifien: 
Der Duisburger Rathausplatz ist weit und schon, sein Pflaster sieht 
reingewaschen und gescheuert aus. Auf diesem Rathausplatz lagert am 
Nachmittag, um 4 Uhr, ein Zug franzosischer Infanterie. 
Die Gewehrpyramiden stehen wie ein bedrohlicher Stacketenzaun um 
die rastenden Gruppen. Hellblau schimmert der Rathausplatz von den 
Felduniformen der Soldaten. 

Seht! Ein Maschinengewehr haben sie in der Ecke mit der Mundung 
gegen den Ausgang des Platzes gerichtet. 

Der Herr General - sein Mantel flattert im Winde, weil Feldherrnman- 
tel der Photographen wegen immer flattern miissen (sie sind schon sc 



I92I 497 

genaht, auch fiir den Fall einer voUigen Windstille)- der Herr General 
entsteigt einem Wagen, von einem Adjutanten begleitet, der zu einer 
schwarzen Uniform eine rote goldbetreEte Kappe tragt. Der Herr Ge- 
neral hat einen weifien Bart, er ist sicherlich streng und giitig zugleich, 
wie Generale schon sind, und nimmt die Meldung des diensthabenden 
Offiziers entgegen. Die franzosischen Soldaten erheben sich, und der 
General mustert sie. 

Die Bewohner von Duisburg stehen hinter der Bannmeile des Rat- 
hausplatzes und sehen dam feldherrlichen Flattern des Generalmantels 
zu. Und dieses Zusehen ist so gefahrlich, dafi man jenes Maschinenge- 
v^^ehr begreift und die drei hin- und zuriickpendelnden Soldaten, die 
ihre Bannmeile jedesmal durch ein paar neue Schritte wiedererstehen 
lassen miissen. 

Der General schreitet - Generale schreiten immer - die Stufen empor 
ins Rathaus, Im Rathaus ist Stadtverordnetenversammlung. 
Es dunkelt bereits im Zimmer, und die Stadtverordnetengesichter sind 
im Dammerlicht weifi und scharfumrissen und bedeutungsvoll. Man 
konnte glauben, hier saften die groEten Manner der Jahrhunderte bei- 
sammen. Denn in historischen Stunden gewinnen selbst die einfach- 
sten Gesichter einen Zug einpragsamer Grofie. 

Indessen lustwandelt schon ein franzosischer Soldat im Korridor, Zi- 
garetten rauchend, umher. Sieger lustwandeln immer mit Zigaretten. 
Der Offizier mit der goldbeschwerten Rotkappe hat Biiros requiriert. 
Die Magistratsbeamten tragen ihr Schreibzeug, ihre Lineale, ihre Bii- 
cher hinaus. Sie beeilen sich nicht, sie tragen sorgfaltig ihre Mappen 
unterm Arm, und riihrend ist diese Fiirsorge um ein armseliges 
Schreibzeug. So riihrend, als triigen Vater ihre Kinder aus der Gefahr, 
behutsam und zitternd. 

Ein Poilu schreit nach dem Schliissel, der Beamte weist auf den Portier, 
aber der Poilu mochte, daft ihm der Beamte selbst den Schliissel gibt. 
Sieger sprechen nicht gerne mit Portiers. 

Aus einem Biiro schleppen zwei Manner einen schweren Akten- 
schrank. Ein englischer Leutnant sieht zu, wie die Manner keuchen, 
und wedelt zum horbaren Atemtakt der Manner gleichmafSig mit 
einem diinnen Rohrstabchen. 

Die Tiir ist halb offen, der englische Leutnant, der gut Deutsch spricht, 
kann horen, was drinnen der Oberbiirgermeister sagt. 
Der Oberbiirgermeister heii^t Doktor/^rres. Er gehort der Deutschen 



498 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Volkspartei an, ich kann seine politische Begriffswelt nicht mit ihm 

teilen, seine Anschauungen sind mir gewi£ sehr, sehr fremd. Aber 

ware ich der Historienschreiber dieser Franzosenzeit, ich wiirde ein 

ganzes Kapitel iiberschreiben : Doktorjarres. 

So miifite das Kapitel heifien. Und die ganze Rede des Biirgermeisters 

miifite drinstehen. 

Der Biirgermeister spricht von den Gefallenen im Kriege und sagt, dafi 

sie vergebens gef alien sind. Wahrend er: »vergebens« sagt, weist er 

nach der halb offenen Tiir, in der ein englischer Leutnant mit einem 

Rohrstabchen wedelt. Diese einzige Handbewegung des Oberbiirger- 

meisters miifite der Inhalt eines ganzen Kapitels deutscher Geschichte 

sein. 

Es dunkelt starker, die Stadtverordneten sitzen so still da, als waren sie 

versteint, und die Stimme des Biirgermeisters schwebt iiber der Dam- 

merung, hell und sieghaft wie blauleuchtender Ather iiber einer schwe- 

ren Fliissigkeit; oder wie der Glanz eines fernen Scheinwerfers iiber 

einem schlafenden Hafen. 

In das Dunkel des Korridors brennt die Zigarette des Poilus ein kleines 

rotes Loch wie in einen blauen Vorhang. 

Draufien rattert ein Auto mit Siegern. Das Maschinengewehr glotzt 

immer noch mit einem schwarzen Aug' auf hohem Postament iiber 

den Platz . . . 

Immer dachte ich, mein starkstes Kriegserlebnis ware meine erste 

schreckliche Stunde im Felde gewesen: in der ich ais »Einzelreisender« 

langsam dem Tode naher kam und die blutenden Verwundeten auf 

ihrem Gang aus den Schiitzengraben zur Sanitatsstation sah. Ihre 

Wunden tropften. Ich konnte dank ihrer blutigen Spuren auf dem 

trockenen Steinboden geradewegs zu meinem Schiitzengraben finden. 

Aber das war nicht mein starkstes Kriegserlebnis. 

Mein schmerzlichstes Kriegserlebnis war die Handbewegung des 

Duisburger Biirgermeisters in der Stadtverordnetenversammlung am 

8, Marz 192 1, in der Stunde zwischen funf und sechs Uhr abends. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 12. 3. 1921 



LITERARISCHER WEDDING 



Im Wedding hort die Grammatik auf und das Geld auch. Die Menschen 
fangen an, »Jroschen« zu sagen und den dritten mit dem vierten Fall zu 
verwechseln. (Im Westen tun sie*s auch, aber gebildeter.) 
Die Manner sind unrasiert, flattern mit grobkarierten Schals um den 
Hals und schwanken, mit edler Selbstlosigkeit, rein zum Vergniigen des 
Kurfiirstendamms auf geschliffenem Grat (wie auf einer Gilletteklinge) 
zwischen Abgrund und Abgrund; Balance haltend mittels »Elend« in 
der einen, »Laster« in der andern Hand. 

Die Frauen sind rein aus klimatischen Griinden Dirnen, stehlen »Jro- 
schen«, und wenn sie noch nicht fertig sind, tragen sie lacherlich diinne 
Zopfe und ziehen sich abstehende Ohren an und setzen sich vor eine 
Kulisse aus Pappe und baumeln mit den Beinen, mit der gleichen Selbst- 
losigkeit wie die Manner. Damit die Damen und Herren des Westens 
was vom Norden zu sehen kriegen. 

Die Kinder aber, die Kinder vom Wedding kann man leider nicht sehen. 
Denn erstens treffen selbst die Kinder angesehener Schauspieler den 
Dialekt nicht so gut wie ihre Eltern; zweitens spielen sie zwar im Film 
schon mit, aber Chansons konnen sie noch nicht singen; und drittens 
gibt es im Wedding wahrscheinUch gar keine Kinder, denn sie sterben, 
ehe sich die Literatur noch ihrer bemachtigen kann, an Rachitis. 

Dieser Ansichtskartenwedding ist das Zugkraftigste in dem Berlin der 

Gegenwart. Er gehort in die Kategorie der verlogenen DirnenHteratur 

und ist nur kindisch (ohne weder). 

Ich kenne namlich Wedding und die literarischen Grenzbezirke zufal- 

lig, weil ich einige kabarettlose Abende im Monat dazu benutze, mir 

jene anzusehen, von denen man singen hort. 

Die Weddinger Manner und Frauen wohnen eng, riechen schlecht und 

konnen sich nicht gut benehmen. Sie sind in einem gewissen Sinne 

wirklich »elend« und »lasterhaft«. Sie sind Dirnen und Verbrecher mit- 

unter. Und ihre Kinder werden abgetrieben oder sterben an Rachitis. 

Aber was sie sind und was sie tun, sind und tun sie nicht, um von 

Friedrich HoUaender (den Beruf mein* ich, nicht den Mann) kompo- 

niert zu werden. 

Auch nicht, um von Blandine Ebinger (und hatte sie noch soviel Talent! 



500 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

- sie hat namlich viel Talent) gespielt zu werden. Und ganz bestimmt 
nicht, um vom Kurfiirstendamm gesehen und gehort zu werden. 
Das ist der Unterschied. 

Es ist der Unterschied wie zwischen Leben und Kabarett. Jenes ist ernst 
und dieses heiter. 

Joachim Ringelnatz, der Matrose, der seine Gedichte im »Schall und 
Rauch« hersagte, war der Dichter des Weddings. Aus seinen Gedichten 
steigt der ehrUche Urgestank der Norden-Menschen. Die gewachsene 
Selbstverstandlichkeit ihres Dirnen- und Verbrechertums. Die Ab- 
sichtslosigkeit ihrer Existenz. Strafienpflasterduft ist in diesen Versen. 
Kiabund, der Peine (den ich schatze), sieht Dirnen wie ein Burger mit 
sozialem Gewissen. »Arme Geschopfe«. Mit »Elend« und »Laster«. 
Das sind die Ansichtskartendirnen. Das ist der Hterarische Wedding. 
Kiabund und seinesgleichen aber sind Poeten. Ich kann mich drauf 
verlassen, daf5 sie vorbeidichten konnen, aber nicht Kitsch dichten. 
Wehe aber, wenn Nicht-Poeten Dirnen vergewaltigen! Es ist namlich 
leicht, Weddinglieder zu machen. Es reimt sich alles absichtHch 
schlecht, und das Wichtigste holt man aus einem Jargonlexikon. Also 
dichten auch Musiker und Schauspieler und Maler. Hermann Vallen- 
tins, des sehr begabten Schauspielers, Weddingerchen sind in der Form 
tauschend dichterisch. Aber selbst wenn sie wirkliche Dichtungen wa- 
ren, hatte ich was gegen sie: Respektlosigkeit vor der inneren Wahrheit 
des Stoffes. 

Im iibrigen ist Herr Vallentin ein viel zu guter Schauspieler, um auch 
noch ein guter Dichter zu sein. 

Der echte Weddingdichter hat kein »soziales Mitgefuhl«. Er hat nam- 
lich keine Tendenz. Diese ganze gegenwartige Weddingliteratur aber 
hat Tendenz : Sie will dem Burger vom Kurfiirstendamm zeigen, was das 
heiEt: eingesperit sein, Dime, Verbrecher. 

Diese Weddingliteratur ist ein grofier, gesprochener, gesungener Lehr- 
film. (»Das Leben der Maikafer« - »Aus dem Leben der Wedding- 
tiere«) 

Ich habe noch nicht gesehen, da£ auch nur einer belehrt fortgegangen 
ware. Ich sah nach jedem Weddinglied noch eifrig rundherum und ent- 
deckte nicht eine einzige Biirgertrane, Ich sah nur lachende Gesichter 
und schone Zahne schoner Frauen. 



1921 5°^ 

Wenn aber diese Weddingliteratur schon verlogen ware, selbst wenn 
sie riihren wiirde - wie ist sie es erst, da sie - amiisiert! 

Das neue Programm des neuen Kabaretts »Grofienwahn« hat nun ein 
bifichen zuviel Wedding. Weniger kann man noch ertragen, wenn man 
bedenkt, daE sich die Leute schliefilich auch amiisieren wollen. 
Das aber ist zuviel! So viel, dafi sich selbst die Leute nicht mehr amii- 
sieren. 

Goethe hatte sich, wie ich ihn kenne, bedankt, wenn ihn Friedrich 
Hollaender (den Beruf mein' ich, nicht den Mann) gefragt hatte, ob er 
im »Gro8enwahn« mittun woUe. Karl Kraus wahrscheinhch auch. Bei 
Wildgans stock' ich schon. Walter Eidlitz ist jung und nicht sehr reich 
und bekommt hoffentlich Honorar. Aber Hermann Vallentin sagte 
mit Freuden zu. 

Vallentin ist ein sehr begabter Schauspieler, aber als Dichter mit 
Goethe nicht zu vergleichen. Die Vallentinschen Chansons hat Hol- 
laender iibrigens matt vertont. (Der Hollaender vertont zuviel. Schade 
um den jungen Mann!) 

Blandine Ebinger ist echt, sofern man echt bleiben kann im literari- 
schen Wedding. Sie hat mehr Wedding im Biut als ihr Dichter in den 
Versen. 

Kathe Kiihl ist menschlich sympathisch. Sie gibt sich sozusagen in Zi- 
vil. Ist das ein raffinierter schauspielerischer Trick? Man miiEte sie in 
einer grofieren Rolle sehen. 

Zwei Einakter: »Der Zauberstuhl« von Friedrich Karintly und »Der 
tote Gast« sind auch zuviel. Zwei Einakter an einem Kabarettabend 
sind wie eine simple Mahlzeit mit doppelter SiifSspeise. AulSerdem 
hatte der Autor des »Zauberstuhls« irgendwie sagen miissen, daft der 
Einfall (der Stuhl zwingt jeden, der sich setzt, die Wahrheit zu spre- 
chen) alt ist und dafi irgendwo in der Literatur schon ein Ring mit 
derlei Eigenschaften vorkommt. »Der tote Gast« - von wem ist der 
Einakter? Mir ist, als hatte ich diesen Titel liber einer franzosischen 
Novelle schon gelesen. Warum schweigt das Programm? Es Uegt ja gar 
kein Anlafi vor, den Grofivater dieses Einakters zu verschweigen? 
»GroEenwahn« ist der mutige Anfang der Frau Rosa Valetti, die iibri- 
gens auf dem tragischen Kothurn mitten durch ihren bunten Abend 
mit bewahrter grower Kunst schreitet. Der mutige Anfang. Gott er- 
halte das »Gr68enwahn«. Es moge immer besser werden! 



502 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wenn nur diese Weddingperiode der deutschen Literatur schon vorbei 
ware! Ich mochte alle Dirnen und Verbrecher der Welt zu Zeugen 
wider die Ansichtskartenfabrikation aufrufen. Ach! sie horen mich 
nicht. Sie kiimmern sich uberhaupt nicht um die deutsche Literatur! . . . 

Freie Deutsche Biihne, 13. 3. 1921 



RUNDGANG UM DIE SIEGESSAULE 



Der Himmel hat sich schon blau gemacht, als ginge er zum Photogra- 
pher!, und die Marzsonne ist menschenfreundUch und gefallig. Die Sie- 
gessaule steigt nackt und schlank zur Blaue empor, als nahme sie ein 
Sonnenbad. Nach dem Popularitatsgesetz im Leben aller hervorragen- 
den Personlichkeiten ist auch sie erst durch ihren Unfall zu jener 
Volkstlimlichkeit gelangt, die nur mifigliickte Attentate zu verursa- 
chen imstande sind. 

Viele Jahre war sie ziemlich einsam. Strafienphotographen mit langbei- 
nig stochernden Apparaten benlitzten sie als kostenlosen Hintergrund 
fiir die grundlos lachenden Gesichter der Photographierten. Sie war 
ein Nippesgegenstand der deutschen Geschichte, den Fremden ein An- 
sichtskartenobjekt, den Schulkindern Lehrspazier^angsziel. Der er- 
wachsene Einheimische bestieg sie nie. 

Jetzt aber, um die Mittagsstunde, stehen zwei-, dreihundert Berliner 
um die Siegessaule herum und atmen die Uberreste einer entzweige- 
schnittenen Sensation und politisieren. 

Ich weifS bestimmt, dafi jener Herr im Radmantel mit dem breitrandi- 
gen Hut, der aussieht wie ein aus den tiefsten Verborgenheiten des 
Tiergartens kommender Riesenpilz, ein stiller Gelehrter ist und sich 
zum Beispiel mit der Kristallisation der Quarze befafSt. Er geht seit 
ftinfundzwanzig Jahren taglich eine ganz bestimmte AUee ab, hin und 
zuriick, mit der Piinktlichkeit eines messingnen Uhrpendels, und dann 
nach Hause. Heute aber, seht! ging er nur einmal seine AUee entlang 
und begab sich zur Siegessaule. Und er hort mit grofiem Interesse zu, 
wie ein kleiner Mensch, der seinen Hut in der Hand halt und mit 
einem blaugeranderten Taschentuch seine schwitzende Glatze poliert, 
liber Pikrinsaure spricht. 



1921 5^3 

Ich weifi nicht, ob gerade Pikrinsaure etwas mit der Kristallisation der 
Quarze zu tun hat. Das Interesse jenes Quarzgelehrten fiir Pikrinsaure 
wuchert ins Grenzenlose. 

»Dynamit« - hore Ich - »ist ganz gefahrHch. Mit Dynamit sprengt man 
Tunnels. Die Pappkartonschachtel macht das Dynamit noch gefahrli- 
cher, wo weiPs namlich drin eingeschlossen ist.« 
»Dafi man diese Ziindschnur nicht sofort gerochen hat!« wundert sich 
eine Dame. »Ich Heche jeden kleinsten Brandgeruch im Hause.« Die 
Frau schnuppert, als wiirde sie heute noch den Brandgeruch der Ziind- 
schnur spiiren. AUe Frauen schnuppern mit und sagen ergeben: ja! 
»Wat is det eijenthch: Bigrin?« fragt mich ein riesenhafter Mensch. 
ijber seinem Anthtz lagert ein rosafarbener Schimmer, als sahe er ge- 
rade in einen Alpensonnenuntergang. Er ist so heiter bei diesem Bigrin 
wie bei der Rede liber ein Volksbelustigungsmittel. 
Ein Deutschnationaler meint, ein Kommunist miisse es getan haben. 
Ein plotzlich auftauchender Kommunist verdachtigt einen Deutschna- 
tionalen. Hierauf entspinnt sich eine Meinungsverschiedenheit, und 
der brenzhche Geruch einer parteipolitischen Lunte stinkt empor zum 
HimmeL 

Indes steigt die Siegessaule, sorglos und ahnungslos, schnurstracks 
hinauf und ist froh, daf^ sie endlich fiir alle Besucher gesperrt ist. 
Ich glaube bestimmt: Wenn man jetzt auf die Siegessaule gelangen 
konnte, horte man den Herrgott spotten iiber die torichte Bosheit der 
Erde, die von Parteien lebt und an Pikrinsaure zugrunde geht. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 15. 3. 1921 



ALFRED BEIERLE 



Ich horte Alfred Beierle zweimal lesen. An einem Abend las er Dosio 
Kofflers Zukunftsdrama und an einem anderen Leonid Andre jews 
»Geschichte von den sieben Gehenkten«. Ich fand erstens, dafi Beierle 
viel zu gut ist fiir Dosio Koffler, weil gerade gut fiir Leonid Andrejew. 
Dieses Zukunftsdrama von Koffler, das mit journaUstischem Leitarti- 
kelwortschwall Krieg, Revolution, Begeisterung von 19 14, typische 
Mittelmachteprobleme behandelt, in seinen Witzen sich niemals iiber 



504 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

den Durchschnitt einer Sonntagsbeilage erhebt, in seinem Inhalt sich 
an den Grofien, der diese Probleme behandelt hat (namlich Karl 
KraHs)y anlehnt, gab Beierle Gelegenheit, zwar Mimik und Physiogno- 
mik der Stimme so gut zur Geltung zu bringen, dafi man die jahr- 
marktbillige Tendenz vergessen konnte. Leonid Andrejew las Beierle 
nicht. Er erzdhlte die Novelle von den Sieben Gehenkten auswendig, 
»frei« (nicht nur dem technischen Sinne des Wortes nach, sondern 
auch frei), mit kiinstlerisch gebandigtem und wiederum scheinbar 
ziigellos durchgehendem Temperament. Die ganze Art Beierles vorzu- 
tragen, so, im einfachen Rock, mit gelegentlich schiefer Krawatte, per- 
sonlich, privat, die Distanz zwischen Podium und Zuhorer verwi- 
schend, beweist die Innigkeit seiner Kunst. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 16. 3. 1921 



HELLAS 



Aus dem neuen Griechenland horte ich jiingst klassische Dinge: Ein 
vertriebener Konig kehrte zuriick. Das Volk jubelte. Ein schandlicher 
Verrater - hie{5 er nicht Thersites?- ward in Acht getan und von den 
Edlen auf offenem Platze bespien. Die Besten scharten sich um den 
Konig. Ich glaube, Pallas Athene, ihm selbst nur sichtbar, schwebte 
dem Basileus zur Rechten. 

Wenn er in seine Burg kommt, nach alter Sitte gebadet und mit duften- 
den Toiletteartikeln aus dem unterjochten Perserland von seinen brau- 
nen Sklaven behandelt ist, legt er ein bliitenweifies, leichtes Hausge- 
wand an und macht bei den wiirdigen Penaten einen Antrittsbesuch. 
Wir freuen uns! sagen die Penaten. Dann schreitet der Basileus (ein 
Oxytonon - der Akutus liegt iiber der letzten Silbe) wiirdig wie ein 
Hexameter auf Versfiifien in sein Schlafgemach, in dem die Gemahlin 
seiner harrt und Hera iiber ehehche Pflichterfiillung wacht. 
Nachstens wird der gute Konig neuerlich gekront, und der unvermeid- 
liche blinde Sanger, von einem lockigen Knaben an der Hand gefiihrt, 
wird in den Kreis treten und die Saiten schlagen zu einem Epos, dafi 
man nach Jahrhunderten noch in der Tertia wird praparieren miissen. 
Das ist der Lebenszweck aller bHnden Sanger. 



I92I 505 

Taglich lese ich Nachrichten aus Athen. Wenn Dr. Johann Taubrich, 
mein alter Griechischlehrer, noch lebt, liest er sie auch. Und wenn er 
noch unterrichtet, lafit er seine Schiiler »Kalogeropulos« deklinieren. 
Kalogeropulos ist librigens ein trefflicher Name fiir einen Ministerpra- 
sidenten. So konnte sogar ein Ministerprasident aus der zweiten 
Olympiade heiEen; nicht nur einer von neunzehnhunderteinundzwan- 
zig. Kalogeropulos heifSt namlich: ein Mann, der einen Staat gut fiihrt. 
Und was »Venizelos« heifit, kann ich mir nicht erklaren. 
Ich glaube, auch der Doktor Taubrich lafit »Venizelos« nicht deklinie- 
ren. »Venizelos« ist politisch und linguistisch antihellenisch, und an 
der Phonetik dieses Namens, von dem ich nicht weifS, ob er ein Oxyto- 
non oder ein Paroxytonon oder gar ein Properismenon ist, scheitert 
eigentlich meine ganze Geschichte von der oben geschilderten Heim- 
kehr eines vertriebenen Konigs. 

Dieser Konig heifit namHch Konstantin und stammt aus dem Ge- 
schlechte Schleswig-Holstein-Sonderburg-Gliicksburg. Und wenn 
schon nichts anderes an diesem Namen, so sind die Bindestriche anti- 
hellenisch. Von Bindestrichen habe ich bei Dr. Johann Taubrich nichts 
gelernt. 

Ich zweifle nun auch daran, daf? der Konig Konstantin, obwohl er 
»Basileus« heif^t und ein Oxytonon ist, von einem Lieblingssklaven 
gebadet und gesalbt wird. Ich glaube, er hat einen Leibfriseur, und der 
ist sicher ein Deutscher. 

Das Parlament in Athen liegt in der Stadionstrafie und hat wahrschein- 
hch auch eine Nummer. Vielleicht: dodeka oder heptaginta. Und der 
Prasident Lombardos lautet mit einer Glocke. Nie hat man in der 
Agora mit einer Glocke gelautet. 

Ich bin iiberzeugt, da£ Kalogeropulos eine Zigarre gelegentlich raucht. 
Das griechische Volk plaziert sich auf einer Galerie und ruft: e^co!- 
das heiEt: hinaus!- wenn ein VenizeUst spricht. 

Kalogeropulos ist seinerzeit ubrigens nach London gefahren, ungefahr 
wie einer, der nur Simons heiEt - nicht auf einem Triremis, einem 
Dreiruderer - sondern auf einem Dampfer mit Five o'clock und Bord- 
kapelle. Oh, Doktor Johannes Taubrich! . . . 

Dafi unten auf der Landkarte, wo Europa aufhort und gelegentlich 
eine Halbinsel gen Afrika ausstreckt und kleine Inseln wie europaische 
Fragmente im agaischen Meerbusen schwimmen, noch Hellas besteht, 



506 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ist eine Sinnestauschung, deren Bestandigkeit hervorgerufen wurde 
durch Homer und Doktor Johannes Taubrich. Aorlste baumeln wie 
zwecklose Troddeln im humanistischen Bewufitseln. Immer noch 
walk um jeden modernen Drahtbericht aus Athen der klassische Vers- 
klang. 

Ich glaube, es ist eine VergeiJlichkeit der Weltgeschichte, dafi sie in 
Griechenland einen Republikaner Kriegshetzer und einen Konig Ret- 
ter werden lafit. Sie hat vergessen, dafi der Basileus aus einem Ge- 
schlecht mit Bindestrichen kommt. 

Die Klassik hangt im humanistischen Museum wie ein inhaltsloser 
Schlafrock. In Athen, nicht sehr weit von der StadionstrafSe, offeriert 
eine Litfafisaule Khedive-Zigaretten und Nackttanze. - O Hellas! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 17.3. 1921 



VORLESUNGSABEND ALS PROTEST 



»Ardalio«y ein Trauerspiel von Hermann Reich, vi^urde am fiinften der 
»Deutschen Kunstabende« in der Philharmonic von Ferdinand von Al- 
ien, Theodor Loos, Lina Lossen und Dagny Servaes zum ersten Mai 
gesprochen beziehungsweise vorgelesen. Die Arbeitsgemeinschaft 
»Deutsche Kunstabende« beabsichtigte mit dieser Vorlesung eine Art 
Protest gegen die Okkupation der Berliner und deutschen Biihnen 
durch auslandische Dramatiker und einheimische tote. Wilhelm 
Schutiler, ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft fiir vergleichende Li- 
teraturwissenschaft an der Universitat Berlin, bezeichnete in seiner 
»Einfiihrung« diese Vorlesung als einen Akt der Notwehr, »Die Berli- 
ner Biihnen*, sagte er, »geh6ren nicht uns und unsern jungen deut- 
schen Dichtern, sie gehoren vielmehr dem Englander Wilde, dem Iren 
Shaw, dem Schweden Stnndhtrg - gewifl (!) grofien Dramatikern; aber 
es ist kein besonderes Gliick fiir die deutsche dramatische Kunst, dafi 
diese drei Gewaltigen im Bunde mit Frank Wedekind, der ebenfalls (!) 
im geistigen Geprage der Zeit vorherrscht, aber (!) nicht mehr unter 
den Lebenden weilt, den lebenden und ringenden deutschen Dichtern 
Licht und Luft nehmen.« 
Zu den lebenden und ringenden deutschen Dramatikern, denen die 



I92I 507 

groCen Toten Licht und Luft nehmen, zahlt Wilhelm Schiitzler unter 
andern auch den Leipziger Germanisten Adolf Bartels. Stutzte ich be- 
deutend bei dem Wedekind, der zwar »ebenfalls im geistigen Geprage 
der Zeit vorherrscht, aber nicht mehr unter den Lebenden weilt«, so 
ward mir Beruhigung bei der Erwahnung des Adolf Bartels, der zwar 
noch unter den Lebenden weilt, aber, wie ich leider versichern kann, 
nicht »ebenfalls«, sondern vielmehr denn Wedekind im »geistigen Ge- 
prage« dieser Zeit vorherrscht. SoUte es wirklich an einem der nachsten 
Kunstabende zu der Vorlesung des Dramatikers Bartels kommen, so 
zoge ich es vor, ein Kapitel Rassentheorie des Literaturhistorikers Bar- 
tels zu horen. Denn dieser und nicht der Dramatiker herrscht im gei- 
stigen Geprage der Zeit vor und nimmt gelegentlich selbst lebenden 
und toten, deutschen und fremden Dichtern Licht und Luft. 

Ich zweifle nicht, dafi viele unaufgefiihrte deutsche Dramatiker leben. 
Dafi allerdings nur wenige unter ihnen ringen. Und daE, um festzustel- 
len, ob sie nur leben oder auch ringen, eine Auffiihrung erforderlich 
ist, 

Im allgemeinen aber werden die lebenden deutschen Dramatiker auf- 
gefiihrt. Neunzig von hundert Erstauffiihrungen deutscher lebender 
Dichter sind Enttauschungen. Und nur um zehn neue Namen rankt 
sich jahrlich so was wie eine leise Hoffnung, 

Wenn mir aber jemand vor die Namen Wilde, Shaw, Strindberg die 
Bezeichnungen Englander, Ire, Schwede setzt und erst hinter einem 
Gedankenstrich Hebenswiirdig genug wird, den drei »Auslandern«, 
»gewifi groEen Dramatikern«, von der Hohe vergleichender Literatur- 
wissenschaft herab auf die Schulter zu klopfen, so begreife ich den 
Zusammenhang mit dem Dramatiker Adolf Bartels voUkommen und 
bereite mich auf den nachsten Deutschen Kunstabend vor. 

Der erste deutsche Dramatiker Hermann Reich, dessen »Ardalio« am 
Sonnabend vorgelesen wurde, ist der Griinder und Leiter der Arbeits- 
gemeinschaft. Dafi er zuerst zu Worte kam, ist nur in der Ordnung. 
Ardalio ist der Mensch der galilaischen Weltrevolution. In Alexandria 
fiihrt er mit seiner Mimenbande den »Konig mit der Dornenkrone« 
auf. (Er ist so was wie ein reisender Theaterdirektor.) Der »Konig mit 
der Dornenkrone« wird in Alexandria unter seltsamen, fremden, dro- 
henden Zeichen zu Ende gespielt, Ardalio geht nach Athen, wo er 



508 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

seine Schwester Psyche zuriickgelassen hat. Psyche ist inzwischen 
Christin geworden und nach Rom gegangen. ArdaHo kommt mitten in 
den Entscheidungskampf der gaUlaischen Weltrevolution, taumelt 
noch eine Weile zwischen Dionysos und Christus und gelangt schlieK- 
Uch durch die Verschmelzung beider Gottheiten zu einer neuen Weit- 
rehgion, befreit und befreiend. 

Aus diesem Stoff hatte Goethe vermutlich einen zweiten Faust ge- 
macht. Hermann Reichs »ArdaUo« hat spannende Momente, Dialoge, 
Konflikte. Aber die Menschen, die Menschen sind historisch-erfroren, 
sind gewissermafien Inhaltsangaben ihrer selbst. Und die Sprache, 
funffiifiiger Jambus, schlottert lose und siiffig um sie und ihr Tun. Ver- 
diinnte Grillparzersprache etwa. LooSj von AlteUy Servaes und Lossen 
gaben sich viel Muhe und fanden viel Beifall. Uberfliissig, iiber die 
schauspielerische und Sprechbegabung dieser vier noch etwas zu sa- 
gen. 

Das Experiment, unaufgefuhrte Dramatiker vorzulesen, soil fortge- 
setzt werden. Lebende und ringende Dramatiker. Die ringenden insbe- 
sondere. Sie miissen nicht einmal lebend sein. 
Wenn sie nur ringen ! 

Berliner Borsen-Courier, 22. 3. 1921 



KONFERENZ-ATHLETIK 

Korpertraining am griinen Tisch 

Der Kongrefi, in die enge Kapsel eincr Konferenz gepreEt, ist die Form 
der modernen diplomatischen Verhandlung. Fiinf Jahre liefi die Welt 
sich Zeit zum Kriegfiihren. Wenn sie verhandeln soil, hat sie kaum drei 
Tage zur Verfiigung. 

Ehemals fiihrten die Leute Krieg mit Pausen. Die Kanonenrohre wa- 
ren nach einem Schufi so angestrengt, da£ sie einen halben Tag 
schwitzten und erst am nachsten Morgan wieder schieften konnten. Es 
war, wie man weii^, sehr gemiitlich: Selbst wenn man ein Bein verlor, 
rauchte man dennoch ein Pfeifchen weiter, und irgend jemand machte 
ein Gedicht daraus. So ein Krieg war gewissermaf^en ungefahrlich, und 



I^ll 509 

2S hatte den Anschein, als ob ihn die europaischen Machte nur zu dem 
Zweck gefiihrt hatten, um Veranlassung zu einem KongreE zu haben. 
Der Krieg war der Friedensverhandlungen wegen da, nicht umgekehrt. 
Fieute sehen die Friedensverhandlungen wie ein Krieg aus. 
Der Wiener Kongrefi zum Beispiel dauerte vom September 18 14 bis 
sum Juni 1815, und die Verhandlungen wurden mehr getanzt als ge- 
Fiihrt. Anfang Juli 18 15 war alles geordnet. Die Habsburger setzten 
iich auf italienische Fiirstenthronchen und ruhten sich vom Walzer 
ms. Hamburg, Bremen, Liibeck und Frankfurt am Main wurden Freie 
kadte (mit grofiem F), was sie eigentlich schon ohne Kongrefi (mit 
deinerem F) gewesen waren. Die Herzoge von Mecklenburg, Olden- 
burg und Weimar aber durften sich Grofi herzoge nennen. Der Zar zog 
;eine osterreichische Uniform aus, brach sein historisches Liebesver- 
laltnis ab und fuhr nach Petrograd, das damals noch Petersburg war, 
md feierte ein Wiedersehen mit der Nagaika, - So etwas nannte sich 
>Kongrefi«. 

3amals konnte ein Minister korperlich ein Schwachling sein. Er 
)rauchte nur so viel Krafte, um Menuett tanzen zu konnen. Heute 
nufi er gestahlt wie fiir ein Boxmatch sein. Es gibt keine Kongresse 
nehr, nur »Konferenzen<( . Und so eine Konferenz dauert kaum drei 
fage und hat kein Ergebnis. Man mufi sehr kraftig sein, wenn man ein 
ilinister sein will. In Versailles arbeiteten unsere Vertreter Tag und 
*^acht und waren eingesperrt. Da gab es nichts zu tanzen! In Spa hatte 
;erade noch ein Mann von der MeEterwoche Zeit, sie zu knipsen, und 
ver weifi, ob sie nicht auch in diesem Augenblick eine Rede konzipier- 
en. Sie verschwanden namlich blitzschnell von der Leinwand, weil sie 
owenig Zeit hatten. Man konnte sie kaum agnoszieren. 
'imons Reise nach London, sein Aufenthalt im Zug, seine Fahrt vom 
.ondoner Bahnhof ins Hotel, alle kleinen Alltagsverrichtungen sind 
igentlich wichtige politische Verarbeitungen. Man konnte sagen, jeder 
einer faktischen Schritte ware - ein politischer. Er fuhr, wie erinner- 
!ch, um 12 Uhr mittags von Berlin fort und kam am nachsten Tag um 
linf Uhr in London an. Im Zug - den er bereits durch die Berliner 
^erhandlungen iibermiidet betreten hatte - diktierte er, nachdem er 
aum eine Viertelstunde lang gegessen hatte, bis sieben Uhr abends fast 
nunterbrochen. Um sieben Uhr begannen die Konferenzen mit den 
legleitern, die his Mitternacht dauerten. Etwa vier Stunden ruhte Si- 
lons, und es ist auch nicht anzunehmen, dafi er die ganze Zeit schlief. 



510 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Von sechs Uhr friih bis drei Uhr nachmittags wurden die Konferenzen 
fortgesetzt, und dazwischen die Ergebnisse dikuert beziehungsweise 
der Presseabteilung mitgeteilt. 

Kaum war die Delegation in London eingetroffen, wurde ihr die An- 
kiindigung iiberreicht, dafi fiir den nachsten Tag um elf Uhr die Sit- 
zung anberaumt st\. Non fUnf bis sieben Uhr abends durften die Mit- 
glieder der Delegation ausruhen, um sieben Uhr begann in den Hotel- 
zimmern Simons' eine Konferenz, und da die Gegenvorschlage im Zu^ 
noch nicht voUig ausgearbeitet waren, die VoUendung dieser, die bi; 
spat in die Nacht hinein dauerte. Am nachsten Tag von elf Uhr vormit- 
tags his dreiviertel zwei Uhr nachmittags dauerte die Sitzung in Lon- 
don, und die Ergebnisse waren ja bekanntUch derart, dafi weitere Kon- 
ferenzen notwendig wurden. Der Minister fuhr im Auto sofort in: 
Hotel zuriick und arbeitete, ohne etwas gegessen zu haben, von zwe 
Uhr nachmittags bis zwei Uhr nachts, fast ohne die geringste Unter 
brechung. Von London hatten die Mitglieder der Delegation kaun 
zehn Strafien gesehen. 

Vor der Abreise blieben die Vorbereitungen fiir die erste Reichstagssit 
zung beziehungsweise noch Meldungen nach Berlin zu bearbeiten 
und auf der Riickreise, die von Mittwoch abend neun Uhr bis Don 
nerstag sechs Uhr, also fast vierundzwanzig Stunden dauerte, arbeiteti 
Simons an seiner Rede. Seit der Ankunft gab es Sitzungen im Reichska 
binett, im Ausschufi fUr auswdrtige Angelegenheiten, im Reichstag, in 
Reichswirtschaftsrat. 

Es handelt sich gar nicht um die PersonUchkeit Simons': Es konnt 
ebensogut ein anderer sein. Seine Tatigkeit mufi als Beweis dafiir gel 
ten, wie gewaltig sich die Zeiten auch hinsichtlich der diplomatischei 
Leistungsfahigkeit geandert haben. Simons hat einen'Konferenzrekon 
aufgestellt, den hoffentlich kein deutscher Minister mehr zu iiberbie 
ten brauchen wird. 

Es ist etwas Sachlich-Rohes, Nuchternes in jeder Art neuzeitlicher Ta 
tigkeit. Es ist schwer anzunehmen, daf^ ein Diplomat alter Schule, da 
heifit: hofischen Benehmens, auf Lloyd George einen besseren Ein 
druck gemacht hatte als der kiihlaufrichtige Dr. Simons, dessen Offen 
heit, wie von Teilnehmern der Konferenz versichert wird, in Londoi 
menschlich, sympathisch beriihrt hat. Der Diplomat friiherer Zeitei 
wurde zu einem Fest eingeladen. Er causierte gewissermafien Politil^ 
und das hiefi »arbeiten«. Arbeit im Frack und Verhandlung im Rhyth 



1921 5^^ 

mus des Salongesprachs. Die Konferenz hatte den gesellschaftlichen 
Rahmen einer Unterhaltung, der Ministersessel war friiher sozusagen 
ein Salonfauteuil. Er ist heute ein simpler Arbeitsstuhl. 
Gewifi weifi auch die Weltgeschichte sich langerer nachtlicher Ausein- 
andersetzungen zwischen Feldherren und Diplomaten zu erinnern. 
Aber das Entscheidende ist gerade, dafi sie in der Weltgeschichte be- 
sonders verzeichnet sind. Es wird der Weltgeschichte leider nicht im 
Traum einfallen, von Simons' ununterbrochener korperlicher Anstren- 
7ung zu sprechen. Die Weltgeschichte findet es selbstverstandHch, daft 
^in Minister der Nachkriegszeit Schwergewichtsathletenkrafte auf- 
Dringt. Ich denke mir eine Diplomatenschule der Zukunft: Da wird 
licht Franzosisch und staatHche Geographic gelehrt, die Klassenzim- 
ner sind weite Turnsale, und an festen Seiten hangen von der Decke 
lerab Ultimata wie Balle, Punching-Ultimata sozusagen. Davor stehen 
lie Schiiler in Sportdrefi und trainieren. Sie miissen es auf hundert 
kunden Schlaflosigkeit bei fortwahrendem Erteilen von Gegenvor- 
ichlagen bringen. Dann sind sie reif fiir die Auswartigen Amter. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 23. 3. 1921 



DAS »RAUBERNEST« IST EIN PATRIZIERHAUS 



i^endeine Korrespondenz hat, dem Gebot des inneren Gesetzes einer 
Tschrocklichen und moritatlichen Geschichte folgend, das Haus Neu- 
:olln, Am Wasser 21, in dem die schwarzmaskierten Kommunisten 
nit den alten Repetierpistolen ausgeforscht wurden, als richtiges 
■Raubernest«, »bolschewistische Rauberburg« und dergleichen ge- 
childert. In alien Blattern steht diese Phrase. Aber das Haus Neu- 
:olln, Am Wasser 21 gehort zu den seltenen, sehr seltenen alten Hau- 
ern in Berlin, die nur deshalb verdachtig werden, weil es Menschen 
;ibt, die alles Alte und Seltsame rauberlich und kriminaUstisch empfin- 
len, lediglich aus dem Grunde, weil ein paar unbrauchbare Repetierpi- 
tolen und wahrscheinlich ebensolche Kommunisten in diesem Hause 
orgefunden wurden. 

4eukblln, Am Wasser sieht aus wie irgendeine proletarische Stadtpar- 
ie des alten Venedig. Ein Flofi mit Apfeln hat am Ufer angelegt. Zehn 



512 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Schritt weiter prustet ein kleines Schiff Dampf aus einem Rauchfang 
so abgehackt und nervos, als hatte es einen Asthmaanfall bekommen 
Seltsame fremde Dinge sind auf diesem kleinen Dampfer zu sehen 
Taue und Netze und Rader und blinkendes und rostiges Gestange unc 
ein Bootsmann mit verwittertem Pergamentgesicht, der aussieht, zh 
schwamme er seit seiner Geburt nicht in der Spree, sondern minde- 
stens im Atlantischen Ozean herum. Landungsbriicken liegen wie aus- 
gestreckte Schiffszungen zwischen Bord und Ufer, und die Kinder dej 
Nachbarschaft feiern billige Feste. 

Alle Hauser sind grau und runzelig und stehen so unregelmaf^ig ne- 
beneinander, driicken sich aneinander, schiichtern und furchtsam voj 
der neuen Zeit. Ich glaube, friiher einmal, als noch nicht das Kreischei 
der Strafienbahn von der Wallstrafie heriiberdrang, waren diese Hause 
noch stolz und edel wie Palaste. 

Die angebhche »Rauberburg«, Am Wasser 21, tragt vorne ein famoses 
hochst vornehmes Stiegengelander und wagt sich um einen haibei 
Schritt weiter auf das Trottoir vor alien andern Hausern. Die Stufei 
sind zerbeult und allerdings ausgehohlt von dem wuchtigen Auftretei 
der Jahrzehnte oder Jahrhunderte vielleicht. Das Gelander ist auch eii 
bifichen rostig, aber ich weifi, dafi es einmal sehr neu war. Wenn eii 
Haus dieser Art im Film aufgenommen wird, so ist es ein altes Berline 
Patrizierhaus. Niemals eine Rauberburg. 

Die Treppen im Innern des Hauses sind steil und leicht gebaut, si< 
knarren ein bifichen, wie es sich fiir alte Treppen gehort. Und oben, in 
hochsten Stockwerk, wohnt ein Schneider, ein redlicher, hinter zwie 
fach geschlossenen Tiiren. Auch sonst wohnen in diesem Hause laute 
ehrsame Handwerker. Handwerkszeug und allerlei niitzliches Gera 
hangt in den Fensternischen der Wohnungen, die auf den alten Ho 
hinaussehen. 

Im Hof schweben zwei Bogenbriicken zwischen dem einen und den 
anderen Trakte des Hauses, beide Teile verbindend und sozusagen be 
giitigend. Blonde Kinder mit Schulmappen hiipfen harmlos und un 
maskiert iiber diese Briickengange. Und der Hausverwalter steht mit 
ten im Hof, er ist ein strammer Mensch im Arbeitsrock und rauch 
eine Pfeife. 

Vor zweihundert Jahren kann es gar nicht anders ausgesehen haben! 
Aus einem Keller dringt, von der warmen Sonne herausgelockt, ei] 
scharfer Heringsgeruch . Diese Heringe aber haben nichts Verdachti 



I92I 513 

ges, nichts Staatsgefahrliches an sich. Sie gehoren einem Kaufmann. 
Es sind vollkommen unpolitische Heringe, und sie schiefSen nicht 
aus Repetierpistolen. 

Es ist ein wunderbares, altes Haus. Der Schimmer einer seltsamen 
Zeit ruht dariiber, und die schwarzen Masken passen so gut dazu. 
Wenn die Polizei es nicht so genau wiifite, ich wiirde sagen, daf^ 
diese Masken seit Jahrhunderten in dem Hause versteckt lagen. 
Vorgestern war ich in jenem Hause. Ich werde immer wieder nach 
Neukolln, Am Wasser hingehen, nicht aus dem Verlangen nach 
Verbrechern, sondern aus Sehnsucht nach Venedig. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 24. 3. 1921 



DAS VERLORENE INDIEN 



Indien war das Land, das ich mit der Seele suchte. Meinen Glau- 
ben an Indien verlor ich anial^hch einer Betrachtung der Frau Hi- 
rabai-Pilu-Kumi im Klindworth-Scharwenka-Saal. 
Indien, dachte ich, ware das grofie Reservoir menschHcher ReUgio- 
sitat und AntiziviHsation. Dort lief^en sich die Leute lebendig be- 
graben, und wenn sie auferstanden, so ruhten sie doch weiter in ir- 
gendeiner grofien Gotthchkeit. Seife, Zahnpulver und Nackttanze, 
politische Parteien und Literatencafes waren in Indien ganz unmog- 
lich. 

Mittwoch, den 23.Marz, kam nun Frau Hirahai-Pilu-Kumi an das 
Vorlesepult des KHndworth-Scharwenka-Saals, Sie trug ein weiftes 
Brautkleid, war europaisch frisiert und machte iiberhaupt einen we- 
nig indischen Eindruck. Sie hatte einen weifien Schleier um die 
Halfte des Kopfes geschlungen, aber es war gewifi ein simpler mit- 
teleuropaischer Schleier aus irgendeinem Warenhaus. 
Frau Hirabai-Pilu-Kumi erzahlte von Mesmerismus, Magnetismus 
und Astralkorpern falschverstandener Broschiirenweisheit. Aber das 
hatte nichts gemacht. Deutsche Broschiiren iiber mysteriose Ange- 
legenheiten braucht nicht einmal cine Inderin zu verstehen. 
Meinen Glauben an Indien verlor ich erst, als Frau Hirabai-Pilu- 
Kumi die Anwesenden »verehrte« nannte und zu einer Adressenan- 



514 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

gabe aufforderte. Sie woUe, sagte sie, einen »2irkel« griinden und die 

Heilerfolge des Magnetismus beweisen. 

Um die Heilerfolge des Magnetismus zu beweisen (im »Zirkel«) ge- 

niigt es, Frau Meyer zu heifJen und aus Treptow zu stammen. Oh, 

Indien! . . . 

Man kann, sag' ich, Hirabai-Pilu-Kumi heifien, und es ist genauso, wie 

wenn man Meyer hiefie. Und Treptow liegt in Indien. 

Und die Welt ist nicht nur iiberall rund, sondern auch iiberall gleich. 

In Indien sind die Menschen genauso wie in Berlin. Das ist auch eine 

Art Seelenwanderung. 

Ich hatte den ganzen Vortragsabend begraben konnen in der Stille mei- 

ner Seele, in der noch andere nicht zu beschreibende Erfahrungen und 

Erlebnisse lagern. Aber es tut mir leid um jene Gefahrten, die Indien 

mit der Seele suchen und Mitteleuropa verdammen, und sie will ich vor 

einer Enttauschung bewahren. Man kann sich iiberhaupt nicht auf die 

Geographic verlassen. 

Berliner Borsen-Courier, 25.3. 1921 



REHABILITIERUNG DES DEUTSCHEN 

FRUHLINGS 



Am Potsdamer Platz sah ich in den ersten Marztagen ein paar Frauen, 
Blumenverkauferinnen mit Schneeglockchen. Die Frauen hatten dicke 
Leiber und Unterrocke angezogen, denn es war kiihl, und starke 
Frauen konnen viel weniger frische Luft vertragen denn zarte Schnee- 
glockchen. Das ist eigentlich sehr merkwiirdig. 

Ich war sehr erfreut, als ich die Schneeglockchen sah, und hatte mir 
sicherlich zwei oder drei Strauf^e gekauft. Aber die Blumenverkauferin 
rief: »Erste Friihlingsboten um eine Mark!« Sie sagte diesen Satz so 
niichtern, als bote sie Schmirgelpapier an. Sie wuf5te offenbar nicht, 
was Schneeglockchen sind. Sie verkaufte »Fruhlingsboten«. Sie ver- 
kaufte eine sentimentale Phrase. Und diese Geschaftstiichtigkeit einer 
Kleinhandlerin in Lyrik machte, dafi ich nicht Schneeglockchen sah, 
sondern Schmirgelpapier. 
Ich Hebe die ersten Friihlingsboten, die Schneeglockchen. (Sie sind wie 



I92I 515 

ein liegengebliebener Windhauch, der Korper geworden ist, armer 
denn Primeln - denn ihre Farbe ist nur eine arme Ahnung von Weii?, 
das Kindheitsalter der weifien Farbe liberhaupt.) Ich glaube sogar be- 
stimmt, dafi sie wirklich die allerersten Friihlingsboten sind. Aber sie 
sind nicht die »garantiert« ersten und konnen also nicht um eine Mark 
angeboten werden. Friihlingsboten diirfen eben nicht so mir nichts, dir 
nichts in den StraEenhandel gelangen. 

Ich mufite iiber die Blumenverkauferin nachdenken und fand, dafi sie 
diese »Fruhlingsboten« ganz bestimmt von irgendeinem deutschen 
Dichter herhatte. Und ich beklage das Los der deutschen Dichter tief 
inniglich : Ihrer Werke bemachtigen sich Handel und Industrie, und 
ihr Gesang wird zur patentierten Schuhmarke. Und ebenso wie den 
deutschen Dichtern ergeht es auch dem Friihling. 
Ich glaube: Das sentimentale »Kunstgewerbe« ist eine deutsche Ange- 
legenheit. Das Volk der Dichter konnte die »Kunst« nicht lassen, 
nachdem es zum Volk des »Gewerbefleifies« geworden war, Der 
Deutsche empfand die bittere Notwendigkeit, auch noch um den 
niichternsten Kochapparat einen lieblichen Vers zu Schmieden. Daher 
kannst du auf Porzellangeschirren das arithmetische Treuegelobnis le- 
sen: »Ich bleib' dir 3, 4 und 4«; auf Bierglaserunterlagen aus Pappkar- 
ton: »Ein guter Trunk macht Alte jung«; auf Handtiichern, die - soUte 
man glauben - zum Trocknen auf dem Regal iiber einer Waschschiissel 
hangen, flatten leichtsinnig ein Wiedehopf innerhalb eines Vei^ifi- 
meinnichtkranzes, in den die Hausfrau zwei der bravsten Jahre ihres 
Lebens hineingewoben, und piepst »Guten Morgen!« ohne Riicksicht 
auf Tageszeit und Stundenschlag. 

Mit Grausen denke ich an grol^e Warenhauser: Da fiihrt eine Stiege, in 
Purpur gehiillt, marmorn und goldverziert, breit empor. Du steigst mit 
frommem Schauder hinan, iibst dich innerUch in Hofknicks und De- 
mut, denn gewil^lich fiihrt diese Stiege zu Gottes oder eines seiner 
Stellvertreter Thron. Aber siehe da: Bereits auf dem letzten Treppen- 
absatz fangt der Handel mit Schniirsenkeln an, 

Diese Verquickung von Majestat und Schniirsenkeln, diese Pathetik im 
Liftboy, diese Lyrik im Bierglasergeschirr, dieser Handel mit Friihling 
und Sehnsucht haben den Glauben der Geschmacksnerven an die 
Echtheit menschlichen Naturgefiihis so tief verletzt, dafi er zu Skepsis 
und Ironie wurde. 
Wenn eine Blumenverkauferin Friihlingsboten um eine Mark feilbie- 



5l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tet, SO sehe ich - Gott helfe mir, ich kann nicht anders - Schmirgel- 

papier. Nichts als Schmirgelpapier. 

Gewaltig iiberwuchert die Phrase Wirklichkeit und Gefiihl. Fiir die 

reiigiosen Bediirfnisse der Seele ist iiberraschend gesorgt. Stimmun- 

gen warden franko ins Haus geliefert und gegen Nachzahlung. 

»Sinnig« bliihen Handel, Gewerbe und Industrie. Fiir jede An- 

dachtsregung ist das Klischee bereit. Schneeglockchen sind »Fruh- 

lingsboten«. Basta! 

Und umgekehrt: Jede Patenthosenkapsel enthalt Lyrik. Bist du Bier- 

brauer?- Hopfen und Malz, Gott erhalt's, Sind's die Augen, geh 

zum Optiker. Erzeugst du Kriige: Ein guter Trunk aus gutem Krug, 

trink und du hast nie genug. 

Wahrscheinhch hat jede Fabrik neben ihrem Direktor, ihrem Arzt, 

ihrem Rechtsanwalt auch ihren Lyriker. Und der Hebe Gott, auch so 

eine Art Fabrikant, hat gewifi mehrere. Gott produziert namlich 

»Fruhlingsboten« . 

Aber ich mochte versuchen, den deutschen Friihhng zu rehabihtie- 

ren. Den »Fruhiing« von seinen Anfuhrungszeichen zu befreien, 

Und nachzuweisen, daf^ die Schneeglockchen wirklich die ersten 

Friihlingsboten sind. 

Vor einigen Tagen sah ich nach langer 2eit eine LandstraEe wieder. 

Sie stieg sachte hinan, als getraue sie sich nicht recht, und es sah aus, 

als wurde sie nach vielen tausend Jahren erst so hoch werden, daf^ 

man, auf ihr fortschreitend, mit ausgestreckter Hand den Hemdzip- 

fel einer Wolke wiirde erwischen konnen. Die Meilensteine standen 

weifi und nackt und ein bifichen furchtsam hart iiber den Strafien- 

graben und hatten Nummern wie Straflinge. 

Manchmal auch wartete ein kleines Haus am StraEenrand, als hatte 

es sich weit fort von seiner Stadtfamilie verirrt, Und rechts dam- 

merte ein Wald heriiber, und wenn ich nicht irre, pfiff sogar eine 

Amsel. 

Alie Straucher und die Weidenruten und da und dort ein Kastanien- 

baum hinter einem Gartenzaun hatten zweifellos griine Knospen. Im 

Wald ruhte gedampftes Sonnenlicht auf den Stammen, aber es sah 

aus, als waren die Baume von innen erleuchtet und als triige jeder 

Baumstamm in seinem Innern eine eigene kleine Sonne. 

Die Erde atmete eine linde Warme aus, und ich fand auf ihr ein 

paar, wahrscheinhch die ietzten Schneeglockchen. Sie wuchsen um- 



I92I 517 

sonst, und ich glaube: Schneeglockchen sind wirklich die ersten Friih- 

lingsboten. 

Und der Frlihiing ist nicht nur da, wenn in den Schaufenstern der Mo- 

dehauser Fruhjahrsdamenhiite auf Holzstengeln erbliihen und vor 

dem Literatencafe die Veranda sich auftut: Sondern es gibt noch einen 

anstandigen Friihling, eines Eichendorff und eines Uhland wiirdig. 

Und die Lyrik gehort nicht in die Zigarettenfabrik. 

Berliner Borsen-Courier, 27.3. 1921 



FINE STUNDE MILLIONAR 

BesHch in der Valutahalle 

Im Vestibiil des grofSen Hotels, in dem Menschen aus Valutalandern 
wohnen, halte ich mich gerne eine Stunde oder langer auf. Die braun- 
getafelte Decke besteht aus lauter wunderschonen Quadraten, und in 
der Mitte jedes Quadrats wachst eine elektrische Lampe. Die Lampen 
sehen aus wie glaserne Bliiten und werden von goldenen Slattern be- 
schattet. 

Die Decke ist niedrig, aber weit, und die Mobel auch. Es geht alles 
irgendwie ins Breite hier und Schlaraffenlandische. Die Zutraulichkeit 
der niedrigen Decke sagt: Steh nicht auf! Die breiten Polsterstiihle sa- 
gen: Streck deine Beine aus! 

Ich strecke ein Bein aus und blicke mit sehr vie! Vergniigen auf die 
Biigelfalte meiner Hose, der man's nicht ansieht, daf^ sie meine einzige 
ist. Des weiteren freut es mich, da£ meine Schuhkappen glanzen, weil 
sie soeben der Stiefelputzer Unter den Linden mit einem weichen Fla- 
nelltuch blank frottiert hat. 

Wenn ich so eine Viertelstunde lang mich hineingesessen habe in tJp- 
pigkeit und Wohlergehen, bin ich zu der Uberzeugung gelangt, dafS ich 
ein Mensch aus einem Valutaland bin und in diesem Hotel wohne. 
Der Liftboy, der einen Brief durchs Vestibiil tragt, weicht im Devo- 
tionsbogen meinen frottierten Schuhkappen aus. Der Liftboy hat keine 
Ahnung, daE ich hier nicht wohne. Wenn ich ihn rufe, bleibt er auf^er- 
halb des Valutabannkreises, in dessen Mittelpunkt ich sitze, stehen und 
Lieht mit einer wohldressierten eckigen Armbewegung seine braune 



5l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Kappe. Seine Augen sind grofi und blau und bewundernd auf mein 
Gesicht gerichtet. Er hat ganze Magazine von Respekt in seinen Au- 
gen. Sein Gesicht ist jungenhaft-apfelwangig, er riecht angenehm nach 
Milch wie ein sauberer SaugHng. Er lernt schon seit zwei Jahren Ach- 
tung vor valutarischem Alter. 

Die weifie Serviette des Kellners fangt bereits zehn Schritte vor mir 
ehrfurchtsvoil zu wedeln an, Der Herr Direktor, der wiirdig wie ein 
Grofiwesir iiber die gedampften Ornamente des Smyrnateppichs 
schreitet, neigt gemessen sein Haupt, wenn ich ihn ansehe. 
Mit der Zeit gewinne ich Interesse fiir meine Kollegen-Millionare. Sie 
sind sehr schon gekieidet. Die Manner riechen irgendwie nach neuen 
Lederkoffern und englischer Rasierseife und Eisenbahnkohle. Die 
Frauen tragen leise Ahnungen von russischem Parfiim durch den 
Raum, Es ist ein herb-siifilicher Duft, er streichelt liebevoll meine Na- 
senspitze, verschwindet und kehrt wieder. 

Die Millionare konnen sich ausgezeichnet in Positur setzen. Die jun- 
gen tragen zartgelbe Friihlingsmantel mit Glirteln und diskreten mat- 
ten Schnallen. Die Hiite sind meist hellgrau und in der Mitte leise, ganz 
leise, wie zufalhg eingedriickt. Die Handschuhe sind weiE. Die Halb- 
stiefel sind braun oder braungelb, und wenn sich die jungen MiHionare 
setzen, ziehen sie ein klein wenig die Hose hoch, so daE man die halb- 
seidenen Striimpfe sehen kann. 

Die alten Millionare aber haben den Friihling noch nicht zur Kenntnis 
genommen. Denn nicht das Steigen der Quecksilbersaule, sondern das 
der Aktien ist mafigebend. Die alten Millionare tragen immer noch 
Winterpaletots und gefiitterte Handschuhe, und sie halten ihre frisch 
gekopfte Zigarre so lange erwartungsvoU im Mund, bis ein Kellner mit 
gespreizten Frackschofien herbeiflattert, unterwegs schon ein Streich- 
holz brennbereit an die Reibflache der Schachtel driickend. 
Ich lerne hier Menschen kennen: ein Mann mit Backenbart, er sieht aus 
wie ein Hamburger Senator (auch spricht er ein stumpfes st). Hat eine 
dauerhafte Konferenz mit einem Giirteljiingling. Die Rede drehte sich 
um Petroleum. Der Jiingling ist offenbar aus Polen. Er hat ein Papier 
bereit in der Brusttasche. Auf die klopft er jedesmal bedeutungsvolL 
Dann verstummt der Ahe mit dem Backenbart plotzhch und sieht den 
Jungen grol^ an. 

Hinter einer Saule, im Korbstuhl, lehnt ein Mulatte. Er raucht eine 
dicke turkische Zigarette und verhandelt mit einem Schieber in mittle- 



I92I 519 

ren Jahren, der gerne wie ein Filmschauspieler aussehen mochte. Der 
Schieber tragt kanariengelbe Handschuhe. Die Handschuhe zwit- 
schern geradezu. Den rechten Handschuh hat der Schieber an, der 
linke Uegt lassig und inhaltslos auf der marmornen Tischplatte. Plotz- 
lich gibt sich der Schieber einen Ruck, steht auf und winkt dem Mulat- 
ten freundschaftUch zum Abschied mit dem Hnken Handschuh, als 
stande er vor der Abfahrt des Zuges auf dem Perron. Ich glaube, er hat 
den Mulatten hereingelegt. Man hiite sich vor Menschen mit kanarien- 
gelben Handschuhen. 

In der Hotelhalle werden Kokain, Zucker, poUtische Systeme, Um- 
stiirze und Frauen angeboten. Ein russischer Fiirst sinnt auf die Erobe- 
rung Kronstadts. Ein Teppichhandler verhandelt iiber Lieferungen mit 
einem eben erst »gemachten« Herrn iiber eine Einrichtung. Ein 
Rechtsanwalt nimmt von einer russischen FamiUe ein halbes Dutzend 
Passe entgegen. »Wer'n schon machen«, zwinkern seine Augen. Er 
driickt den Kneifer fester auf die Nase und klappt mit jahem Entschluf^ 
seine Mappe zu. Er verneigt sich dreimal, riickwartsschreitend vor 
dem russischen Hausvater, der onkelhaft abwinkt. 
Um fiinf Uhr spielt die Kapelle im Speisesaal »Peer Gynt«. Die MiUio- 
nare wenden sich von den Geschaften ab und den Frauen zu. Die Mil- 
lionarinnen trinken Mokka und schliirfen Eis und essen Kuchen mit 
den Fingerspitzen und halten bei jeder Gelegenheit den kleinen Finger 
der rechten Hand ausgestreckt, so als ware er besonders geweiht und 
diirfte mit keiner Tasse in Beriihrung gebracht werden. 
Wenn ich das Hotel verlasse, steht der Portier gruEbereit vor der 
Drehtiir, willenlos wie ein Besteck. Denn er hat das Monogramm sei- 
nes Inhabers auf Brust und Kopf eingraviert. Ein Chauffeur fragt, ob 
ich einzusteigen geruhe. 
Ich geruhe nicht. Ich bin nicht mehr Millionar. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, i. 4. 1921 



IM HAUS NR. 21 

Ein BesHch beim Maler Wolff 

Heinz Wolff, der Kunstmaler, in dessen Wohnung die Siegessaulenat- 
tentater festgenommen wurden, ist, weil seine Unschuld klar erwiesen, 
aus der Haft entlassen. Er wohnt, wie friiher, in dem wunderbaren 
alten Hause in NeukoUn, Am Wasser, das ein Patrizierhaus ist und 
keine »Rauberhohie« und auch keine »Kommunistenburg«, wie es die 
Filmpsychose irgendeiner Zeitungskorrespondenz genannt hatte. Ich 
bekam eine Einladung vom Ehepaar Wolff und plotzlich Sehnsucht 
nach dem uralten Haus an der Spree und nach dieser ganzen Briigge- 
Gegend Berlins, in der die Wunderglocken der Parochialkirche jede 
Stunde spielen. Ein alter Professor, ein Sonderling wohl und ein Gott- 
zugewandter, lafit diese Glocken spielen, alle Tage ein wenig und jeden 
Sonntag eine Stunde lang. Sonderbar, dafi in ein und derselben Gegend 
(dem Himmel zu Ehren und den wenigen Menschen der Grofistadt, 
die lauschen konnen, zuliebe) ein alter Mann alten Kupferglocken Me- 
lodien entlockt und dennoch einige Leute Attentate planen. Wie kann 
man nur an Attentate denken, wenn die Parochialkirchenglocken spie- 
len? 

Ich machte dem Ehepaar Wolff einen Besuch, safi bei ihnen einen 
Nachmittag lang, afi Kuchen und trank Kaffee und besah mir die Bil- 
der des Malers. Ich verstehe nicht viel mehr von der Malerei wie jeder 
andere, der primitiv schauen kann, ich wei£ auch nicht den klinstleri- 
schen Wert der Wolffschen Bilder anzugeben, aber ich weifi, dafj die- 
ser junge Maler ein ernster Kiinstler ist und ein Ringender. Ich erfafite 
in seinen Bildern die reine MenschUchkeit, die nach reinem Ausdruck 
sucht, und sah in der Folge die lacherhche RoUe, die der Zufall im 
Leben spielt: Diesem Heinz Wolff hat man ein Monatseinkommen 
von zehntausend Mark ZHgemutet fiir das Vermieten seiner Wohnung 
an kommunistische Aktionszirkel. Dieser Heinz Wolff, sah ich, ist 
nicht imstande, auch nur das geringste Zugestandnis an den Ge- 
schmack des Bilder kaufenden Publikums zu machen. Und infolgedes- 
sen verkauft er auch sehr wenig Bilder. 

Vielleicht ist dieser junge Mensch ein Kommunist oder ein Deutschna- 
tionaler oder ein Demokrat. Wir sprachen nicht davon. Wir sprachen 
iiber die Malerei und die Welt und das alte Haus und tranken Kaffee. 



I92I ^11 

Ich sah die Offnung fiir Briefe an der Tiir, durch die dem kinohaften 
Bericht zufolge die Finger jedes Besuchers schliipfen mul^ten, ein »ge- 
heimes Zeichen«, damit aufgemacht wiirde. Und dann auch den »ge- 
heimen Ausgang«. Er fiihrt - zur »Toilette«, in der das Zeugnis Heinz 
Wolffs von der Kunstakademie hangt. Ich las dieses Zeugnis, in dem 
nicht etwa von der kiinsderischen Eigenart des Kunstakademikers ge- 
sprochen wird, sondern von seinem »sittlichen Lebenswandel«. Und 
ich schlofS aus dem Inhah dieses Zeugnisses einer modernen Kunstaka- 
demie, dafi der Ort, in dem es hing, der einzig angemessene sei. 
Das Ehepaar Wolff hat die Diirftigkeit seines irdischen Lebens sehr 
nebensachlich behandelt. Im Gegenteil: Es gibt in dieser Wohnung so- 
gar ein kleines japanisches Zimmer mit Papierlampions und Glasper- 
lenvorhangen an der Tiir, und es ist reizend, wie reich und kostbar ein 
Zuwenig werden kann. An den Wanden hangen Zeichnungen und Bil- 
der, Skizzen voll stiller, melodischer Tragik, lyrische Erlebnisse, Be- 
crachtungen eines Sehenden. 

Innerhalb weniger Stunden hatte die filmsiichtige Phantasie aus dieser 
[yrischen Behausung ein »Raubernest« gemacht. Der vertrauensseHge 
Maler, der einigen Bekannten gern seine Wohnung iiberlafit, gerat auf 
acht Tage ins Gefangnis. Man braucht nicht Wolffs Bilder zu sehen, 
Lim zu wissen, dafi er ein Maler ist. 

Der kindische Fanatismus der Attentater hat die grof^e Geschmacklo- 
sigkeit verursacht und den widersinnigen Zusammenhang hergestellt 
iwischen dieser Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung, diesem 
Vlalerehepaar und der morderischen Pikrinsaure. Die Pohzei konfis- 
iierte den ganzen Briefwechsel zwischen dem Maler und seiner Gattin. 
Die Briefe kriegt Wolff wohl nie mehr wieder. Nun Hegt ein besonde- 
•er Reiz darin zu sehen, wie unlogisch Ereignisse sind und wie ge- 
;chmacklos bedenkhche Veroffentlichungen. 

!ndes wir sprachen, schwamm der Abend bereits in der Spree, das 
Wzsstr farbte sich golden und dunkel zugleich, die Balken und das 
aestange der kleinen Schiffe und Boote bekamen schwankende und 
:arte Umrisse, und die Glocken der Parochialkirche spielten, Ich ging 
lie steinernen Stufen hinunter und fiihlte nichts von AktuaHtat und 
viord, sondern die Romantik der Jahrhunderte. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 6. 4. 1921 



DER FALSCHE DIONYSOS 



Dionysos war bekanntlich der Gott des Weines und der Nacktkultur. 
Er lebte in den Waldern mit Nymphenballetten und Faunklubs, aber 
auch in Weingarten, ein Freund der Winzer und insbesondere der 
Winzerinnen. Dionysos war einer der lustigsten Gotter, die ich kenne: 
Er hatte ein rundes Bauchlein vorgeschnallt, wie eine Kabeltrommel, 
und trug im braungelockten Haar einen ulkigen Kranz. So safi er ritt- 
lings auf einem Fafi, und sein rundes Gesicht war ein inkarniertes 
Wohlgefallen am Leben. Er war ein Gott, der auf Autoritat keinen 
Anspruch machte und auf den Respekt der Sterblichen pfiff. Er kannte 
die Distanz nicht, die Zeus zum Beispiel immer zu behalten bemiiht 
war, die Distanz zu Dingen, Menschen und Halbgottern. Zeus don- 
nerte, Dionysos trank. Jeder andere Gott hatte irgendeine Tugend: 
Apollo war im hochsten Grade musikalisch, Athene war ein strategi- 
sches Genie, Hephaistos ein famoser Kunstschlosser, und selbst Her- 
mes, der das geringste Ansehen genofi und das biirgerliche Strafgesetz- 
buch. miKachtete, hatte wenigstens die Tugend der befliigelten Leicht- 
fiifiigkeit. Einzig und allein Dionysos hatte keine Tugenden, nicht ein- 
mal ein klares Bewufitsein. Er torkelte durch die Unsterbiichkeit, un- 
verantwortlich und in unordentHchen Kleidern, und war auch sonsi 
unanstandig. Ich erinnere nur an die Dionysosfeste, die anderwart; 
Bacchanale hiefien, aber ganz genau dieselbe Polizeiwidrigkeit waren. 
Dieser Dionysos, beziehungsweise der romische Bacchus, verkorpertc 
die antiken Vorstellungen von Lebenslust und ewigem Rausch. Di< 
Menschen lebten aus dem voUen und unbewufit. Wenn es donnerte 
zitterten sie vor Zeus, und tranken sie, sagten sie zum Dionysos: du 
Sie kannten keine Blitzableiter und brauchten nicht erst konventionell* 
»Bruderschaft« zu trinken. 

Ihre Freude am Korperlichen war harmlos und reine Lyrik, ohne Ten 
denz und ohne Kausalnexus mit Bewufttseinsvorgangen. Die Freudi 
war neben Atmen, Essen, Liebe, einfache Lebensaufierung. Sie wa 
kein »Amusement« (Amiisieren ist die KommerziaUsierung der Le 
benslust, der Kettenhandel mit Freude). Dionysos aber war nicht Di 
rektor eines Wald- und Wiesenvarietes. 

Vor einigen Tagen las ich den Satz eines bekannten deutschen Schrift 
stellers, dessen Namen ich in diesem Zusammenhang nicht gerne nen 



I92I 523 

nen mochte. Der Satz wurde vor dem Kriege geschrieben und lautet 
ungefahr: Wir erleben Jetzt, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, 
eine zweite beziehungsweise dritte Renaissance. 

Der Schriftsteller hat sich hoffentlich iiberzeugt, dafi nur eine Art 
Pseudorenaissance angebrochen wan Eine Zivilisationsrenaissance, das 
heifit eine kommerzialisierte, Auf dem Lebensgefiihl allein basierten 
kapitalkraftige Unternehmungen, sogenannte Vergniigungsstatten. Ein 
permanenter Freudendienst wurde »eingerichtet«. Er hielt sich in ge- 
wissen Grenzen. Er war verlogen wie jede dieser ZiviUsationserschei- 
nungen. Aber er war geregelt, Er wurde zuerst zuchtlos nach dem 
Kriege. Aber er blieb verlogen. Und er berief sich auf - die Renais- 
sance, urn sein Recht auf Zuchtlosigkeit zu begriinden. 
Ich las jiingst ein Kapitel Burckhardtscher Renaissance. Und sah die 
Vollmenschheit jener Zeit, die in rot durchpulsten Handen die Fahnen 
des Lebens schwang. Jeder ihrer Morgen war ein Freudengebet an 
Gott. Ihre Stunden rollten rot und bunt und angefiillt mit Sonne in 
rasendem Rotationsschwung. Jede Nacht war ein einziges, riesengro- 
Ses, in warme Blaue und silbernen Sternenglanz gehiilltes Freuden- 
Feuer, Alles, Ding und Tier und Mensch, war Bejahung. 
A.lle diese Aufierungen iiberschiissiger und iiberschaumender Lebens- 
iraft geschahen bewufit. Nicht lyrisch-harmlos wie in der klassischen 
2eit, sondern mit der machtigen Tendenz: Sag ja! ja! Vollendung dei- 
les Wonnebedarfs, Sattigung deines Lebenshungers und gleichzeitig 
Jberstromenlassen deiner Krafte in Umwelt: Mensch, Wald und 
Ding. 

is war ungefahr die (beschranktem Menschensinn allerdings nicht- 
^erstandliche) jenseitige Tendenz alles Elementaren: die unbegreifU- 
:he, aber nichtsdestoweniger vorhandene Absicht eines stiirzenden 
Vieteors, eines schlagenden Blitzes, einer rollenden Lawine, einer 
tiinstlerischen Schopfung. Aus der reinen Freude an der Korperlich- 
Leit war eine kiinstlerisch gebandigte Sinnenwillkiir geworden. 

n Berlin aber und in dem Mitteleuropa der Gegenwart regiert der 
alsche Dionysos. Er tragt Monokel und Frack. Seine Sinnenlust ist 
jervers, weil sie nicht aus dem Uberschul^ kommt, sondern aus der 
^rmsehgkeit seines Flackerlebens. 

Die Nymphen sind Ballettmadchen, schlecht bezahlt, und die Faune 
ind Zuhalter. Mit welchem Recht beruft man sich auf Dionysos ? 



524 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dionysos, der aire, dicke, Hebe Kerl, liegt im Weinlaub eines klassi- 
schen Hains begraben und ist unendlich traurig iiber seine Karikatur in 
den Dielen Mitteleuropas. Er schiittelt den Kopf und sagt: Nie hat eine 
meiner Nymphen Celly geheifien . . . 

Berliner Borsen-Courier, 7.4. 1921 



BEGNADIGUNG 



Der amerikanische Rechtsanwalt Dr. Karl Hau, der die Olga Molitor 
»mutmaf51ich« ermordet hat, wird, Zeitungsberichten zufolge, im 
Jahre 1925 begnadigt werden. Ich stelle mir vor, was in einem Men- 
schen vor^eht, der heute, 1921, erfahrt, daf^ er in vier Jahren frei ist: 
Die Wande seiner Zeile, die eine furchterliche Dicke von zwanzig oder 
dreifiig Jahren haben, werden durchsichtig. Er sieht die Strafie und 
sagt: Meine StraEe! Eine Litfafisaule, ein Laternenpfahl, ein Hund an 
der Hauserecke, ein Plakat mit Massary-Zigaretten, ein Schutzmann, 
ein Zeitungsverkaufer, eine Blumenhandlerin: In vier Jahren gehort 
alles ihm, alles ihm\ Das Kerkergitter, das bis jetzt nur den einen nie- 
dertrachtigen Zweck hatte, das Stiickchen Himmelrechteck auch noch 
schwarz zu karieren, verdient sogar ein biftchen Riihrung: So ein Ker- 
kergitter steckt hier in der Mauer lebenslanglich, hundert, zweihun- 
dert, dreihundert Jahre lang. Wiirde man nicht schon 1925 begnadigt, 
es lohnte sich, das Kerkergitter zu durchfeilen, um es zu befreien von 
der Notwendigkeit, noch weitere fiinfhundert Jahre in der Mauer zu 
stecken. Aber man wird eben schon 1925 frei, und fiir das Kerkergitter 
hat man gerade noch ein lebhaftes Bedauern iibrig. 
Irgendwo in der Wand ist eine Ritze, oder ein kleines Loch, oder, weiC 
Gott, die Vornamen zweier Haftlinge. Gesetzt den Fall, sie hiefien 
Kaspar und Zacharias, so hat man im Laufe der Jahre (im Schnecken- 
gang der Einsamkeit) eine ganz besondere Liebe fiir Zacharias gewon- 
nen, weil er gewiE der Armere von beiden war und wahrscheinlich 
innerlich unbeteiligt an der ganzen schlimmen Geschichte, die er erlebt 
oder gar verursacht hat. Und innerhalb des Namens Zacharias hat man 
das Z am meisten geliebt, weil es so unbeholfen aussieht, ein miftgliick- 
tes Fragezeichen hinter der Frage, die einen ewig beschaftigt und unbe- 



I92I 5^5 

antwortet bleibt, lebenslanglich. Soil man nun nach knappen vier Jah- 
ren - pah, was sind schon vier Jahre! vier kleine, winzige Jahrchen! - 
das Gefangnis verlassen, so fiihlt man eine innige Liebe zu jenem Z, 
dem unbeholfenen, und man trennt sich sehr schwer von der Ritze, 
dem Loch, dem Buchstaben. 

Zwei Tage, nachdem Karl Hau erfahren hat, daf^ er 1925 frei sein wird, 
fangt er an, Striche an die Wand zu kritzeln, viermal dreihundertfunf- 
undsechzig Striche, und jeden neuen Tag, der sich durch den schlur- 
fenden Schritt des patrouillierenden Wachters ankiindigt oder durch 
den Hahnenschrei aus dem kleinen Gefliigelstall des Gefangenenauf- 
sehers, streicht der Gefangene einen Strich noch einmal quer durch 
und zahlt, zahlt, zahlt. Am Nachmittag nach dem Spaziergang im Hof 
zahlt er wieder und denkt dabei an den Kerkerhof, der seit vorgestern 
ein ganz neues Aussehen hat. An der Hofmauer hat ein Weidenstock 
Wurzeln gefafit und tragt kleine griine Knospen. Solcher Weidenstrau- 
cher gibt es in der Welt viel mehr, viel mehr, und alle gehoren ihm, 
1925. Schon 1925! 

Eigentlich erst 1925! Vier Jahre sind ja eine unglaublich lange 2eit, 
wenn man so denkt. Es sind viermal dreihundertfiinfundsechzig Tage, 
und der Gefangene denkt, dafi es grausam ist und keine Gnade. Es ist 
grausam, vier Jahre vorher von Begnadigung zu sprechen. Wenn je- 
mand fiir vier Jahre ins Zuchthaus gehen soil, ist es eine schreckHche 
Zeit. Dem Gefangenen ist es, als miiEte er jetzt erst fiir vier Jahre ins 
Zuchthaus kommen. Oh, vier Jahre! . . . 

LJnd was wird es eigentlich fiir ein Tag sein, an dem ich aus der Zelle 
komme? Ein Dienstag, ein Mittwoch oder ein Freitag? (Nur kein Frei- 
tag! Freitag ist vielleicht mein Ungliickstag.) Wird es Friihling sein 
Dder Herbst? Wird eine Amsel pfeifen oder ein Hund bellen? Aber das 
ist gleichgiiltig: Hund oder Amsel? Das Geklaff eines Hundes ist scho- 
ler, tausendmal schoner denn der Gesang einer Nachtigall. Eine 
Nachtigall hore ich zuweilen an diesen Abenden, wahrend ich einge- 
sperrt bin. Aber einen Hund ebenfalls. Und wenn ich drauf^en bin, ist 
mir ein Hund genauso heb wie eine Nachtigall, und Bellen ist Floten- 
:on. Und wenn alle Nachtigallen plotzlich zu bellen anfangen, ist mir 
das auch schnuppe. 

[Carl Hau, der Gefangene, hat nicht mit der grofSartigen Entwicklung 
ies Films gerechnet. Er wei£ zwar noch was von Nachtigallen und 



526 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Hunden, aber was weifi er vom Kino? Hat er auch nur einen Augen- 
blick daran gedacht, dafi er ein Filmdrama ist? 
Oh, er ist eins! Und was fiir eins! . . . 

Ein Filmregisseur namens Carl Heinz Boese und eine Frau namens 
Elisabeth Fries haben Karl Hau zu einem »Spielfilm« (was heifit »Spiel- 
film«? ein Gegensatz zu »Ernstfilm«?) verarbeitet. Der Spielfilm heifit: 
»Die Tragodie des Hauses Hester«, 

Und »Prioritat« ! Weifit du Haftling, Spielfilm gewordener, was »Prio- 
ritat« ist? »Prioritat« ist das Recht des zuerst, zuerst, zuallererst Stoff 
Schindenden. Aus »Grunden der Prioritat« und damit nicht die tau- 
send anderen, die in Berlin davon leben, den Stoff ausbeuten, fiir sich 
in Anspruch nehmen, Prozesse fiihren, hat der Filmregisseur einer Ta- 
geszeitung mitgeteilt, dafi er und kein anderer in Gemeinschaft mit der 
Frau Elisabeth den Films toff Hau bearbeitet hat. Und dafi eine »erste« 
(eine erste!) Berliner Filmfirma die »Tragodie des Hauses Hester« er- 
worben hat. Der Dichter schreibt dem Blatte: 

»Durch die Tagespresse geht die Nachricht, dafi der amerikanische 
Rechtsanwalt Karl Hau, bekannt durch die Baden-Badener Mordaffare 
an der Frau Medizinalrat Molitor, der damals zu lebenslanglichem 
Zuchthaus begnadigt wurde, zum i. April 1925 bei guter Fiihrung aus 
dem Zuchthaus entlassen werden soil. 

Dieser dramatische, sensationelle Stoff des seinerzeit viel Aufsehen er- 
regt habenden Prozesses ist bereits vor Wochen vom Filmregisseur 
Carl Heinz Boese in Gemeinschaft mit Elisabeth Fries unter dem Titel 
>Die Tragodie des Hauses Hester< zu einem Spielfilm bearbeitet und 
von einer ersten Berliner Firma zur Verfilmung erworben worden,« 
In einer Nachschrift fiihrt das Filmgenie noch den erwagenswerten 
Gedanken aus, daf5 die Filmdramaturgie vor einer lustigen Duplizitat 
der Falle bewahrt werden konnte. Ach, viel mehr! Und noch schoner 
wars, wenn sie so manches Mai auch schon vor der SimpUzitat zu 
bewahren ware. 

Dr. Karl Hau, wenn Du aus dem Gefangnis kommst, wird keine 
Nachtigall floten, kein Hund bellen, denn im Film gibt's keine Gerau- 
sche. Du wirst eine Litfaf^saule sehen und darauf Dich, von einem 
schmissigen Plakatzeichner hingefingert, und die Ankiindigung des 
»Spielfilms«: »Die Tragodie des Hauses Hester«. 
Nichts anderes bleibt Dir iibrig, als von deinen ersparten Groschen. 



I92I 5^7 

die Du aus der Anstalt auf den Lebensweg mitgenommen hast, ins 
Kino zu gehen und Dich zu erleben. Sieh, das sind die Freuden des Be- 
gnadigtseins! 

Berliner Borsen-Courier, lo. 4. 1921 



UNVEROFFENTLICHTER AUTOR 



Bei Reufi & Pollak im kleinen Raum der Buchhandlung las am 
II. April abends Alfred Olschki aus unveroffentlichten bzw. nicht in 
Buchform erschienenen Werken von Leopold Lehmann. Es waren 
zwei Novellen, ein paar Gedichte, ein Drama, genannt »Bathseba«. 
Weil die Gewissenhaftigkeit gebeut, unveroffentlichten Autoren sein 
ganzes Ohr zu schenken, ertrug ich ein paar Gedichte, Privatangele- 
genheiten des Verfassers, und eine biedere Novelle, deren Harm- und 
Wehrlosigkeit jedes v^eitere Wort iiberfliissig machen. 
Dagegen gab mir »Bathseba« Gelegenheit, einen Funken dramatischen 
Talents hier und dort aufspriihen zu sehen, der unter dem GeroU loser 
famben ruht. Wiirde man diese »Bathseba« der sprachUchen Uberflus- 
sigkeit iedig machen, so bliebe ein dramatisches Geriist, das in Einfall, 
Aufbau und Wirkung des Geschehens an sich einen Autor von Fahig- 
keit verrat. 
Sieben Jahre liegen lassen, Heber Lehmann! 

Berliner Borsen-Courier, 13.4. 1921 



DAS PLAKAT 



Der Verein der Plakatfreunde veranstaltete am 14. April im Horsaal 
les Kunstgewerbemuseums einen Vortrags abend. Dr. Hans Sachs 
;prach iiber »Politik, Volkerpsychologie und Kiinstlerplakat im In- 
md Auslande«. 

Der Vortragende versuchte an Hand von sechzig farbigen Lichtbildern 
)ei den Horern den Sinn fiir die Unterschiede zwischen »geschmack- 



528 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

vollen« und »geschmacklosen« Plakaten zu wecken. Er iiberzeugte 
mich nicht. Er ging namlich von dem Grundsatz aus (der fiir einen 
Plakatfreund ja selbstverstandlich ist), dafi ein Plakat wirksam und 
geschmackvoU bzw. das Plakat als Werbe- und Propagandamittel 
uberhaupt eine geschmackvoUe Angelegenheit sei. Ich glaube, der un- 
verdorbene Geschmack entscheidet anders, Ob nun ein Bolschewik, 
symbolisiert in der Fratze eines roten Teufelswesens, von fremdem 
Blut triefend, iiber StraKen mit ordnungsmafiig abgefertigten Strafien- 
bahnwagen und friedlich schiebenden Menschen daherschreitet oder 
ob ein Pfaffe, auf einer Konigskrone rittlings sitzend, Galoppaden in 
reaktionare Regionen unternimmt und ob nun beides mit mehr oder 
weniger Kunst ausgefiihrt ist, bleibt fiir die asthetische Empfindlich- 
keit in seiner schreienden Wirkung gleichgiiltig. 
Hat man sich aber auf die Voraussetzungen der Plakatfreunde einge- 
lassen, so kann man eine Weiie mit Dr. Sachs mitgehen. Man sah, wie 
primitiv einerseits, plump andererseits das deutsche Prop agan dap lakat 
wahrend des Krieges im Verhaitnis zu den Plakaten anderer Lander 
war. Wie - Gott sei Dank! - das deutsche Plakat allmahlich anfangt, 
jene Vollendung im »Packen«, »Bannen« und Bluff en zu erreichen, die 
zum Beispiel das ungarische Plakat in vorbildUcher Weise auszeichnet. 
Man sah russische Plakate, und wer volkerpsychologisch zu sehen ver- 
stand, wufite, dafi die angebliche Unbeholfenheit und sozusagen Ge- 
schaftsuntiichtigkeit des russischen Plakats mit der feinen Empfindung 
des russischen Menschen zusammenhangt, der sich instinktiv gegen die 
Bestiaiitat der Zivilisation wehrt und immer noch versucht, einen 
Kompromif^ zu schliefien zwischen seiner kiinstlerischen Uberzeu- 
gung und dem industriellen Zweck seiner Arbeit. 
Dr. Sachs sprach geistreich, wohlgeordnet. Er hielt sozusagen ein 
wirksames Plakat (dies ohne ironische Nebenbedeutung). Ich sah die 
Notwendigkeit des Plakatiibels wohl ein und konnte infolgedesser 
kein Plakatfreund werden. 

Berliner Borsen-Courier, 16.4. 1921 



VON BUCHERN UND LESERN 

Ermittlungen aus den wichtigsten Bibliotheken Berlins 

Wechsel und Wandel der geistlgen Interessen einer grofistadtischen 
Bevolkerung spiegeln sich am ehesten in der Benutzung der Bibliothe- 
ken ab. Sie stehen alien Schichten der Bevolkerung ohne Unterschied 
des Alters und Geschlechts offen, und an der Art, wie sie benutzt war- 
den, kann man wie an einem Barometer ablesen, welch ein Geist die 
Bevolkerung in alien ihren Teilen beherrscht, Betrachtet man nun die 
Berliner Bibliotheken und ihre Besucher jetzt, im dritten Jahr nach 
dem Zusammenbruch, und vergleicht man die gegenwartigen Verhalt- 
nisse mit denen vor dem Kriege und wahrend des Krieges, so gelangt 
man im allgemeinen zu demselben Resultat, das so oft schon verschie- 
dene Untersuchungen iiber die Wirkung der Revolution und ihrer Be- 
gleiterscheinungen auf die geistigen Gebiete deutschen Lebens ergeben 
haben: Die deutsche Revolution war im wesentlichen keine Revolution 
auf geistigem Gebiet. Die geistige Entwicklung vollzieht sich in einer 
steten, nur zeitweise abirrenden oder gehemmten Evolution. 
Bei der stofflichen Teilung des Themas ergeben sich von selbst drei 
Gesichtspunkte, von denen aus die Verhaltnisse der Berliner BibUothe- 
ken aus betrachtet warden konnen: i. Wie viele Menschen lesen? 
2. Wer liestf 3. Was wird gelesenf 

Im allgemeinen ist die Besucherzahl befriedigend grofi. Die offentli- 
chen Bibliotheken werden heute hdufiger in Anspruch genommen als 
vor dem Kriege, Einige Beispiele seien hier angefiihrt: Im Jahre 
1911/12 hatte die Staatsbibliothek 10 591 Leser (im Monat) aufzuwei- 
sen, im Jahre 1919/20 dagegen 11 899 Leser. In der Stadtbibliothek sind 
im Durchschnitt monatlich mindestens ipooo Leser zu zahlen gegen 
ungefdhr i^ooo vor dem Kriege. Einzig die Bibliothek im Kunstge- 
werbemuseum hat 1920 eine monathche Besucherzahl von 6400 gegen 
9400 im Jahre 1914. 

Mehrere kleinere und grol^ere Bibliotheken sind infolge der Ereignisse 
Weileicht ganz oder halb vergessen und haben nur noch eine sparliche 
Besucherzahl. Die Bibliothek der Gesellschaft fiir ethische Kultur in 
der RungestrafSe ist geschlossen. Dagegen sind die privaten Bibliothe- 
ken einschliefihch der Leihhibliotheken heute so stark in Anspruch ge- 
lommen wie nie vorher. In drei grofieren Leihbibhotheken, von denen 



530 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

zwei in Schoneberg liegen und eine in Moabit, konnte ich eine ganz 
enorme Zunahme der Leserzahl feststellen. Alle drei Bibliotheken zu- 
sammen batten imjahre ipj) ungefdhr pooo Leser monatlich: Sie wei- 
sen heute eine Leserzahl von 21000 im Monat auf. 
Diese an und fiir sich erfreulichen Feststellungen konnten aber leicht 
zu falschen Annahmen verleiten: etwa, dafi die geistigen Interessen auf 
breitere Schichten der Bevolkerung iibergegriffen haben. Aber schon 
eine nahere Betrachtung der sozialen Stellung der Leser zeigt, dafi sich 
verhaltnismafiig wenig geandert hat in den geistigen Verhaltnissen der 
einzelnen sozialen Schichten. Die Bibliothekbesucher rekrutieren sich 
zumeist immer noch aus den Reihen der »Fachmenschen«, der Studie- 
renden, der »Intellektuellen« ^ das heifit: der Absolventen der zur Er- 
reichung einer angesehenen sozialen Stellung erforderlichen Schulen. 
Von dem pro Tag (bis Marz 192 1) von der Staatsbibliothek ausge- 
liehenen 1500 Biicher entfielen die meisten auf Hochschullehrer, Stu- 
denten, Schriftsteller und Kiinstler. Den Berufen nach ordnen sich die 
Besucher und Entleiher der Staatsbibliothek im Durchschnitt eines 
Monats folgendermafien: Hochschullehrer 228, Studierende 5282, 
Geistliche 129, Juristen und hohere Verwaltungsbeamte 741, Arzte 
497, Beamte wissenschaftlicher Institute 217, Lehrer hoherer Schulen 
771, Schriftsteller und Kiinstler 452, Techniker, Kaufleute 724, Mili- 
tars 212, Behorden, Institute 228. 

Die Besucher der Stadtbibliothek sind: kaufmannische Angestellte, 
Schiiler, Handwerker und Studierende. Die Besucher der Bibliothek 
im Kunstgewerbemuseum: Kunsthandwerker, Praktiker und Schiiler 
der Fachschulen. Die der Bibliothek in der Borse meist Jugendliche, 
Schiiler, Schriftsteller, Beamte, Kaufleute, Journalisten. Und schhefS- 
lich die Leser der Privatbibliotheken: Handwerker, kaufmannische 
Angestellte, Jugendliche, Schiiler. 

Man sieht: Es sind die gleichen Schichten, die auch vor dem Krieg, vor 
der Revolution fiir Bibliotheken in Betracht kamen. Wo sind die 
eigentlichen »Proletarier« ? Lesen die Arbeiter nur in den Arbeiter- 
bibliotheken? Und die jugendhchen Arbeiter nur in ihren Zirkeln, de- 
ren BibHotheken ja zum grofien Teil aufierst mangelhaft sind? 
Nichtsdestoweniger ist jene geistige Evolution, die unverkennbar Spu- 
ren unserer Zeit tragt, nicht zu leugnen, wenn man die Leseobjekte 
betrachtet. Mil einer geradezu unglaublichen Hast ist das Interesse fiir 
Sozialwissenschaften^ Politik und Tagesfragenliteratur gestiegen. Von 



I92I 531 

den in der Staatsbibliothek t'dglich entliehenen 1200 Werken ist unge- 
fdhr die Hdlfte sozialwissenschaftliche Literatur. Ahnliche Erfahrun- 
gen macht man in der Bibliothek der Handelskammer, in der ein tag- 
lich zunehmendes Interesse fur Sozialismus (Marx, Lassalle, Kautsky) 
und Sozialisierungsfragen festzustellen ist. Volkswirtschaftliche Werke 
werden auch in der Staatsbibliothek zahlreich verlangt. 
An zweiter Stelle steht die - Philosophiel Fiir den oberflachlichen Be- 
trachter der Verhaltnisse anscheinend ein Widerspruch. Fiir den Ein- 
sichtsvolleren ein gewifi nicht unlogischer Zusammenhang. Hand in 
Hand mit dem regen Interesse fiir die Tagesfragen die Abkehr vom 
Tageslarm, die Sehnsucht nach freier Menschlichkeit jenseits aller 
Grenzen und aller Beschranktheit. Man fluchtet sick in die - indische 
Philosophie und in die Literatur Asiens, Chinas, des fernen Ostens 
iiberhaupt. Von den 230 taglichen Besuchern der Bibliothek im Kunst- 
gewerbemuseum interessiert sich zumeist die Hdlfte fiir indische Kunst 
und Kunst literatur. Die Privatbibliotheken konnen nicht genug Aus- 
gaben von Rahindranth Tagore nachbestellen. Fast ganz vernachldssigt 
wird die russische Literatur. Ihre Aktualitat ist eben vorbei. Was sich in 
den grofien Werken groEer russischer Meister ehemals angekiindigt 
hat, drohend und mit Gewitterschwere, ist verrauscht, haben wir er- 
lebt, und was jetzt in RulSland geschieht^ erfahrt das Publikum sattsam 
aus den Tagesblattern. 

An dritter Stelle steht die sogenannte volkische Literatur. Der Bedarf 
an »volkischer« Literatur ist in den offentlichen Bibliotheken, die na- 
turgemaE zumeist ja von ernsteren Besuchern in Anspruch genommen 
werden, nicht so grof^ wie in den Leihbibliotheken. In diesen ist die 
Nachfrage nach den schlimmsten Erzeugnissen innerer Verhetzung 
ungemein groE. Das Machwerk des Herrn Dinter »Die Siinde wider 
das Blut« wurde im Laufe derletzten zwei Monate in einer Leihbiblio- 
thek nicht weniger als }ijmal verlangt. Chamberlain ist dieser Art von 
Lesern scheinbar zu tief und wissenschaftlich fundiert, denn er wird 
auffallend wenig begehrt. Sie halten sich lieber an seine verwasserte 
Ausgabe Dinter, der die praktisch-Hterarischen Nutzanwendungen aus 
seines Meisters Lehren zieht. Allerdings ist, wie gesagt, von diesem 
Interesse fur volkische Literatur an den offentlichen Bibliotheken fast 
gar nichts zu spuren. 

Ein besonderes Kapitel bilden die Frauen. Sie machen zweifellos einen 
grofien Prozentsatz der Besucher und Entleiher offentlicher und priva- 



$32 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ter Bibliotheken aus. Von den 11899 monatlichen Besuchern der 
Staatsbibliothek sind 1712 Frauen. In der Stadtbibliothek bilden sie 
dreiflig Prozent der gesamten Leserschaft, in der Bibliothek des Kunst- 
gewerbemuseums ist ihre Zahl fluktuierend, jedenfalls nicht weniger 
als ein Drittel der 280 taglichen Besucher. Unter den Abonnenten 
dreier Leihbibliotheken machen sie ungefahr die Hdlfte aus. 
Was lesen die Frauen ? Um diese Frage zu beantworten, mufi man sich 
vergegenwartigen, dafi eine grofie Zahl der Leserinnen Berlins beruf- 
Itch tatig ist oder sich fiir Berufe vorbereitet und also sich vor allem mit 
derjenigen Literatur beschaftigt, die in ihr Fach einschlagt. In der 
Staatsbibliothek beschaftigen sich die Frauen vorwiegend mit Medizin, 
Kunst, Musik, in der Stadtbibliothek mit Kunst, Germanistik und Mu- 
sik, in der Bibhothek des Kunstgewerbemuseums mit Mode, asiati- 
scher Kunst und Philosophie. 

Berliner Tageblatt, 16. 4. 1921 



PATHOS 



Gestern war ich in einer Operettenpremiere. Ich glaube, es ist kein 
Zufall, dal5 die Damen und Herren, die in Orchesterreihen, Logen und 
Parkettstiihlen safien, so schon gekleidet waren. Ich liebe die Damen, 
die auf den vorderen Platzen des Theaters sitzen. Warum sollte ich es 
leugnen? Ich liebe ihre Kleider, die kostbare Vorwande sind, nichts 
mehr, nichts weniger. Ich liebe ihre nackten Arme, von denen ich be- 
stimmt weifi, daf^ sie gepudert sind. Ich Uebe den Puder. Ihre Augen- 
brauen sind mit Schwarzstift geschminkt. Ich Uebe den Schwarzstift. 
Sie haben Atropin in den wunderbar natiirlich glanzenden Augen. Ich 
liebe das Atropin und die Augen. 

Auch die Herren mag ich gern. Sie haben Smoking und weif^e steife 
Hemdbrust. Ihre Hemdbrust knistert. Sie haben Glatze oder pomadi- 
sierte Scheitel. (Nur die Pomade mag ich nicht.) Und sie haben Gesten, 
oh, Gesten! 

Allen diesen Damen und Herren haben gutige Feen Logenbillets in die 
Wiege gelegt. Diesen Glauben lasse ich mir nicht nehmen. Salonorche- 
ster luUten sie, noch als sie klein waren, alle in den Schlaf. Uber deiner 



I92I 533 

Wiege, aber, Mensch in der zehnten Reihe, blies ein simpler Paus- 
backengel auf einer Kindertrompete ein dummes, dummes Schlaf- 
lied, vom Vater und vom Schaf ! 

Vor einigen Tagen - ich Hebe diese Premieren eben so sehr - ging 
ich in eine Filmpremiere. Sie fand in einem grofien Kinotempel Ber- 
lins statt, und viele, viele Wagen fuhren vor dem Tempel vor. Eine 
Livree, die offenbar iiber einen Menschen gestiilpt war, stand vor 
den Toren des Tempels und offnete die Wagentiiren. Und heraus 
stiegen: Hemdbriiste, Schminke, Puder, Atropin. 
Alle Menschen, die ich in der Filmpremiere sah, die auf der Lein- 
wand und die im Saal, hatten grofie Gesten. AUmahlich konnte ich 
die Geschehnisse der Leinwand und die des Saales nicht mehr aus- 
einanderhalten. Alle Menschen auf der Leinwand benahmen sich - 
es war ein »Gesellschaftsdrama« - wie bei einer Premiere. Alle Men- 
schen im Saal - es war eine Premiere - benahmen sich, wie in einem 
Gesellschaftsdrama. Wenn sie »Danke!« sagten, lag in diesen zwei 
Silben die Halfte ihrer Seele. Wenn sie den Nachbarn auf den gro- 
fien 2eh traten, sprangen sie elastisch zuriick, als hingen sie an 
einem Gummiband, und fliisterten: »Verzeihung!« In dem »zeih« 
lag so viel Gute, Weichheit und Humanitat. Lag Delikatesse als 
Weltanschauung. 

Der Film gefiel alien Menschen ausgezeichnet, und sie klatschten. 
Wem klatschten sie? Fragte ich mich. Den Schatten? Das sind Men- 
schen, ganz winzige Menschenbilder, deren Korper und Bewegun- 
gen in MiUionen Atome zerhackt - kaschiertes Bildfleisch - auf win- 
zige Marken geklebt sind. 

Sie aber klatschten, die Menschen, denen der Film so gut gefallen 
hatte. Ich dachte: Nie werden ihnen diese vergrofierten Korper- 
atome der Schauspieler den Gefallen erweisen und auf die Leinwand 
kommen, um sich zu verneigen. 

Wahrend ich so dachte, kam ein Schauspieler, wirklich, vor die 
Leinwand und verneigte sich. 

Ich hatte nicht daran gedacht, dal^ die Schatten im Saal saf^en, bei 
der Premiere, und Gesellschaftsdrama spieiten. 

Wir treiben einen unerhorten Aufwand mit Gesten. Jede LacherHch- 

keit hat ihr Pathos. 

AJle Dummheiten tragen Reifrocke und Pleureusen. Jede primitive 



534 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Handlung, jeder Schritt, jedes Gefuhl steckt in einer Livree. Wozu 

komplizieren wir das Einfache und Primitive? 

Ich kannte einen Mann, er war ein biederer, einfaltiger Kaffeehausmu- 

siker, Aber er trug einen Radnaantel und einen Pliischhut. 

Der Filmschauspieler kann keinen Radmantel und keinen Pliischhut 

tragen. Er macht Armbewegungen mit der Zunge, mit den Augen, mit 

der Nase. 

Nach Schlufi der Operettenpremiere klatschten die Leute so lange, bis 

der Regisseur, der Dichter, der zweite Dichter, der dritte Dichter, der 

Komponist, der KuHssenmaler auf die Biihne kamen. Der Dichter, der 

erste, kam nicht so einfach. Er war im Frack, also hatte er mit einem 

Biihnenaufzug der Operettenurheber gerechnet. Aber er Hefi sich vom 

Regisseur schleifen. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus dem Be- 

diirfnis nach Geste und Pathos. 

Am Kurfiirstendamm sprach mich nachts ein Mann an und gab mir 

einen Zettel. Darauf stand: »Das grofite Ereignis des Jahrhunderts : Li- 

korstube a. C.« 

Eine Likorstube ist das grofite Ereignis des Jahrhunderts. Oh, wie 

gro6 ist dieses Jahrhundert! . . . 

Ich mochte auf die Operette zurlickkommen: 

Irgendwo im zweiten Akt verfinstert sich das AntHtz der eben noch 
sommerlich griin bliihenden Kuhsse, ein Scheinwerferbhtz fachelt 
liber die Landschaft ein kleines Schauerlein, und dazu erdonnern des 
Orchesters Bafigeige und Kesselpauke, und die Geigen wimmern herz- 
zerreifiend, als wiirden sie abgewiirgt, und das Fagott quietscht er- 
barmlich, und die Tschinellen tropfen wie schwerer Silberregen in das 
chaotische Treiben des entfesselten Kapellmeisters. 
Wozu der Larm?! - Roderich geht aus dem Vaterhaus in eine unge- 
wisse Zukunft. Bei dieser Gelegenheit singt er ein Chanson. So libel ist 
ihm zumute. So tragisch ist diese Angelegenheit. 
Wozu BafSgeige, Kesselpauke, Gotterdammerung, Weltuntergang? 
Ich kenne den Schauspieler, der den Roderich gab, zufallig. Er ist ein 
ernster Kiinstler; aus Verlegenheit oder weil5 Gott, warum, singt er 
Chansons. Er ist sehr verniinftig, ein Ironiker eher als Lyriker, unsen- 
timental, sachlich, skeptisch. Wie halt er den Weltuntergang aus, der 
seinetwegen arrangiert wurde? 
Ich beobachte ihn genau durch ein scharfes Glas. Er zuckt nicht aus 



I92I 535 

den Mundwinkeln wie sonst, wenn im Kaffeehaus jemand einen Satz 

sagt, mit »derjenige - welcher«. 

Was ist »derjenige - welcher« all dem Donner und Blitz gegeniiber? 

Empfindest Du, Roderich, der Du im Leben Ernst heifiest, nicht die 

Antiproportion zwischen Deinem RoUenschicksai und der Regie, der 

Musik? Bist Du am Ende ein Roderich, wirklich ein Roderich, und 

kein Ernst? 

Ich sah mich im Parkett um: Die Leute safien in einem Operettenthea- 

ter. Sie wufiten es. Sie gingen zu einer Operette, nicht zu einem Trau- 

erspiel. Nun aber make sich Entsetzen in ihren Gesichtern. Und das 

Atropin war wie verschwunden aus den Augen der Damen. Wegge- 

schwemmt gleichsam von verhaltenen Tranen. Und die Schminke ge- 

wissermafien aufgesogen von dem Schrecken, dem gliihenden. Ihre 

nackten Arme bebten. 

Sie freuten sich iiber diesen Luxus an Chaos. Sie woUen Kolophonium! 

Sie woUen den Scheinwerfer! - Das ist eine Operette! 

Sie miissen ihre halbe Seele in einem »Danke!« aushauchen. Immer, 

immer, immer an den elastischen Gummibandern der »getragenen« 

Form hangen. 

Uber dem Kapitel »20.Jahrhundert« wird ein Motto stehen: 
»Das grofite Ereignis dieses Jahrhunderts: Likorstube a.C.« 

Berliner Borsen-Courier, 17. 4. 1921 



SYLT, EIN BEDAUERLICHER VORFALL 



Sylt, der angebHch auf der Flucht erschossene, ist mit grof^em Pomp 
begraben worden. An seinem Grabe sprachen sehr viele Menschen. 
AUe schworen Rache. Sylts letzte Worte sollen gelautet haben: »Ra- 
chet meinen Tod!« 

Pomp ist immer ir^endwie biirgerlich. Die Teilnehmer an dem Sylt- 
schen Leichenbegangnis trugen den Sowjetstern und - einen Zylinder. 
Und sangen Lieder. Der Text war revolutionar, die Melodie irgendwie 
biii^erlich. Sylts Leichnam war mit einer roten Fahne zugedeckt. Rote 
Fahne ist revolutionares Symbol; aber wenn sie auf einem toten Prole- 



$}6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tarier gebreitet liegt, erfiillt sie eine ahnliche Aufgabe wie ein Schwert 
auf dem Sarge eines Offiziers und Orgeschmitgliedes. Sylt selbst 
schliefilich starb als Opfer seiner revolutionaren Tatigkeit - ob er nun 
»auf der Flucht« erschossen worden ist oder nicht. Aber dafi seine 
letzten Worte »Rachet meinen Tod« gewesen sein soUen, ist hochst 
biirgerlich. Ein »braver Held« nur darf, das Todesrocheln unterbre- 
chend, hauchen: Mit Gott fiir Konig und Vaterland! Denn das Pathos 
ist eine bourgeoise Tugend. Der Prolet denkt in seiner letzten Stunde 
an Weib und Kind und somit an die Sache des Proletariats. Die Welt- 
anschauung des Proletariers geht aus einem Erleben hervor, die des 
Biii^ers aus Schullesebiichern und vaterlandischen Sammelwerken. Im 
Alitag des Proleten ist seine Rehgion. Die des Burgers findet am Sonn- 
tag statt. Nur dem Burger lautet Schillers Glocke von der Wiege bis 
zum Grabe. Der Burger ist feierlich. Der Prolet schlicht. Vielleicht war 
Sylts seelische Konstruktion eine biir^erliche. »Wenn ich auf den 
Knopf driicke . . .«, hatte Sylt einmal gesagt. Auf Knopf e pflegen Ge- 
nerale und dergleichen sonst zu driicken. Vielleicht trug Sylt zum 
Sowjetstern einen Zylinder. 

Einerlei: Er ist ermordert worden. Das ist kein »bedauerUcher Vor- 
fall«, wie der Herr Polizeiprasident Richter meint. Ein Mord ist mehr 
denn »bedauerUcher Vorfall«. Der Weltkrieg ware dann namlich auch 
nur ein »bedauerhcher Vorfall« gewesen. Selbst wenn das Gewehr des 
Polizeibeamten losgegangen ware und Sylt zufallig getroffen hatte, 
war's kein »bedauerhcher Vorfall«. 

Die Vorschrift befiehlt, auf fliichtende Haftlinge zu schiefien. Die Vor- 
schrift befiehlt nicht, in die Leber fliichtender Haftlinge zu schiefien. 
Manchmal kann man auch ins Bein oder in den Arm schiefien. Daran 
stirbt so ein Hafding nicht so schnell. Aber der Polizist ist kein Scharf- 
schiitze. Die Vorschrift muf5 wissen, dafi solch ein Schufi drei Mog- 
lichkeiten hat: i. fehlzugehen; 2. zu verletzen; 3. zu to ten. Es ist also 
der Vorschrift gleichgiiltig, ob der Haftling entflieht, verletzt oder tot- 
geschossen wird. Wozu befiehlt sie das Schiefien? 
Einfach deshalb, weil der Pohzist ein Mann der Waffe ist und ein Ge- 
wehr tragen muC. Wozu diente sonst dieses Gewehr? 
Es gibt ja auch noch allerlei Vorschriften: zum Beispiel, dafi Haftlinge 
gefesselt werden oder mit hoch erhobenen Handen vor dem Polizisten 
einhergehen. Dann fliehen sie nicht, und ihre Leber bleibt unverletzt. 
(Die Leber ist ein empfindhches Organ.) 



I92I 537 

Diese Vorschnften wurden bel Sylt nicht angewendet, sondern - ein 
bedauerlicher Vorfall - lediglich jene, die das Schiefien befiehlt. 
[ch glaube nicht, daf? der Polizist, der geschossen hat, ein Scharf- 
ichiitze ist. Sonst ware er namlich ein Morder. Aber dafi kommunisti- 
iche Haftlinge immer von PoHzisten begleitet werden, die keine 
Scharfschiitzen sind und also versehentBch in die Leber schiefien, ist 
doch - eine traurige Verkettung bedaueHicher Vorfalle. 
Dieweil zum Beispiel ein Orgeschmitglied hochst selten in die Leber 
^etroffen wird! Orgeschmitglieder werden nur von Scharfschiitzen be- 
gleitet. 

[ch glaube nicht, da£ derselbe Polizist so exakt geschossen hatte, wenn 
ir einen Orgeschmann zu verfolgen gehabt hatte. Und das schlimmste, 
lafi der Pohzist nichts dafiir kann, dal5 er hier exakt und dort ungenau 
unktioniert. Der Polizist - ein SchieCgewehr der biirgerHchen Gesell- 
ichaftsordnung - entladt sich automatisch beim Anblick Sylts. Und 
^ersagt beim Anblick eines Hakenkreuzlers. 

^nfolgedessen ist es gleichgiiltig, ob der Herr Richter einen oder - wie 
;r nun beschlossen hat - mehrere Polizeibeamte mit der Aufgabe be- 
rauen wird, die Sylts zu begleiten. Die nachsten Sylts werden eben 
licht von einer, sondern von mehreren Kugeln getroffen werden. 

Freie Deutsche Biihne, 17. 4. 1921 



VENUS UND ADONIS 



Km 22. d.M. las Max Kahlenherg in der Buchhandlung Blau »Venus 

md Adonis« , das Erstlingswerk Shakespeares. 

Venus und Adonis« ist ein Epos. Max Kahlenberg hat es verdeutscht. 

Lr las aus dem Manuskript. 

)ie Ubersetzung ist unvollkommen, stellenweise holprig und pro- 

aisch. Man hatte vielleicht mit der Vorlesung warten konnen, bis das 

Lpos vollkommen iibersetzt gewesen ware. Aber der Vorabend des 

hakespeareschen Geburtstages war am Zweiundzwanzigsten, und da- 

egen kann man eben nichts tun. 

)bwohl die Ubersetzung mangelhaft war - Shakespeare ist nicht um- 

ubringen. Zwischen Platitiiden, in jener Zeit obligaten Wendungen 



538 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

und Betrachtungen urplotzlich mit der naturlichen Notwendigkelt 
eines Elementarereignisses ein wundervoUer Shakespearescher Sturm 
von Bildern, Schonheiten, gebandigten Leidenschaftsausbriichen. Ve- 
nus fleht den kalten Adonis vergeblich an. Frei erzahlt ungefahr so: 
»Klammre dich an mich wie an ein Gitter. Ich, Hecke, Gartenzaun, in 
dessen Gestriipp du dich verlierst, aber geborgen bist und heimisch.« 
Diese Erotik, die das Freieste heraussprudelt in seltsamen architekto- 
nisch springenden Kaskaden, ist Shakespeare, Shakespeare, Shake- 
speare ... 

Man wird das Werk noch einmal horen miissen, wenn es fertig ist. An 
einem Abend - es mufi nicht der Vorabend von Shakespeares Geburts- 
tag sein. 

Berliner Borsen-Courier, 24. 4. 1921 



STIEFELPUTZER 



Ich mochte der Offenthchkeit Mitteilung machen von der Bedrangnis 
und Not der Stiefelputzer, die unter der Weidendammer Briicke ihren: 
sauren Gewerbe sozusagen nachsitzen. Sie sind im ganzen ein halbe.* 
Dutzend ungefahr. Gestern sprach ich mit ihnen. 
Stiefelputzer haben im Laufe des Tages sehr wenig Gelegenheit, sic\ 
auszusprechen. Ihre Tatigkeit bedingt Schweigen. Der Friseur zurr 
Beispiel ist in der weitaus giinstigeren Lage: Er hat an dem Kopf dei 
Menschen zu arbeiten, der normalerweise der Sitz der Sprechwerk- 
zeuge und des Gehorapparates ist. Der Stiefelputzer aber hat mit tau- 
ben und stummen Fiifien zu tun. Er lagert fast horizontal uber den 
Fufiriicken des Passanten, sein Korper bildet einen sehr spitzen Win 
kel, und seine Hande greifen mit Biirsten und Lappen mehrere Mai* 
nach dem rechten Ful^, dem linken Fu{^, ehe diese beiden in jenen glan 
zenden Zustand versetzt sind, der eine Mark fiinfzig oder zwei Marl 
Ausgaben rechtfertigt. 

Es ist durchaus nicht leicht, Stiefelputzer zu sein. Der Tagesverdiens 
ist gerade nicht der schlechteste, man hat unter sehr, sehr giinstigei 
Umstanden 50 Kunden im Tag, und manchmal sind zehn Gutgelaunt 
darunter, die einen hoheren als den verlangten Preis zahlen. Aber de 



I92I 539 

Bettler z.B., der driiben an der Strafienecke steht und dessen Beschafti- 
gung lang nicht so menschenfreundlich ist wie die der Stiefelputzer - er 
singt namlich: An der Quelle safi der Knabe . . . -, verdient mit Leich- 
tigkeit 100 Mark im Laufe eines Vormittags. 

Langst ist jedenfalls die Zeit vorbei, in der die Strafien-Stiefelputzer 
den Auftakt zu einer Milliardarkarriere bedeutete. In Amerika, hiefi es 
immer, fange man mit dem Stiefelputzen an und hore mit dem Gold- 
bergeschaufeln auf. Offen gestanden: Ich hab' es nie recht glauben 
konnen. Ich sah schon manchen Millionar, der gewifi besser daran tate, 
5tiefel zu putzen. Aber noch nie hatte in meinen Augen ein Stiefelput- 
zer Aussichten auf Millionen. 

N^un droht den Stiefelputzern, neben der chronischen Gefahr, keine 
Millionare zu werden, auch noch die, nicht einmal Schuhputzer zu 
Dleiben. Es geschah namlich folgendes: Ein Mann, der offenbar das 
3eld zum Millionar hat, kam auf die Idee, die Stiefelputzer zu organi- 
jieren. Er soil an den Magistrat funftausend Mark gezahlt haben, um 
len Platz an der Weidendammer Briicke zur Besetzung mit sechzehn- 
ahrigen Madchen benutzen zu diirfen. Diese Madchen sollen von nun 
lb das Stiefelputzen besorgen. Man hat es natiirlich auf Stiefel und 
4erz der mannlichen Passanten abgesehen. 

Jnd bereits sind am letzten Sonnabend im Stadtischen Arbeitsnach- 
veis, Gormannstrafie, mehrere junge Madchen gegen einen Wochen- 
ohn von hundert Mark, freier Verpflegung und Uniformierung fiir die 
•eizende Beschaftigung der Stiefelputzerei gewonnen worden. Die 
itiefelputzer aber schrieben einen Brief an den Magistrat, sagten, dafi 
:ie sich nicht wie Hunde wiirden wegjagen lassen. Ihr Recht sei bitter 
:rsessen und erputzt, Abnutzungsgebiihr fiir die durch ihr Sitzen zer- 
)rochenen Plastersteine konnten sie selbst zahlen, und iiberhaupt 
liente das Stiefelputzen sechzehnjahriger Madchen just in der Fried- 
ichstraEe nicht zur Hebung der Sittlichkeit. Auf diesen Brief ist der 
vlagistrat eine Antwort schuldig geblieben. 

Prager Tagblatt, 24. 4. 1921 



BEIERLE UND »GAS« 



Sonntagvormittag las Alfred Beierle »Gas« II. Teil in den Kammerspie- 
len. Dieses Werk, dieses Werk - ist uberholt, Durch die Ereignisse. 
Durch die literarische Entwicklung. 

Gas, Gas - die Welt ist bereits durch Gas zugrunde gegangen, Der 
»Grofiingenieur« hat bereits sein Schicksal erf ii lit. Der »Milliardar-Ar- 
beiter« auch. AUe die »Blaufiguren«, »Gelbfiguren« kennen wir schon, 
Wir kennen diese ganze Welt ekstatischer Signale, lyrischer Kontakte. 
pathetischer Eisenkonstruktionen. 

Wir kennen dieses plotzliche Umkippen: Sturz aus Lyrismus und Reli- 
giositat in Strammheit, Knappheit, trockene, diirre, wortarm( 
Strenge . . . 

Dies alles geschah am Sonntagvormittag. An sich keine sehr geeignet< 
Zeit. Aber es geschah durch Alfred Beierle, einen grofien Schauspieler 
Beierle kann das alles vortrefflich : Lyrismus und Uberschwang dure! 
ein plotzliches Einsetzen mit sachlicher trockener Tonart mildern 
Und die gelegentUche diirre Wortarmut so mit Lyrik, Pathos, Gest* 
umkleiden, so gut Liicken mit Poesie des Darstellerischen ausfiillen 
dafi man selbst am Sonntagvormittag gespannt, gebannt ist. 
Als Beierle zum SchluC fortlief, vom Tisch, von der Biihne weg, ohm 
sich applausfordernd zu verneigen, wie es die Sitte verlangt, war's keii 
Justamentsakt, kein Originell-sein-WoUen, sondern natiirUch, unmit 
telbar, sympathisch wie seine Menschlichkeit im Schauspielerischei 
iiberhaupt. Er liest in einer Art Famihenkleidung, seine Hemdbrust is 
irgendwie schlecht gebiigelt, seine Krawatte hangt schief aus der We 
ste, und zum Schlufi lauft er weg. Alle diese Menschlichkeiten sind mi 
Beweise, dafi er sich einsetzt, ganz: mit Kragen, Hemdbrust, Schlips • 
man unterschatze diese Kleinigkeiten nicht-, mit seinem ganzen Men 
schen. 

Berliner Borsen-Courier, 26, 4. 192 



ABENDE 



Ich gehe jeden Abend in eine Vorlesung. Ich Hebe »Abende«. 
Die Raume, in denen »Abende« stattfinden, sind entweder weit und hell 
erleuchtet oder klein, schmalbriistig und dunkel. 
Ich habe bereits herausgefunden, dafi in den kleinen, schmalbriistigen 
und dunklen die Kiinstler auftreten. In den grofien, hellerleuchteten 
dagegen die Dilettanten. Ich bin an fiinf von sieben Abenden in der 
Woche in grofien und hellerleuchteten Salen. 

Immer noch ist mir der Zusammenhang zwischen den Dimensionen des 
Saals und denen der Begabung schleierhaft. Dennoch ist meine Beobach- 
tung richtig. 

Vielleicht brauchen Dilettanten Expansionsmoglichkeiten: Sie miissen 
ihre Verwandtschaft iiber eine weite Flache ausdehnen. Kiinstler stehen 
allein in der Welt, gleichsam von alien guten Tanten verlassen, Dilettan- 
ten sind gesellige Wesen. Sie gedeihen in einer Uebe- und andachtdurch- 
wedelten Atmosphare. Ihre Unbegabtheit entfaltet sich unter dem Ein- 
flufi giitigen Zuspruchs und trostreicher Erbschaftsaussichten pracht- 
voll. 

Kiinstler schaffen auf einsamen Hohen. Ihre Erbschaftsonkel sind lang- 
lebig. Stirbt einer zuf allig friiher, hat er rechtzeitig seinen Nef f en enterbt. 
Es ist schade um das viele schone Licht in den groi^en, grofSen Raumen. 
Besonders dort, wo es sich um Lyrik handelt. Und es handelt sich meist 
um Lyrik. 

Auch bei der Dramatik traure ich um diese Verschwendung von Raum 
und Geld und Luftschwingungen. Die Dramen sind gewohnlich in funf- 
fuf^igen Jamben geschrieben. Und wenn ich solche eine Stunde lang 
gehort habe, kann ich nie mehr, nie mehr Prosa sprechen. Mein ganzes 
Leben rinnt im sanften Fluf? der Jamben hin, und alle meine Worte gehn 
nach der gleichen Leierkastenmelodie; und seufzend wach ich noch des 
Nachts im Bette: Oh, dafi er Jamben nie geschrieben hatte . . .! 
Inhalt dieser Dramen ist: romische Geschichte, deutsches Heldentum, 
Nibelungenzeit. Auch Gudrun ist ein beliebter Stoff. Und es ist unend- 
lich traurig, da£ kostbare Stoffe so herrenlos und unrationiert auf den 
StrafSen herumUegen, in denen eine schreibende Menschheit wandelt. 
Was die Epik betrifft, so ist sie selten. Man liest - wenn schon, dann 
Entwicklungsromane. Entwicklungsromane sind sehr lang, denn ihre 



542 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Helden entwickeln sich langsamer als andere Menschen. Es sind ge- 

radezu Entwicklungshelden. 

Vorn in den ersten Reihen sitzen Damen. Zwischen ihnen und dem 

Menschen vor dem Pult, auf der Biihne, ist Kontakt vorhanden. In 

der letzten Reihe sitze ich. Die Tiir, seltsamerweise kein Notaus- 

gang, ist in meiner Nahe. In der vorletzten schnarcht ein Nichthorer 

und wedelt unvermutet mit dem Programmzettel. 

Haufig sind Vorlesungen in Buch- und Kunsthandlungen. Bilder 

hangen an den Wanden, Biicherriicken glotzen aus Wandschranken. 

An den Wandschranken merkt man, wie viele Biicher schon ge- 

schrieben worden sind, seitdem das Schreiben in die Weh gekom- 

men ist. Viele gute Biicher sind geschrieben worden und sehr viele 

schlechte. Ich verstehe nicht, warum der Mann vor dem Pult seine 

Biicher nicht nur schreibt, sondern auch liest. 

Biicher konnen liegenbleiben, ungekannt. Worte aber, gesprochene, 

konnen nicht liegenbleiben. Sie belastigen mich wie Fliegen im 

Hochsommer. 

Der Mitteilungsdrang der Mitmenschen ist unbezwinglich. Ihre 

Stimme ist singend, schwankt auf und ab, als safie sie im Kahn eines 

Schaukelkarussells. Alle Lesenden sind iiberzeugt von der Notwen- 

digkeit ihrer Arbeit. Sie lesen - ich mufi schon sagen - mit Inbrunst. 

Wenn alle diese Lesenden, Tanzenden, Dichtenden nur die Halfte 

dieser Intensitat fiir andere Arbeit verwenden wiirden, so konnten 

sie am Abend sehr gut essen, ins Theater gehen und dann den ruhi- 

gen Schlaf eines nur aufnehmenden (nicht schaffenden) Menschen 

geniefien. 

Im Ernst: Es fehlt ein Regulator im Produktionsleben Berlins. Kon- 

zertagenturen sind voUkommen kritiklos. Das Publikum ahnungslos. 

Es hat Respekt vor dem Plakat, dem konsonantenreichen Namen, 

dem hellerleuchteten Saal. Es zahlt; oder es hat Freikarten. Neben- 

sache: Es hort, sieht, nimmt auf. Ist - wenn kritisch - enttauscht; 

der unkritische Teil ist irregefiihrt. Die wahllose Zulassung aller 

Menschen zu offentlichen Publikationen ist unmoralisch. 

Sieh eine Litfafisaule an: Magier neben Flohdompteuren. Uber das 

Jenseits, Gott, Philosophie, Unendlichkeit redet taglich eine Unzahl 

Unberufener. In der Menge sind mehr Wissensdurstige, als man an- 

nimmt. Zahllos sind jene, denen der Weg zur Mittel- und Hoch- 

schule versperrt war. Sie ahnen das Hohere, das sie nicht erlangen 



I92I 543 

konnen. Niemals. Sie retten sich in die Vorlesungen, Vorfiihrungen 

der Pfuscher und Schwindler und der harmlosen Nichtswisser. 

Tausend Menschen reden allabendlich in Berlin liber die Ehe. Uber 

Erotik. Uber Planeten. Zehntausend lesen lyrische Gedichte. 

Ehe, Erotik, Planeten, Lyrik sind ja eigentlich »an sich« ernste Angele- 

genheiten. Wenn jemand einen Schutzmann lastert, wird er angeklagt. 

Uber Gott, Ehe, Planeten darfst du ungestraft reden. 

Die Menschen, die von den Vorlesungen leben, schneiden mit sehr viel 

Sorgfalt und Vorsicht die Referate aus den Zeitungen und kleben alles 

auf einen Pappkarton. Und werden davon selig. 

Sie reisen mit ihrem Musterpappkarton in die Provinz, wo ein Redak- 

tionsvolontar den Auftrag erhalt zu referieren. Der Redaktionsvolon- 

tar, der achtzehn Jahre alt ist und noch nicht sehr viel weifi, vermehrt 

die Ausschnitte auf dem Pappkarton um zwei Lobeshymnen. 

Daraufhin sind die Kiinstler bereit, ein Engagement anzunehmen. Wo- 

moglich in Berlin. Da sie in Berlin kein Engagement erhalten, gehen sie 

mit ihrem Pappkarton zu einer grofieren Konzertagentur. Die Respekt 

hat vor den Lobeshymnen des achtzehn jahrigen Volontars. Und den 

Meistersaal mietet. 

Im Meistersaal nun sitze ich in der letzten Reihe, hart an der Tiir. Vorn 

in den ersten Reihen sitzen die Damen mit dem Kontakt. Ein Nichtho- 

rer schnarcht und wedelt leise mit dem Programmzettel. 

Hier schliefit sich der Ring . . . 

Berliner Borsen-Courier, 27. 4. 1921 



JAZZBAND 



Die Neger, so berichtet man, tanzen zur Begleitung einer wilden Mu- 
sik, die eigentUch gar keine Musik ist. Sie entstromt namhch beUebigen 
Gegenstanden: Schildern, Spiefien, Topfen, die gegeneinander regellos 
geschlagen werden. Diese Musik ist unmelodisch. Aber die Melodic ist 
vorhanden : in den Seelen der Musikanten und Tanzer. GewissermaEen 
cine zwischen den Klopfgerauschen zu lesende Melodic. Sie ist keine 
»Komposition«, sondern ein Ausbruch. Sie ist nicht erfunden, sondern 
geboren. Und sie hat den Wohlklang, den wilden, den gottgewollten 



544 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Rhythmus. Denn in den Seelen der Neger, seht Ihr, schlummert die 
gesetzlose Willkiirmusik eines noch nicht in Volkerbiindel geordneten 
Chaos. Das nennen die Weifien in Amerika und Mitteleuropa: »Jazz- 
band«. 

Stanniolpapier und Pappdeckel sind elementare Bestandteile der weifien 
Kultur. Der »Jaz2band« der Neger ist zwar ohne Pappendeckel und 
Stanniolpapier moglich. Der Jazzband der Berliner dagegen nicht. 
Die Pappe ist in der Mitte der Dielendecke angebracht und hat die Form 
eines karikierten Sterns, dessen Spitzen stalagtitengleich von der Decke 
in den Raum hineinragen. Der Stern ist mit Stanniolpapier liberzogen. 
Viele Besucher der Jazzbanddiele, die nichts von der Kultur der Neger 
wissen, glauben, dal5 Expressionismus eine afrikanische Angelegenheit 
ist. 

Echt sind dagegen die Trinkgefafie und Geschirre, die zu den Jazzband- 
instrumenten der Musikkapelie gehoren. Diese Kochgeschirre erinnern 
namlich an die Menageschalen aus der Kriegszeit, und die war ja nicht so 
ganz europaisch. 

Aufier den Trinkgefafien benutzt die Kapelle noch Schmirgelpapier, Ein 
Mann, der die Trommel handhabt, legt von Zeit zu Zeit die Kloppel auf 
den Fufiboden, ergreift zwei Schmirgelpapierblatter und reibt sie gegen- 
einander. Das hort sich an wie ein Platzregen von Schmirgeltropfen. 
Auch Schmirgelpapier ist den Negern nicht bekannt. Sie schleifen ihre 
Waffen an Feldsteinen blank und putzen sie hochstens mit Asche. 
Uber die Diele, etwa einen Halbstock hoher, Hegt fiir Herrn die »Toilet- 
te«. Drin verkauft ein alter Mann Zahnbiirsten, Nagelfeilen, Taschen- 
spiegel. Seltsamerweise gehort dieser alte Mann mit seinen Musikinstru- 
menten nicht zur Kapelle. 

Die Musiker sind - heifit es - Amerikaner. Sie sehen wie Kinohelden 
aus. Aber in den Pausen sprechen sie deutsch. Ich horte es. 

Die einen sagen: »Schesbend«; die andern: »Dschesbend«; die dritten: 
»Ja2zband«, schlcchthin. Die einen lernen Jazzband tanzen; die andern 
konnen es; die dritten tanzen, ohne gelernt zu haben und ohne jazzban- 
den zu konnen. 

Irgendwelche Regeln diirfte es schon fiir den Jazzband geben. Ich sah 
einen alteren dicken Herrn im Cutaway, der mit seiner dicken Frau 
jazzbandete. Er ruderte mit den Ellenbogen und stieE gleichzeitig die 
Fufihacken rlickwarts. Er scharrte gieichsam mit den Absatzen. 



I92I 545 

Auch seine Frau ruderte mit den Ellenbogen, aber ihre Hufe regten 
sich nicht. Manchmal, wenn der Trommler In einem Anfall ekstati- 
scher Ausgelassenheit unvermittelt mit seinem Stiefel gegen eine Tschi- 
nelle schlug, spreizten Tanzer und Tanzerin die Beine wie Puppen aus 
Karton, die an einem Bindfaden gezogen werden. 
Manchmal legte ein Musikant seine Trompete auf den Kopf, drehte 
sich dreimal im Kreise und setzte sich wieder hin. Der Trommler sang. 
Er sang ein amerikanisches Lied, unvollkommen. Er sang, wie Neger 
singen, die, unmittelbar aus ihrer chansonlosen Heimat gekommen, 
die Kultur der Weifien an ihrem Hohepunkt - dem Chanson - begrei- 
fen lernen. 

Die kleinen Madchen und die grofien tanzten ebenfalls. Wahrend sie 
an mir voriiberkamen, entstromten ihren Korpern Apotheken und 
Drogerieladen. Ich sagte mir: Negerinnen parfumieren sich nicht, 
Negerinnen sind nicht weifi. Sie tragen keine ausgeschnittenen Klei- 
der; keine hohen Stockelschuhe; keine Seidenstriimpfe; keine Friih- 
jahrshiite. 

Negerinnen sind iiberhaupt ganz anders. Und Neger sind selten oder 
gar niemals dick, handeln nicht mit Kaffee-Ersatz und tragen keinen 
Cutaway. 

Denn dies ist die Verlogenheit dieser Zeit: Negertum, livriertes, und 
Europaertum, vernegertes. Kaffee-Ersatzhandler als Pseudonigger. 
In Amerika mogen die Jazzbandler recht haben. Vielleicht hat auch die 
amerikanische Brutalitat der eisernen Konstruktion zuweilen Explo- 
sionsbediirfnisse. Da macht der Anschluf^ der vollendeten Mechanik 
an die Urnacktheit den Ring der Entwicklung voUkommen. Eine lu- 
stige Pointe der Kulturgeschichte: dafi die Maschine negerisch wird. 
Urwald und Fabrik sind auch geographisch in Amerika - jenen Ver- 
haltnissen entsprechend - nicht weit voneinander. 
In Mitteleuropa aber ist die Maschine sentimental. Und die Zivilisation 
bemiiht sich, wie »Kultur« zu erscheinen. 

Die Negerstamme fiihren zum Beispiel Krieg gegeneinander. Aber sie 
entschuldigen ihn nicht mit Sentimentsgriinden. Der Weltkrieg der 
Europaer ware ein grandioses schreckliches Elementarereignis gewe- 
sen - ohne Ernst Lissauer und die Pressequartiere. Schrecklich ist ein 
Niggertanz der Pressequartiere; der organisierten Wildheit; der lyrisch 
umsaumten Bestialitat; der kommerzialisierten Blutriinstigkeit. 



54^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Schrecklich ist ein Niggertanz, der einen in drei verschiedenen Lautar- 

ten auszusprechenden europaischen Namen hat. (Und klange dieser 

Name auch wie die Summe von Tschinellenklang plus Paukenschlag.) 

Weifie Niggerinnen mit Divakostiim sind verlogen, Ein Negertanz in 

der Diele mit expressionistischem Stanniolpapier ist Biihnenkitsch, 

Wann tanzen Neger? - Wenn sie den feindlichen Stamm geschlagen 

haben. 

Wann tanzen Mitteleuropaer Jazzband? - Wenn ihnen eine Schiebung 

gegliickt ist. 

Dort rieche ich den wilden Blutdunst geschlachteter Leiber. Und hier 

den sauren Schweifi eines miihselig Multiplizierenden. Jener gewann 

die Schlacht und die Trophae. Und dieser die Prozente. 

Seht ihr, dafi der Mitteleuropaer sich hochstens einen temperamentvol- 

len Boston leisten kann? 

Was sagt mir der sauber frisierte Musiker auf den Schmirgelpapierblat- 
tern von Element aritat und Urnatur? Ich weifS ja, dafi er zu Hause mit 
diesem Schmii^elpapier sein Federmesser putzt und sein Schlacht- 
schwert abgeliefert ist. Wenn er mit dem Fufi aufstampft, sehe ich nur 
Chevreauxstiefel, Neger sind barfufi. 

Auch spielt er eine Melodie, und das ist verfehlt. Die Melodic ist a- 
rhythmisch, aber absichtlich so. Sie ist nicht barbarisch, sondern anti- 
kultiviert sozusagen. Es ist nicht Urmenschentum, das Auflegen einer 
Trompete auf den Kopf ; sondern kindisch. 

Die Notwendigkeit, Jazzband zu tanzen, empfinden offenbar alle: der 

Kaffee-Ersatzhandler, die kleinen Madchen und die grofien. Geht das 

Temperament mit ihnen durch? Sprengt es die iiberlieferten Gesell- 

schafts- und Tanzformen und ergiefit sich in Wildheit? 

Ach! Sie sind gedeppt, die Menschen. Der Ober ist eine Zierde seines 

Gewerbes. Solch eine voUkommene Verschmelzung von Hausherrn- 

wiirde und Dienstfertigkeit sah ich niemals noch. Neben den Tischen 

warten kleine Blechkiibel. Die Tanzenden werfen gelegentlich Wein- 

flaschen um. 

Ein Abend Niggertum kostet zweihundert Mark. Sauer erschobene 

zweihundert Mark, fiinfhundert, tausend. 

Die Musik ist bezahlt. Die Kapellenmitglieder zahlen zehn Prozent 

Steuer. 



I92I 547 

Und dieses Jazzband umschlingt hochstens Mitteleuropa und Ame- 
rika. Nicht Zivilisation und Chaos. 

Berliner Borsen-Courier, 1.5. 1921 



LU 



Lu-Elsa Philipp und Artur Urbanski lasen am 29. April im Schubert- 
saal abwechselnd moderne Dichter: Wildgans - Werfel, Beer-Hoff- 
mann - HasendeveVj Rilke - Artur Drei. 

Man sieht aus diesem Durch- und Gegeneinander, was »modern« 
heif^t. Alias, was lebt, 

Artur Urbanski liest mit scheinbar miihsam gefesselter Ekstase. Er 
dehnt ein Gedicht iiber die weite Flache einer ganzen Viertelstunde, 
schlagt grofie Pausenlocher in die Verszeilen und laEt einzelne Worte 
wie schmelzenden Siegellack in die Langeweile des Abends tropfen. 
Lu-Elsa las wie eine begabte Primanerin, die das Pech hat, an einer 
Theodor-Korner-Feier mitwirken zu diirfen. 

»Lu« mufi man nicht heiEen. »Lu-Elsa« darf man nicht heifien. Den- 
noch war's ein trefflicher Name; in diesem Fall. 

Der Herr Urbanski miifite eigentlich: Lu- Arthur heifien. Es schickt 
sich so. 

Berliner Borsen-Courier, 1.5. 1921 



SCHA-U-RA 



»Je-ka-mi« heiftt: »Jeder kann mitspielen.* Diese Wortbildung ist ana- 
log zu »Je-ka-fi« entstanden, und ich glaube, der Erfinder dieses Ver- 
kiirzungssystems ist der Mann der Gegenwart. Ihm ist es gegliickt, ein 
wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Nur-, Zeit- und 
Auch-Gesinnungsgenossen zu bilden: die Stenosonie, die Sprache der 
vor lauter Ekstase iiber das Filmenkonnen zu Kiirze und Pragnantheit 
im Ausdruck der Freude Gezwungenen. Ich allein, der ich nur Zeitge- 



54^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nosse der alien, die filmen konnen, bin, ich allein bin zuweilen gesucht, 
nach einem Theaterbesuch stenosonetisch zu werden und auszurufen:' 
Kei-ka-spi. (Keiner kann spielen.) 

Vi-ko-schrei - viele konnen schreiben. Eugen Szatmari und Karl Wil- 
czynski zum Beispiel. Sie schrieben - nun, was schrieben sie? - »Je-ka- 
rei.« Und es war eine Sommernachtsparodie mit Sascha Gura a. G., mit 
Hermann Kromes Musik; mit einem Duett »Phy ramus und Thisbe« von 
einem Mann namens Sigwart Ehrlich. Und es gab Paul Steinitz, der sich 
so furchtbar plagt, indem er aus dem Stegreif Verse schmiedet, einen 
Livestep-Tanzer Helmen, eine Liedersangerin von Mittelmafi: Lotte 
Hanne, eine Grotesktanzerin Ethel Gerd, Felix Felden, den bekannten 
Attributlosen. 

Auf dem Programm des »Schall und Rauch« steht ehrlich: Bierkabarett. 
Es hatte auch »Bi-ka« heifien konnen. Aber »Schall und Rauch« soUte es 
doch nicht heif^en, weil dieser Name falsche Vorstellungen erweckt. Zu 
stark ist noch die Tradition, und es leben noch zu viele aus der alten 
Generation, die das Zitat kennen. Angemessener ware: »Scha-u-Ra«. 

Berliner Borsen-Courier, 4. 5. 1921 



MOSZKOWSKI UND HILDESHEIMER 



In der Buchhandlung Struppe und Winkler las am 4. Mai Alexander 
Moszkowski »Ernstes und Heiteres« aus eigenen Werken. Moszkowski 
hatte einen Erfolg. 

Er las aus seinem Buche: »Die Kunst in tausend Jahren«. Aus dem 
Kapitel iiber »Sehklange« und »H6rbilder«. Die Vorstellung, dafi es 
gelingen konnte, Lichterscheinungen in Schallwellen zu iibersetzen und 
umgekehrt Klange in Lichterscheinungen bzw. Bilder, ist grotesk und 
lustig. Daf^ dann die Kunst ein anderes Aussehen haben wiirde, selbst- 
verstandlich. Ich mochte nicht nach tausend Jahren leben und die 
Baume im Lenz griinen horen. 

Was macht ein Dichter (das ist eine Personlichkeit, die Menschen zum 
Universum in Beziehungen bringt), was macht ein grotesker Dichter, 
sagen wir zum Beispiel: Meyrinck, wenn er einen Einfall hat, wie Mosz- 
kowski ihn hatte?- 



I92I 549 

Der Dichter zeichnet einen Kiinstler, sagen wir einen Maler, der Bilder 

tomponiert, well er Lichterscheinungen hort. Der Dichter ist sogar 

mstande, uns in einen grofSen Konzertsaal zu fiihren, in dem ein Or- 

;hester Landschaften spielt. 

Vloszkowski aber blieb im Abstrakten. Seine dichterische Fahigkeit 

*eicht aus, um gesammeltes Wissen absolut, willkiiriich, launisch, tem- 

^eramentvoU zu beherrschen. Seine waghalsig kombinierende Phanta- 

;ie kann wissenschaftliche Erkenntnisse zu unmoglichen Mogiichkei- 

;en ausbauen. 

[ch wiinschte, er zoge die Konsequenzen aus der Tatigkeit seiner 

Phantasie und ersanne praktische, lebendige Beispiele. 

\ber wo Moszkowski sich wirkiich dichterisch betatigt (Menschen in 

lie Welt setzt), bleibt er im Bestehenden. 

[a, im Lokalen sogar. 

Und in den Grenzen der Konvention; der gesellschaftlichen und der 

iterarischen. 

Der Humor Swifts setzt das Unmogliche voraus; der Humor Mosz- 

iowskis vergniigt sich damit, es denkhar zu machen. 

Moszkowski ist ein geistreicher BerUner Humorist. Geschmackvoll, 
wt\\ er die Grenzen seiner Kunst kennt und respektiert. Indem er Tief- 
jinniges popularisiert; Populares vertieft; AUtagHchkeit philosophisch 
Detrachtet; Philosophie aUtagHch werden lafit, wird er ein bedeutender 
fCulturfaktor Beriins. 

A.bzurechnen ware mit einem jungen Mann, Edgar Hildesheimer^ der 
ror dem Beginn der Vorlesung ein »Vorwort« sprach. Uber die Ziele 
der Buchhandlung Struppe und Winkler (tun wir ihm den Gefallen), 
die Autoren in diesem Winter zu Worte kommen Uef^, im nachsten zu 
Worte kommen lassen will. 

Edgar Hildesheimer ergriff die Gelegenheit, um liber die Kalte des 
»Volkes« gegeniiber seinen Dichtern sehr viel Pathetisches zu sagen 
and schlecht zu betonen. Er zitierte einen Satz aus Hebbel, Hebbel 
schreibt: Er habe mit Ausnahme eines Sommers nichts Warmes (in 
Miinchen, glaube ich) gegessen. Herr Hildesheimer betonte: »einen 
Sommer« - als ob die Jahreszeit maEgebend ware. Er sprach und 
sprach. Just ehe einer der erfolgreichsten Schriftsteller (Moszkowski) 
sprechen durfte. Schlief^lich pries er {»wir werden«) dem Publikum die 



550 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ziele seines Unternehmens an wie ein Reisender Krawatten in einem 

Provinzladen. 

Warum mufS alles Gute so fiirchterlich eingeleitet werden? 

Berliner Borsen-Courier, 7. 5. 1921 



TIERE (II) 



Heute, Sonntag, nachmittags um 4Uhr, findet in Berlin {»direkt am 
Bahnhof Hohen2ollerndamm«, heifit es in der Ankiindigung) ein gro- 
fies Preis-Rattenwiirgen statt in 16 Quadratmeter grofier Arena. 
Die Ratten, stelle ich mir vor, werden von »Interessenten« gelegentlich 
eingefangen, sehr gut gefiittert und iiberhaupt wie eigene Kinder im 
Haus gehalten. Bis der Tag des Rattenwiirgens kommt. 
»Direkt« oder indirekt am Bahnhof HohenzoUerndamm oder an 
einem andern lassen die Interessenten ihre Ratten in einer 16 Quadrat- 
meter grofSen Arena los. Schicken dann ein paar Hunde in die Arena - 
oder wiirgen die Menschen selbst? 

Es ist jedem Mitteleuropaer ohne weiteres klar, dafi es sich hier mehr 
um Hunde handelt denn um Ratten. Mehr um die Wiirgenden als um 
die Gewiii^ten. Um die Starken geht es, nicht um die Schwachen. Um 
die Jager, nicht um das Wild. 

Das »Preis-Rattenwurgen« geschieht namlich im Anschlufi an eine 
Vorfiihrung von »Polizei- und Schutzhunden«. Und ich bin iiber- 
zeugt, dafi Polizei- und Schutzhunde sehr niitzUche, Ratten dagegen 
sehr schadliche Haustiere sind. 

Aber ich liebe Hunde und Ratten. Die Hunde, nicht weil sie im Laufe 
der Zivilisation die menschliche Eigenschaft der unbedingten Treue so 
sehr angenommen haben, dafi die Treue geradezu aufgehort hat, 
menschlich zu sein und nur noch hiindisch geblieben ist - sondern weil 
die Hunde vierbeinig und also nicht im Besitz von Handen sind, mit 
denen sie Reden halten, Leitartikel schreiben, Dynamitattentate voll- 
fiihren konnten. Und die Ratten sind eigentlich auch vierbeinig und 
konnen all dies auch nicht. Sie haben nur einen anderen Begriff von 
Treue. Aber die Ahnlichkeit zwischen Ratten und Hunden ist ent- 
schieden grof^er als die zwischen Hunden und Menschen. 



I92I 551 

[ch glaube daher, dafS es gewlssermafien ein Verrat der Hunde an den 
Ratten ist, dieses Preis-Rattenwiii^en. Und dafi die Menschen, deren 
Kultur in den Schullesebiichern und in der Kriegsgeschichte niederge- 
legt ist, an diesem Verrat schuldig sind. Tiickisch fingen sie erst die 
Ratten ein. Tiickisch richteten sie unschuldige Hunde ab. Und veran- 
stalteten einen grofien Tag, Preis-Rattenwiir^en (mit Festschmaus wo- 
moglich), liefien Hunde auf Ratten los, keins von beiden weifi, dafi 
diese Jagd auf einem i^ Quadratmeter groEen abgezirkelten Raum von 
Menschen vorbereitet ist: Hunde und Ratten glauben, ein Zufall sei 
dieser Krieg - wenn sie Politiker haben, nennen sie's »eine Naturnot- 
wendigkeit« -, genauso wie Menschen glauben, wenn ein Wehkrieg 
iosgeht, der eigentlich, eigentUch ein Preis-Menschenwiirgen ist. 
Weil Ratten schadlich sind und unter gewissen Bedingungen Trager 
und Erreger der Beulenpest sein konnen, miissen sie abgewiir^t wer- 
den. Der Hund, ein treuer Freund der Menschheit, weil er sie nicht 
kennt, schiitzt sie vor Beulenpest. Und wird kommandiert, der Ah- 
nungslose, zum Rattenwiirgen. Und weifS nicht, wie nahe er den Rat- 
ten steht und wie feme, feme den Menschen und der Schutzpohzei. 
Ihn und die Ratten verbindet die gottliche Ahnungslosigkeit und Un- 
schuld der von Menschen miEbrauchten Elemente. Ihn und die 
Schutzpohzei verbindet hochstens seine Abkehr von der Natur. 
Vielleicht wurde er auch dann Ratten wiii^en, wenn er nicht zum 
Preis-Rattenwiirgen bestellt ware. Aber jenes Wiir^en ware grofi, gott- 
gewoUt, ein Naturereignis. Schandlich fiir den Hund, daE er die Natur 
an die PoUzei verrat. Elementare Geheimnisse preisgibt. Seine Eigen- 
schaft. Ratten zu wiirgen, als Anlafi zur Dressur darbietet. 
UnermeElich ist die Tragik dieses Preis-Rattenwiirgens. Wo ist der 
Dichter, der sie in Formen fafit? 

Ich sah, wie der Lunapark eroffnet wurde, mit Wellblechen und Ha- 
genbecks Tieren: 

Die Eisbaren tragen die grausame Schuldlosigkeit uferloser Eisfelder in 
Blick, Fell und Bewegung. Sie sind gewohnt, in raschem, schlankem, 
elegantem Schwung iiber griin und weiE schimmernde Flachen ohne 
Schlucht zu springen, Beute geschickt beim Genick zu erwischen, mit 
schweren, unbarmherzigen Tatzen festzuhalten und zu vernichten. In 
ihren Augen spiegelt sich die keusche Ewigkeit menschenloser Welten. 
Hier aber, im Lunapark, zittern sie vor dem Knall einer elenden Peit- 



5^2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sche. Sitzen sk auf armseligen Holztischen; rutschen eine glattgeho- 
belte Bretterwand herunter; steigen auf einer primitiven Holzleiter em- 
por. Wo sind die griinlich schimmernden Gletscher? 
Affen, die im Urwald noch auf knorrigen Asten ihr Leben verspieler 
und bemiiht sind, die kurze Zeitspanne auszunutzen, in der sie noch 
Affen sein diirfen, Ubergang wenigstens vom Tier zum Menschen, 
wenn schon nicht Tier allein, tragen hier bunte Hoschen und fahren aui 
einem Zweirad. 1st das der Sinn der Natur? 

Unendliche Trauer iiberfailt mich im Zirkus, wenn ich den Elefanten 
sehe. 

Dieses Ungeheuer, nicht aus dem Stall, sondern unmittelbar aus Tertiar- 
zeiten in die Arena stapfend, dieser Elefant, der vielleicht prahistori- 
sches Ungeziefer in Hirschkaferformat in seinem Pelz tragt, auf dessen 
Riicken Jahrmillionen wuchten, blickt verstandnislos ins Parkett, und 
sein feuchtes Auge, in dem alle grotesken und grandiosen Wunder einer 
seiigen Vorzeit lagern, haftet verwundert in der ersten Loge rechts an 
dem Monokel in eines becutawayten Herrn Auge, in dem sich die gran- 
diose Stupiditat einer unseligen Nachzeit spiegelt. 
Die Kapelle beginnt ein furchterliches Getrommel, und das Ohr des 
Elefanten, an Eisbruchdonner und Weltuntergangsgerausche gewohnt, 
empfindet dieses miifiige Getrommel wie das feme Fallen eines linden 
Ursommernachtregens . 

Tun wir ihnen den Gefallen ! - sagt sich der Elefant. Und hebt einen FuC 
hoch und setzt sich in einen lacherlichen Kinderwagen und trommelt 
mit einer Kinderspielzeugtrommel und verneigt sich vor dem klatschen- 
den Publikum, als ware er ein Mensch. Und schamt sich nicht. 
NeuHch ging eine Filmgesellschaft in den Zirkus Sarrasani und be- 
lauschte das Liebesleben der Elefanten und kinematographierte es. 
Nachstens wird man einen neuen Lehrfilm sehen: »Das Liebesleben der 
Elefanten«. Wissenschaftlich interessierte Kreise werden sich um diesen 
Lehrfilm ziehen und iiberhaupt Interessenten. 

Vielleicht, wer weil^, konnte einem grausamen Gott der Einfall kom- 
men, einem Elefanten aus dem Zirkus Sarrasani Menschenhirn und In- 
teresse fiir den Film zu verleihen. Und der Elefant macht sich dann aui 
den Weg nach der MefSterwoche. 

Und sieht seine keuschesten Geheimnisse schamios preisgegeben einer 
interessierten Meute. 



19^1 553 

Glaubt Ihr, der Elefant wiirde an einem Kinooperateur lernen, um 
wieviel Menschenfleisch schmackhafter sei als Pflanzenkost? Oder er 
wiirde heimgehen, sich an den Schreibtisch setzen und in zweimal vier- 
undzwanzig Stunden einen Film verfafit haben mit dem Titel: 
»Ein Liebesabenteuer des weifien Elefanten von Siam, Gesellschafts- 
film in zwolf Bildern . . .« 

Nostra culpa! Unsere grofie Schuld! Weil wir das Liebesleben des Ele- 
fanten belauschen und Tier gegen Tier hetzen. 

Ich werde mir heute das Preis-Rattenwiirgen ansehen. - Ich liebe alle 
Kreatur! 

Berliner Borsen-Courier, 8. 5. 1921 



mArchen 



Lotte Rosenbaum las am 5. Mai im Meistersaal Marchen von Otto Na- 
than. Marchen in Versform und solche in ungebundener Rede. Sie wa- 
ren alle herzlich schwach. Sie hielten sich in den Grenzen der guten, 
alten Marchenkonvention. Der Verfasser arbeitet mit bereits bestehen- 
den Marchen vorstellungen : dafi die Seel en sich in Sterne und Moor- 
lichter (eventuell auch) verwandeln. Dafi die Seejungfern vom Seelo- 
wen verfolgt werden. Dal? der Friihling ein »fluchtiger Gast« ist. 
A.llerdings versohnen kleine poetische Einfalle: dal? der Seelowe seine 
Seitenflossen behagHch liber dem Bauch f alter; dal? die Seelowin eifer- 
siichtig wird auf die Jungfern. 

Geschmackloses passiert: Alle Kinder sagen: »Muttchen«. Wenn ich 
licht irre, sagten es sogar ein paar Engel. 

A.ber vor mir S2& ein sachsisches Dienstmadchen, Es freute sich sehr 
'irgendwer hatte ihr die Karten geschenkt) iiber den fliichtigen Gast 
Lind die Moorlichter und den Seelowen. Und wenn nur ein sachsisches 
Dienstmadchen im ganzen Meistersaal eine Freude hatte, so sind die 
Marchen Nathans wert, gelesen zu werden. 

Die Marchenbilder waren ganz ausgezeichnet: witzig, naiv-pointiert 
and die Phantasie anregend. 

Berliner Borsen-Courier, 8. 5. 1921 



GOETHE-VORMITTAG 



Der Verein »HaHSpflege« veranstaltete gestern vormittag im Schau- 
spielhatis eine Wohltatigkeitsmatinee: 
»Bei Goethe«. 

Lothar Muthel sprach die Zueignung. - Eine oder zwei Wochen vor- 
her hatte ich »Gas, Zweiter Teil« am Sonntagvormittag gehort. Es 
war entschieden Gegenwart darin: Maschine, Kommando, Signal. Ich 
kam aus der »Gas«-Vorlesung in die Nahe des Lehrter Bahnhofs. Sah 
Gegenwart, Maschine, Kommando, Signal. 

Am letzten Sonntag vormittag horte ich die Zueignung. Es war keine 
Gegenwart darin. Den kommenden Morgen, die Schritte, die den lei- 
sen Schlaf verscheuchen, fiihlte ich sogar als Widerspruch zum S.Mai 
1921: zum Gendarmenmarkt, an dem der Untergrundbahnhof klebt. 
Wo kommen noch Moi^en her? Wen umfangt gelinder Schlaf? Wer 
wandert aus stillen Hiitten Berge hinan? 

Aber irgendwie fiihlte ich und fiihlte jeder, dafi Gegenwart, Signal, 
Kommando, Maschine lacherUch werden vor dem Glockenklang 
eines Wortes und eines Verses: da{? Begrenztheit hier - Ewigkeit im 
Symbol: Hiitte, Morgen, Schleier der Dichtung, Hand der Wahrheit 
lebt, Nach der dritten Strophe warst du eingebettet in Wohlklang. 
herbe Weichheit, opalenen Glanz Goethescher Vergangenheit und - 
Ewigkeit. Da waren Hiitte, Morgengang, verscheuchter leiser Schlai 
selbstverstandlich. Und ware ich Dadaist, bei Baader! Ich konntt 
nicht anders!. . . 

Hinter dem Vorhang wurde Reichardts Madrigalchor aus »Euphro- 
syne« gesungen; dann »Kunstlers Erdenwallen« und »Apotheose<< 
aufgefiihrt. Dann las Dagny Servaes ein paar Jugendgedichte. Wie mil 
schien, etwas zu sehr die Goethe-Veranstaltung (nicht die Dichtung' 
betonend. Leni Bowitz und Erna Sydow gaben einen Rahmen, der 
man in iiblicher Weise »liebUch« nennen miif^te. 
Der zweite Teil hiefi: »Hausmusik bei Goethe«. Leopold von Lede- 
bur safi ein bifichen zeremonios in der Goethemaske (Ernst Kepple^ 
gab den Eckermann) und horte Barbara Kemp zu, die Goethesch< 
Lieder (Mozart, Beethoven, Schubert, Zelter) sang. Es ist, stelle icl: 
mir vor, sehr schwer, harmlos in der Maske eines Olympiers dazusit- 
zen - und ist doch nur ein Ledebur. 



19^1 555 

Zu erwahnen ist noch Hermann Bottcher, der Liedersanger. Er war 
fast der einzige, der sich frei gab. So als lebte er wirklich im achtzehn- 
ten Jahrhundert. Er machte die ganze Sache mit dem galanten Humor 
jener Zeit und mit einer fast Wielandschen graziosen Skepsis. 

Soil man den Vormittag »gelungen« nennen? Er war mehr. Er war 
Verlebendigung eines Stiicks Historie. Nirgends empfand man auch 
nur eine Spur von unserer sentimentalen Art, grofJe Dichter »liaus- 
[ich«, sinnig, innig in den Bereich der Familienstickerei zu Ziehen. Es 
blieb immer noch die Distanz. 
Das Verdienst gebiihrt der Regie Legals und von Nasos. 

Berliner Borsen-Courier, 9. 5. 1921 



MARTHA KRULL 



Martha Krull rezitierte am 9. Mai im Meistersaal Goethe, Schiller, 
Heine und Lenau. 

Klassische Dichter rezitieren heifit sie so zum personUchen Leben er- 
w^ecken, als waren sie nie in SchuUesebiichern begraben gewesen. Nur 
nn grofSer Sprecher kann stimmliche Anklange an das Obertertiani- 
iche iiberwinden, das unsern groCen Dichtern anhaftet. Immer wieder 
wird das Deklamatorische starker als das Charakteristische. Und der 
iiberlieferte Klang, in dem wir sie kennengelernt haben, unsere armen 
ieutschen obligatorischen Dichter, iiberwuchert das Wesentliche, zu 
dem wir uns in langen Jahren miihevoll durchgerungen haben. 
N4artha Krull wagte daher viel. Aber es gelang ihr manches. Im Lyri- 
ichen ging es nicht: Da verfiel sie in die abgehackte Absatzmelodik des 
lesehenen (nicht gehorten) Wortes. Da verharrte sie unmafiig lange auf 
der Reimsilbe, schlug stramm die Hebungen an und iiberflog achtlos 
Senkungen. Aber das eigentlich Balladenhafte, also im Wesen Drama- 
:ische, war vortrefflich akzentuiert, gesteigert und mit Blut erfiillt. 
Me rezitiert auswendig, mit willkiirlichen Anderungen. Seiche Verge- 
waltigungen diirften nicht vorkommen. 

Berliner Borsen-Courier, 11. 5. 1921 



THEATER IM URZUSTAND 



Das neueste Berliner Theater heifit Schlofitheater und liegt in Steglitz. 

Heute abend wird man es eroffnen. 

Aber vorlaufig besteht die Welt noch aus Lehm und Dreck. Viele Ar- 

beiter legen letzte Hande an das Werk. Es ist ein Theater im Urzu- 

stand. 

Es war einmal ein Schlofi, hore ich. Der alte General Wrangel wohnte 

darin. 

Der alte General Wrangel ist lange tot und begraben. Nie hatte er 

daran gedacht, aus seinem Schlofi ein Theater zu machen. Niemand ist 

nach seinem Tode gluckUcher zu preisen . . . 

Unter einem Brettergeriist schiefit eine halbe dorische Saule lebhaft 

empor, von emsigen Maurerhanden im Aufwartsschiefien gefordert. 

Bald muC sie fertig sein, die dorische Saule wird aussehen, als stiinde 

sie da seit dorischen Urzeiten: einfach, klassisch, Einfalt und Grofie 

aus Rillen und Rinnen atmend. 

Die zwei dorischen Saulen stehen vor dem Eingang in den Gardero- 

bentempel. Darin werden dicke (oder auch diinne) Frauen unewige 

Kleider behiiten und von Zeit zu Zeit ein kleines Helles trinken. 

Noch fiihren enge Bretterstege von Lehmberg zu Lehmberg. Auf den 

Bretterstegen schwanken mortelbeladene Karren und ziehen Arbeiter 

hinter sich her. 

Auf der Biihne hammert eine Hand an einem Pfosten. 

An diesem Pfosten wird heute vielleicht eine junge schone Schauspiele- 

rin lehnen und Dichterworte rauschen. Die Hand weifi nicht, dafi sie 

den Hintergrund fiir eine Welt voll Schonheit und Tiefenglanz zu- 

rechthammert. 

Unter der Biihne ist ein hohler Raum, fiirs Orchester, glaub' ich. Ein 

jungfraulicher, klangunberiihrter Raum noch: durstig nach Geigen- 

seufzern und Tschinellengelachter. Heute oder morgen ist er melo- 

dienschwanger. Pianotraume und Fortissimokaskaden wird er geba- 

ren. 

Der Zuschauerraum ist klein und schmal und hat geschlitzte Wande. 

Aus den Wandspalten rieselt StimmungsUcht durch glaserne Rohrlam- 

pen. Die Decke ist braungetafelt und stromt sommerHche LandHchkeit 

aus. Und die Stiihle sind braun und untatig aufgeklappt. Vor dem Ein- 



I92I 557 

gang steht ein Wassereimer, und darin platschert ein Sonnenstrahl. 

Und es riecht nach Ol und Terpentin und »Bitte nicht zu beriih- 

ren . . . !« 

Es ist ein Theater-Urzustandsgeruch. 

Ich denke nach, wo das Loch fiir den Souffleur ist, und kann's nicht 

finden. Ich will hoffen, dafi es nicht ein Theater ohne Souffleur wird. 

^Denn der Souffleur ist gewifi das Schonste in jedem Theater: Man 

tiort ihn nur manchmal, und sehen darf man ihn iiberhaupt nicht.) 

Die Buhne schliefit knapp an den Zuschauerraum. Das Publikum der 

^rsten Reihe lehnt seine Knie direkt an das Drama. 

Der Kuppelsaal des General Wrangel wird ein Gesellschaftsraum. Vor- 

aufig ist die Kuppelhohlung mit einem Holzdeckel verschlossen. Ihre 

Eiohlwand soil mit schonen Bildern bemalt sein. Aber man sieht sie 

licht. Wer mag es nur gewesen sein, der unter eine sonnengefiillte 

K^uppel einen Deckel gelegt hat, urn dann eine armselige elektrische 

Sirne anbringen zu konnen? 

xh stelle mir vor, dafi seit langen Jahren Sonnenlicht sich in dem 

^ohlraum der Kuppel angesammelt hat. Nun, wenn der Deckel abge- 

lommen ist, wird unaufhorlich Sonne in den runden Saal stromen und 

Fag und Nacht leuchten. 

4eute abend schon mufi das Theater sich bemiihen, so auszusehen, als 

vare es gar nie gebaut worden; sondern als ware es einfach da, anlafi- 

ich der Weltschopfung entstanden. 

\ber ein ganz leiser Terpentingeruch wird sich unvermeidlich in fran- 

:osisches Damenparfiim mischen. 

Berliner Borsen-Courier, 12.5. 1921 



.>FRANTA SLIN« 



Wi&t Ihr, wer Franta Slin ist? Ein Soldat, der im Feld einen Unterleibs-' 
chufi erhalt und das Geschlecht verliert. Invalid, am invalidesten zu- 
iickkehrt, seine junge Frau langsam in den Tod treibt, weil ihre Ge- 
;enwart ihm Bitternis, Qual, Vorwurf, taglichen Tod bedeutet. Der 
lann mit einem Madchen von der Strafie ins Hotel geht und seine ver- 
iriippelte Geschlechtlichkeit in ohnmachtiges Morden wandelt; Ge- 



558 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schlechtsdrang in Totungsdrang umsetzt. Er priigelt das Madchen 
halbtot und entflieht, gemeinsam mit einem aus dem Gefangenenla- 
ger ausgebrochenen russischen Kriegsgefangenen. Im Wald wird 
Franta Slin, der Perlen und Geld (Kriegsbeute) bei sich fiihrt, von 
dem Russen ermordet. In semem letzten Traum erlebt er noch die 
ersehnte Befreiung. Er traumt von der polnischen Jiidin, die er im 
Feld vergewaltigt hatte. Das ist die Geschichte von Franta Slin. 
Ernst Weifi hat sie gedichtet. Rahel Sanzara las sie gestern im Ro- 
wohlt-Verlag. Schlicht, eindringlich und erschiitternd. 
Unerhorte Kiihnheit, dies en Vorwurf zu wahlen. Nicht well es sich 
um Geschlechtlichkeit handelt, sondern weil die Seltenheit, viel- 
leicht sogar Einzigkeit dieses Motivs in der neueren Dichtung je- 
nem, der es erwahlt, unbedingte Selbstandigkeit in Form und Be- 
handlung des Inhalts gebeut. Die unerbittliche Konsequenz dieses 
unerbittlichen Kriegsgeschicks mit der grausamen Genauigkeit 
niichterner Tatsachensprache verfolgt und verzeichnet zu haben ist 
ein unschatzbares Verdienst eines iiberaus schatzenswerten Dich- 
ters. Vielleicht ist trotz Barbusse und Frank in keiner der vielen 
Antikriegsgeschichten die Bestialitat der vaterlandischen Morderei 
eindringlicher in menschliches Bewufitsein gehammert worden als 
in »Franta Slin«. 

Die Gedichte, die Rahel Sanzara dann las, zeigten den Philosopher 
und Panegyriker, den in Symbolen lebenden, liebenden Dichter: 
Rausch in Wort und Vers, geziigeltes Ausstromen der dichterischer 
Personlichkeit in Umwelt und Trinken der umgebenden Gegenwan 
mit alien Poren einer schopferischen Seele. 

Berliner Borsen-Courier, 12.5. 1921 



REHABILITIERUNG DER SCHWARZEN 



Der Film »Die schwarze Schmach«, in dem die ersonnenen Greue 
schwarzer Truppen in den besetzten Gebieten Deutschlands gezeig 
wurden, »rollt« (wie man von Filmen sagt) nicht mehr. Ein paa: 
anstandige Menschen in Deutschland haben darauf aufmerksam ge 
macht, dafi der Film »gestellt« war. In Berlin ist er erledigt. 



I92I 559 

Unerledigt bleibt das Problem der »schwarzen Schmach« iiberhaupt. 

Was ist »schwarze Schmach«? 

So nennt man die Verwendung schwarzer Truppen im Kampf gegen 

Europaer und in der Besetzung europaischer Gebiete. Die Besetzung 

iiberhaupt ist eine Schmach. Keinem fallt es ein, sie eine »weifie 

5chmach« zu nennen. Die Besetzung durch die Schwarzen empfindet 

Tian besonders schwer und nennt sie zwecks doppelter Unterstrei- 

:hung des Schmachbegriffes: »schwarz«. 

>olange also das Gebiet nur von Franzosen, Englandern, Belgiern und 

mderen Weifien besetzt ist, sind wir Deutsche schlechthin. In dem 

\ugenblick, in dem ein Schwarzer europaischen Boden »besetzt«, sind 

mx nicht mehr Deutsche allein, sondern Mitglieder der europaischen 

':Culturgemeinschaft; sind wir Weil^e. Weifi, wie Englander, Belgier 

ind Franzosen sind. 

Das ist das Zugestandnis einer Gemeinsamkeit mit unseren Feinden. 

aegen die Schwarzen bilden wir (Deutsche, Franzosen, Belgier, Eng- 

ander) die weifle Front. 

IS bleibt dabei ganz unberiicksichtigt, da£ die Schwarzen diesmal von 

lem nichtdeutschen Teil der wei£en Front miEbraucht worden sind. 

Jnd daE die schwarze Schmach eigentlich eine den Schwarzen ange- 

ane ist, 

Vir empfinden die Besetzung deutscher Gebiete durch die Schwarzen 

Is eine besondere Krankung und hassen die uns also Krankenden; 

Tanzosen, Belgier, Englander, weifie Menschen, nur noch mehr, Aber 

vir sprechen nichtsdestoweniger nicht von einer doppelt weifien, drei- 

ach weifien Schmach, sondern von einer »schwarzen« und stellen in 

[em Augenblick unserer tiefsten Demiitigung durch die Weifi en ge- 

leinsam mit jenen, die uns demiitigen, die* weiEe Einheitsfront her. 

jegen die Schwarzen. 

)as ist Widerspruch, Unlogik. 

jesetzt den Fall, es ware umgekehrt: Die Schwarzen waren die Herren 

iluropas, die Erfinder des Schiefipulvers und der Politik, des Antise- 

litismus und des Hakenkreuzes. Aus ihren Reihen waren Ludendorff 

nd die MarHtt, Poincare und der Erfinder des Gummiabsatzes, Lloyd 

jeorge und die Mitrailleuse hervorgegangen. 

Jnd die WeiEen waren ungliickliche Eingeborene eroberter und will- 

iirlich zivilisierter, das heil^t: geknechteter, unselig gemachter Kolo- 

ien. Und die Schwarzen hatten eine Grof^e Zeit gegriindet und sich 



560 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

gegenseitig Gebietsteile besetzt. Hatten da die Schwarzen weifie Ein- 

geborene zur Besetzung schwarzer Gebietsteile verwendet? 

Wahrscheinlich. Denn die Schamlosigkeit und Feigheit, die sich darin 

kundgibt, dafi man fremde, harmlose und noch gotterfiiilte Menschen 

zu Maschinengewehren und Devastationsmaschinen degradiert, ist 

nicht eine Folge der Hautfarbe, sondern der Fahigkeit, Ludendorffe, 

Marlitts, Poincares, Gummiabsatze, Lloyd Georges, Giirtelpaletots, 

Mitrailleusen und Monokels hervorzubringen. 

Es gibt also nur eine Art Schmach: die der Maschinengewehre und der 

Monokels. Diese Schmach aber ist zufaUig eine weifie. 

Indem wir aber den Begriff »schwarze Schmach« pragen, haben wit 

nicht so sehr unsern Hai5 gegen unsere weiCen Beherrscher ausge- 

driickt als vielmehr unsere Gemeinsamkeit mit alien jenen, denen Ma- 

schinengewehr und Monokel eigen sind. Das Wort »schwarze 

Schmach« ist ein Treueid, der weifien Kulturgemeinschaft geleistet 

Wir bekennen uns somit zu Goethe, Shakespeare und Rousseau. Abei 

auch zu Marlitt, Lloyd George, Poincare. 

Die Schwarzen haben allerdings keinen Goethe, keinen Shakespeare 

keinen Rousseau hervorgebracht. Aber auch die drei andern nicht. 

Zur Entschuldigung der Schwarzen fiihre ich an: daf? sie keinc Mono 

kel tragen, keine Maschinengewehre erfinden, keine Hetzartikel ver 

fassen, keine Dynamitattentate voUfiihren, keine Reden halten, keii 

Hakenkreuz an die Wande malen, nie schieben, kein Geld auf Zinsei 

leihen und keine Memoiren schreiben. Ich konnte die Zahl der Ent 

schuldigungsgriinde beHebig vergrofiern. 

Die Weifien tun dies alles. Und konnen sich nur mit Goethe, Shakes 

peare und Rousseau entschuldigen. (Die es librigens gelegentlich aucl 

bedauert haben, Weifie zu sein.) 

Wenn wir also von einer »schwarzen Schmach« sprechen, so tun wi 

den Schwarzen unrecht. 

Man sagt (und im Film »Die schwarze Schmach« konnte man es se 

hen), dafi die Schwarzen Frauen und Kinder schanden. Aber erstens is 

dieser Film »gestellt« und erlogen. Zweitens schanden auch Weifit 

Drittens: Taten es selbst die Schwarzen, so taten sie's auf das mitte] 

bare Geheifi der Weifien. Dann waren sie sozusagen Schandungsma 

schinen der Franzosen. Also sind sie selbst vieltausendmal mehr ge 

schandet. 

Wir miifiten viel mehr emport sein, wenn Weifie unser Gebiet besei 



1921 ^6i 

Len. Gegen Schwarze konnen wir eigentlich nichts vorbringen. Wir 
iollten uns schamen einer Gemeinsamkeit mit Bestien, die der Zufall 
iveifi gefarbt hat. Wir sollten inneren Frieden, Kulturfrieden mit Men- 
;chen schlieEen, die aus der unschuldigen Harmlosigkeit ihrer fernen 
lieimat, aus dem gottlichen Kindesalter der Welt von weiEen Pratzen 
n den Mord der Zivilisation geschleppt worden sind. 
"riede sei mit euch, ihr Schwarzen! 

^och mehr als Hafi und Rache gegeneinander erfiillt uns Weifie der 
?^ivilisationshochmut. Weil wir statt der Sonne eine Bogenlampe, statt 
les Himmels eine Kulisse, statt des Glaubens die Theologie und an- 
telle Gottes einen ordentlichen Professor zu erzeugen vermogen, 
;lauben wir, mehr zu sein denn jene, die in schlummernder Unschuld 
ilementare Naturtraume erleben, in den feuchtklihlen Schatten ehr- 
urchtiger Urwalder, Kinder Pans, dem Pan huldigen, unschuldig sind, 
elbst wenn sie toten. Gottlieb, wenn sie Heben. Wahre, durch Bart 
md Brille und Monokel noch nicht entstellte Ebenbilder Gottes, tief 
n die Schatten der ersten Schopfungstage gedriickt. Ihre Kinder han- 
;en mit Affen an seltsamen, urschonen Gummiguttbaumen, rakeln 
ich im Sand, spielen nicht Tennis und sammeln keine Briefmarken. 
hre Jiinglinge fechten nicht auf Mensurboden und saufen kein Bier, 
►ie zittern vor dem BHtz und horen Gottes Ruf durch den Donner. 
Jnd wir haben nur einen Blitzableiter. 

Vir haben sie milUonenmal geschandet. Wir sandten ihnen Missionare 
ind Artillerie, Lesebiicher, Mord und Variete. Wir Weif^en schickten 
tinen Gouverneure und Steuermahnungen, Meldezettel und interna- 
ionale Taschendiebe. 
Dh, dreimal weif^e Schmach! 

iier aber stocke ich bereits in der Verteidigung der Schwarzen; denn 

:h entsinne mich des Films: 

)a sah man schwarze Manner wei{^e Madchen zu Tod und Schimpf 

letzen. Wer waren diese Schwarzen? Geschminkte Europaer? - Nein. 

Ls waren Schwarze. 

is gibt also auch schwarze Filmschauspieler, die sich dazu hergeben, 

lie erlogenen Schandtaten ihrer Rasse darzustellen. Schwarze Liftboys 

:annte ich schon lange. Schwarze Weifie aber kenne ich erst jetzt. 

Jnd ich sehe trauernd, daf^ die wei£e Schmach gesiegt hat. Ich sehe die 



^6l DAS JOURNALISTISCHE WERK 

langsame, aber unaufhaltsame Assimilation der Schwarzen an die Wei- 
fien. Schwarze Boxer, schwarze Filmschauspieler, schwarze Filmdi- 
ven. Der Erfinder des nachsten voUendeten Prima-Stickgases wird eir 
Schwarzer sein. 
Es gibt nur eine einzige grolSe M ensch enschmzch. 

Berliner Borsen-Courier, 15. 5. 192: 



HINTER DEN KULISSEN 

Eine Theatervorstellung von der BUhne gesehen 

Auf der Buhne riecht es nach Staub, Schminke und Geriimpel. Eir 
paar Schauspieler wandeln planlos in Operettenkostiimen herum, unc 
ein Feuerwehrmann liest in einem Abendblatt. Ein Mann mit BriUf 
und in einem weifSen Arbeitskittel erscheint manchmal hinter den Ku- 
lissen und verschwindet wieder. Er sieht aus, als kame er aus einen 
Operationssaal und roche nach Kampfer und Jodoform. Er ist abei 
kein Arzt, sondern ein Betriebsmensch. Er gibt Signale, Rufworte unc 
ist nur gewissermafien der Operetten-Operateur. 
In der Pause donnert ein Handeklatschen vom Parkett heriiber wie eii 
ferner nachtlicher Sommerplatzregen. Die Schauspieler, die eben vor 
der Biihne hinter die KuHssen getreten sind, wischen sich mit einen 
Taschentuch einen fiktiven Schweif^ von dem Periickenrand und eilei 
auf die Biihne zuriick, um sich zu verneigen. Das PubHkum glaub 
wahrscheinlich, dafi die Schauspieler herausgeklatscht werden miissen 
Dem ist nicht so. Die Schauspieler konnen gar nicht anders, als nacl 
dem Szenenschlufi wieder auf die Biihne eilen. Es ist eine unbewufSt( 
Reflexhandlung. 

Freilich gilt diese Theorie nicht fiir die Diva. Sie ist dank einer langjah 
rigen Ubung Herrin ihrer Reflexe, obwohl sie weder diese Herrschaf 
noch die langen Ubungsjahre zugeben wird. Sie lafit sich von einen 
Partner an der Hand hinausfiihren. Und mehr als geschlagene dre 
Male tut sie's nicht. Das Geheimnis aller Beriihmtheit liegt in der Sel 
tenheit der personlichen Erscheinung. 

Dann ist die Pause. Der Mann im Kittel if^t eine ProsastuUe, und di< 
Biihnenarbeiter torkein stiefelschwer iiber die Bretter. Jede Pause is 



I92I 5^3 

von Raumungsarbeiten, Wandputzen, Sesselriicken angefiillt wie ein 
Sonnabend. Aus geheimnisvollen Tiefen schwebt ein scheinbar zusam- 
menhangloses Brett empor, und ein anderes senkt sich, wie eine plotz- 
liche Gnade, aus den Wolken. 

Die mannlichen Schauspieler sind sehr rasch um- und angezogen und 
konnen schon von gleichgiiltigen Dingen, von Politik und vom Wet- 
ter, reden, wahrend die weiblichen geheimnisvoUerweise noch lange 
nicht fertig sind, obwohl sie operettengemaf^ viel weniger anhaben. 
Der Regisseur, der sich iiberhaupt nur aus Nerven und Autoritat zu- 
sammensetzt, klatscht aufgeregt in die Hande, rennt vor die Garderobe 
und ruft: Kommen Sie schon, Fraulein Miilier! Fraulein Miiller kommt 
und schleift an einem Schniirsenkel die Theaterfriseuse zu Demonstra- 
tionszwecken nach. Die Friseuse kniet inbriinstig vor dem Fraulein 
nieder und verrichtet das Stiefelschniiren. Dann geht sie zuriick und 
bleibt noch eine Weile in der Ecke stehen wie ein abgelegter Regen- 
schirm. 

Eine KHngel schrillt auf, und der Mann dreht an der Vorhangkurbel. 
Zugleich taucht hinter dem Souffleurkasten das Brustbild des Kapell- 
meistes auf, der dreimal mit dem Stabchen auf das Pult tickt. Und 
schon schwingt die Diva ein lange bereitgehaltenes Tanzbein und 
schmettert das Chanson los, das sie die ganze Pause lang auf der 2un- 
genspitze getragen hat. 

Wahrend also auf der Biihne der eine Teil einer willkiirlich hervorge- 
rufenen Welt sich abspielt, bewegt sich der andere, noch nicht in Ak- 
tion getretene hinter den KuHssen in Gestait phantastisch angezogener 
Menschen, die dem AuEern nach einem vergangenen Jahrhundert an- 
gehoren, in Wirklichkeit aber Menschen von Fleisch und Blut sind wie 
Ich, mit ganz genau denselben Bediirfnissen nach Urlaub und noch 
mehr Vorschufi. Nur die ganz Hervorragenden, die Prominenten, 
sprechen nicht von diesen Bediirfnissen und wandeln einsam wie grol- 
lende Gotter, von einem torichten Geschick mitten in eine Versamm- 
lung gesetzt, die solchen Glanz nicht verdient. 

Dann holt auch sie, die Prominenten, ein Mahnruf von dem Plan fort. 
Manchmal entsteht groEes Getose hinter den Kulissen, weil ein Balken 
heruntergefallen ist. Aber auch der Balken ist aus Pappe, und das Ge- 
tose kommt nur von der Hohlheit. 

Denn nichts ist wesentlich auf der Biihne, und alles holt seine Wirkung 
lus den umgebenden Zustanden und wirkt nicht aus sich selbst. So 



564 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sieht man im ersten Akt einen Delikatessenladen. Aber die Wiirste sind 
mit Hacksel und Stroh gefiillte Wachstuchschlauche. Und die Orangen 
sind nur in einem Korb kunstvoU mit der roten Oberflache aufeinan- 
dergehaufte Orangenschalen. Und die Papiertuten sind nicht mit Mehl 
gefUllt, sondern mit Sagespanen. 

Ich war sehr traurig, als ich von der Biihne kam. Diese Bretter bedeu- 
teten nicht die Welt. Sie tauschten sie vor. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Biatt, 18. 5. 1921 



SPA2IERGANG 



Was ich sehe, ist der lacherlich unscheinbare Zug im Antlitz der Strafie 
und des Tages. Ein Pferd, das mit gesenktem Kopf in den gefiillten 
Hafersack sieht, vor eine Droschke gespannt ist und nicht weifi, dafi 
Pferde urspriingUch ohne Droschken zur Welt gekommen sind; ein 
Kind am Strafienrande, das mit Murmeln spielt und dem zweckmafii- 
gen Wirrwarr der Erwachsenen zusieht und, vom Trieb zur Nutzlosig- 
keit erfiillt, nicht ahnt, dafi es die VoUkommenheit der Schopfung be- 
reits darstellt, sondern sich im Gegenteil nach Erwachsensein sehnt; 
einen Schutzmann, der sich einbildet, absoluter Ruhepunkt im Wirrsal 
des Geschehens zu sein und die Saule irgendeiner ordnenden Macht. 
Feind der Strafie und hierhergestellt, um sie zu bewachen und den 
schuldigen Tribut an Ordnungssinn von ihr einzukassieren. Ein Mad- 
chen sehe ich im Rahmen eines offenen Fensters, Bestandteil der 
Mauer und vol! Sehnsucht nach Befreiung aus der Umklammerung der 
Wand, die ihre Welt ist. Einen Mann, der tief in die Schatten eines 
winkelreichen Platzes gedriickt, Papierschnitzel sammelt und Zigaret- 
tenstummel. Eine Litfaf^saule an der Spitze der Strafie, Motto dieser 
Strafie, mit einem kleinen Wind-Gesinnungsfahnchen an der Spitze. 
Einen dicken Herrn mit Zigarre und im hellen Sakko, der aussieht wie 
der verkorperte Fettfleck eines Sommertags. Eine Cafeterrasse mit 
bunten Damen bepflanzt, die warten, bis sie gepfliickt werden. Kellner 
in weif^en Gewandern, Portiers in blauen, Zeitungsverkaufer, ein Ho- 
tel, einen Liftboy, einen Neger. 
Was ich sehe, ist der alte Mann mit der diinnen Fisteltrompete aus 



I92I 5^5 

Blech am Kurfiirstendamm. Ein Bettler, dessen Tragik auf ihren Besit- 
zer deshalb so aufmerksam macht, weil sie unhorbar ist. Manchmal 1st 
die Fisteltrompete, die kleine Trompete aus weif^em Blech, starker, 
wirkungsvoller als der ganze Kurfiirstendamm. Und die Handbewe- 
gung eines Kellners auf der Cafeterrasse, der eine Fliege totschlagen 
will, ist inhaltsreicher als die Schicksale aller Cafeterrassengaste. Es 
gelang der Fliege zu entkommen, und der Kellner ist enttauscht. 
Warum bist du der Fliege feind, o Kellner? Ein Invalide, der eine Na- 
gelfeile gefunden hat. Jemand, eine Dame, hat die Nagelfeile verloren, 
an der Stelle, wo der Invahde sitzt. Nun beginnt der Bettler, seine 
Nagel zu feilen. Mit diesem Zufall, der ihm eine Nagelfeile in die Hand 
gespielt hat, und dutch diese geringfiigige Handlung des Nagelfeilens 
hat er symbohsch tausend soziale Stufen iibersprungen. Ein Hund, der 
einem fliegenden Kinderball nachhetzt und vor dem leblos hegenden 
Gegenstand haltmacht und nicht begreifen kann, wie so ein dummes 
hirnloses Gummiding lebendig und witzig hiipfen kann, ist ein Held 
eines Augenblicksdramas. Nur die Kleinigkeiten des Lebens sind 
wichtig. 

Was kiimmert mich, den Spazierganger, der die Diagonale eines spaten 
Friihlingstages durchmarschiert, die grofte Tragodie der Weltge- 
ichichte, die in den Leitartikeln der Blatter niedergelegt ist? Und nicht 
sinmal das Schicksal eines Menschen, der ein Held sein konnte einer 
Tragodie, der sein Weib verloren hat oder eine Erbschaft angetreten 
Dder seine Frau betriigt oder iiberhaupt mit irgend etwas Pathetischem 
n Zusammenhang steht. Jedes Pathos ist im Angesicht der mikrosko- 
^ischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der 
Feile ist eindrucksvoller als die MonumentaHtat des Ganzen. Ich habe 
teinen Sinn mehr fiir die weite, allumfassende Armbewegung des 
OC^eltbiihnenhelden. Ich bin ein Spazierganger. 

/or einer LitfaEsaule, auf der Tatsachen, wie zum Beispiel Manoli- 
^igaretten, so groE angekiindigt sind, als waren sie ein Ultimatum oder 
:in Memento mori, verliere ich den Respekt. Irgendwie, glaube ich, 
)ffenbart sich da die Zwecklosigkeit eines Ultimatums und einer Ziga- 
ette in der Art, in der beide zum Ausdruck kommen. Was sich grofi 
mkiindigt, ist gering an Gehalt und Gewicht. Und ich denke, daf^ 
lichts in dieser Zeit ist, was sich nicht grof^ ankiindigte. Darin besteht 
hre Grof^e. Ich sehe die Typographie zur Weltanschauung entwickelt. 
Das Wichtigste und das minder Wichtige und das Unwichtige sind nur 



566 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wichtig, minder wichtlg, unwichtig erscheinende Angelegenheiten. 
Nur aus ihrem Bild lesen wir den Wert ab, nicht aus ihrem Wesen. Das 
Ereignis der Woche ist dasjenige, das durch Druck, Geste, ausholende 
Armbewegung zum Ereignis der Woche ernannt wurde. Nichts ist, 
alles heifit. Vor dem Sonnengianz aber, der riicksichtslos iiber Wand, 
Strafie, Schiene sich ausbreitet, in Fenster hineinstrahlt, aus Scheiben- 
glas tausendfach gebalk zuriickstrahlt, verschwindet das aufgeplusterte 
Unwesentliche. Unwesentlich, glaube ich (durch den Druck, durch die 
Typographic als herrschende Wekanschauung irregefiihrt), ist alles, 
was wir wichtig und voU nehmen: die Manoli-Zigarette und das Ulti- 
matum. 

Am Ende der Stadt aber, wo, wie ich gehort habe, die Natur beginnen 
soil, ist nicht sie da, sondern die Lesebuch-Natur. Ich glaube, auch 
iiber die Natur ist zu viel schon gedruckt worden, als dafi sie hatte 
bleiben konnen, was sie gewesen ist. An ihrer Stelle steht, breitet sich 
in der Umgebung der Stadte die Begriff-Natur, der Naturbegriff, aus. 
Eine Frau, die am Waldrand einen zur Vorsicht fiir alle Falle mitge- 
nommenen Regenschirm vor die Augen halt, weitebetrachtend aul 
einen Fleck stofit, der ihr aus einem Wandgemalde bekannt vorkommt. 
ruft aus: »Wie gemalt!« Das ist die Unterstellung eines feststehender 
eng umgrenzten, wohl beschriebenen Begriffs von der Natur als Ma- 
lermodell. Die Unterstellung ist nicht so selten. Denn auch unser Ver- 
haltnis zur Natur ist ein unwahres geworden. Sie hat namlich einer 
Zweck bekommen. Ihre Lebensaufgabe ist unser Amusement. Sie be* 
steht nicht mehr ihretwegen. Sie besteht eines Zweckes wegen. Sie hai 
im Sommer Walder, in denen man schlummern kann, Seen zum Ru 
dern, Wiesen zum Abgebranntwerden, Sonnenuntergange zum Ent 
ziicken, Berge fiir die Touristik und Schonheiten fiir den Fremdenver 
kehr. Sie kam in den Baedeker. 

Aber was ich sehe, kam nicht in den Baedeker. Was ich sehe, ist da 
unerwartet plotzliche, ganz grundlose Auf- und Abschwingen eine 
Miickenschar um einen Baumstamm. Der Schattenrift eines holzbela 
denen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die diinne Physiognomie eine 
Jasminzweiges, iiber den Gartenmauerrand gelehnt. Das Verzitten 
einer fremden Kinderstimme in der Luft. Die unhorbare schlafend* 
Melodic eines fernen, viellcicht sogar unwirklichen Lebens. 
Menschen, die ich zum Naturgenufi wandern sehe, begreife ich nicht 



I92I 5^7 

Der Wald ist keine Diele. »Erholung« ist keine Notwendigkeit, wenn 
sie das bewufite Ziel des Wanderers ist. Die »Natur« ist keine Einrich- 
tung. 

Der Westeuropaer wandert in die »Natur« hinaus, wie er zu einem 
Kostiimfest geht. Er hat ein Lodenjoppenverhaltnis zur Natur. Ich sah 
Manner wandern, die Buchhalter sind. Sie brauchten keine Stocke. Der 
Boden ist so eben und sanft, dafS ein mafiiger Federhalter geniigen 
wiirde, Er sieht aber nicht, der Mensch, den sanften, ebenen Boden. Er 
sieht »Natur«. Wenn er segeln wollte, so wiirde er vermutlich einen 
weifien Anzug aus Rohseide tragen, Erbstiick seines Grofivaters, der 
auch segelte. Er hort nicht den Plats cherklang der Welle und weifi 
nicht, dafi wichtig das Zerplatzen einer Wasserblase ist. An dem Tage, 
an dem die Natur ein Kurort wurde, war's aus. 

[nfolge aller dieser Tatsachen ist mein Spaziergang der eines Gries- 
grams und vollstandig verfehlt. 

Berliner Borsen-Courier, 24. 5. 1921 



DAS RECHT AUF OBERSCHLESIEN 

Polen und Deutsche - Zeitungswesen 
Korfantys Agitation - Polen als Absatzgebiet 

Oppeln 
fener Teil der oberschlesischen Bevolkerung - und es ist nicht der 
ileinste-, der von der Auflosung der deutschen Freikorps sehr unan- 
^emessen betroffen ist, erwartet von alien Teilen des deutschen Rei- 
:hes wenigstens ein festes, unverbriichliches Treugelobnis, da£ Ober- 
jchlesien niemals mit ganzer oder halber Zustimmung irgendeines 
Deutschen an Polen fallen werde. In Wirklichkeit besteht das Recht 
Polens auf Oberschlesien, obwohl die Bevolkerung des Flachlandes 
ier Sprache nach polnisch ist, obwohl ein grower Teil der oberschlesi- 
;chen Arbeiterschaft polnisch spricht, in einem nur willkurlichen 
Jinne. Die Provinz Oberschlesien (13230 Quadratkilometer groE) ist 
Ier geographischen Lage nach schon zu Deutschland gehorig. Die 
Dder kettet mit ihren Nebenfliissen Nieder- und Oberschlesien an das 



568 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Deutsche Reich. AUe Landstrafien und EisenbahnHnien folgen der 
Stromrichtung der Oder. Auf diesen Landstrafien ist seit jeher Kuhur 
ins Land gekommen. 

Die Tatsache, dafi ein Teil der Bevolkerung noch polnisch spricht, nut- 
zen die Poien fiir sich aus. AUein gerade dieser Umstand spricht fiir 
Deutschland. Hatte man mit Zwangsmitteln ebenso »nachgeholfen«, 
wie jetzt die Polen »nachzuhelfen« versuchen, kein Mensch in Ober- 
schlesien sprache jetzt noch polnisch. Aber die Wahl der Umgangs- 
sprache wurde jedem freigelassen. Und selbst von den polnischspre- 
chenden Oberschlesiern schickten nur 12 v. H. ihre Kinder in den pol- 
nischen ReHgionsunterricht. Tatsachlich hegen die Verhaltnisse so, dai? 
der Sohn polnischer Eltern eine deutsche Frau heiratet und seine 
Nachkommenschaft deutsch erzieht. Das wird von den polnischen 
Verwandten keinesfalls als nationaler Verrat empfunden. Ein Uber- 
gang und ein Bekenntnis zum Deutschtum bedeutet den Aufstieg in 
eine sozial hohere Klasse. Da Industrie, Wissenschaft und Handel 
deutsch sind, tendiert naturgemafi der GrofSteil der Bevolkerung zum 
Deutschtum hin. 

Aber selbst dem oberflachlichen Betrachter, der ohne tiefere Kenntnis 
das Land bereist, offenbart sich die durchaus deutsche Physiognomic 
des Landes. Ich sah Kattowitz, die deutsche Grenzstadt, und daneben 
das an Einwohnern doppelt so groKe Sosnowice. Dieses hat flache Ba- 
racken und Hiitten, Kattowitz alle Errungenschaften der moderner] 
Zivilisation. Kein Wunder also, dafi die Bevolkerung zum Deutschtum 
hinneigt. 

Natlirlich weifi der ein f ache »Mann aus dem Volke« nicht, ob er Deut- 
scher oder Pole ist. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen Bauern unc 
Landarbeitern zu sprechen. Sie wufiten nicht, zu v^elcher Partei sie sict 
bekennen sollten. Sie woUten Ruhe haben und wiinschten nur, dafi dei 
Krieg voriiber ware. 

Das Zeitungswesen als moderner Kulturfaktor ist natiirhch besonden 
maEgebend bei der Beurteilung der nationalen Verhaltnisse eines Lan- 
des. Deshalb sei hier erwahnt, dafi die Zahl der deutschen Zeitungen ir 
Oberschlesien 109 betragt, die der polnischen 16. 372000 Einwohnei 
beziehen deutsche Zeitungen, 102000 polnische. 

AUes das sind Griinde, die Korfanty mit leider ziemlich viel Erfolg zu 
widerlegen versucht. Seit 19 10 ist bereits die polnische Agitationsbe- 



1921 5^9 

wegung in Obeschlesien in stetem Anwachsen begriffen. Korfanty, ein 
Politiker von seltenen Fahigkeiten, weifi die Naivitat und Unsicherheit 
der oberschlesischen Bevolkerung ganz grojSartig auszunutzen. Ein 
polnischer Bauer sagte mir, in Polen ware es viel besser mit dem Gelde. 
Er selbst sei vor wenigen Wochen drliben gewesen und hatte mit fiinf- 
zig Mark unendliche Kostbarkeiten erstanden. Auf meinen Einwurf, 
dafi das ja nur den hohen Wert der deutschen Mark beweise und den 
niederen Kurs des polnischen Geldes, erwiderte er, dafi Polen eben 
so viel Geld habe, dafi es fiir eine Mark zehn und mehr geben konne. 
Dieses Beispiel ist typisch fiir die Schlauheit, mit der Korfantys Agi- 
tatoren arbeiten und Tatsachen verdrehen. 

Aber nicht nur auf den ungebildeten und primitiven Teil der ober- 
schlesischen Bevolkerung wirkt Korfantys Agitation. Auch die Gebil- 
deten und ein Teil der Industriellen und der Arbeiter lassen sich von 
den Polen umgarnen. Manche deutsche Zeitschriften pladieren heute 
schon fiir einen Freistaat Oberschlesien, die Industriellen fiirchten die 
Ausdehnung des Bolschewismus fiir den Fall, da{5 die Kampfe noch 
weiter dauern sollten, und die Verzagtheit und scheinbare Aussichtslo- 
sigkeit der deutschen Verteidigung lafit den leicht Entmutigten und 
national Wiirdelosen eine Beendigung des Streits um jeden Preis wun- 
schenswert erscheinen, Und aufierdem erscheinen zwei von Korfanty 
immer wieder ins Treffen gefiihrte Behauptungen wichtig: erstens, daE 
durch den Anschluf^ an Polen die oberschlesische Montanindustrie 
(und von dieser hangt das Wohl und Wehe des ganzen Landes ab) 
ausreichend mit Gruhenholz versorgt sein wiirde, und zweitens die 
nicht minder wichtige Tatsache, daf^ die naturUchen Lehensmittelver- 
sorgungsgehiete Oberschlesiens die landwirtschaftHchen Bezirke von 
Rul^land, Galizien und Ungarn waren. Dem Einwand aber, dafi gerade 
der Markt fiir die Montanprodukte durch den Anschlufi Oberschle- 
siens an Polen geringer wiirde, begegnet Korfantys Agitation mit der 
sehr wirksamen Feststellung, daf^ heute infolge des Krieges jedes Land, 
und Polen insbesondere, Rohstoffe aufnimmt und dafi einige Produkte 
schon vor dem Kriege starken Absatz nach dem Osten hatten. So ware 
der Absatz nach Polen fiir Steinkohle 1911 671,7 gewesen, fiir Zink 
nach Rutland und Polen im selben Jahre 7806,8. 
Allein diese Schlufifolgerung hat ein Loch: Erstens wird Poien nur so 
lange Montanprodukte brauchen, als es am Wiederaufbau arbeitet. 
Zweitens fehlt den polnischen und den russischen Kaufern die erfor- 



5/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

derliche Kaufkraft. Allerdings zwei Griinde, die den primitiven Men- 
schen in Oberschlesien sehr schwer einleuchten. 
Nicht zu vergessen ist eines: Wollte Polen die oberschlesische Indu- 
strie pflegen, so miifite es unbedingt deutsche Krafte dazu haben, Aber 
Polen wiirde sich hiiten, ein ohnehin halb deutsches Land noch zu 
germanisieren. Und andererseits werden sich deutsche Ingenieure aus 
materielien, wenn nicht schon aus nationalen Griinden hiiten, in einem 
poinischen Oberschlesien festen Fufi zu fassen. 

Alle diese Griinde und Gegengriinde sind fiir die Beantwortung der 
Frage, ob Oberschlesien bei uns bleiben mufi, eigentlich von sehr ge- 
ringer Bedeutung. Wichtig ist nur die Tatsache, daf5 Deutschland ohne 
Oberschlesien zu einem Industrieland zweiten Ranges herabsinken 
und aus einem Kohlenausfuhr- ein Kohleneinfuhrland wiirde. Noch 
wichtiger ist der Riickschlag auf die deutsche Handelsbilanz, die seit 
1889 passiv ist. Die Abtretung Oberschlesiens erhoht die sogenannte 
»Spannung« zwischen Ein- und Ausfuhr um ein ganz Bedeutendes. 
Eine rapide einsetzende Auswanderungsbewegung und ein Sturz der 
Lebenshaltung ist die Folge. Wir mussen Oberschlesien behalten. Und 
waren selbst alle unsere Anspriiche sonst unbegriindet, diese Tatsache 
allein, dafi Deutschland Oberschlesien dringender braucht als jedes an- 
dere Land, miiEte es uns erhalten. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 28. 5. 192 1 



OBERSCHLESIEN 



Jedes Ereignis von Weltgeschichtsqualitat mufi ich auf das Personliche 
reduzieren, um seine Grofie zu fiihlen und seine Wirkung abzuschat- 
zen. Gewissermafien durch den Fihrierapparat »Ego« rinnen lassen 
und von den Schlacken der Monumentalitat befreien. Ich will sie aus 
dem Politischen ins Menschliche iibersetzen. Aus den Bezirken, die 
tiber dem Strich liegen, in die Regionen unter dem Strich. So reise ich 
durch Oberschlesien. 

Ich erfahre, dafi 123349 Arbeiter Oberschlesiens 43801056 Tonnen 
Steinkohle produzieren. Aber ich sehe noch immer nicht die »Bedeu- 
tung« dieser Produktion. Ich bin einfach »vernagelt«. 



I92I 571 

Ich sehe nur ein Heer von hundertfiinfundzwanzigtausend Arbeitern 
in der Unterwelt. Hundertfiinfundzwanzigtausend stehen den ganzen 
Tag gebiickt, harken in StoUen und Schachten, kommen am Abend 
heim, und die Sonne geht gerade unter. Ich gabe viel darum, wenn ich 
wiifite, wie viele von den hundertfiinfundzwanzigtausend noch das 
letzte Flirren eines Sonnenstrahls erwischen. Die Weltgeschichte kiim- 
mert sich zu wenig um Sonnenstrahlen. 

Von den ungefahr fiinfzig Millionen Tonrien Kohle kommt ein ganz 
geringer Bruchteil fiir meinen Ofen in Betracht, Wenn Herr Korfanty 
die Kohle produziert, verkauft er sie mir sicherHch um das Dreifache 
teurer. Dieweil ich schon jetzt meinen deutschen Kohlenhandler nicht 
bezahlen kann: Also hole Korfanty der Teufel! 

Aber es ist gewifi, dafi ein polnischer Schriftsteller im Winter genauso 
friert wie ich, weil die polnischen Verleger genauso schlecht zahlen wie 
die deutschen. Der polnische Schriftsteller hegt mit Recht die Hoff- 
nung, dafi der Herr Korfanty ihm die Kohle billiger verkaufen wiirde, 
und er sagt: »Gesegnet sei Korfanty!« 

Der polnische Schriftsteller und ich, wir sind Feinde. Fiir ewige Zeiten. 
In der kleinen Ortschaft Rest sehe ich eine Burgruine. Ich weifi aus der 
Literaturgeschichte, dafi sie der Familie des deutschen Dichters Joseph 
von Eichendorff gehort hat. 

Ich denke: Joseph von Eichendorff war ein herrlicher Poet. Noch 
heute konnen alle Vogel im Walde seine Gedichte auswendig, und 
selbst die Menschen miissen sie in der Schule lernen. 
Ich war noch sehr jung, als mir mein Deutschprofessor sagte, Eichen- 
dorff ware ein Spatromantiker. So dauerte es lange, ehe ich mich ent- 
schlofi, wieder Eichendorff zu lesen. Mir war, als hatte ihn mein 
Deutschprofessor plombiert. 

Nun hatte ich fast vergessen, dafi ich in einem Kriegsgebiet bin. Aber 
ich sehe, wie ein Soldat in griiner Uniform, mit Gewehr, sich um einen 
Baum am Waldrand emporrankt. 

Es ist ein polnischer Soldat, und er bildet sich ein, daf5 er hier eine 
wichtige Funktion ausiibt. Er kommt sich vor wie ein Held. Und er 
verachtet mich, weil ich einen blauen Rock trage und kein Gewehr. 
Und er hafit mich, weil ich ein Deutscher bin. 

Ich konnte ihn iiberzeugen, daft er kein Held ist und daft seine Funk- 
tion nicht wichtig ist und daft er keinen Grund hat, mich zu hassen. 
Aber ich miiftte ungefahr so reden: »Wer hat dich hierhergestellt?« 



5/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Und der polnische Soldat wiirde nicht, wie es sich fiir einen verniinfti- 
gen Menschen geziemt, diese Frage verniinftig beantworten, sondern 
das Gewehr an die Schulter heben, Korn und Kimme und meinen 
Kopf in eine grade Linie bringen und abdriicken. 
Wie soil ich ihn iiberzeugen, da er gelernt hat, auf Fragen nicht zu 
antworten, sondern zu schiefien? Deshalb lasse ich ihn gliicklich war- 
den in seinem Gedanken an Heidentum und griinen Rock und in der 
Verachtung, die er fiir mich iibrig hat, und denke nur an folgende Ge- 
schichte: 

Als ich nach der Revolution aus Rutland zu Fufi heimwanderte, be- 
gegnete mir TimofeJ, der Kobsare. Kobsaren sind russische Sanger und 
sehr gutglaubige Menschen. Timofej freute sich, dafi der Krieg zu 
Ende ware, und er sagte: »Allerdings schiefSen sie noch in meiner Hei- 
mat,« Er meinte die Revolution. 

»Sie werden bald aufhoren«, sagte ich. Und Timofej freute sich so, dafi 
er mir seine halbe Zwiebel schenkte. Dann sah ich ihn nach Rufiland 
hineinwandern, das ihn aufnahm, weit und unermeClich, und ich ging 
erst weg, als Timofej so klein war, dafi er aussah wie ein Kind, das in 
den weiten Falten eines miitterhchen Kleides verschwindet. 
Hier, wahrend ich auf der Landstrafie gehe, fiirchte ich jeden Augen- 
blick, Timofej, der Kobsare, konnte mir wieder begegnen. Und ich 
habe ihn betrogen, den gutglaubigen Timofej. 

Vielleicht hat er aufgehort, ein Kobsare zu sein, weil man doch in der 
fortwahrenden Schiefierei kein Lied mehr verstehen kann. Oder aber, 
denke ich, sucht Timofej ein Land, in dem man nicht schiefit. Er kann 
lange suchen, glaube ich. 

Am Abend kehre ich im Hotel ein, und ich weifi plotzlich das Land, in 
das ich Timofej schicken konnte. 

In dieser Zeitung (in der ein Feuilleton schon zu dem menschlichen 
Teil gehort), in der sonst lauter Polizei- und politische Berichte stehen, 
lese ich die Legende von dem japanischen Bauer in Tokio: 
Der kam zum deutschen Konsul und gab ihm zwei Yen, weil er gehort 
hatte, dafi die deutschen Kinder hungern. Und weil der deutsche Kon- 
sul sehr dankbar war, sagte der Bauer: »Ich wollte eigentlich noch Mit- 
tag essen, aber wie kann ich Mittag essen, wenn in Deutschland die 
Kinder hungern ?« 

Und er gab noch weitere siebzig Yen drauf. 
Tokio ist sehr weit von Oberschlesien, aber es miifite in jedem Lande, 



I92I 573 

in dem geschossen wird, so eine kleine Legende stehen von einem fer- 
nen Heiligen. Dann kann man namlich fast schon glauben, dafi auch 
jener polnische Soldat auf meine Frage, wer ihn hingestellt habe, nicht 
schiefien wiirde. 

Leider habe ich noch nie gesehen, wie ein Mann siebzig Yen fiir hun- 
gernde Kinder herschenkte. Aber seit 1914 sah ich hunderttausend 
Manner schiefien. Ein japanischer Heihger hat nur siebzig Yen. Aber 
ein kleines Maschinengewehr hat sechshundertzweiundvierzig Schiisse 
zu vergeben. 

Berliner Borsen-Courier, 29.5. 1921 



DER REGENSCHIRM 



Vorgestern abend regnete es. Der Asphalt des Kurfiirstendamms war 
schliipfrig, eine Frau rannte mit aufgespanntem Regenschirm in ein 
fahrendes Auto hinein, stiirzte, und das Auto fuhr liber sie. Ihr Schirm 
bheb auf dem Pflaster liegen, Menschen rannten auf den Unfallort zu, 
man hob die Frau auf, es war ihr nichts geschehen. Das konnte man 
erst im Kaffeehaus feststellen. Aber ehe es noch festgestellt war und 
wahrend sie auf dem Pflaster lag, in der Vorstellung aller Passanten 
und Dabeigewesenen blutiiberstromt, womoglich mit abgetrennten 
Gliedmaf5en, hatte ein Mann geistesgegenwartig den Regenschirm der 
gesttirzten Dame aufgehoben und war mit ihm weitergegangen. 
Ich hatte nie geglaubt, dafi die Giite der Menschen grofier sei als ihr 
Eigennutz. Aber daC ihre Gemeinheit selbst noch grower sei als ihre 
Neugier, davon iiberzeugte mich der Vorfall mit dem Regenschirm, 
welcher beweist, daE es nicht schwerfallt, einem Sterbenden sein Kis- 
sen wegzunehmen und die Daunen an der nachsten StraEenecke zu 
verschachern. 

Die Frau alierdings, die gesund geblieben war, weinte um den Verlust 
des Regenschirms und freute sich nicht iiber das Gliick, die Gliedma- 
Ken behalten zu haben. Wie daraus zu ersehen ist, sind die Menschen 
entweder niedertrachtig oder beschrankt. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 31. 5. 1921 



EINE STUNDE ALS FLIEGENDER 
BUCHHANDLER 

Wie Berlin auf der Strafie Btlcher kauft 

Gesegnet sei der Buchhandel auf der Strafie im allgemeinen und der an 
den Ecken der Woydringer Strafie im besonderen. Hier verkaufte ich 
namlich selbst Biicher mit der Erlaubnis des Herrn fliegenden Buch- 
handlers, welche Bezeichnung eigentlich eine Ubertreibung ist. Er ist 
nur ein wandernder Buchhandler, und Gott begleite seine Wege fiir- 
derhin, denn er war gut und erfiillte mir einen der vielen unerfiillt 
gebliebenen Wiinsche meiner Kindheit, indem er mich Buchhandler 
sein Hefi. 

Ich verkaufte also um die Mittagszeit, die Stunde der starksten Fre- 
quenz, Biicher. Es gab in diesem Laden manches, das ich selbst nicht 
gelesen hatte, wohl aber anpreisen konnte. Und leichtglaubige Men- 
schen nahmen mich fiir eine Autoritat und kauften, was ich ihnen 
empfahl. 

Zuerst kam ein junges Biiromadchen und suchte was fiir die Lange- 
weile einer Mittagspause im nachsten Park. Sie trug ein blaues Kleid 
mit Riischen und einer wunderbaren Schleife am Riicken, und ich sah 
ihr an, dafi sie heute direkt aus dem Biiro ins Theater abgeholt werden 
sollte. 

Natiirlich steht ihr Sinn da nicht nach der, wenn auch popularen, Er- 
klarung der Einsteintheorie. Ich woUte ihr aber auch nicht zu einem 
jener belletristischen Werke verhelfen, die schlecht sind und wie schief 
gestellte photographische Apparate das Weltbild lacherlich schief auf- 
nehmen und deshalb die Menschen so gliicklich machen und so zahl- 
reiche Auflagen erleben. Ich riet ihr also zu Maeterlincks »Leben der 
Bienen«. Ich gestehe, daf5 Bienen sie nicht interessierten. Aber ich 
sagte, dieses Buch ware so schon wie ein Roman von der Marlitt, und 
Maeterlinck und die Bienen bitte ich hier offentlich um Verzeihung. Es 
geschah zum Wohle beider. 

Ein alterer Herr, in dessen Glatze sich die Sonne tausendfaltig brach, 
ein Mann, der, noch jugendlich in Blick, Haltung und Gang, gewifi 
nach Abenteuern suchte und seine Unternehmungslust an einem biUi- 
gen Schmoker zu starken beabsichtigte, suchte lange umstandlich im 
Biicherkarren, bis ich ihm ein kleines Versbandchen von Otto Julius 



I92I 575 

Bierbaum hervorzog, Dieser harmlose Dichter, dachte ich, ist lustig, 
aber nicht sittenverderbend und kann dem alten Herrn nur Segen brin- 
gen. Hat er aber, der Alte, siindige und schlechte Gedanken, so wird 
ihn Bierbaum erheitern (und das heifit: unschadlich machen). Hat er 
sie aber nicht, so soil er sit bekommen. Und der Herr zahlte zwei 
Mark und ging. 

Ein junger Tagelohner, der von einer nahegelegenen Baustelle heriiber- 
gekommen sein mochte, woUte gewifi eine recht spannende Detektiv- 
geschichte. Er fand eins, ein billiges broschiertes Heftchen, aber ich 
nahm es ihm sanft wie ein Priester aus der Hand und gab ihm einen 
Band Erzahlungen von der Ehner-Eschenhach . Das sind die spannend- 
sten Detektivgeschichten der Welt, sagte ich. Und ich glaube, der Ta- 
gelohner halt mich heute fiir einen Schurken, nachdem er nur eine 
halbe Geschichte gelesen hat. Aber es ist imtnerhin auch moglich, dafi 
er mit inniger Freude alle Geschichten gelesen hat und vielleicht jetzt 
nur noch Ebner-Eschenbach-Geschichten liest. Es ist mir gleich. 
Dann kam ein Knabe mit einer Schulmiitze, und der suchte nach der 
»Braut von Messina«, weil er sie wahrscheinlich zu einer Privatlektiire 
braucht. »Von wem ist die Braut von Messina ?« fragte ich ihn, als 
konne ich nur nach dem Namen des Autors die gewiinschten Biicher 
heraussuchen. »Von Schiller!« sagte er brav. Aber ich fand nur einige 
Schiller in sechs Banden, und darunter war auch die Geschichte vom 
Abfall der Niederlande, und soviel Geld hatte der Junge nicht. 
»Warum wollen Sie just die Braut von Messina?« fragte ich ihn. Aber 
er wu{^te es nicht oder woUte es nicht sagen. Ich glaube, das Wort 
»Braut« hat ihn so gereizt. Was weil5 ein Grol^er liberhaupt, was in so 
einem brautbediirftigen Knaben vorgehen mag? 

»Da Sie nicht wissen, nehmen Sie dies!« sagte ich und gab ihm eine 
Geschichte von E.T.A. Hoffmann. »Und Schiller lesen Sie nur, wenn 
Sie wissen, wer er ist.« Der Junge war schiichtern, wagte nicht zu wi- 
dersprechen und nahm den Hoffmann. 

Die meisten Menschen aber argerten mich: Sie wollten gar nicht kau- 
fen. Sie umstanden den Karren, nahmen ein Buch urns andere in die 
Hand, warfen es wieder weg, und viele gaben sich den Anschein von 
Biicherkennern und Forschern. Auch die Unbebrillten taten so, als 
schoben sie eine Brille auf die Stirn, runzelten das Gesicht, kniffen die 
Augen ein und blatterten. 
Auch argerten mich jene, die nicht auf mich horten und hartnackig 



$j6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

weiter suchten. Da war ja eine verstockte Frau, eine Frau aus dem 

»besseren« Mittelstande, sie suchte gewifi nach einem pikanten Roman 

und ich gab ihr einen - Conan Doyle. Man mufi namlich wissen, dafi 

solchen Frauen Kriminalromane sehr gut sind. Sie fangen an, in jedem 

fremden Mann einen gefahrlichen Verbrecher zu sehen, und lassen ihn 

nicht so leicht ins Haus, wenn ihr eigener Mann abwesend ist. Und gerade 

das Gegenteil bewirken pikante Romane. 

Die Frau aber horte mich nicht, suchte weiter und fand ein buntes Buch 

von einem gewissen Prentice Mulford, »Der Unfug des Sterbens«. »Ist 

das ein Roman?« fragte sie den Buchhandler. 

»Ein sehr spannender!« sagte ich sehr schnell, und sie kaufte ihn. Heute 

hat sie ihrem Kinde gewifi schon die FruhstiicksstuUen in den Unfug des 

Sterbens gepackt. 

Nach einer Stunde ging ich fort und dankte dem Buchhandler. Und er 

dankte mir. Ich soil morgen wiederkommen, er wird ans Ende der 

Lothringer Strafie ziehen. Der will nicht mehr ins Zentrum. 

»Leben Sie wohl!« sagte ich. »Es ist sehr gefahrlich fiir mich, Biicher zu 

verkaufen. Wenn Sie gute Geschafte machen woUen, lassen Sie die Leute 

selbst suchen. Da mischt sich das Schicksal ein und gibt den Passenden das 

Passende.« 

»Oder auch nicht!« vergafi er nicht hinzuzufugen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 2. 6. 1921 



BERLIN UND INDIEN 



Es lafit sich nicht mehr leugnen, dafi Berlin sich als die zivilisierteste Stadt 
Europas gebardete, als sie den Vertreter Indiens empfing. AUes, was die 
europaische Zivilisation reprasentieren konnte, hatte Berlin in Bewe- 
gung gesetzt: Codax, Film-Apparate, eine larmende Meute und Schutz- 
pohzei. 

Ein Rektor, der mit der Polizei droht, Studenten, die in ihrem eigenen 
Hause eingeladene Gaste stehen und ohnmachtig werden lassen, ein 
kriegerischer Korpsstudent, der in Wichs zur Begriifiung des friedlich- 
sten aller Dichter ausriickt, und ein Filmmensch, der auf dem Dach des 
Autos, in dem Tagore sitzt, hockend Aufnahmen kurbelt, das ist Europa. 



I92I ^JJ 

Vergeblich hat Tagore von der Versohnung fremder Kulturen gespro- 
chen. Er will, wie man weii5, eine Universitat griinden, in der die Stu- 
denten sich mit der Natur beschaftigen und ein inniges, lebendiges 
Verhaltnis zu Gott und den lebendigen Dingen gewinnen sollen. Ich 
stelle mir schon den kommilitonisch schnarrenden Korpsstudenten 
vor, wie er Spatzen fiittert. Es ist ein Anblick fiir indische Gotter. 
Tauschen Sie sich nicht, Herr Rabindranath! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 3. 6, 1921 



RABINDRANATH TAGORE 



Den Dichter der indischen Walder und Seelen wiirdig zu empfangen, 
putzen die Berliner Photographen schon seit langen Tagen ihre Appa- 
rate blank, und der Filmgesellschaften flinke Sendboten giirteten ihre 
Lenden und exerzierten Kurbeln. In den Schaukasten der kulturbe- 
deckten Wande hing das Zeitschriftenbildnis Rabindranath Tagores, 
und die Passanten stauten sich. Lange schon hegte ich den Verdacht, 
dafi sie einen Fakir meinten, wenn sie einen Dichter sahen, und selbst 
in europaischen Dichtern Fakire vermuteten, Als ich in die Universitat 
hineingelangt war, fand ich meinen Verdacht bestatigt. 

Rabindranath Tagore fuhr im Auto vor die Universitat, vor dem Hun- 
derte Karten schwangen und Einlaf^ forderten. Als das Auto hielt, 
stiirzte sich eine Kulturmenschheit vor dem Wagenschlag, und auf das 
Dach des Autos kletterte ein Mann vom Film und tat, was die Sitte 
gebot: Er kurbelte. Die Universitat hatte den Dichter eingeladen. Der 
Rektor hatte etwas zuviel eingeladen, der Raum war klein, die Studen- 
ten safien bereits in den Banken, als eingeladene Frauen, die stehen 
mu£ten, ohnmachtig wurden, und die Pedellen drangten erst die Schil- 
ler aus den Gangen in die Seitengange. Nachdem diese voll waren, 
kamen immer neue Menschen zu den Pforten und fanden keinen Ein- 
lafS. Das Gerausch, das daraufhin entstand, verringerte sich durch den 
Aufstieg der Exzellenz von Harnack auf das Katheder und durch die 
Erhebung seines ruhegebietenden Zeigefingers. Die Verlegenheit dage- 
gen verringerte sich nicht, sondern wuchs und gebar den goldkettenge- 



5/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

zierten Rector Magnificus, der auch auf das Katheder trat und mit der 
Schutzpolizei drohte fiir den Fall, daf5 die Studenten nicht die Mittel- 
gange raumen wiirden. Dem Rektor zur Seite schofi ein Jiingling in die 
Hohe, forsch und schneidig, in Kappe und Band, und nachdem der 
Rektor abgetreten war, schnarrte der Jiingling: »Kommilitonen!« und 
forderte freie Bahn, um - die Schutzpolizei holen zu konnen. Er wurde 
ausgelacht und verschwand, aber ein paar Mittelganger schamten sich 
vor Indiens Waldern und begannen, sich zu entfernen, nachdem ein 
bekannter Biirgerrechtslehrer sie personlich sanft hinauszuschieben 
angefangen hatte. Es war eine praktische Anwendung des Biirger- 
rechts, und in diesem Falle wirklich notwendig und am Platz. Dagegen 
war jener Student gewissermafien als Verkorperung des Korps-, 
Kriegs- und Kruggeistes, der die deutsche Jugend zum Teil beseelt und 
benebelt, einfach forsch. Kein Wort mehr dariiber. 

Ich erzahle dies alles ausfiihrlich, weil ich glaube, dafi zwischen diesen 
Vorgangen und der VerwirkHchung der Tagoreschen Absichten mehr 
Zusammenhange bestehen, als selbst Rabindranath Tagore es giaubt. 
Er mufi wohl ein grower Dichter sein, Nur ein ganz grofies Genie kann 
die Seelenruhe bewahren im Anblick der photographischen Apparate, 
die noch im Saale aufgestellt waren, wahrend der beriihmte Mann von 
indischen Waldern sprach. Er sprach von den Unterschieden der osth- 
chen und westlichen Kultur, und wie zur Bestatigung der Unter- 
schiede knackste ein Kodak. Er zitierte grofie indische Werke, uralte- 
ste Gottesweisheiten, und die urjiingste Camera obscura bemiihte sich 
gewissermafien, europaische und indische Mystik in dem Dunkel ihres 
Innern zu verbinden. Als der Dichter von der ewigen Menschlichkeit 
sprach und von der Torheit aller gleifienden Dinge, sah ich die goldene 
Kette des Rektors und horte den Ruf des Studenten in Kappe und 
Band nach der Schutzpolizei. 

Rabindranath Tagore hat ein wunderbares Aussehen. Er tragt einen 
hellgrau seidenen Kittel. Sein Bart und Haupthaar ist lang. In seinen 
Augen liegt Indien, und eine grofie Ruhe geht von ihm aus. Es war eine 
grofSe Freude, diesen Vertreter des Ostens knapp nach zwei Vertretern 
des Westens sprechen zu horen. Seine Stimme ist metallen. Sie besteht 
zuweilen aus lauter Obertonen, und lang hingezogene Worte haben 
ein singendes Echo und schweben in der Luft wie die Seelen verstorbe- 



I92I 579 

ler Glocken. Auch wer nicht Englisch verstand, war ergriffen von der 
Eernen, seltsamen Musik einer Urmenschheit. Als der Dichter geendet 
tiatte, begannen die Studenten, mit den Fiif^en zu klopfen, und mein 
Nachbar erklarte mir, well er mich offenbar fiir einen Inder hielt, die- 
ses Getrampel sei eine europaische Beifallsbezeugung. Der Dichter 
^erneigte sich, faltete die Hande vor der Brust (vor ihm auf dem Ka- 
theder lagen Feldblumenstraufie), und er stieg hinunter und machte 
noch eine Weile mit den Honoratioren der europaischen Kultur Kon- 
^ersation, - Was sollte er sonst mit ihnen machen? 

Es war trotz allem Snobismus eine grofie, ehrliche Begeisterung und 
lum ersten Male eine Demonstration fiir eine Kulturangelegenheit. 
Eine Demonstration von einem Umfang, wie sie bis jetzt nur Grofien 
Zeiten, Kriegsausbriichen und politischen Phraseologien zuteil gewor- 
den war. Ein Beweis immerhin, dafi eine geistige Angelegenheit auch 
Wirkung haben kann. Als der Dichter die Pforten der Universitat ver- 
liefi, salutierte der vom Korpsstudenten herbeigeholte und mitten in 
seiner Funktion des HinausschmeifSens im Namen westlicher Gesetze 
unfruchtbar gemachte Schutzmann. Und das war die eigentlich grofite 
Wirkung dieses grofien Besuches: Ein Schutzmann salutierte sehr 
5tramm vor einem Dichter. 

[n der nachsten Mefiterwoche werden die Berliner Rabindranath Ta- 
gore sehen konnen; um sechs Mark schon. Jedermann kann es sich 
leisten. Vielleicht ist es dem Kinooperateur, vorausgesetzt, daft er Sinn 
[lat fiir wichtige Kulturereignisse, gelungen, den Moment festzuhalten, 
in dem der Griine den Dichter gegriiiSt hat. Es ist moglich, da£ von 
diesem Moment an eine neue Ara der Weltgeschichte zu rechnen ist. 
Eine Ara, in der der Korpsgeist vor dem Geist verstummt und die 
Waffe sich senkt vor der Begabung. 
Und deshalb sei Rabindranath Tagore gesegnet. 

Berliner Borsen-Courier, 3.6. 1921 



DER WIEDERAUFBAU DES MENSCHEN 

Gesichtsplastik in der Charite - Kriegs- und Zivilkranke - 
Die Tragik derNasen 

In der Berliner Charite gibt es eine Abteilung fiir den Wiederaufbau 
des durch Krieg und Krankheit zerstorten Menschen. So heifit natiir- 
lich diese Abteilung nicht, sondern sehr trocken und sachlich: Abtei- 
lung fiir Gesichtsplastik. Diese Abteilung wurde kurz nach dem 
Kriege errichtet, sie ist heute grofi an Ausdehnung und noch grofier an 
Bedeutung. Hier wird namUch den im Kriege zu Fratzen geschossenen 
Menschen zur gottlichen Ebenbildhaftigkeit wieder verholfen. Aber 
aufSer den Kriegsverletzten gibt es noch eine grofie Zahl durch Krank- 
heit oder von Geburt Entstellter, die ebenfalls in der Charite ihre Hei- 
lung und ihr Menschenantlitz wiedergewinnen. 

Deutschland ist das einzige Land der Welt, das die Gesichtsplastik in 
so hohem Mafie gepflegt hat, Berlin ist die einzige Stadt, in der die 
menschlichen Gesichter kiinstlich wiederher^estellt werden konnen. 
Aber, wie es schon so ist, soil just diese Abteilung aufgelbst werden 
bzw. mit einer der vielen anderen der Charite verschmolzen werden. 
Angeblich aus finanziellen Griinden. 

Dafi der finanzielle Schaden bei der Auflosung eines bereits so aufier- 
ordentlich ausgebauten und komplizierten wichtigen Apparats grower 
ware, bedenkt keiner. 

Man bedenkt auch nicht, dafi der jungen Studentengeneration die 
Moglichkeit fast ganz genommen wird, die Gesichtsplastik zu studie- 
ren; bedenkt nicht, dafi die Auflosung ein unermefilicher sozialer 
Schaden werden miifite, weil Hunderte und aber Hunderte Armer 
Heilung und Erlosung von dem entsetzlichsten aller Gebrechen - der 
Gesichtsentstellung - in der Charite finden; und bedenkt schliefilich 
nicht, dafi wir durch die Auflosung auf einen Besitz verzichten, auf 
den wir stolz sein miifiten, gerade jetzt, da wir das Ansehen eines Kul- 
turreiches starker denn je bewahren sollen. 

Ich geriet vor einigen Tagen, als ich von der bevorstehenden Auflo- 
sung dieser Abteilung der Charite von einem Patienten gehort hatte, in 
die Luisenstrafie ii. In etwa fiinf Zimmern liegen Kranke, meist 
Kriegsinvalide, die im Kampf halbe und ganze Nasen, Oberkiefer und 
halbe Gesichter verloren haben und nach mancherlei Irrungen und 



1921 5^1 

Wirrungen anderer Arzte schliefilich in die Hande des Professors Jo- 
seph gekommen sind. 

Ich sah in glasernen Schranken und Kasten die furchterlichsten und 
wahrheitsgetreuen Nachbildungen der Kriegswunden in Wachs mo- 
delliert und neben diesen die neuen Gesichter der Gesundeten. Und 
ich empfand ungefahr, was ich, wie mir scheint, genauso hatte empfin- 
den konnen, wenn ich zufalUg bei der Weltschopfung zugegen gewe- 
sen ware: ein Gefiihl, gemischt aus Verwunderung und Schauer iiber 
die Macht eines Menschen, Menschengesichter neu zu bilden. Leben- 
dige Nasen, lebendige Lippen, lebendige Ohren. Es war kein Spuk. 
»Korrektive Gesichtsplastik« heif^t diese Wissenschaft, deren bedeu- 
tendster Vertreter und Neuschopfer der Froiessor Joseph ist. Darunter 
ist Verschiedenes zu verstehen: die Nasenverkleinerungsplastik, die 
Schiefnasenplastik, die Ohrenverkleinerung und Ohrenanlegung usw. 

Man unterschatze die Bedeutung der menschUchen Nase nicht! Seit 
der friihesten Zeit ist sie, als der hervorspringendste und sozusagen 
physiognomischste Gesichtsteil, ein Objekt, mit dem sich die Phanta- 
sie der Menschen lebhaft beschaftigt hat, wie die verschiedenen Mar- 
chen beweisen. Und von welcher Bedeutung die menschliche Nasc fiir 
den Erfolg im Leben ist, weifi jeder psychologisch Denkende. Sie be- 
deutet Erfolg oder Mifierfolg, Gliick oder Ungluck. Die Nase ist das 
Schicksal des Menschen. 

[ch kann mir vorstellen, dafi ein grof^er Dichter sich die schiefe Nase 
^ines Ungliicklichen zum Vorwurf einer grofSen Tragodie nimmt und 
IMS der Bosheit eines schlecht geratenen Knorpels die ungeheuerHchste 
Tragik ableitet. 

[ch habe die Patienten des Proiessors Joseph gesehen, Der eine hat vor 
der Operation eine sogenannte »stark prominente gekrUmmte Nase 
mit Knorpelhdcker« gehabt, und dieser ganz gemeine kleine Knorpel- 
kocker trat beim Lacheln des Mannes in so bestialischer Weise hervor, 
dafi die Nase eine groteske, kasperlhafte Form annahm und der Mann 
den Gesichtsausdruck eines Idioten. Nach der sogenannten »intranasa- 
[en Korrektur« sah der Mann lachelnd mit einer unglaubHch normalen 
Nase geradeaus ihr nach in die Welt. 

Diese »intranasale Korrektur« beruht auf einer Veranderung des Na- 
•engeriistes. Knorpel und Knochen werden gesagt, als waren sie aus 
liolz, abgefeik und geschnitten und Haut und Fleisch dariiber getan. 



582 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Haut und Fleisch werden den verschiedensten unbehaarten Korperstel- 

len des Patienten entnommen. 

Es gibt ungeheuerliche, unglaubliche Nasendefekte: Nasen, bei denen 

ein Stiick oder die Halfte fehlte - das Stiick wird ersetzt, an der Nase ist 

kaum eine kleine Narbe zu sehen. Nasen mit sogenanntem »Sattel«, 

Nasen ohne Nasenfliigel, Schiefnasen, knorpelige und knocherige. Die 

ungliicklichen Besitzer dieser Nasen sind tief deprimiert, schiichtern, 

wortkarg und verdrossen. Sie tragen ein fiirchterliches Kainszeichen im 

Gesicht. 

Am unglucklichsten sind natiirlich die Frauen. Ihr Leben ist verfehlt, sie 

sind verurteilt, lieblos, ungeliebt zu sterben. Man denke nicht, dafi nur 

reiche Frauen sich den Schonheitsfehler wegradieren konnen. In der 

Charite werden ungliicklichere Frauen von den schrecklichsten Ge- 

sichtsentstellungen befreit. 

Mit der Auflosung dieser Abteilung der Charite wird viel Segen der Welt 

genommen. 

Die »Ohrenplastik« ist ebensoweit gediehen wie die Nasenplastik. Ab- 

stehende Ohren, Ohren mit Hangelappen, tierische Ohrenbildungen 

werden geschnitten, erganzt, geflickt, normal gemacht. Es ist sehr woKl 

denkbar, daS in Zukunft, wenn sich dieser Zwelg der Chirurgie bedeu- 

tend entwickeit hat, ein Mensch mit vollstandig entstelltem Antlitz die 

Charite betritt und sie nach einem Tage als ein ganz neuer, umgekrempel- 

ter, zurechtgeflickter, zurechtgefiigter verlafit. Ungefahr wie man aus 

einem Warenhaus neubekleidet herauskommt. Ja, es geschah einmal 

einem auslandischen Staatsanwalt, dafi er - Verhrecherohren hatte. Er 

fuhr nach Berlin, und der Professor Joseph schenkte ihm schone, ganz 

normale Staatsanwaltsohren, Diese Geschichte ist wirklich wahn 

Der schwerste Fall, den die gesichtsplastische Abteilung der Charite 

hatte, ist ein Soldat, der die ganze ohere Gesichtspartie verloren hatte; 

also: Nase, Wangen, Oberkiefer samt Lippen. Ich sah ihn vor einigen 

Tagen: 

Er hat ein vielfach geflicktes, aber immerhin voUstandiges Gesicht. Nur 

die Zahne fehlen noch, und die neue Nase funktioniert noch nicht ganz 

normal. 

Alle Patienten leben nun in der standigen Angst, diese Abteilung konnte 

aufgelost werden. Einem hohen Finanzministerium, das sparen will, 

gebe ich bescheidentlich zu bedenken, dafi selbst ein Finanzminister 

nicht gefeit ist vor einer schiefen Nase. Ja, dafi ein Finanzminister sein 



I92I 5^3 

Portefeuille nicht nur seinen (theoretisch immer vorhandenen) Fahig- 
keiten verdankt, sondern auch seiner normalen Nase. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 6. 6. 1921 



DIE WELT IN DER STADT 



Die Cserepy-Film-Gesellschaft hatte gestern Gaste und Presse gela- 
den, um ihnen das Modell der zukiinftigen und vielleicht in naher Zu- 
kunft schon erstehenden Filmstadt zu zeigen. In dieser Filmstadt ist 
alles, was der Film jemals brauchen konnte, und da er, was in der 
Schnelligkeit seines Wesens ja bedingt ist, ungeheuer viel braucht, das 
heifit so ziemlich alles, so ist in der Stadt die ganze Welt versammeit. 
Konstantinopel, die Pyramiden, der New Yorker Hafen und alle histo- 
rischen und Baedeker- Wunder des Erdballs. 

Diese Filmstadt soil in der Nahe von Berlin gebaut werden. Sie soil 
alien Filmgesellschaften zur Verfiigung stehen, und alle Filmgesell- 
schaften hatten sich an der Griindung dieser Stadt, die iibrigens von 
alien Arbeitern am Film, Schauspielern, Handwerkern usw. bewohnt 
sein soil, zu beteiligen. 

Dabei ist mancherlei zu bedenken. Erstens: Wie nimmt sich der Fami- 
lienstreit eines Zimmerers in der Moschee aus, in der der Handwerker 
mit seiner Familie wohnt? - Zweitens: Wer ist Burgermeister dieser 
Stadt, und muf5 man, wenn man hinkommt, Meldezettel ausfuUen, die 
in einer Pyramide, wo sich das Polizeiamt befindet, abzugeben sind? 
Drittens: Wozu ist die Welt iiberhaupt noch notwendig? Da doch alles 
so schon nachgeahmt ist, so konnte man schlief^Hch aus der ganzen 
iibrigen Welt - Berlin machen. 

Das Projekt ist kiihn, phantasievoll und bote gewifi ungeahnte Mog- 
lichkeiten. Aber Geld gehort dazu! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 7. 6. 1921 



ERIKAS SCHAMGEFUHL 



Gesetzt den Fall, Erika, ein junges Madchen, saCe in der Loge eines 
Ballsaals mit dem Freunde Varianis - Ihr kennt ihn, den Schauspieler 
Variani - und ware gerade in der angenehmen Lage, verfiihrt zu wer- 
den. Da tut sich die Logentur auf, und herein treten Angela und Va- 
riani. Nun »erwacht Erikas Schamgefiihl«, und »aufs tiefste beleidigt, 
verlafit sie emport den Saal«. 

Diese Erika gibt mir zu denken. Ein verdammt kompliziertes Frauen- 
zimmer! Gut! Ich weifi schon! Ich weifi, dafi Erika gewissermafien 
nichts dafiir kann, dafi sie eigentlich von ihrer Freundin Angela mitge- 
nommen wurde, Im Foyer des Ballsaals werden beide - so lese ich - 
von Variani und seinem Freunde empfangen. Variani und Angela, 
stelle ich mir vor, gehen inzwischen Gott weifi wohin, um Erika und 
den Freund in die Loge gelangen zu lassen. Hier - iese ich weiter - 
»lauft Erika Gefahr, der Versuchung zu unterUegen«. Waren Variani 
und Angela dort geblieben, wohin sie gegangen waren, namlich Gott 
weifi wo, so wiirde Erika der Versuchung unterUegen. Aber Angela 
und Variani kommen, wie schon gesagt, unvermutet an, und Erikas 
»Schamgefuhl erwacht«. 

Man unterschatze mir nur Schamgefuhls Erwachen nicht! Es verur- 
sacht vor allem Erikas eilige Heimkehr zum aken Vater, der bereits 
gebrochen ist, aber »kein Wort des Vorwurfs iiber die Lippen bringt«. 
Und veranlafit ferner die Stiefmutter, Erika ohne Riicksicht auf die 
augenblicklich herrschenden klimatischen Verhaltnisse - es ist namlich 
»Nacht und Nebel« - aus dem Vater- beziehungsweise Stiefmutter- 
hause zu weisen. 

Erika gerat auf eine Gartenbank, von da in die Hande der Polizei und 
des weiteren in eine Fiirsorgeanstalt. Aus der Fiirsorgeanstalt als Hilfs- 
schwester zu einem Doktor Weigert, der sie schliefiUch so liebgewinnt, 
dafi er sich in sie verliebt. 

Erikas Schamgefiihl hat also, wie jede Tugend, Friichte getragen. Gut! 
Aber als es erwachte, wufite es noch nichts von diesen Frlichten, und 
es erwachte dennoch. 

Gesetzt den Fall, das Schamgefiihl hatte weiter geschlafen: Erika und 
der Freund waren seinem Beispiel gefolgt. Erika ware vermutHch - bei 
der Gebrochenheit des Vaters - nicht mehr nach Hause gekommen. 



I92I 585 

oder doch zumindest 12 Stunden sparer, und ware, selbst wenn sie die 

Stiefmutter auch dann noch aus dem Hause gewiesen hatte, nicht ge- 

notigt, es sich just bei Nacht und Nebel gefallen zu lassen. Sie ware 

dann gar nicht auf die Gartenbank und nicht zur Polizei und nicht in 

die Fiirsorgeanstah und nicht zum Doktor Weigert gekommen. Son- 

dern geradewegs zum Einschlafern ihres Schamgefiihls. 

Man sieht: Der Unterschied ist nicht sehr grofi. Das schlafende Scham- 

gefiihl hatte in der Art so ziemlich die gleichen Folgen gezeitigt wie das 

erwachte. 

Dennoch bekiimmert mich weniger die Frage nach dem Wozu des Er- 

wachens als nach seinem Warum, Vor Angela und Variani brauchtest 

du nicht zu erwachen, Schamgefuhl! Der beiden eigenes Schamgefiihl 

schlummert namhch konstant. 

Sind es gerade die Erikas, deren Schamgefuhl so leicht zu wecken ist? 

Erika ist eine Tischlerstochter, das Ganze geschieht im Berliner We- 
sten, heifit »Sittenbild«, und ich kenne die Begebenheit aus dem Pro- 
grammheft, das ich vor dem Kinoeingang gefunden habe. 
[ch glaube merkwiirdigerweise an die innere Wahrheit dieser Begeben- 
tieit. Bei den Tischlerstochtern, den mittellosen Erikas des Berliner 
Westens, erwacht wirklich das Schamgefuhl, wenn die bemittelten An- 
gelas des Kurfiirstendammes erscheinen. 

Das Schamgefuhl der Erikas ist natiirlich-konventionell; ist ihre Tragik 
and ihr Schicksal. Es erwacht vor dem sozial Hohergestellten. Aus 
iiesem Schamgefuhl heraus »unterHegt sie der Versuchung« und ent- 
ilieht ins Vaterhaus. Sie ist eine Kleinbiirgerstochter, und es ist ihre 
^rste Bestimmung, sich zu schamen: wenn sie Uebt, wenn sie sich freut. 
[mmer, 

ne errotet wirklich hold (wie Frau Marlitt sagt), wenn man ihr eine 
Liebeserklarung macht. Sie vergief^t echte Tranen, wenn sie aus dem 
/aterhause geht. Sie wartet mit riihrender Gewissenhaftigkeit auf die 
lachtlich-spate Riickkehr ihres gewissenlosen Mannes. 
Sie betriigt ihren Mann gelegentlich und empfindet vielleicht ehrlich 
leue iiber den »Fall«. Gebart sie ein Kind in Zucht und Ehren, kom- 
nen Vettern und Gevattern wirklich in Zylindern, auf dem Haupt und 
n der Seele. Und iiberhaupt rollt das ernste Leben in feststehenden, 
lurch sehr viele Romane schrifdich bestatigten Formen dahin. 



586 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»Kitsch« heifit die technisch nicht unbedingt wertlose, aber (angeblich) 
verlogene Darstellung der Lebensformen und -moglichkeiten. Ein Ro- 
man, in dessen Geschehen das Lesebuch wirkt, heifit Kitschroman, Im 
Kitsch-Film gelangen Stearintranen zur Anwendung, 
Ich weifi aber nicht, ob nicht die echten den Stearintranen nachgebildet 
sind. 

»Kitsch« ist der Uterarische Ausdruck der gesellschaftlich gehenden 
Lebensformen und -aufierungen. »Konvention« ist angewandter 
Kitsch. 

Ich sehe Hochzeiten, Leichenfeiern, Maskeraden, Salonrocke, Cut- 
aways, steife Hemden, Riihrung aus Tradition, Freude aus Gefallig- 
keit, Frohsinn aus gesellschaftlichem Zwang, Seelennot aus zwingen- 
der Lektiire erwachsen. Deshalb anerkenne ich die Berechtigung des 
Kitsches. 

Warum lernen wir nicht aus der Tatsache? Die Mehrzahl der Men- 
schen findet sich selbst in den schlechten Romanen, daher deren fiirch- 
terhch grofie Auflage. Ich habe im Kino Frauen gesehen, die beim An- 
bUck der Stearintranen der Filmdiva sich in echten iiberstromten. Die 
Trauer der weinenden Frauen im Parkett war echt. 
Ich habe einmal eine Freihchtauffiihrung der Goetheschen Iphigenie 
gesehen, und die Leute afien dazu Butterbrot. Denn die Iphigenien 
sind schon erfundene Traummadchen, aber die Erikas wandeln stiind- 
Hch unter uns, und gelegentlich erwacht auch ihr Schamgefiihl. 

Berliner Borsen-Courier, 7. 6. 1921 



MODERNE AUSSTELLUNG 



Bei Dr. Fritz Goldschmidt und Dr. Victor Wallerstein sind Gemalde, 
Zeichnungen, Graphik von Heckel, Otto Miiller, Kokoschka, Abbo, 
Czobel, Kirchner, Pechstein und andern ausgestellt. 
Diese Ausstellung unterscheidet sich wohltuend von ahnlichen moder- 
nen Ausstellungen durch die Intimitat des Raumes und die weist 
Mafiigkeit in der Zahl der ausgestellten Werke und Namen. Die Aus- 
stellung hat eine Physiognomie. Wer sie gesehen hat, nimmt einen Ein- 
druck mit, nicht ein Eindruckschaos, das man in Mitteleuropa und ir 



I92I 5^7 

Berlin besonders aus Bildergalenen nach Hause zu bringen gewohnt 

St. 

Die Ausstellung beherrscht Erich Meckel mit alteren und jiingeren 
^erken. Das Datum ihrer Entstehung ist zu merken, auch wenn man 
len Zettel nicht sieht. Heckel hat eine bedeutende Wandlung durchge- 
nacht. Er ist von der leise ironisch-sachhchen Betrachtung und Dar- 
;tellung zur pathetisch-tragischen gelangt. Ob zum Schaden, darf bei 
lem verhaltnismaEig jungen Konner Heckel nicht mit Entschiedenheit 
;esagt werden. Zeigen seine friiheren Bilder die meist absichtslose, sel- 
en nur literarisch bewufSte Pointierung des Themas, so sind die neue- 
en dramatisch akzentuiert und enthalten gezahmten Uberschwang, 
jebandigte Fulle, in Schranke und Zaum gehaltene tragische Leiden- 
;chafthchkeit. An Werke aus seiner friihen Periode erinnert der 
►Waldteich«. In satten, aber fein abgetonten Farben wogen Rausch der 
*^atur und Berauschtheit an ihr. Gewissermafien eine Translation aus 
ier griinen Gesundheit der Natur in das subjektiv empfundene ge- 
;undheituberstromende wallende, gewellte Violett. 
\.bseits stehend die sozialen Vorwiirfe wie zum Beispiel »Variete«. Da 
ind, scharf getrennt (nicht im Gegenstandlichen, sondern technisch), 
iiihne und Zuschauerraum. In beiden je ein paar Puppengestalten, die 
:inen ausiibend, die anderen zusehend. Man spiirt: Ihr Inneres ist tot, 
Cleider sitzen an Geriisten, und das Ganze ist bewegt und zum Zweck 
lieses AugenbHcks durch den Zweck dieses AugenbHcks. Diese Skiz- 
:en sind naturgemaE tendenzios, wenn nicht ausgesprochen, so doch 
mbewufit ungewollte Satiren. 

\bho^ ein palastinensischer Plastiker, hat zwei Frauenkopfe ausge- 
tellt, sensible, unendlich fein nachempfundene, mit sehr viel Stilgefiihl 
:omponierte Sachen. Eine unvollendete »Skizze zu Mutter und Kind« 
and ich etwas unvermittelt und nicht geniigend begriindet inmitten all 
lieser durchaus fertigen Objekte. 

lint Kriegslandschaft KokoschkaSy ein neuer Kokoschka in der Tech- 
lik, in der Farbenkomposition. Das Bild heil^t nur »Landschaft« (ne- 
>enbei gesagt wittere ich darin den Grund dieser Benennung: Uble 
^onjunktur fur Kriegssachen, und man soil doch immer ehrlich sein), 

Dtto Mullers maskuline, durchaus strenge und ausdriickliche Kunst 
►ffenbart sich in »Mann und Frau«. Pechsteins Vorliebe fiir derbe Son- 
lengebrauntheit von Landschaft und Menschen verleiht durch einige 



588 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Bilder, besonders durch »Bauernhof« und »Weibliches Bildnis«, der 
ganzen Ausstellung einen in den Ausstellungen der letzten Zeit lang- 
entbehrten gesunden und (nicht im kunsthistorischen Sinne) realisti- 
schen Zug. 

Zu erwahnen ist noch Czohels »Kind mit Hund«. Sehr viel schmieg- 
same Linie, der Wirklichkelt abgelauschter Duft in der Korperhaltung, 
aber in bewufit iibertriebener Kontrastierung zu der zart erahnten 
Fraulichkeit dieser kleinen Madchengestalt ein hafilicher Kopf und un- 
vermittelt plumpe FuKstellung und Fufie. 

Berliner Borsen-Courier, 11. 6. 1921 



GLOSSOMANIE 



Adolf Stohr, ein im letzten Winter verstorbener Philosoph, hat, soviel 
ich weifi, den Begriff und das Wort Glossomanie gefunden. Die Glos- 
somanie ist eine menschliche Eigenschaft, die in der halb oder ein Vier- 
tel unbewufiten, durch keinerlei innere oder aufiere Notwendigkeit 
hervorgerufenen Bewegung der Zunge zwecks Erzeugung sprachlicher 
Gerausche beziehungsweise Hervorbringung von Worten beruht. Es 
gabe, meint Stohr, sehr viele Glossomanen, und zu ihnen gehorten 
Frauen, Politiker, Journalisten und ordentHche Professoren der Phi- 
losophie ganz besonders. (Fast so schon wie diese Theorie ist die mit 
ihr in einem gewissen Zusammenhang stehende Tats ache, dai^ Adoli 
Stohr selbst ein ordentlicher Professor der Philosophic war.) 
Der Philosoph Stohr hat sehr wenig Zeitungen gelesen, sonst hatte er 
gewiE noch eine Gruppe in seine Glossomanenreihe aufgenommen: 
die Interviewten. 

Interviewt wird nach den geltenden Gesetzen der Offentlichkeit jeder 
der von sich reden macht. Sehr haufig Schauspielerinnen, Tanzerinnen 
und jene Frauen iiberhaupt, deren Beruf ein unmittelbares, mehr odei 
weniger kiinstlerisches Wirken auf »Publikum« bedingt. 
Ich lese mit groEem Vergniigen die Konfessionen der Tanzerinnen 
Einem franzosischen JournaUsten sagte Isadora Duncan folgendes 
»Krassin hat einen wunderbaren Kopf. Man kann ihn gar nicht anse- 
hen, ohne seinem Charme zu erliegen. Wenn er von mir verlanger 



1921 5^9 

wiirde, ich soUe am Nordpol tanzen, wiirde ich es auch tun. Den Hun- 
ger in SowjetruEland fiirchte ich nicht. Hunger halt schlank, Als ich im 
Pariser Trocadero tanzte, bekam ich keinen Pfennig. Was macht das? 
Nur das Geistige hat Bedeutung. Am i.Juli fahre ich nach Rufiland. 
Tanz ist Leben, und man lebt nur, wenn man tanzt. Krassin ist ein sehr 
grower Mann. Dreimal hat er mich in London tanzen sehen. Er teilt 
meine Ansichten. AUe Sowjetkinder soUen tanzen. « 
Frau Duncan ist nicht die einzige, die »sich au{5ert«. Deutsche Schau- 
spielerinnen »aufiern sich« auch sehr haufig in deutschen Zeitungen 
und Zeitschriften. Nach der oberschlesischen Abstimmung sprach eine 
bekannte BerUner Schauspielerin iiber Oberschlesien in einer grofien 
Berhner Zeitung. Eine Filmdiva, die von einer Wiener Filmaufnahme 
zuriickgekehrt war, erzahlte Historisches und Antihistorisches von 
Schonbrunn. In einer Zeitschrift sprach eine andere Filmdiva von Pelz- 
moden, Pelzen und dem Geschmack der Frauen. Asta Nielsen war 
unzahhge Male gezwungen worden, zu erklaren, dafi sie entschieden 
was von der Filmkunst halte. 

Isadora Duncan fahrt nach RufSland, und schon ist ein Jiingling vom 
»Matin« befliigelten Schritts in ihrer Hotelhalle angelangt, und am 
nachsten Morgen weifi die Welt, dafi Krassin einen wunderbaren Kopf 
hat, dafS die Isadora auf seinen Wunsch am Nordpol tanzen wiirde, 
obwohl es dem Mann mit dem wunderbaren Kopf ganz gewif^ nicht 
einfallt, etwas AhnUches zu wiinschen. Auf^erdem erfahrt man, dai^ 
Hunger schlank erhalt, dafi die Duncan umsonst im Pariser Trocadero 
getanzt hat, daf5 sig aber auf das Geld pfeift, weil nur das Geistige 
Bedeutung hat, und daft man schHei^lich nur dann lebt, wenn man 
tanzt. Krassin ist ein grower Mann, offenbar, weil er der Duncan An- 
sichten teilt, aber seine Existenz steht im Widerspruch zu der Weisheit 
der Frau Isadora, denn Krassin tanzt nicht und lebt dennoch. 
Isadora Duncan ist eine ganz grofie Tanzerin. (Asta Nielsen ist eine 
grofie Filmschauspielerin. Jene andere, die von Schonbrunn sprach, ist 
ein nettes Madel.) Warum die Duncan iiber Krassins Kopf reden mu£, 
da sie ihn doch hochstens tanzen konnte, ist unerklarUch. 

Die Zeitungen berichten, daf^ ein kommunistischer Abgeordneter eine 
drei Stunden lange Rede hielt und alle Abgeordneten inzwischen den 
Saal verlassen batten. Ein Parteigenosse riet dem Redner, »Ich eile zum 
Schlu{S« zu sagen, auf da£ die andern wieder hereinkamen. 



590 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wenn die Abgeordneten eines Tages erklarten, dafi sie liberhaupt nie- 
mals auch nur ein Wort reden wiirden, so blieben alle Abgeordneten 
ihr ganzes Leben lang mit Freuden im Tacement, dem Hause des 
Schweigens. (Und taten recht daran.) 

In drei Stunden kann man aufier seinem politischen Programm auch 
noch die Interviews aller Tanzerinnen der Welt hersagen, einen halben 
Faust, fiinfundzwanzigmal den Kampf mit dem Drachen. Was eine 
rhetorische Leistung hatte sein soUen, wird eine Glossative. 

Es ist eine alte verderbliche Einbildung der Menschen, daft sie durch 

Reden etwas bessern oder andern konnten. Diese Einbildung ist zum 

grofien Teil auf das Schuldkonto des Klassizismus zu schreiben. 

Nachdem ich die Geschichte von dem beredsamen Abgeordneten ge- 

hort hatte, las ich einen Absatz aus der Rede des alten Demosthenes: 

Peri stefanou, Und ein Vorwort des Philologen Bekker, von dem ich 

erfuhr, dafi Demosthenes 6i Reden in seinem Leben gehalten hat. Und 

ein Teil der Demosthenischen Reden diirfte aufierdem verlorengegan- 

gen sein. 

Wenn Demosthenes »Ich eile zum Schlu{5« sagte, so tat es alien Zuho- 

rern weh. Er hatte 24 Stunden sprechen konnen, und nur die Leichtfer- 

tigen und Oberflachlichen wiirden sich entfernt haben. 

Ein Redner des zwanzigsten Jahrhunderts aber darf hochstens eine 

Stunde reden. Denn erstens: haben wir keine Zeit; zweitens: kann er 

nicht sprechen. 

Demosthenes sprach sehr schon, obwohl er einen Sprachfehler hatte. 

Seine Armbewegungen waren knapp, aber weich; und in einer leisen 

Spreizung seines linken Mittelfingers lag eine Welt. 

Wenn ein Abgeordneter der Gegenwart selbst seine Fiifie zu Fausten 

ballte, so ware es nur ein akrobatisches Kunststiick. 

Wir alle aber leben noch in der klassischen Vorstellung von der Wich- 

tigkeit der Rede. Und hatten doch eigentlich vom Film lernen sollen, 

daft das Zeitalter des Wortes endgiiltig vorbei ist. 

Wir haben Parlamente. 

Ich saft eine Stunde im Reichstag, der Vormittag war heift, ich sah von 
der Tribune auf die Banke, die drciviertel leeren. Die Banke waren wie 
ausradierte Zeilen, in denen man nur die Kommas iibriggelassen hatte. 
Hier und dort starrte ein Volksvertreter-Beistrich. 



I92I 591 

Ein Mann sprach verloren in der grofien Unendlichkeit des Parla- 

ments. Wenn ich unten sprechen miifite, ware mir, als stunde ich 

am Weltrand und wiirfe Silben hinein in das Sonnengetriebe des 

Alls. 

Ein Abgeordneter verlas eine Interpellation. Wen interpellierte er? 

Von dieser Interpellation las ich dann in der Zeitung. Sie hatte sich in 

einigen Blattern zu einem Leitartikel ausgewachsen. 

So verwandelte sich das Wort in ein Gesicht. Denn die Welt ist typo- 

graphisch. 

Aber selbst von diesem Leitartikel glaube ich, dafi er vergebens ge- 

schrieben wan Er war eine glossative Leistung. 

Zu iiberzeugen sind nur die Uberzeugten. Alle, die entgegengesetzter 

Meinung sind, wandeln unberiihrt und unberiihrbar an uns, und wir 

reden ungehort an ihnen vorbei. 

Jeder einzelne wandelt, in eine grofie luftleere Glasglocke wie in eine 

Pelerine gehiillt, durch die Welt, und kein Schall dringt zu ihm, Ich 

habe die gespenstische Vision von Millionen unhorbar redenden Men- 

schen. Jedes Gerausch erhscht. Gott hat aus der Welt alle Luft ge- 

pumpt, auf dafi die Schallwellen aufhoren. 

Berliner Borsen-Courier, 12. 6. 1921 



FRUHLING 



Des Morgens hore ich Teppichklopfen iiber meinem Bett. Die tauben, 
wie in Watte gehiillten Klopftone reizen den Kanarienvogel meiner 
Nachbarin, und er piepst, zwitschert, flotet wie ein Vogelstimmen- 
imitator. Im Hof fliegt ungestiim ein Fensterfliigel auf, ein zweiter, ein 
dritter: Das ganze Haus reifit sich die Fenster vom Leibe. 
In meinem violetten Tintenfafi platschert ein Sonnenstrahl. Auf mei- 
nem Schreibtisch nimmt die bronzene Jungfer vor dem eindringlichen 
Sonnenschein ihre Briiste in Schutz und erbraunt Ueblich. 
Auch spielen Drehorgeln und Leierkasten im Hof. Die Melodienbache 
brechen auf, tauend und befreit. 
An derlei Erscheinungen merkt man schliel^lich, daE Friihling ist. 



592 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Am Kurfiirstendamm tragen die Kaffeehauser Friihlingsveranden, die 

Damen neue Kostiime, die Herren kanariengelbe, zwitschernde Hand- 

schuhe. In den Seitenstrafien spielen die Kinder mit blanken Hosen- 

knopfen und Murmeln. Aus einem messingnen Barbierbecken iiber 

dem Friseurladen lachelt das Spiegelbild eines blaugetiinchten Him- 

mels. 

AUe Menschen sind frisch lackiert und »Bitte nicht zu beruhren«. Die 

Jungen Madchen wandern, diinn bestrumpft und neu gesdefelt, wie 

kostiimierte Weidenbaumchen auf dem Asphalt herum. 

Am Nachmittag sitze ich am Fenster und denke, dafi Sonntag sein wird 

in der Welt. Im Grunewald zum BeispieL 

Nach sechs oder noch spater klingelt ein lila garniertes Madchen an 

meiner Tiir. Denn so ist die Liebe. 

Freie Deutsche Biihne, i6. 6. 1921. 



REISE NACH KULTUR-WIEN 



Auf der Fahrt nach Kultur-Wien soil man Doktor Smilasch kennenler- 
nen. Doktor Smilasch ist ein osterreichischer »Hof- und Gerichtsad- 
vokat«, ein Exemplar einer im NichtaussterbenwoUen begriffenen Ju- 
ristengattung. Fine Dame, Pseudowitwe nach einem totgeglaubten, 
aber nicht erweislich toten Gatten, hat die Absicht, sich wieder zu 
verheiraten und darf es nach den geltenden, mit dem Bigamiestrafpara- 
graphen drohenden gesetzHchen Bestimmungen vorderhand nicht. In 
solchen Fallen geht der Mensch zu Herrn Doktor Smilasch, Dieser 
Hof- und Gerichtsadvokat lafit irgendwo in Asien, Klein- oder Halb- 
asien, dem vielleicht schon toten, moglicherweise aber noch lebenden 
Gatten einen Grabstein setzen und hat dermal^en den Beweis erbracht, 
dafi der Mann begraben ist, folglich tot. Und die Dame kann heiraten. 
Diesen Doktor Smilasch (den ich in Walther Rodes jiingst erschiene- 
nem, aufiert amiisantem und lehrreichem Buch »Jurisprudenz, Juristen 
und anderes« kennengelernt hatte) in Wien zu treffen freute mich sehr. 
Ich habe ihn bis jetzt nicht gesehen. Aber ich stiefS, auf der Suche nach 
ihm, auf einen anderen Osterreicher, einen italienischen Berichterstat- 
ter, der mir herrliche Dinge von Florenz, Mailand und Neapel und 



I92I 593 

Rom erzahlte und dem ich dafiir seinen Mokka bezahlen mufite. Der 
italienische Berichterstatter hatte namlich keine osterreichischen Kro- 
nen. Nicht well er seine Lire nicht gewechselt hatte, sondern weil er 
auch keine Lire besafi. Er war namlich gar kein italienischer Berichter- 
statter, wenigstens kein in ItaHen reisender. Er las im Kaffeehaus die 
itahenischen Blatter, schrieb sensationelle Berichte, sammelte alte ita- 
lienische Marken und klebte sie kunstvoll auf Umschlage. Mit den 
Umschlagen ging seine Frau in die Redaktion, und von den Honoraren 
konnten beide gemachhch sterben. Dieser begabte Schriftsteller ver- 
diente wohl, hier genannt zu werden, allein solches verbietet die Dis- 
kretion und meine Kenntnis der Tatsache, dafi der Berichterstatter seit 
jiingster Zeit danische Briefmarken sammelt, um demnachst nach Ko- 
penhagen reisen zu konnen. 

Die Wiener Kultur spielt sich zum grolSen Teil in dem Kaffeehaus ab, 
in dem ich angeblich sitze. Am Nebentisch sprechen zwei Literaten 
iiber Rabindranath Tagore, der auch Wien seines Besuches wiirdigt. 
Die Wiener Literaten sind freche Menschen und streiten um den Bart 
des Propheten Tagore. Die Wiener Literaten sind glattrasiert und glau- 
ben, daE Bartlosigkeit das Abzeichen des Talentes ist. Der eine sagte, 
Rabindranath Tagore stamme aus Prag wie alia Literaten. Das klang 
wie eine Anerkennung und war doch ein Hohn. Denn wenn der Wie- 
ner Schriftmensch jemanden verhohnen will, setzt er ihn sich selbst 
gleich. Er weif^, daE er minderwertig ist. Und er bleibt es. Er will nicht 
hoher kommen. Er will andere tiefer kommen sehn. 

Vor einigen Tagen starb ein bekannter Frauenarzt. Er hatte sich infi- 
ziert, und er wuEte, daE er sterben wiirde. Eine halbe Stunde vor sei- 
nem Tode zahlte er seinen Puis und sagte seiner Frau, die an seinem 
Sterbebett sa£: »i44 in der Sekunde! Noch eine halbe Stunde !« Dieses 
Verhaltnis zum eigenen Tod erscheint mir grausam und wissenschaft- 
lich und die Art des Doktors zu sterben weniger heldenhaft als berufs- 
mafiig. Aber sie scheint wie geeignet, das Marchen von der Unsach- 
lichkeit des Wiener Menschen und der Feuilletonismus der Wiener 
Wissenschaft zu widerlegen. Allerdings fallt in Wien vielleicht selbst 
einem Nichtfachmann das Sterben leichter. Denn jene, die einen Teil 
der Wiener Kultur ausmachen, namlich Professoren und Arzte, erhaL 
ten hier monatlich ein Trinkgeld von ungefahr zwolftausend Kronen, 
das sind etwa tausend Mark. 



594 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Im Schonbrunner Schlofitheater hatte man versucht, Bernard Shaws 
»Helden« zu spielen. Die bulgarischen Studenten der Wiener Univer- 
sitat unterscheiden sich wenig von denen der Berliner. Sie demon- 
strierten in Wien, wie sie in Berlin demonstriert hatten, und setzten es 
durch, daC die »Helden« behordlich verboten wurden, aber ehe das 
Stiick abgesetzt wurde, geschah etwas sehr Wienerisches : Die Theater- 
leitung gab das Stiick nach einem Abend nach sorgfaltig ausgemerzten 
bulgarischen Anspielungen, Es spielte irgendwo. Dort, wo Bulgaren 
vorkommen soUten, kamen Nichtse, Niemande vor. Denn stets bereit 
zu Halbheiten und Kompromissen sind Wiener Theaterleitungen. 
Nicht so das Wiener Publikum. Es demonstrierte nicht fiir die Beibe- 
haltung des Bulgarischen beziehungsweise Antibulgarischen, aber es 
verhielt sich kiihl. Es hat nichts gegen die Bulgaren. Aber gegen unred- 
liche Versuche der Theaterleitungen, Skandale zu verhindern und den- 
noch Kassenerfolge zu erzielen. 

Redliche Kassenerfolge hat eine jiddische Volksbiihne in Wien aufzu- 
weisen. Die Schauspieler sind russische Juden, Die Stiicke ostjiidische 
Schauspiele, Der Inhalt ostjiidisches Volksleben; Volkssterben auch. 
Die Regie geschickt. Die Sprache jiddisch. Die Kunst gutes Mittelmafi. 
Die Ausdrucksform sentimentale Pathetik. Die Begeisterung grofi. Die 
Tendenz national. Die Kritik lobend. Die Arbeit emsig. Der Erfolg 
redlich verdient. 

AUein Kunst, mit nationaler Begeisterung einem fremdnationalen 
(doch nicht so fremden) Publikum vorgespielt, hat einen unangeneh- 
men Beigeschmack und ist gewollt. Der Star dieses Theaters stammt 
aus Moskau und nennt sich prononziert: Ben Zwi. Gegen die nationale 
Uberzeugung, gegen Stolz und Volksbewufitsein ist nichts einzuwen- 
den. Nur gegen das Programmatische, das in solchen kiinstlerischen 
Demonstrationen liegt. Es setzt kiinstlerische Leistung herab. Auch 
der nationale Gedanke kann Kunst gebaren. Aber wie propagiert selbst 
die also geborene Kunst den nationalen Gedanken. 

Im Jahre 1898 starb der beriihmte Wiener Pestforscher Hermann MUl- 
ler. Man begrub ihn auf dem Zentralfriedhof und schmiedete um sei- 
nen Grabstein einen bronzenen Lorbeerkranz. Durch den Sturz der 
Valuta stieg der Wert der bronzenen Lorbeerkranze. Gestern stahl je- 
mand dem toten Pestforscher den Lorbeerkranz und erwies also die 



I92I 595 

Nichtigkeit jedes irdischen Symbols. Gewifi ist die Tat des Diebes eine 
verruchte Untat. Aber bedeutende tote Pestforscher brauchen keine 
Lorbeerkranze. Der Mann, der es stahl, hungerte vielleicht. Hunger 
und Pest sind verwandte Angelegenheiten. Hermann Miiller be- 
kampfte die Pest. Der Dieb bekampfte den Hunger, wenn auch seinen 
eigenen. 

Ich glaube, dafi die Zeit der Lorbeerkranze vorbei ist, Pietat, die sich in 
Valutawerten kundgibt, ist uberflussig und unecht. Die Not bricht 
Bronze. 

Nichtsdestoweniger wird nachstens in Wien ein Johann-Straufi-Denk- 

mal enthiillt. Denn Denkmaler sind notwendig. 

Bildhauer leben zum Beispiel von Denkmalern. 

Diebe, das sind Menschen in Not, leben auch von Denkmalern. 

Hier schliefit sich der Kreis der Wiener Gegenwartskultur. 

Berliner Borsen-Courier, 19. 6. 1921 



VESTIBUL 



In diesem Vestibiil stromt das Licht weich aus opalenen Schalen und 
hiillt die harten Gegenstande ein. Es rinnt iiber die leisen Farben der 
Smyrnateppiche wie durchleuchtete Milch. Die Musik spielt »Peer 
Gynt«. Die Melodie ist verborgen in den opalenen Lampenschalen, sie 
rinnt mit dem Licht iiber die leisen Smyrnateppiche. Durchleuchtete 
Milch fliefit aus den Floten. 

Die Kellner flattern mit den Rockschofien, Servietten wedelnd, Fau- 
teuilklippen geschickt umsegelnd. Tassentragende Kelche sind ihre 
Hande. Likorglaschen tanzeln auf ihren Mittelfingerspitzen. Magazine 
von Respekt sind ihre Augen. Und ihr Haar glatt und gescheitelt, und 
ihre Kopfe dem Schaufenster eines Friseurladens entnommen. 
Der Liftboy besteht aus vierundzwanzig Goldknopfen in der Haupt- 
sache. Er hat ein frisches Jungengesicht und duftet nach Milch und 
Mutterbrust wie ein Saugling. 

Ich bin ein Fremder in diesem Hotel, vom Zufall einer Zugversaumnis 
in dieses Vestibiil gefegt, gemeinsam mit dem Inhalt eines D-Zuges. 



59^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wir sind alle Fremde. Wir sind simple Menschen, von Vatern mit Vater- 
mordern und Hornbrillen gezeugt, von Miittern mit kleinen Kapott- 
hiitchen und billigen Kettenschniiren in eine Welt der Pflichten und 
Monatsgelder gesetzt. Wir sind Arzte, Schriftsteller, Rechtsanwalte, 
Schauspieler, Bankbeamte. 

Ich weifi, wie wir uns alle zu Hause benehmen: Wir sitzen gelegentlich 
in Hemdsarmeln bei der Lektiire des Abendblatts und lieben Pantof- 
feln. Auch tragen wir manchmal kleine und groKe Pakete nach Haus an 
Bindfaden, die reifien konnen, es aber gliicklicherweise nicht tun und 
sich erst zu Hause starker erweisen als Waschestricke oder Schniirsen- 
kel. So dafi wir das Taschenmesser anwenden miissen, wenn nicht ein 
Brotmesser zufallig in der Nahe ist. Und - tauschen wir uns nicht: 
Manchmal putzen wir selbst unsere Stiefel und treffen es ausgezeichnet. 
Hier, in diesem Vestibiil, wiirden wir niemals einen Bindfaden mit 
einem Brotmesser zerschneiden und keine Stiefel putzen. Hier konnen 
wir iiberhaupt nichts mit unsern Handen anfangen. Wir konnen sie iiber 
die weichen, breiten Stuhllehnen aus Leder hangen lassen wie weifie, 
weiche Schnupftiicher, die nicht fur Nasen bestimmt sind. Vergessen 
unsere Abstammung und unsern Wochentag! Unser Kassier, der immer 
eine gerunzelte Stirn hat, gewissermafien eine zerknitterte Banknote als 
Stirnhaut, ist vergessen. Und der Tisch mit den vielen Tintenflecken, 
Spuren unserer fruchtlosen Argernisse, ist nicht vorhanden. 
In diesem Vestibiil sind wir grofi geworden und wahrscheinlich auch 
geboren. Unsere Vater Senatoren und Wiirdentragen Unsere Mutter 
grofie vornehme Damen in Samt und Seide, die keinen Larm vertragen 
und niemals freiwillig auf dem Pflaster gehen. Sie tragen echte Bern- 
steinketten, und ihr ganzes Leben ist eine griindUche Vorbereitung fiir 
den nach dem Tode bestimmt zu ergreifenden Ahnfrauenberuf. 
Wir sind es gewohnt, von Kellnerfrackschofien umflattcrt zu sein, Kein 
anderer Windhauch hat durch die Tage unserer Kindheit gcwcht. Wir 
wiihlten stets in Respektmagazinen, wenn unser Blick ein frenides Augc 
traf. Smyrnateppiche gehorten zu dem Boden unserer Tatsachen. 

Hier bin ich blasiert und miide der vielen Uppigkeit. Ich liege ini Lehn- 
stuhl, und einen halben Meter vor mir neigt sich ein zweireihiger Lift - 
boy. Ich soil einen Brief schreiben, und Tinte und Feder und Papier 
spriefien auf schlanken Tischchen aus dem Boden. 
Ich benehme mich doch sicherlich so, dafi kein Hoteldirektor die An- 



I92I 597 

zahl meiner Garderobestiicke kennt. Ich konnte jetzt zum Beispiel sa- 
gen; Sie, der Liftboy benimmt sich frech! Er fixiert mich! Und der 
Herr Hoteldirektor ginge hin und wiirde den Liftboy mit einem schal- 
lenden Blick ohrfeigen. 

Es ist gut zu reisen! - denke ich. Solch ein Vestibiil ist der Heimatort 
der Fremden, und Fremde sind immer vornehm. Es ist eine Lust, 
fremd zu sein! 

Ich entdecke plotzHch einen Mann, einen Mann in einem grauen An- 

zug, der sich Liptauer Kase geben lieE. Er bekam den Liptauer Kase, 

so wie es den Verhaltnissen dieses Vestibiils entspricht: Der Kase ist 

nicht zu erkennen. 

Aber der Mann, der Mann im grauen Anzug, ifit mit der Hand. Und er 

tragt einen Ring, sehe ich, mit einem groEen, viereckigen roten Stein. 

Und der Mann ist gar nicht blasiert, er schneuzt sich sogar. 

Seine Augen sind griin und gleichgiiltig. Seine Schuhe haben viereckige 

Spitzen. Er hat seine Tradition bewahrt. Er hat keine Ahnfrau zur 

Mutter. Sein Vater ist kein Wiirdentrager. 

Ich sehe dem Mann im grauen Anzug das Brotmesser an, mit dem er 

die Bindfaden an seinem Packchen auseinanderschneidet. Ich sehe den 

Mann dankbar an. 

Er ist die Gesundheit und meine Heimkehr. Er ist der leise beizende 

Zwiebelduft, der von der Schiirze meiner Mutter ausgeht. 

Er ist der Kassier mit der Banknotenstirnhaut und der fleckenreiche 

eichene Schreibtisch. Er ist mein Monatsgehalt und mein Pantoffel. 

Mein Schlafrock und mein Hemdsarmel. 

Ich hebe den Mann im grauen Anzug, wie ich mich selbst Uebe.- 

Niemals konnte ich in diesem Vestibiil Liptauer Kase essen. Mit den 
Handen . . . ! 

Berliner Borsen-Courier, i. 7. 1921 



MENSCHEN AM SONNTAG 



Am Sonntag ist die Welt mit Leere angefiillt wie ein grofier, glasheller 
Luftballon. Madchen in weifien Kleidern wandeln, heruntergefallenen 
Sonntagsglockenklangen gleich, durch die Strafien und duften sehr 
nach Starke, Jasmin und Liebe. 

Der Himmel ist gewohnlich frisch getiincht. Die Hauser schwimmen 
in Sonne, und die Tiirme klettern licht und behende aufwarts. Am 
Rande der Stadt fangt die Natur an, durch Verbotstafein gekennzeich- 
net. Sie ist griin in der Hauptsache und besteht aus lauter Ansichtskar- 
ten. 

Die Natur ist am Sonntag sehr wichtig. Ihretwegen ist der Sonntag da. 
Alle wahrend der Wochentage abgebrochenen Beziehungen zwischen 
ihr und den Menschen stellt der Sonntag wieder her. Er ist iiberhaupt 
die Briicke zu den vergessenen und verschiitteten HeiUgtiimern der 
Erde: zu Wald, Wannsee, Lunapark und zum Herrgott. 
Die Menschen weihen den Sonntagmorgen ein durch Kirchenglocken, 
Teppichklopfen und Friihstiickskaffee im Bett. Sie offnen die Fenster 
und schnuppern Freiheitsluft. Sie sperren die Schranke und Kasten auf 
und legen seltene Kostbarkeiten an zur Feier der Arbeitslosigkeit, an 
der ihre Seele hangt. 

Am Sonntag stehe ich am Fenster. Die gegeniiberliegende Wand mei- 
nes Nachbarhauses hat alle ihre Fensterfliigel ausgebreitet, glaserne 
Schmetterlingsfliigel, als woUte sie - husch! Hast du nicht gesehn! - 
auf und davon fliegen. Sie kann's nicht; immer bleibt sie beschwert mit 
Mobeln, Menschen und Schicksalen. 

Die ebenfalls sich gewandelt haben: mein Nachbar, gestern noch ein 
doppelter Buchhalter (seit fiinfundzwanzig Jahren bei der Firma, 
»ohne einen Anstand gehabt zu haben«) - und heute: nicht einmal ein 
einfacher mehr. Gott im Herzen und Morgenkaffeegeschmack noch 
im Mund, eilt er, hemdbearmelt, ans Fenster, einen Zug Freiheitsluft 
trinken. 

Wie ich ihn so sehe, alltaglich, im diinnen Rock, mit seinen Handen, 
die, wie Fransen zum Armel gehorig, aus diesen herausbaumeln, 
wachst er sich mir zum Helden einer Geschichte aus, mehreren Ge- 
schichten. Er konnte, denke ich, zum Beispiel eines Tages eine viel 



I92I 599 

besser bezahlte Stellung bekommen, aber er kann nicht kiindigen. 
Vielleicht stand er schon ein paarmal vor der doppelt gepolsterten Tiir 
seines Chefs, und sein Mut ward gedampft wie die Bewegungen der 
gepolsterten Tiir, und sein Herz glich einem nachgiebigen Sitzkissen, 
einem jener Lederkissen, auf denen der erste Prokurist zu sitzen 
pflegte. 

Einmal nach einem Sonntag hatte er sich mit Mut vollgepumpt, einen 
ganzen Sonntag lang, aber am Montag friih kam der Chef und schenkte 
ihm irgendeine Kleinigkeit: einen Fiillfederhalter vielleicht oder ein 
Tintenfafi, und die Angestellten legten Blumen auf sein Pult, weil just 
jener Montag sein Jubilaum einer fUnfundzwanzigjahrigen Tatigkeit 
bei der Firma war. Und er hatte es vergessen. Und er kann nicht kiin- 
digen. 

Und »Gabriel« ist bestimmt sein Vorname. 

Heute aber, am Sonntag, wird Gabriel sein Grammophon vor sich auf 
den Tisch stellen. Und eine Caruso-Piatte (»Ach, wie so . . .«) aus 
Kautschuk und Melodic stromt Sang und Klang einer ungekannten, 
zahlen- und stahlfederlosen Welt iiber Gabriel. 

Auch Kanarienvogeln ist der Sonntag zuganglich. Im Fenster des er- 
sten Stocks steht der Kafig, und der Kanarienvogel deklamiert ein Ge- 
dicht von Eichendorff. Es kann auch eins von Baumbach sein. 
Auf dem roten Tischtuch aus Peluche ruht ein weiEer Laufer, ein ge- 
sticktes Deckchen. Und die Kinder stiitzen immer ihre Ellbogen auf 
das Tuch und verursachen Falten. 

Nie sah ich die Mutter anders als im blauen Schlafrock. Sie ist sehr 
leise, sie tragt schon von Natur aus Pantoffeln, und sie hat gewifi eine 
verbitterte, schlurfende Seele. 

Sie zUchtigt die Kinder, weil sie das Tischdeckchen verschieben. Wozu 
braucht sie Tischdeckchen? dachte ich und schickte ihr einmal zwei 
Reif^nagel in einer Ziindholzschachtel mit Gebrauchsanweisung. Aber 
sie priigelte die Kinder immer noch. 

Heute, am Sonntag, brachte sie den Kindern Kuchen. Und die Kinder 
verursachten Falten auf der Tischdecke, aber die Mutter stand am Fen- 
ster und ergotzte sich an des Kanarienvogels Deklamationen. Und sie 
trug eine weifie Bluse. Und gewif^ keine Pantoffeln. 



600 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Aber der Abend ist traurig. Am Abend sehe ich die graugesprenkelte 

Katze am Fensterbrett im dritten Stock sitzen. Die Lehrerin ist ausge- 

gangen. 

Immer, wenn von der Turmuhr ein Schlag auf die kupfernen Dacher 

der Stadt fallt, streckt sich die Katze. Ich glaube, sie zahit die Schlage, 

denn sie wartet auf die Lehrerin, 

Manchmal sieht sie auch hinunter und wedeh, wenn die Lehrerin 

kommt, mit dem Schwanz, da sie ja kein Taschentuch hat. 

Am Sonntag ist die Lehrerin ihren Bruder besuchen gegangen, der ein 

Hauptmann in Pension ist und schwerhorig. Deshalb verspatet sich die 

Lehrerin. 

»Ich werde sie also entlassen!« sagt die Katze und ist sehr aufgeregt. 

Die Sonntagabende sind schal und bitter, als waren sie bereits Mon- 
tage. Gabriel ist ein Doppelter, die Madchen biigeln die zerknitterten 
weifien Kleider und riechen nach Brotstullen. Die Welt ist volL 

Berliner Borsen-Courier, 3.7. 1921 



DAS ENDE 



Das Ende des Cafes »GroCenwahn« war wiirdig seines Lebens. Lud- 
wig Hardt hielt ihm von einem Stuhl herab die Grabrede. Er warf 
gewissermaEen GefiihlsschoUen in die offene Gruft. Der rote Richard 
sammelte erlauchte Namen auf einer Liste, Er setzte dem Cafe des 
Westens einen papierenen Grabstein. Mehrere Kellner sah ich, wie sie 
hoffnungslos mit den Servietten einen imaginaren Staub von einem 
Marmortisch hinunterschmeicheln wollten. Die Kellner hatten zer- 
driickte Fracks choice und sahen aus wie zerknitterte Tranen. 
Der Direktor sah hinter dem bereits versperrten Gitter einer stiirmen- 
den Literaturmeute mit dem Gleichmut eines, dem nichts geschah, nie 
etwas geschehen kann, entgegen. Er winkte mit dem Taschentuch. 
Man sah's ihm an, er fiihlte sich, weil man ihm ein Ultimatum gestellt 
hatte. Er sah aus wie ein Mann, der von seiner Familie Abschied ge- 
nommen hat und im Zug sitzt. Aber der Zug fahrt nicht ab. 
Auf dem Weg zum Zoo verhaftete die Schutzpolizei Ludwig Hardt. 



1921 6oi 

[ndes sangen die Bohemiens »Blut soil fliefien«, das Blut Paulis, des 

Lnliabers. 

Und nie, wahrend der ganzen Cafe-des-Westens-Existenz nicht, ge- 

ichah etwas Grofienwahnsinnigeres: Die Guillotine mufite fiir einen 

Kaffeesieder herhalten. 

Und nie haben sich die Literaten starker verkannt: Denn sie forderten 

Blutrausch und meinten Mokkatrank. 

Denn Bohnenkaffee fliefit in den Adern der Menschheit. 

A.ber eben um diesen Bohnenkaffee ist es schade und urn diese 
Menschheit. 

[ch verstehe die Verachtung der mit hauslichem Herd Versehenen fiir 
Denatenlose Existenzen nicht. Seitdem es erwiesen schien, daE die Un- 
"risierten und Wildbehaarten ebenfalls nichts konnen, werden sie von 
len nichtskonnenden Kurzgeschorenen verspottet, Der ganze Unter- 
jchied besteht in der Haartracht. Und in dem Aderninhalt: Die Lang- 
laarigen haben Mokka in den Blutgefafien. Und die andern nur Malz- 
iaffee. 

Vie »schaffen« keine »Werte«. Sind Patenthosenknopfe »Werte«? Wo- 
ler nimmt der Patenthosenknopferzeuger das Recht, iiber einen 
;chwatzenden Nichtskonner zu schimpfen? 

Die Ausrede, dafS selbst ein Bohemien Patenthosenknopfe brauche, ist 
;in ZiviHsationsargument: Fiinftausend Jahre lebte die Menschheit 
Dhne einen einzigen Druckknopf.) 

3iese Kaffeehausmenschheit traumt von Taten, ohne je eine zu voU- 
3ringen. Aber sie traumt wenigstens von Taten. I ndes die andern zum 
ieispiel von der Anschaffung eines neuen Nachttisches traumten. 
Die einen hielten sich fiir revolutionar. Die andern fiir konservativ. 
ene waren nicht revolutionar: Sie bemiihten die Guillotine fiir einen 
!Caffeesieder. Diese aber waren nicht konservativ: Sie zogen der Guil- 
otine - einen Kaffeesieder vor. Einem Mordinstrument ein Verdienst- 
nstrument. 
Seiche Art ist wertvoller? 

Is gibt ein geographisches Schicksal der Cafes. Es wird Herrn Pauli 
lichts niitzen. Hier an der Ecke des Kurfurstendamms und der Jo- 



602 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

achimsthaler Strafie wird die Boheme immer leben. In der Musikdiele. 
im Palast, in der Badeanstalt. Und schiife er eine Menagerie aus seinen: 
Kaffeehaus - die Literaten - seht! - bezwangen sich und weideten ge- 
meinsam mit den wilden Lowen. 

Berliner Borsen-Courier, 5.7. 1921 



DIE STIMME SEINES HERRN 



Dem Versuch, an die Spitze dieser Ausfiihrungen als Motto den in der 
letzten Jahrzehnten meist gelesenen und erfolgreichsten Vers der ge- 
samten deutschen Lyrik zu setzen, bin ich nur deshalb entgangen, wei 
ich jetzt Gelegenheit finde, diesen Vers gleich im Textanfang zu zitie- 
ren. Er lautet »Bims die Hand' mit Abrador!« . . . 
Mit dieser Dichtung in mittelbarem Zusammenhang steht der Protes 
der Berliner Akademie der Kiinste gegen die Verbimsung, Abradori- 
sierung, ich meine: Verplakatierung der Berliner Wande und Strafien. 
Nur des Geldes wegen solite und soil sic sich ereignen. Die Mauer, dit 
Strafie, die Stadt brauchen Geld und vermieten sich als Ausrufer 
Trommler, Trompeter. 

Die Akademie der Kiinste, obligate Hiiterin des guten Geschmacks 
die aber auch schon Geldeswert zu schatzen gelernt hat, weifi einer 
Ausweg: Sie schlagt das von ihr zensurierte und approbierte »kunstle- 
rische Plakat« vor. Ein gelernter Trommler soil trommeln; ein Blasin 
strumentenvirtuose trompeten; ein Tenor der Staatsoper ausrufen. 
Ein grofier Lyriker (heifit das ferner) soil nun eine zarte, poetisch( 
Verbimsung der Welt durch Abrador vornehmen. Davon konnen di* 
Kunst, die Stadt und der Fabrikant leben. Und der gute Geschmack is 
gewahrt. Weil die Verbimsung in eine metaphorische und klangreichi 
Aufforderung gekleidet wird. Weil Verse von Ewigkeitswert Abrado 
preisen werden wie bis jetzt nur Liebe, Nachtigallenschlag und hohe: 
Menschentum. 

Was ist ein »kunstlerisches Plakat«? Der Ausdruck des letzten Scham 
restchens, den der Betrieb unsinnigerweise immer noch vor der Aka 
demie der Kiinste behalt. Und in einer grotesken Gleichzeitigkeit 



19 2 1 603 

schlauer Praktikensinn, der weifi, dafi der Massenmensch bei der Auf- 
nahme von Eindriicken dank einem nicht mausetot zu schlagenden In- 
stinktiiberrest (aus einer bimslosen Zeit) dem kategorischen Imperativ 
des kiinstlerischen Werkes gehorcht. Zumindest des kiinstlerisch sich 
gebarenden Werkes. 

Da Kunst as grundsatzlich, ihrem Wesen folgend, ablehnen mu&, dem 
Geschaft zu dienen, bleibt dieses auf den Kitsch angewiesen. Und dank 
einer Verbildetheit des Massenmenschen wirkt der Kitsch (keine Anti- 
kunst, sondern eine MifSkunst, ein mifiratenes KunstfamiUenmitglied 
gleichsam) starker als Kunst. 

So hatte Goethe niemals Abrador den Erfolg verburgt. Sondern ein 
Mann, ein Mifi-Goethe sozusagen, der Meier heifit und aus der be- 
scheidenen Stille eines beschaulichen Gelegenheitsdichterheims ewige 
Begriffe an die Litfaf^saulen der Welt spritzt. 

Und das ist in Ordnung. Kein Dichter braucht sich mit Bimsen zu 
beschaftigen, (Er miifite denn jener Aufforderung, die Hand' zu bim- 
sen - und selbst das erfolglos-, sofort nachkommen.) 
Plakate, geschaftHche, ehrliche und haufig unehrUche Anpreisungen 
lacherlicher Dinge, soil nur der Meier machen. Ihre starkste Wirkung 
erzeugt der Kitschier. Die Linie ist gewahrt. Ich meine: die Einheit- 
lichkeit von Inhalt und Ausdrucksform und Tendenz. 
Die Akademie der Kiinste aber schliefSt jenen Kompromi£, den uns 
das »kunstlerische Plakat« bereits beschert hat, das »Kunstgewerbe«, 
die Verquickung von Majestat und Profit, den Versuch, Ewigkeit und 
allerbeste Rasierseife in einer Schaumblase zu vereinen. 
Was die Kunst ablehnt, protegiert die Akademie der Kiinste: das 
kiinstlerische Plakat. Da wir doch ohnehin dem Plakat nicht entgehen, 
so machen wir's wenigstens geschmackvoU - ist ungefahr die Parole. 
Also zum Beispiel: die Venus von Milo, der Arm und Hand ersetzt 
werden, damit sie ein hygienisches Mittel halte. Das ware die letzte 
Konsequenz des »kunstlerischen Plakats«. 

Sie ist moglich. Unter Umstanden kann Michelangelo eine Wachssta- 

tue schaffen, deren Briiste durch die allerneuesten Osramlampen er- 

hellt sind. Das ist eine »geschmackvolle Reklame«, ein »kunstlerisches 

Plakat«. 

Man konnte ja auch - technische Moglichkeiten vorausgesetzt und Ga- 

rantien fiirs Nicht- Abhandenkommen - die Kunstwerke aus den Gale- 



604 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Hen an die Mauern hangen und sie mit Reklamemitteln zieren. Warum 
nicht? Nicht genug kiinstlerische Plakate? 

Wie sind Plakate beschaffen? 

Einer Rasierklinge absolute Scharfe erkenne ich daran, dafi sie einen 
laufenden Dackel entzweigeschnitten hat. Der Dackel ist aus Bauholz, 
scheint mir, denn wo sind seine Eingeweide? 

Sein Antlitz aber ist lebendig, das schlaudumme Gesicht eines Dackels. 
Also ein lebendiger Dackel. Wie kann erweiterlauf en? Entzweigeschnit- 
ten? Mit frohlichem Gesicht? Schnuppernd, Strafienecken suchend, 
Weibchen und Atzung? 

Dieser von einer Rasierklinge entzweigeschnittene Dackel ist wirksam. 
Weil er voUkommen unkiinstlerisch ist. Weil er unmoglich ist. Weil auf 
keinem Planeten jemals ein durch eine Rasierklinge entzweigeschnitte- 
ner Dackel harmlos weitergelaufen ist. Weil ein bestiaHscher Humor in 
diesem Bild steckt. Ein Henker hat es gemalt. 

So sind nun einmal alle Plakate nicht! Sondern zumeist verkorperte 
Tendenz. Ich meine: »Die Stimme seines Herrn«. 
Dieses Grammophon, sagte der Fabrikant, ist so vortrefflich, dafi jeder 
Hund die Stimme seines Herrn wiedererkennt, wenn sie aus dem Trichter 
grunzt. Ich mochte ein wirkungs voiles Plakat! 

Was tat der Maler? Er ging hin und iibersetzte die Tendenz ins Bildhafte: 
Er make einen Hund, der die Stimme seines Herrn erkennt. Zu den 
»kunstlerischen Plakaten« gehort nun dieses weitverbreitete von der 
»Stimme seines Herrn« nicht. Allein, es ist bezeichnend flir das System 
aller Plakatmalerei. 

Da wird die Phrase (irdischer Uberrest eines langst verstorbenen Bildes) 
neu aufgeschminkt und zu scheinbarem Leben erweckt. Ich sah ein 
Plakat (und es war ein »kunstlerisches«), das mit den Worten begann: 
»Tiefes Dunkel herrscht uber...« Darunter ein Bild: herrschendes, 
sichtbar herrschendes schwarzes Dunkel. Es erfullte die ganze Plakatfla- 
che bis zum untersten Rande, aus dem (kiinstlerisch wirklich gut) eine 
neue Gliihlampe langsam, Dunkel bezwingend, Siegerin iiber Nacht und 
Nebel, aufleuchtete. Darunter stand: ». . . bis die X-Lampe nicht ange- 
ziindet wird«. 

Das Bild, die Zeichnung eines Meisters , war die Translation einer sprach- 
Uchen Wendung ins Bildhafte. (Sufilich-sauerlicher Mundgeschmack des 
Betrachters wie beim Anblick einer aufgeputzten Jubelgreisin.) 



1921 6o5 

O^as kann das Plakat anderes sein als die Illustration einer sprachlichen 

^endung, einer Phrase? Denn das Plakat hat »Tendenz«, »Tendenz« 

das heifit hier: Hinarbeiten auf praktischen Erfolg), eine Tatigkeit, 

lurch kein Kunstmittel auszudriicken. Nur durch die sprachliche 

^endung. 

^olitische Plakate sind die besten Beispiele: lUustrationen zu Leitarti- 

celphrasen sind sie ausnahmslos, 

Dh, wir haben genug kiinstlerische Marmorstiegen in den Warenhau- 

lern, und sie fiihren nicht zu Thronen empor, sondern zum Verkaufs- 

;tand von Hosentragern! Wir haben genug Kunstgewerbe! Madonnen, 

nit dem Jesuskund in der einen, dem Aschenbecher in der anderen 

riand! 

xh lasse mich zu dem unerhorten, vermessenen Schrei hinreifien: Wir 

jfeifen auf Plakatwande iiberhaupt! Wir wollen die Stimme seines 

rierrn gar nicht horen! Litfafisaulen sind gut genug! 

Jnsere Goethes soUen nicht bimsen, unsere Rembrandts nicht abrado- 

•isieren! Die Meiers sollen's weiter tun. Sie treffen es. »Wirkungsvoll« 

st keine Kunst. Und die Akademie nicht eine Akademie der Wir- 

cungskiinste! 

3 Gott! Hatte ich doch nur einen Plakatmaler zur Stelle! Und er 

viirde euch illustrieren, wie ich mich selbst hin- und herreii^en liefi zu 

iiesem Schrei!. .. 

Berliner Borsen-Courier, 10. 7. 1921 



KUNST IM GHETTO 



\ls erster in der vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller veran- 
;talteten Vortragsreihe »Verborgene Kunst« fand am 13. d.M. abends 
m Briidervereinshause ein Vortrag Sami Gronemanns iiber die »Ent- 
vicklung des jiidischen Theaters« statt. Schauspieler des Wilnaer 
rheaters lasen aus jiddischen Dramen vor. Zum SchluE ging der Vor- 
lang iiber einem ostjiidischen Bethaus (»Beth-Hamidrasch« genannt) 
luf. »Der narrische Batlen«, eine Geschichte von Perez, spielte sich auf 
ler Biihne ab. 



6o6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Den narrischen Batlen gab ein junger jiidischer Schauspieler, nacl 

westeuropaischen Schauspielkunstbegriffen ausgezeichnet natural!- 

stisch, nach ostjudischen falsch. Er hatte vor allem willkiirlich der 

Verlauf der Perezschen Geschichte verandert. 

Perez lafit seinen Batlen (der judische Narrentypus ostlicher Klein- 

stadte) im Beth-Hamidrasch nachdenken iiber die vielen Ichs in seinei 

Seele. Er ware, behauptet er, zwei, drei und noch mehr. Aufier aller 

Ichs sei noch eines da: namlich jenes alle diese Ichs konstatierende unc 

iiber sie nachdenkende. 

Nicht nur er, der Batlen, besteht aus mehreren Teilen. Den anderei 

Menschen geht es auch so. Da ist zum Beispiel der Kaufmann Wolf 

der eben das Bethaus betritt und sich in Talmud und Gottesdienst ver 

grabt. Zu Hause priigelt er seine Frau. Sind das nicht zwei Wolfs. Unc 

wenn er das Bethaus verlafit, schwindelt er gar. Sind das nicht dre 

Wolfs? 

Den rohen Wolf, der seine Frau priigelt, mochte der Batlen ermorden 

Er zieht sein Taschenmesser. Er spricht mit dem Kaufmann Wolf 

Aber zur Tat kommt er nicht. Nicht einmal zur Drohung. Er ist ebei 

ein jiidischer Batlen. Kein Kraftmensch, sondern ein Sinnierer. Eii 

passiver Fanatiker. Er fiirchtet sich vor seinem eigenen Taschenmesser 

Wie erst vor einer Tat! 

Die Perezsche Geschichte schlief5t dementsprechend uberhaupt nicht 

Nie fallt der Vorhang iiber diesem Dramchen. Der Monolog des Bat 

len geht ins Uferlose. Sein ganzes Leben lang monologisiert der Batlen 

Sein Wesentliches ist das Monologisieren. 

Auf der Buhne aber endet die Geschichte westeuropaisch. Der Batlei 

bedroht den Kaufmann, und der entweicht. Es wurde sozusagen dram 

lerisch (nicht dramatisch). 

Nichtsdestoweniger gab die Auffiihrung eine deutliche Ahnung voi 

einem Teil ostjiidischen Wesens, Das Bethaus, der Kaufmann, der Bat 

len waren echt. Dem Schauspieler, der den Batlen gab, glaubte mar 

allerdings das Sinnieren nicht. Er war zu sehr auf die rein mimischi 

Glaubhaftigkeit dessen, den er darstellte, bedacht. Er war sozusagei 

anderthalb. Nur zur Halfte der nichtsnutzige Denker. 

Alomis heifSt eine grofSe Schauspielerin. Sie las den letzten Akt de; 

»Goldenen Kette«, eines Mysteriums von Perez: Der gro^e Rabbi Sa 

lomo will durch eigene passive Resistenz Jehovah aus der gottlich-pas 

siven Resistenz reil5en. An einem Sabbatabend beschliel^t Rabbi Sa 



19 2 I 607 

lomo, das den Wochentag einleitende und erst ordentlich bestatigende 
Gebet nicht zu sprechen. Infolgedessen dehnt sich der Sabbat zur 
Ewigkeit iiber die Wochentage aus. Das Volk darf nicht arbeiten. Die 
Kinder sterben Hungers. Die Frauen jammern. Rabbi Salomo (»Bol- 
schewist«, »Kommunist«) will Gott zur Verzweiflung treiben, auf dafS 
Er aus seiner grausamen Lethargie erwache. 

Jehova aber, ein Diplomat, konservativ, zah, Ja reaktionarer Herrscher 
iiber Rabbis und Volker, erwacht nicht selbst. Sondern das Volk em- 
port sich. Und des Rabbi Salomo eigener Sohn spricht das Gebet, 
macht einen Durchbruch durch den ewigen Sabbat-Drahtverhau und 
leitet wieder den Wochentag ein. 

Alomis las den letzten Akt des Dramas. Mit klingender, singender 
Stimme, hin- und hergeschaukeltem Oberkorper. Sacht iiberstromend 
aus Wehklage in Emporung. Ihre Stimme rann wie ein diinner Wasser- 
strahl in erzene, heilige Schalen, wenn sie aus Fluch und Wehgeschrei 
in Gebet iiberging und traditionelle Gebetsmelodie. 
Alomis sieht blond und germanisch aus. Sehr seltsam. Eine Frau, die 
alle ihre Leidenschaft, allerletzten Rest einer verborgenen Menschlich- 
keit gewandelt hat in kiinstlerische Disziplin. Eine Trieb- und Leiden- 
schaftendompteuse. 

Das jiidische Drama ist so ausschlief^lich jiidisch, da£ es, »jiddisch« 
gespielt, schwer von Fremden verstanden werden kann. Zum Kunstge- 
nufi per aspera ! 

Die jiddische Sprache hat, wie die deutsche, zumeist lange Vokale. Die 
ostjiidischen Schauspieler (wohl auch die ostjiidischen Menschen) 
sprechen die Vokale slawisch, also sehr kurz aus. Daran mul$ sich der 
deutsche Horer zuerst gewohnen. Dann bleibt noch ein ganz bedeu- 
tender Rest hebraischer und russischer Fiillselbegriffe und -worte. 
Die Entwicklung des jiidischen Dramas war eine rapide. In kaum hun- 
dert Jahren hat es den Weg zuriickgelegt, zu dem die dramatische 
Kunst der anderen Volker Jahrhunderte gebraucht hat. Diese jiidische 
Kunst hat das Tempo eines judischen Lebens. Es ist treibhausluftge- 
diehen. 

In Wien besteht schon seit langem ein Verein zur Pflege jiidischer 
Theaterkunst. Gronemann grundet einen ahnlichen jetzt in Berlin. Das 
Wilnaer jiddische Theater soil in Berlin gastieren. 



6o8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller ist es zu danken, dafi ei 
geholfen hat, einer bedeutenden, in ostlichen Winkeln versteckter 
Kunst den Weg nach dem Westen zu offnen. Die ganze Angelegenheit 
ist eine kulturhistorische. Keine nationale. Keine politische. 
Dennoch hore ich bereits das Gebriill der Bartels-Barden, 

Berliner Borsen-Courier, 14. 7. 1921 



UNTERWELT 



Die Unterwelt tragt dunkelgriines Lichtunterfutter. Ich durchwandere 

sie mit gedampften Blicken, als triige ich Bierflaschenglas vor den Au- 

gen. 

Ich weifi alleniings nicht, woher das Licht kommen mag. Vielleicht 

kommt es aus den vielen Gewassern des Aquariums, die eingesperrt 

sind in glasernen Kafigen wie animaUsche Wesen. 

Ich glaube sogar, dafi jedes Wasser sein eigenes Licht hat und, um zu 

leuchten, keiner Sonne bedarf und keiner Lampe. Alle Gewasser 

leuchten so, als lagen in ihnen ein paar ertrunkene Sonnen. 

Von den Gewassern aber wollte ich ja gar nichts sagen, sondern von 

dem Megalobatrachus maximus aus Japan, dem Riesensalamander im 

Becken 11. Er ist anderthalb Meter lang, und er lebt im Wasser, und er 

steigt nur gelegentHch an die Oberflache, um Atem zu schopfen, Und 

das Wasser, in dem er lebt, ist Gebirgswasser. Und er ruht unter einem 

bemoosten Steinbaldachin. 

In diesem Aquariumkafig hat er ewig denselben Stein und ewig das 

gleiche Wasser und tote Fische zur Nahrung. Wenn er wiifite, dal^ nur 

eine Glaswand ihn umschlie£t, er konnte sie zerschmettern : peng, 

peng, megalobatrach! 

Man mu{^ sehen, wie der Megalobatrachus mit kurzen Handen nach 

dem bemoosten Stein greift, um hinaufzurutschen. Und zufrieden 

wird, wenn er nur den halben Weg zuriickgelegt hat; mit dem Schweif 

den Sandboden streichelt und ins griine OberflachenHcht blinzelt. Al- 

les ist hier seinetwegen da, und er ahnt es wahrscheinlich. In Japan ist 

er ein Salamander unter Salamandern, die liberragenden Gesteine sind 

zufallig und die Gebirgsfliisse auch. In Japan mufi er sich eine Umge- 



19 2 I 609 

bung selbst suchen, im Aquarium sucht man ihm eine, Wenn er mit dem 
Schwanz das Wasser betastet, erfahrt er, wieviel fiir ihn und durch ihn in 
diesem Glaskasten lebt und stirbt: kleine Fische, Moos, Algen, Regen- 
wiirmer. Luft steigt in diinnen Glaskiigelchen zehntausendfach an die 
Oberflache. Der Riesensalamander reibt sich den weichen Bauch. Fiir ihn 
sind komplizierte Rohrenleitungen angelegt. Fiir ihn arbeiten taglich 
zehn oder zwanzig Menschen. 

Zehn Tage und langer konnte ich vor Seerosen und Seeneiken stehen. 

Was ist ein Megalobatrachus dagegen? Ein dummes Tier, zufrieden, 
auf geblasen und trage. Die Seeneiken und Seerosen aber sind keine Tiere 
and keine Pflanzen und auch nicht Ubergange von Pflanzen zu Tieren 
(sagen die Naturforscher). 

Sie wachsen auf dem Meeresboden, auf einer Klippe, einem Stein. Aber es 
ist so, als waren sie von weit her angekommen, um sich auf jener KHppe, 
jenem Gestein anzusiedeln. Pflanzen wachsen aus samenbefruchtetem 
Boden hervor, Seeneiken und Seerosen aber waren da, vor allem Samen, 
vor der Erschaffung der Welt. Das sind die ersten Lebewesen des Kos- 
mos. Der Stein, den sie kolonisierten, ist nur ein Vorwand. Weil in dieser 
Welt jedes seine Heimat und seine Zustandigkeit haben mul^, suchen sie 
sich ein Zuhause. Gewissermal^en nur der Dokumente wegen. Fiir den 
Fall, dafi ein grausamer Naturforscher nachforschen soUte. 
Die Blatter der Seerosen sind Arme. Tausende, Zehntausende, MiUionen 
weich^r Arme, Fadenarme, weil^e Regenwurmarme. Seit Ewigkeiten 
bewegen sich diese Arme, unermudUch, gierig, schlank, elegant, weich 
und bestialisch, bittend und grausam, schmeichelnd, frauenhaft und 
teuflisch. 

In dem Glaskasten, in dem die Seerosen sind, wickelt sich das ganze 
Weltgeschehen ab, aus seiner durch die Jahrhunderte gewordenen Kom- 
pliziertheit zuriickgefiihrt in die einfachsten Urformen. Was hier ge- 
schieht, sind zehntausend Keimzellen grofSerer Tragodien. Hier ist An- 
fang und Ende, hier ist Ziel und Zwecklosigkeit, Inhalt und Tendenz des 
Lebens. 

Miicken schwirren durch das Wasser, glaserne Miicken, ihr Leib ist aus 
Wasser, und ihre Fliigel sind Flossen aus Wasser. Diese Miicken sind fiir 
die Seerosen da. Und die Seerosen fur die Miicken. 



6lO DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich sah eine halbe Stunde lang eine Wassermiicke gegen die Zaubei^e- 
walt der Seerose kampfen. Sie schwebte etwa zehn Zentimeter iiber de] 
Wasserrose, deren Arme sehnsiichtig, gefrafiig, unermiidlich sict 
dehnten, ineinander verschlangen, auseinanderreckten. Die Fliigel dei 
Miicke wurden miider, sie konnte nicht aus dem Banngebiet der See- 
rose mehr kommen. Sie sank immer defer. 

Was wurde sich im nachsten Moment ereignen? Eine leise Bewegun^ 
eines Rosenarmes, und die Miicke ist verloren. Alle weichen, feiner 
Rosenblatter offnen sich, um sie zu begraben. Oh, Endziel alles Miik- 
kenlebens! tjberzugehen in den Wasserrosenkorper, den wunderba- 
ren, betaubenden. 

Aber der Miicke gelang es hochzukommen, und die Seerose, gar nichi 
enttauscht, wissend, dafi ihr alle Miicken der Welt geweiht sind unc 
nicht entgehen konnten, ruderte weiter mit ihren Schlingarmen. 
Solch eine Seerose rudert den ganzen Tag, ehe eine Miicke ihre Beutc 
wird. Eine einzelne Miicke! Und soviel Aufwand an Zeit, Tempera- 
ment, Energie! 

Das Rudern mit den Schlingarmen ist tiefster Sinn, hochster Zweck de; 
Lebens. So wahr die Seerose lebt! Und ein Gott in der Welt ist, der die 
Gewasser dirigiert, die Riesensalamander, Seerosen und die Miicken. 
Weshalb gehen die grofien Dichter nicht gelegentlich ins Aquarium i 
Und die Schauspieler? Und die Tanzer? Wenn sie irgendwo Bewegun^ 
lernen konnten, so sicherlich nur bei den Tieren der Gewasser. Mar 
mufi den sanften Schleiertanz des Nagelrochens sehen, Raja clevaU 
heifit er (»Raja«, Name einer indischen Tanzerin), dessen Schwimmer 
Schwebeflug ist, trauriges Schweben, nicht sonnensehnsiichtiges, auf- 
wartsbewegtes. Sondern leises, resigniertes, sonnenfernes: Wasser- 
schweben. 

Ich wiinschte mir, einen Tag lang eine Seerose zu sein. Mit vielen 

vielen Armen. Schlingarmen der Sehnsucht. 

Ich tate den ganzen Tag nichts, als mit den Armen zu rudern. Es miifite 

mir gelingen, alle Miicken eines Bassins anzuziehen. 

Und im letzten Moment, im allerletzten - ich hore schon der Miicker 

diinnes Wasserherzchen klopfen, peng, peng, ein Millionstel eine; 

Wassertropfens klopft so - lasse ich meine Arme gerade in die Lufi 

ragen — 

Und warte noch einen Moment und koste ihn ganz aus, diesen Augen- 



1921 6u 

lick zwischen Sehnsucht und Erfiillung, Hunger und Sattsein, Leben 

nd Tod. 

ch schwore: Ich ware cine Seerose, um die sich alle Meere und Aqua- 

ien der Welt rissen. 

vber ein grausamer Gott beherrscht die Welt, und er hat mich zum 

/lenschen gemacht. Ein Megalobatrachus war' ich lieber! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 17. 7. 1921 



DAS NEUE HEIM 



enen Augenblick werde ich nie vergessen. Jenen Augenblick, in dem 
er rote Richard mir die Liste und Tinte und Feder vor die Augen 
dhrte, auf daft ich unterschreibe. Ich unterschrieb. Deshalb wohl hake 
:h jenen Augenblick fiir den historischen, historischesten (und 
cheue, wie zu sehen, keine Sprachvergewaltigung). Der Augenblick 
reignete sich an dem letzten Abend des Cafes des Westens. Und die 
.iste, auf die ich meinen Namen setzte, war der papierene Grabstein, 
[en der rote Richard dem toten Literatencafe gewidmet hat. An jenem 
^bend hielt Ludwig Hardt, der Rezitator, seine Grabrede und wurde 
erhaftet und wieder freigelassen. Auch ich wurde verhaftet und gab 
neine PersonaUen ab. Nie! Ich werde jenen Abend nie vergessen. 
xke JoachimsthalerstraEe und Kurfiirstendamm schleicht Wehmut 
lir ins Herz hinein. Solch eine Bretterverschalung ist um das Cafe des 
SC^estens. Aus dieser Holzverpuppung wird sich im Herbst eine Diele 
lerausschalen. Ich habe die aufdringlich-unabweisbare Empfindung: 
[ai^ ein paar Stammgaste noch hinter der Bretterverschalung im alten 
Zzii verblieben sind. Sie werden in das neue eingemauert. Und mitten 
wischen die Rhythmen des Dielenjubeljazz wird ein Literatenskelett 
dopfgeistern; im Herbst. 

jegeniiber der Kaiser- Wilhelm-Gedachtniskirche ist das Romanische 
Zafe. Nicht gegeniiber. Sondern vis-a-vis. (Der Kaiser- Wilhelm-Ge- 
lachtniskirche ist immer etwas vis-a-vis.) Im Romanischen Cafe safien 
iiirger. Sie sitzen immer noch. Aber sie sind nebensachUch. Sie safSen 
riiher im groEen Raum, im kleinen Raum, auf der Terrasse. Manchmal 
.am ein Nichtbiirger. Er wurde anti empfunden. Heute sitzen die Li- 



6l2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

teraten im grofien Raum, im kleinen Raum, auf der Terrasse. Und die 
Burger werden and empfunden. 

Recht geschieht ihnen. Sie glauben schon mehr zu sein, weil die Arri- 
vierten selbst liber die Kaffeehausmenschen spotteten. Eine Mensch- 
heit, die »keine Werte schafft«. Und ich wiifite doch so gerne, so gerne. 
was fiir Werte ein Patenthosenknopffabrikant schafft? Selbst der Lite- 
rat braucht Patenthosenknopfe, gewifi! Aber dreitausend Jahre be- 
stand die Welt ohne einen einzigen Patenthosenknopf. Sind Patent- 
hosenknopfe Werte? 

Und die Maler selbst, die der Patenthosenknopferzeuger patente Ge- 
sichter konterfeiten, und die Schriftsteller, die als Reklamechefs in Pa- 
tenthosenknopf fabriken sich durch Posaunenstofie aufbliesen, lachter 
auch liber die Literaten. Die Maler und Schriftsteller erzeugten nam- 
lich Werte. Und die Literaten traumten nur von Werten. Aber sie 
traumten wenigstens von Werten. Die anderen aber traumten vor 
einem schonen neuen Nachtkastl. 

Die Literaten sind Revolutionare im Traum; die andern nicht einmal ir 
der Wachheit Demokraten. Die Literaten haben Mokka in den Adern 
Und die andern Malzkaffee, verkalkten. Die Literaten haben die Pose 
der Genialitat. Die andern nur die der Tiichtigkeit. Weder sind die 
einen genial noch die anderen tiichtig. 

Deshalb schleicht Wehmut mir ins Herz hinein, wenn ich am ver- 
schandelten Cafe des Westens vorbeikomme. Aber es gibt, troste ict 
mich, ein geographisches Schicksal. Hier, Ecke Joachimsthalerstrafie 
und Kurfiirstendamm, werden immer Literaten sitzen. Und wenr 
drinnen Jazz getanzt werden sollte, so werden ihn die Literaten »ada- 
quat« empfinden, Und wenn Herr Pauli, der Besitzer, zwanzig Mark 
fiir den Mokka fordert, so werden die Literaten ihn trotzdem schuldi^ 
bleiben. Seinem geographischen Schicksal entgeht man nicht. 

Prager Tageblatt, 19. 7. 1921 



HARRY PIEL IM DEUTSCHEN 
KUNSTLERTHEATER 



Unter dem Cachiertitel »Der Herr Verteidiger« rollte gestern der sen- 
sationelle Detektivfilm Harry Piels 23.Abenteuer (nach dem Manu- 
skript von Franz Molnar und Alfred Halm) Im »Deutschen Kiinstler- 
theater« zum ersten Mai und - hier zitiere ich aus der Inhaltsangabe 
des nicht zur Verteilung gelangenden Filmprogramms - war der Erfolg 
derartig uberwaltigend, dafi der gefiillte Raum wie ein Mann in ein 
Gelache ausbrach, ein nicht enden wollendes. 

So ist es also im Sommer: Der Rechtsanwalt Parker ist ein Dummkopf, 
seine Frau »mondain« (das heifit: Sie war es, als Franz Molnar noch 
jung war), der Detektiv Wright ein Trottel, von Professor Bents nicht 
zu reden, Mifi Nightingale, eine alte Jungfer mit kriminalistisch-sexua- 
listischen Trieben, und was sich sonst noch in den drei Akten herum- 
treibt, einfach pfuh — minderwertig ist kein Wort dafiir . . . 

Wer also ist wer? - Tim Boots! Tim Boots seht Ihr (Harry Piel kann 
man auch sagen). Ver-, Ein-, Aus-, nur nicht Ehebrecher. Er, der den 
Rechtsanwalt gemacht hat, well er nicht anders kann, als freigespro- 
chen zu werden; er, der alles stiehlt, erbricht, zutage fordert, blamiert, 
vertuscht, glattet, Hindernisse aus dem Nichts erstehen la{^t; er, der 
sich verwandelt, andere verwaridelt, kommt, sieht, siegt; er: Tim 
Boots. 

Den Rechtsanwalt Parker gab Otto Gebuhr. Den sprechenden, auto- 
matisch vor ewigen hohen Gerichtshofvisionen »herausreifienden« 
Verteidiger, den mit - irre ich nicht; und ich irre bestimmt nicht! - 
Alfred Halms Stilbliiten geschmiickten Verteidiger. Den grotesken, in 
unglaubliche Situationen geratenden, von Schutzmannsfausten ge- 
packten, mit den Beinen zappelnden, jammerlich gebrochenen, aus der 
Haft heimkehrenden, entlausten, aber immer noch in alien geistigen 
Knopflochern vollkommen unzerrupfte Stilbliiten tragenden Rechts- 
anwalt gab Otto Gebuhr - er lebe lang! - mit sehr viel komischer Bega- 
bung und jener Dezentheit, die einem anstandigen Schauspieler auch in 
solch fatalen Rollen auf den Leib geschrieben sein soil. Er lebe! 
Georg Schnell war der Detektiv, er hatte es leicht. Aber auch das schon 



6l4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ein Verdienst, wenn man trotzdem merkte, dafi ein anderer - viel- 

leicht! - es nicht so leicht gehabt hatte. 

Ludmilla Hell - Violet, des Verteidigers Frau - »hysterisch« kann sie 

sein, »brav«, »gesund«, »mondain« (wie damals die Frauen waren, wis- 

sen sie noch, Molnur- bacsi}) - aber sie miifite wissen, wie die Arme zu 

plazieren. 

Und sonst mochte ich noch von Maud sagen (Marie Ackers): Racker, 

Range, eine nordamerikanische (vielleicht sehen die dort so aus), lieb, 

unauffallig und gewandt: Sommertheater. 

Bertha Monnard kneiferte, altjungferte ein bifichen iibertrieben als 

jene oben erwahnte Mi8 Nightingale durch das Stiick. 

Was von Molnar ist und was von Halm? Dieser ware gern ein deut- 
scher Molnar. Molnar sieht hier fast aus wie ein ungarischer Halm. 
Und iibrigens ist es ganz egal. 

Berliner Borsen-Courier, 20. 7. 1921 



»DER G'WISSENSWURM« 

Exl-Buhne im Theater in der Koniggrdtzer Strafie 

Dieses Stiick ist gezimmert; nicht ungehobelt, aber unpoliert. Dieses 
Stiick ist nicht riihrseHg, aber immerhin sentimental. (»Sentimental« ist 
etwas anderes namlich.) 

Der reiche Bauer Grillhofer hat einmal eine schwache Viertelstund* 
mit der Magd gehabt. Und seitdem die Bauerin tot ist, hat sich Duste- 
rer, der Schwager, des Bauern angenommen. Der Bauer ist kinderlos, 
Und Dusterer »erbschleicht«. Und wird des Grillhofers G'wissens- 
wurm. 

Indem der Dusterer namlich fortwahrend dem Bauern die Siind' vor- 
halt. Und jene von der Bauerin davongejagte Magd, die gewifS in der 
HoUe rostet. Und dieser Dusterer ist so der G'wissenswurm zum 
Sarge Grillhofers sozusagen. 

Aber in der Bauernkomodie kommt es anders, als die Dusterer den- 
ken: Noch lebt die jene Magd; und wie lebt sie! Als Bauerin. 
Und die Folge jener schwachen Viertelstunde, ein lieb's Bauerndirndl, 



1^11 6i5 

ebt auch und kommt sogar in des alten Grillhofers Haus, und alles 
Itlart sich auf. Da hat Dusterer, der G'wissenswurm, nix mehr z'sua- 
:hen und verduftet. 

Das miiEte nicht der Anzengruber geschrieben haben. Da es aber doch 
der Anzengruber geschrieben hat, kommt drin ein Satz vor wie der: 
*Tausend Meilen laufen iiber die Weh, und Hunderte konnen zwi- 
ichen mir und meinem Kinde sein!« 

Weil's der Anzengruber geschrieben hat, sieht man recht deutlich den 
rohen Zimmermannsbau und die naiv-willkiirUche »Exposition«, die 
der Grillhofer (dem Anzengruber zuHebe) der HorlacherUes erzahlt. 
Und noch manches Rohe ist zu sehen. Freilich, ein Sudermann war der 
Anzengruber trotz allem nicht! 

Manchmal tut man vielleicht den Exl-Leuten unrecht. Sie hatten doch 
manches Individuelle aufzugeben, als sie die Exl-Buhnenuniform an- 
zogen. Und nicht jeder und jede unter ihnen ist Jodlertruppenglied 
und ledigHch typischer Bestandteil einer Knie-Nacktkulturnation. 
Da ist zum Beispiel Dusterer, der G'wissenswurm (Eduard Kock), ein 
ganz unheimhcher Gewissenswurm. Fast ein Gewissensschlangerich, 
w^enn er so nachts aus der Zimmerecke plotzhch »Schwager!« zischt, 
sozusagen wiehert. 

Und Ludwig Auer schon ein gehoriger Bauer Grillhofer, wenn er noch 
sinmal den Brief liest, begreift und nicht glaubt, glaubt und nicht be- 
greift. 

Anna Exl kann immer noch jung sein. Ei seht! Eine Horlacherlies mit 
blauschwarzen Zopfen, 

Ich wundere mich iiber diese Geschwatzigkeit zur Stummheit prade- 
stinierter »Gebirgsnaturen«. Sie reden wie Stadter im Tal. Nicht wie 
Bauern auf Gipfeln. 

fa, sie reden Aphorismen, aber nicht aphoristisch. Sie sind kurz ange- 
bunden, aber sehr, sehr haufig kurz angebunden. In einem Wort liegt 
keine Welt zwar, aber immerhin eine Gebirgslandschaft. Aber sie re- 
den zuviel Gebirgslandschaften. 
Und deshalb steigt doch der Theatergeruch auf. 

Denn wenn die Natur ans Theater engagiert wird, so wird aus dem 
Theater noch nicht Natur. 

Berliner Borsen-Courier, 21. 7. 1921 



FEUILLETON 



Die Vollbartmanner, die Ernstlinge und Wurderiche, geringschatzer 

das Feuilleton. 

Ich konnte jetzt wunderbare bunte Seifenblasen schreiben; wahre Re- 

genbogenblasen. Aber nur die Frauen und Kinder Gebliebenen wiir- 

den sich dran freuen. Die Manner dagegen behaupten, sich lediglicb 

mit ewigen Dingen zu beschaftigen. 

Als da sind: Handel mit Strumpf- und Wirkwaren, Aufkaufen briichi- 

ger Asbestplatten, Fiillfederpatente, Pappendeckelherstellung; oder: 

Politik, Friedensvertrage zum Beispiel, und internationale Handelsver- 

trage; oder: Wissenschaft, Umlaute im Konig-Rother-Lied, Permuta- 

tionen und Zusatze zu Einsteins Relativitatstheorie. 

Die VoUbasse im Orchester der Welt, die Donnergroller, die ewigen 

Zylindertrager und Leichenbeschauer sagen: pfui! und zucken mit den 

heiligkeitstressenbeschwerten Achseln. Es sind die Tambourmajore 

der Kulturmarschkapellen. 

Solch ein Kesselpauker sagte mir einmal: »Das Feuilleton ist eine biir- 

gerliche Kunstgattung.« Und er schiittelte den Kopf im Trauer- 

marschrhythmus wie ein Leichenwagenpferd. 

Eine biirgerliche Kunstgattung: weil es den Burger mit jener Kultur- 

tiinche anstreiche, die ihm gelebte Schminke ist. Weil er das Feuilleton 

lesen konne zwischen Mittagsschlafchen und Vesper; ein Bildungsdes- 

sert. 

Das Feuilleton sei entstanden aus dem Wunsch nach Unterhaltung, 

oder noch weniger: Amusement. Und ein Wiirderich amiisiert sich 

nicht! Pfui! 

Auf der Moralkesselpauke wird das Feuilleton totgetrommelt. Ein 

Wahlredner darf ungestraft drei Stunden Unsinn und Zusammenhang- 

loses in schlechter Sprache reden. Ein Feuilletonist, der liber zehn Zei- 

len Seifenblasen sitzt, ist ein Luder, 

Es geht also um die Stellung zur Seifenblase in der Hauptsache. Die 

meisten Menschen sind bekanntlich der Ansicht, daE die Seife nur der 

Reinlichkeit wegen da ist. 

Wenn das Feuilleton »Aufsat2« hiefie, so gabe es schlechte und gute 



1921 6iy 

Aufsatze. Und selbst die Seifenhandler wiirden es lesen. Denn man 
darf doch auch auf einer halben Seite einer Zeitung gultige Dinge sa- 
gen?! 

Aus der angeblichen Tatsache, dafi der Verfasser dieser halben Seite 
nur einen kurzen Zeitraum fiirs Schreiben gebraucht hat, schliefien sie, 
dafi diese halbe Seite Schmierage sei. 

Ich schrieb iiber den Riesensalamander im Aquarium, den Megaloha- 
track Hs maximus, und tat die Aufierung, daf^ ich lieber ein Riesensala- 
mander denn ein Mensch ware. 

Darauf stellte mich ein Mann zur Rede, der es nicht begriff, dafi man 
ohne eine Spur von Naturlehre iiber Riesensalamander schriebe und 
sich so was wiinschen konne. Ich habe ihn voUkommen gekennzeich- 
net, wenn ich seine Frage hierhersetzte: »Mochten Sie«, fragte er, 
»wirkHch ein Megalobatrachus werden?« 

Aber es war Sonntagnachmittag, die Sonne lag gedampft in der Welt, 
luf der Kaffeeterrasse klingelten Silberloffel und Eistassen wie Glock- 
:hen des Lebens. Und ich sagte: »Nein!« 

Also, sprach der Mann (ein entarteter Homo sapiens), das ware faul. So 
»unehrlich« schreibe man nicht! 

Die Leute sagen: Heine hat das Feuilletonunheil in die Welt gebracht. 
Heines Reisebriefe sind aber nicht nur amiisant, sondern eine kiinstle- 
:isch groiSe Leistung und somit eine ethische. Der entartete Homo sa- 
')ien$ hatte zehn Jahre die Pariser verschiedenen Statistiken studiert 
and dann ein langweiliges, also unmoralisches Buch geschrieben. 
Fieine hat vielleicht kleine Tatsachen umgelogen, aber er sah eben die 
Fatsachen so, wie sie sein sollten. Denn sein Auge bestand nicht nur 
lus optischem Instrument und Sehstrangen. 

'OC^enn das »burgerlich« ist, so ist »burgerlich« sehr ethisch. Dann lebe 
las Biirgertum! 
rierodot, der Feuilletonist des Altertums, war auch ein Bourgeois? 

Das Ungliick in der Welt kommt von den Kothurn-Pathetikern, den 
?*redigern und Entriisteten. Sie wissen, was sie wissen. Der Gebrauch 
;ines neuartigen Pronomens ist ihnen Sunde. Denn sie haben Gram- 
natik gelernt. Sie wandern gemessen durchs Leben und trotten hinter 
hrer Zukunft einher wie hinter dem eigenen Leichenkondukt. Ihre 
-laupter wallen. 
Merkwiirdigerweise berufen sie sich auf Karl Kraus, den Stilmen- 



6l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schen, der die Gattung verantwortlich macht fiir die Feuilletonschrei- 

ber.) 

Es gibt namlich ganz entsetzliche Feuilletonisten. Aber das sind eben 

die Konduktpferde. Die Pathetiker, die zufaiHg unter den Strich gera- 

ten. Die Leichenbeschauer mit den erborgten Narrenschellen. 

In diesem Sommer sind sie auf Reisen gegangen, und die deutschen 
Blatter sind angefiillt mit ihren Beschreibungen. Sie sind humorlos und 
brechen in Tiraden aus iiber Sonne, Mond und Gebirge. Etwa: »Der 
silberne Flufi, der wie ein Silberband das liebliche Stadtchen umgur- 
tet.« 

Sie haben Klischees fiir die Landschaften, und so und nicht anders ist 
diese und jene Landschaft. Nie war ein Berg anders als drauend. Ein 
Flufi ist silbern. Das Stadtchen, in dem sie sich aufhalten, lieblich. 
»Man wandert.« »Wenn dann die ehrwiirdigen Glocken Salzburgs . . .« 
Und in dem lieblichen Geklingel einer Narrenschelle schwingt doch 
mehr zuweilen als im Kirchenglockenklang. 

Seht ihr: Das war schon ein »Wit2«. »Paradox«. Ein »Feuilleton«. 
Wenn du eine Wahrheit kurz pointiert und neu beleuchtet zeigst, ist 
sie nur ein Paradox. Das Klischee fiir Wahrheiten ist: »schlichtes Ge- 
wand«, 

Ist ein Satzungeheuer, ein sprachlicher Megalob attach us maximus. Mil 
Hilfszeitwortern, baumelnden Hilfszeitwortertroddeln, behangen mil 
losen Nebensatzzipfeln, mit Pradikaten, die sich irgendwo verberger 
wie Miinzen im Unterfutter einer zerrissenen Westentasche. Was sc 
gesagt wird, ist eine »Wahrheit«. 

Und das ganze Ungliick in der Welt kommt auch von den Antikothur- 
nisten. Den Plattschiihlern. 

Ich meine den »Literaten« um jeden Mokkapreis. Der die Wiese nui 
deshalb bespottelt, weil sie am Sonmag der Biirger beschnarcht, Dei 
Herz und Schmerz nur deshalb leugnet, weil Dilettanten Herz au 
Schmerz reimen. Weil soundso viele Nichtskonner den Friihiing al; 
Sangsobjekt gepachtet haben, leugnen ihn die Kaffeehausmenschen 
denen auf der Cafeterrasse Urwaldstimmung schon entgegenweht. 
Ihr Verhaltnis zu Gott ist das eines Koters zum Monde, Sie bellen ihr 
an, weil er ihnen unerreichbar ist. Und sie schamen sich, den Silber 



19 2 1 619 

glanz festzustellen, nur deshalb, well er Kllschee ist. Also leugnen sie 

ihn. 

Sie geniefien im Cafe »Welt« cine Tasse Erscheinungen mit Einfall. 

Was hier gesagt wurde, ist auch »Feuilleton«. Deshalb habe ich das 
Ganze so genannt: und kann hier dennoch Wahrheiten, giiltige, gesagt 
haben. Ich habe etwas iiber eine Stunde dran geschrieben.- 

Berliner Borsen-Courier, 24.7. 1921 



DER 70JAHRIGE KADELBURG 



Gustav Kadelburg wird heute siebzig Jahre alt. 

Wer ihn aus seiner Zeit eliminiert, um ihn kritisch zu betrachten, tut 
ihm unrecht und erkennt ihn nicht ganz. Er und sein Schriftstellerge- 
nosse Blumenthal sind nur als die Spafidichter ihrer Zeit zu bewerten. 
Ihrer Zeit, d.h. der Ara der Gloriole und des pathetischen Faltenwurfs. 
Beide Erscheinungen zu mildern, indem man sich - Gott behiite! nicht 
iiber sie!, sondern vor und hinter ihnen - lustig machte, war die eigent- 
liche Aufgabe Kadelburgs und seiner Art- und Zeitgenossen. 
[n der Lyrik erfullten diese Aufgaben teilweise Hugo Salus und Rudolf 
Presber. Aber der Poesiegattung gemafi, in der sie wirkten, waren diese 
Lyriker positiv dem Faltenwurf gegeniiber und ebenfalls pathetisch. 
Auch ein Zeit-Lyriker kann ohne Pathos nicht auskommen, und er 
benutzt eben das Pathos seiner Zeit. 

Manchmal bricht bei den Lyrikern der Witz durch. Aber er ist gemil- 
dert durch Bejahung des Objekts, iiber das sie soeben gewitzelt haben. 
Die Dramatiker, scharfer von Natur und entschiedener und des Pathos 
weniger bediirftig, weil ihm Kulisse und Rampenlicht Wortrauschwir- 
^ung ersetzen, der Dramatiker Kadelburg durfte sich unbegrenzt lu- 
>tig machen, wenn auch nicht boshaft werden. 

Er wurde selten boshaft. Seine Tatigkeit war nicht Satire, sondern 
Witz. Er ist nicht der Satiriker seiner Zeit, sondern hochsten Ironiker. 
Wenn ich sage, dafi sein Witz traf, aber nicht verletzte, so ist das viel- 
eicht zu wenig bezeichnend. Vielleicht ware diese Formulierung pas- 
bender: Sein Witz verletzte, aber er schmerzte nicht. 



620 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Reprasentant des Lachens in einer Zeit der groUenden Donner 
und zuckenden Kolophoniumblitze ist begriifienswert. Und so ist Ka- 
delburg (und dieser Name ist ein iiterarischer Sammelbegriff) zu wer- 
ten: als Antipathetiker in der Zeit des Pathos; als Nackter, Menschli- 
cher auf dem Maskenball der Purpurmantel; als weiser Narr in der 
Gesellschaft der klugen Idioten, der Zylindertrager und Schleppsabeli- 
gen. 

Kadelburg kam aus Budapest. Ware er dort geblieben, wer weifi, viel- 
leicht ware er genauso durchaus negierend geworden wie z.B. Molnar. 
Aber er ging friih nach Halle als Schauspieler. Seine ersten Erfolge 
verdankte er dem Publikum des Berliner Wallnertheaters. Hamburg, 
Halle, Leipzig und Wien sind die Stadte seiner schauspielerischen Ta- 
tigkeit. So verier er das durchaus Paprizierte, zu dem ihn seine Ge- 
burtsstadt und seine Abkunft befahigt hatten. Die Scharfe wurde 
stump fer vielleicht, sicherlich reservierter, passiver. Und das verhalt- 
nismafiig gute materielle Auskommen gab die Amen-Freudigkeit. Es 
ist nicht ganz so schlimm, wenn einer mal aus Budapest kommt. Auch 
er kann noch - in seinen Werken zumindest - ein Bejaher der Weltord- 
nung werden; auch wenn er (ihr zum Spai5) sie zum Anlafi seines Spa- 
fies macht. 

Im iibrigen besitzt Kadelburg soviel menschliche Werte, dafi iiber sie 
hinwegzusehen ein Unrecht ware. Gerade bei der Betrachtung einer 
Personlichkeit wie der Kadelburgs sollen menschliche Tugenden ge- 
riihmt werden. 

Er ist der einfallsreiche Toaster seiner Zeit. Der humorvoUe Frohliche, 
der naive Gesundbeter durch Witzbehandlung. Zufrieden, gut, milde 
und vieles verstehend. Ohne jede Theatralik, die er ebensogut beherr- 
schen konnte, wie er sie literarisch verwendet. Wir konnten viele Ka- 
delburgs brauchen. 

»Liebling des PubHkums« und einer gewissen Gottersorte blieb er: als 
Schriftsteller wie als Schauspieler. Soil ich an seine Stiicke erinnern? 
Der wilde Baron, GrofSstadtluft, Im weiiSen Rol^l, In Zivil, Als icli 
wiederkam - sie werden schwerlich so wirken, wie sie gewirkt haben. 
Sie waren einmal treffend, sie sind nur noch amiisant. 
Aber es ist nett, dafi aus jenem Geschichtsabschnitt vor der grofier 



19 2 1 621 

Zasur des Weltkriegs ein Kadelbui^ heriiberragt. Gar so vernagelt war 
jene Generation, der wir die Grofie Zeit zu verdanken haben, doch 
nicht. Wenn sie nur den Mut gehabt hatte, vis-a-vis den falschen Glo- 
rienscheinen zu lachen, wie sie es hinter ihnen getan hat! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 26. 7. 19 21 



DER MANN IM FRISEURLADEN 



\m Sonntagvormittag war im Friseurladen eine gedampfte Hitze, ge- 

ivissermafien eine konservierte. Eine gedorrte Temperatur. 

>onne drang, in goldene Stabe durch die Fensterladenbretter gespalten, 

n den Raum. Scheren klapperten gefrafiig, und eine grofie Fliege 

iummte. 

Noch hat kein Lyriker den Hochsommer in einer Barbierstube in 

^ortklang gebannt. Es ware eine Aufgabe, Theodor Storms wiirdig 

md Morikes. Man denke an den linden Simsums der an gespannten 

Khleifriemen hin- und herfahrenden Messer; an das weiche Plitschern 

les Seifenschaums; an die schwitzende Pausbackigkeit des Lehrjun- 

;en, der dank der Meister- und Gesellenmiidigkeit keine Ohrfeigen 

vriegt: Ohrfeigensommerferien!) 

\uch an solchen hei^en Tagen reden die Menschen viel, wahrend sie 

)arbiert werden. Und an jenem Sonntagvormittag sprachen sie gewiE 

iel. 

Vber der Mann, der, rotblond, wulstnackig, kampfbereit, plotzlich in 

lie Hochsommermiidigkeit des Ladens polterte, sprach am meisten. 

Caum dafi er den Hut so heftig an den Haken geschmissen hat, als 

voUte er den Haken aus der Wand reifSen - und schon klopft er einem 

-lalbeingeseiften auf die Schulter, dafi der einseifende Gehilfe er- 

chrocken innehalt. 

Jnd der rotblonde Herr erzahlt von Hamburg. 

/on Hamburg erzahlt er, so, ohne Einleitung, als ware seine Erzah- 

ung Fortsetzung eines auf der Strafie unterbrochenen Gesprachs. 

Je weiter man nach Norden kommt, desto nationaler sind die Men- 

chen. In Hamburg wird eifrig Propaganda getrieben fiir den Flaggen- 

ag. Werden schon sehn. Es kommt. Halt sich nicht! Vorwarts!« 



622 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Seine Satze werden kiirzer, er schlagt klirrend Subjekte zusammen, seine 

Worte haben gewolbte Briiste und marschieren: eins, zwei, eins, zwei. Es 

ist ein Graus. 

Und wenn du - denke ich - weiter nach dem Siiden, nach dem Westen, 

nach dem Osten kamst, iiberall wiirden dir die Menschen nationaler. 

Denn du siehst Blut. 

Der rotblonde Herr hat mit seinen polternden Satzen den hochsommerli- 

chen Singsang in der Friseurstube ertotet. Seine Stimme knattert wie eine 

gelblackierte Windfahne. 

»Sie gehn wohl wieder mit, Herr Trischke? Was! Wenn's losgeht? Ge- 

wifi! Wer nicht? Und es geht! Es kommt!« 

Seine Worte prasseln, rattern, knallen. Batterien, Morser, Schiefige- 

wehre, Trommelfeuer kommen aus seinem Kehlkopf Weltkriege 

schnarchen in seinem Busen. 

Herr Trischke hatte gewifi ein Bein verloren - mindestens!-, wenn ei 

nicht die Herren vom Stab eingeseift hatte. Wenn*s kommt, geht er nicht 

mehr. 

Aber Herr Trischke, der Friseur, schweigt. Wer schweigt nicht? Di^ 

FHege, so vorher sommerlich gesummt, traf der Respektschlag, dafi sk 

leblos am Plafond klebt. 

Keiner spricht, nur er, der Mann. Er war schon ganz parterre, aber er hai 

nicht geruht und nicht gerastet, er hat geschuftet, geschuftet, geschuftet 

bis er wieder obenauf war. Er ist obenauf. 

Unlangst trifft ihn sein Geschaftsfreund und bittet um ein Darlehn. Unc 

am Nachmittag ? Am Nachmittag spricht man mit dieses Geschaftsfreun- 

des junger Frau, und sie tragt einen Brillantring! 

»Meine Frau tragt keinen Brillantring !« 

»Meine Frau hat keine drei Sommerhiite! Meine Sohne gehn nicht in di< 

Bars!« . . . Und wenn sie gingen, bei Gott! - er wiirde siepriigeln! So grof 

sie auch sein mogen! Er wiirde sie priigeln! 

Er ist streng gegen sich, um grob gegen die andern sein zu diirfen. Ei 

rennt, um die andern peitschen zu diirfen. Er brat, um andre rosten zi 

konnen. Er will Krieg, um andre sterben zu sehen. Die Halfte seines bittei 

erworbenen Vermogens gibt er her, um andere erwerben zu lassen. 

Oh, er ist kein SchadUng der Gesellschaft, er ist ihr Nutzhng. Er wirk 

sozial und moralisch. Er arbeitet fiir hundert Faulenzer. Er ist die Bestati 

gung des Lesebuches. Er verschiebt nichts auf morgen. Sein Leben ist eir 

Tatigkeitsfeld, Kaminrufi, Kloakengestank, Hobelgerausch. 



19 2 1 623 

ECein Motorknattern, kein Radriemenschwung, kein Pferdehufgeklap- 

per. Er ist der Schanzengraber; die Drahtschere; der Schleifstein; das 

Insektenpulver; die Kaffeemaschine; das nie versagende Feuerzeug; 

die trockene Lunte. Lediglich.- 

Er ist mein Feind seit altersher. Er ist die Tante, die mich jeden Sonn- 

ibend mit einer Kratzbiirste scheuerte, Er ist die Kratzbiirste. 

Mein Nachbar war ein Glasermeister. Sein Weib keifte: Er ist das kei- 

Fende Weib meines Glasermeisters. 

[n unserer Stube king eine alte Uhr, die sich vor jedem Stundenschlag 

rausperte: Er ist das Rauspern. 

VIein Schulkollege war ein Primus, und er hatte ein sauberes Heft: Der 

Mann im Friseurladen ist das saubere Heft meines Mitschiilers; der 

Catalog meines Lehrers; eine Gleichung; ein Logarithmenbuch! 

Er ist die Rede meines Rektors; der Kufi meiner altjungfraulichen 

Muhme; ein Abendessen bei meinem Vormund; ein Nachmittag im 

^aisenhaus; ein Ausflug mit dem Herrn Lehrer; ein Dominospiel mit 

neinem tauben Grofivater, 

It ist die Anstandigkeit und die Pflicht, die sauerliche, sauberliche. 

^r ist kein Schuft. Er ist mehr: ein Schuftender. 

Vlan trifft so was auch im Hochsommer, in unsern Gegenden, wie ein 

^ehrbuch mitten im Ferienkoffer. 

Jnd lebt mit der Vorstellung von sommerlicher Tragheit und Untatig- 

:eit der Welt, Griin, Ruhe, Fast-gestorben-sein, Fliegensummen, laut- 

oses Faltertaumeln, Sonne (gebrochen in Stabe), lindes Simsums auf- 

md abgezogener Rasiermesser, schlafriges Klingen der Scheren, wei- 

;hes Plitschern des Seifenschaums, schlafrig-miides Witzequatschen 

ier Eingeseiften: Friseurladensommer, eines Theodor Storm und eines 

vlorike wiirdig. 

Doch wenn er nicht lebte, der Mann, diese Welt ginge unter. Diese 

X^elt der Schleifsteine, Tanten, Logarithmenbucher, Muhmenkiisse, 

Itricknadeln, Schulausfliige. 

Jnd die Welt darf nicht untergehen ! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 31.7. 1921 



CARUSO 



»Caruso«, ohne Vornamen. Er hiefi Enrico, aber er war bereits so Begriff 
geworden, dafi nicht alle seinen Vornamen kannten (und selbst wenige 
ihn kennen mufiten). Nur in seiner Heimat, Neapel, wo Sitte und Ge- 
miitslage der Bevolkerung das beriihmt gewordene Heimatliche gerne 
des Purpurs entkleidet, um es mit dem kindlichen Heiligenschein der 
Familiaritat zu beschenken, nennen ihn GroKmiitter und Sechzehnjah- 
rige: Enrico. In Europa, in Amerika, in der ganzen Welt sonst hiefi und 
heifit er: Caruso. 

Medizin und Musikwissenschaft befassen sich mit dem Naturphano- 
men : Carusos Kehlkopf . Der war ein Geschenk Gottes und vielleicht der 
Heiligen Jungfrau von Pompeji, der Lieblingsheiligen Carusos. Ein Na- 
turereignis: Gott macht manche zu Tenoren, Die Carusos machen sich 
letzten Endes selbst zu Carusos. 

Es gibt nicht nur unkiinstlerische, es gibt sogar amusische Tenore. Ihre 
Stimme ist eine physiologische Angelegenheit. Ebensoschlecht hatten sie 
chronische Heiserkeit in die Kehlkopfrohre geschenkt erhalten konnen, 
Sie sind Spiefier und Subalterne. Sie singen, weil ihre Stimme einen guten 
Klang hat. Mit ihrer Menschlichkeit hat diese in ihren Hals verirrtc 
Sonntagsglocke nichts zu tun. 

Caruso aber war ein Kiinstler. Seine schauspielerischen Talente waren dit 
seibstverstandhche Begleitaufierung seiner stimmlichen Genialitat 
Nicht sein Kehlkopf war das Primare, sondern das Musikgenie. Nie hatte 
sein Tenor jene ergreifende Wirkung ausgeiibt, nie das Gefiihl des Auf- 
wartsschwebens und der volligen Ungebundenheit im Horer ausgelost 
ware nicht die Konzentration und die Verdichtung in seiner Kunstaufie- 
rung gewesen, die Merkmal des Genies ist und Sinn jedem Kunstwerl 
gibt. Nicht was er horen Hefi, machte seine Grofie aus, sondern wie er e; 
horen liefS, Und es ist deshalb erlaubt, bei ihm so paradoxal zu werden 
wie man's nur bei wenigen Grofien sein darf : Er ware ein Sanger gewor 
den, selbst wenn er ohne Kehlkopf zur Welt gekommen ware . . . 

Solche GrofSe hat irdische Beruhmtheit, auch allzu irdische, im Gefolge 
Hat Sums im Gefolge, Betrieb, Hurrastimmung und - Eitelkeit de; 
Kiinstlers. Und es ist vielleicht die hochste Auszeichnung: Zuerkennunj 
des Rechts auf Eitelkeit. 



I92I 625 

Caruso hatte ein Recht auf Eitelkeit. Ein Recht auf schlaflose Nachte 
Hunderter und Tausender, die in langen Ketten vor den Gnadenpfor- 
ten »anstanden«, lang bevor das Anstehen eine materielle Lebensnot- 
wendigkeit war. Es war damals eine seelische Lebensnotwendigkeit. 
Seine Zeitgenossen batten eben das Gliickj es 2u sein. Wochenlang wa- 
ren Schalter bedrangt. Und die Vertreter irdischer Gewalt waren sei- 
netwegen mobilisiert. Der Geist verachtende Geldmensch selbst hat 
einen tiefen Kniefall vor dem gottlichen Phanomen. Und das ist viel- 
leicht der geheimnisvoUe Sinn jeder genialen nnd so erfolgreichen Exi- 
stenz: die Macht zu demiitigen vor der Kraft und Gewalt, Gemeinheit, 
Niedertracht in Grenzen zu bannen, in denen sie erschauern, weil ih- 
nen plotzlich die erlosende Ahnung kommt von der Unbezwingbar- 
keit, Unkauflichkeit, Ewigkeit. 

Caruso hat in Berlin grofien Erfolg gehabt. Noch als er Enrico Caruso 
war. Und nach dem Krieg kam er nicht mehr. Man zahlte ihn deshalb - 
und weil er gelegentlich eine Aufierung gegen Deutschland tat - zu 
unseren »Feinden«. Aber man steigere diese Feindschaft nicht zu pa- 
thetischem Haf^! Tenore tun unbedachte Aufierungen. (Selbst Politiker 
taten sie,) Gegen Tenore fUhrten wir keinen Krieg. Auch halten Te- 
nore was auf bessere Valuta. Von den toten Durchschnittlichen soil 
man nur Gutes reden. Einem Genie darf man nichts ubelnehmen - 
selbst wenn es lebt. 

Er starb in Neapel, wo er 1873 zur Welt kam. Vor einigen Tagen 
schenkte er 20 000 Lire dem Heiligtum der Jungfrau von Pompeji. 
Denn er war ein Neapolitaner und glaubig. Ein Kind und fromm. Ein 
grof^er Kiinstler und im Kontakt mit ewigen Dingen. 

Berliner Borsen-Courier, 3.8. 1921 



ANABASIS 



Das war der Zug der Fiinftausend, die Anabasis Lubitschs. 

Er lieferte dem Publikum den Anblick einer Schlacht zwischen Agyp- 

tern und Athiopiern in den Gosener Bergen. 

Diese Anabasis Lubitschs kostete fast soviel wie die seines Voi^angers 



626 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Xerxes. Xerxes war gewifi der sparsamere Filmregisseur, Denn er lud 
seinerzeit, aufier Xenophon, keinen einzigen Berichters tatter mehr ein. 
Wahrend Lubitsch auf einem geraumigen Dampfer (und nicht etwa auf 
einem schlichten Dreiruderer) die ganze Berliner Presse, in- und aus- 
landische Fachleute und Damen und Herren der Gesellschaft mit be- 
legten Friihstiicksbroten und Apfelwein und mit einer Bordsalonka- 
pelle, die »Salome« spielte, bis zum Kriegsschauplatz bringen liefi. 
Lubitsch begriifite an Land seine Gaste und zeigte ihnen, dafi zum 
Regiefiihren drei Dinge gehoren: namlich Geld, Geld und noch einmal 
Geld. 

Die Bolzen und Nagel kosten eine halbe Million. 
Fiinf Waggons Gips; 
Wohnraume fiir mehr als looo Arbeiter; 
Garderoben fiir 8000 Akteure; 
6000 Gewander; 
ein Dutzend grower Gebaude; 
Dunkelkammern, Friseurstuben, Restauration; 

eine Stadtmauer mit Umwallung und Pallisaden, 70 Meter lang, 20 Me- 
ter hoch; 

ein Sphinxkopf, 29 Meter hoch; der »Grofie Palast«, 64 Meter lang, 
38 Meter hoch; ein »Kleiner Palast«; ein altagyptisches Stadtviertel aus 
50 Flausern. 

Alle diese Dinge entstanden in einigen Wochen. Nur die Gosener 
Berge standen schon da. Und die Sonne, die zu Filmaufnahmen gehort, 
war auch da. Aber selbst wenn beide nicht gewesen waren, so hatte 
man sie innerhalb weniger Wochen hergestellt. 
Was ist schon so eine Sonne? . . . 

Nur um bei dem Vergleich mit Xerxes zu bleiben: Bei Xerxes streikten 

die Soldaten nicht. Aber die FUnftausend des Lubitsch streikten, eh' sie 

stritten. 

Lubitsch aber bewilHgte. (Xerxes hatte es nicht getan.) 

Die Streiter wuEten nicht, daE sie Agypter und Athiopier sind. Sie 

glaubten, Romer und Griechen zu sein, Denn gewohnlich sind Dinge, 

die im Altertum passierten, entweder das eine oder das andere. 

Daher trugen die Streiter Helme und Pantherfelle und - Barenfelle 

auch. (Ohne von den Skythen eine Ahnung zu haben.) 

Das Lager ruht. Die Soldaten - muf^ man annehmen - haben gegessen 



19 2 I 627 

und getrunken und erwarten jetzt keinen Feind, Sie traumen vielleicht 

von der Lohnung. 

Auf einmal brechen von den Bergen her die Feinde los; ein Fesselbal- 

lon erhebt sich fiirchterlich; alle Operateure spielen Leierkasten; ein 

Schlachtenentziinder feuert eine blindgeladene Pistole ab. 

Der Kampf entwickelt sich, die Toten legen sich vorschriftsmaEig hin 

und nehmen ein Sonnenbad. 

Im Hintergrund steht eine von Lubitsch eigens abgerichtete Staubsaule 

auf, so dafi man im Film bestimmt an sie glauben wird und an ihre 

agyptische Abstammung. Nicht einmal die Anrainer der Gosenberge 

werden sie erkennen. 

Die Zuschauer rutschen vor Begeisterung die sandige Anhohe hinunter 

und brechen in ein kriegswutiges Ah-Geheul aus. Es ist wie im Presse- 

quartier. 

Ich habe noch immer keinen ordentlichen Respekt vor derlei Volksfe- 
sten. Die Gosener Berge und die Dampferfahrt und die belegten Brot- 
chen waren sozusagen Massengeniisse. Man miiCte jeden Tag einen 
Haufen Berliner so spazierenfahren lassen. 

Ich habe nun einmal nur vor dem Geld Respekt. Dem vielen, vielen 
schonen Geld! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 6. 8. 1921 



DER PASSAGIER 



Der Passagier wartet an der Strafienecke mit aufgespanntem Regen- 
schirm. Es regnet. 

Es regnet immer, wenn er auf eine StrafSenbahn wartet. Weil er nam- 
lich nur dann auf die StrafSenbahn wartet, wenn es regnet. Bei trocke- 
nem Wetter geht er. Er macht nie weite Wege. Er geht nur in den Klub 
und nach Hause. 

An diesem Tage hat Tante Malwine, die Stiftsdame ist, Geburtstag. Sie 
liebt Nelken und Levkojen. Ob es an diesem Tage regnet oder nicht, 
ist gleichgiiltig. Der Passagier fahrt immer im Wagen zu Tante Mal- 
wine. Weil er einen Straufi Nelken und Levkojen tragen muf^ und weil 



628 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

das Seidenpapier so raschelt. Es raschelt wie ein ganzer Blatterwald 
im Herbst. Alle Leute sehen sich um. Deshalb fahrt er im Wagen. 
Heute wartet er auf die Strafienbahn. Er denkt: 

Immer, wenn ich auf die Strafienbahn warte, regnet's. Es regnet 
nicht, es schiittet! Es ist ein wahrer Wolkenbruch. Eine merkwiir- 
dige Naturerscheinung in dieser Jahreszeit! 

Die rechte Hand des Passagiers, die den aufgespannten Regen- 
schirm halt, zittert vor Ermiidung. Der Regenschirm wandert in 
die linke. In diesem Augenblick bekommt die Brille, angehaucht 
von der Kalte, den grauen Star. Der Passagier kann nicht sehen, ob 
die Strafienbahn kommt oder nicht. 

Er mufi den Schirm zuklappen und in einen Hausflur gehen, die 
Brille ablegen und sie mit dem Taschentuch blank putzen. Bei die- 
ser Gelegenheit bleibt das Taschentuch an einem Brillenbiigel han- 
gen und zerreifit. Es ist eins von den zwolf Taschentlichern, die 
Xante Malwine selbst gestickt hat fiir seinen Geburtstag, 
Der Passagier tritt auf die Strafie, Seine Brille ist blank, und er 
kann ganz genau sehen, dafi die Strafienbahnschienen nackt und 
schimmernd iiber den Weg laufen wie zwei eiserne Beispiele fiir 
die Schulweisheit: Zwei Parallelen schneiden sich in der Unendlich- 
keit. 

In der Unendlichkeit - denkt der Passagier. Und: Schade um das 
Taschentuch! Gerade weil es aus einem Dutzend ist, Diese ver- 
fluchte Strafienbahn. Sie kommt nicht! Gar nichts kommt! Parallel 
sind zwei Linien dann, wenn sie sich nur in der Unendlichkeit - 
unendlich ist die Langmut der Menschen. In der Strafienbahndirek- 
tion machen sie nichts, gar nichts!! Diese Biirokratie! In der gan- 
zen Welt ist keine seiche Strafienbahn moglich! Nur bei uns! Of- 
fenbar werden die Leute schlecht bezahlt. Warum zahlt man ihnen 
nichts? Kein Finanzminister taugt etwas. Die Beamten werden 
nicht bezahlt. Deshalb funktioniert nichts. Wir miissen leiden! Ich 
wundere mich gar nicht, dafi die Leute Bolschewiken werden. 
Nun kommt die Strafienbahn. Uberfiillt. Menschenwarme dampft 
von der Plattform. Es scheint, dafi der Wagen von der Energie sei- 
ner Fahrgaste allein getrieben werden kann. 

Der Passagier mufi warten, weil viele, viele Leute aussteigen. Altere 
Damen. 
Wie langsam diese alten Weiber sind! denkt der Passagier. Und er 



19 2 I 629 

klappt gerauschvoll den Regenschirm zu. Nun aber SchlufS! sagt er mit 
dem Regenschirm. 

Alle Platze sind besetzt. Der Passagier hakt die Kriicke seines Regen- 
schirmes in einen Halteriemen. Das Schirmtuch ist nafi. Die Passagiere 
im Wagen sehen aus, als ob sie ein Spitzbub alle an den Kleidern zu- 
sammengenaht hatte. 

Der Passagier denkt: Es gibt eigentlich nur zwei Arten von Menschen: 
die Sitzenden und die Stehenden. 

Die Sitzenden strecken die Beine aus, dafi man dariiber stolpert. 
Die Stehenden treten mir auf die Hiihneraugen. 
Ich bin ein Stehender. Ich werde keine Riicksicht nehmen auf fremde 
Hiihneraugen. 

Vor ihm wird ein Platz frei. Er setzt sich. Streckt die Beine aus. 
Die Strafienbahn halt. Drei-, viermal. Viele Leute steigen ein. Wozu so 
viele Leute einsteigen? denkt der Passagier. Ich gehe doch heber zu 
Fu£, wenn der Wagen so voll ist. Die Menschen sind eben rlicksichts- 
los. Der Staat kann unmogUch fiir jeden einzelnen eine Strafienbahn 
bauen. 

Er fiihlt, daE seine Nase naf^ wird, und er greift nach dem Taschen- 
tuch. Der Rifi ist nicht so schlimm, denkt der Passagier. Wenn es auch 
vom Dutzend ist. Hat man eben nur elf Taschentiicher ganz. 
Es sind zu viele Haltestellen. Wenn es weniger Haltestellen gabe, wiir- 
den nicht so viele Leute einsteigen; man kommt dem Pubhkum zu sehr 
entgegen. Man verwohnt ja das Publikum! 

Jetzt muf5 ich aussteigen. Das ist nicht leicht! So dicht gedrangt sind 
die Menschen. Da£ sie aber auch so stehen miissen! 
Er steigt sehr langsam ab und gerat in den Knauel Wartender, die 
ihn umdrangen. Die Menschheit ist heuzutage wild, denkt der Passa- 
gier. 

Schon blinkt driiben der Klub. Eine Fensterreihe im ersten Stock speit 
Lichtbiindel auf die Strafie. Es wird warm, wenn man zu den Fenstern 
aufsieht. 

Im Klub spricht jemand von einem Minister, der friiher revolutionar 

gewesen und nun konservativ ist, weil er Minister geworden. 

»Das ist doch sehr merkwurdig«, sagt ein Herr in einer sandgelben 

Weste mit Perlmutterknopfen. 

»Sehr merkwiirdig«, sagen die anderen. 



6}0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»Das ist gar nicht merkwurdig«, sagt der Passagier. Dann schweigt er. 
Er weifi nicht, weshalb es nicht merkwiirdig ist . . . 

Berliner Tageblatt, 6. 8. 1921 



HUMANITAT 



Ich lange nach diesem Begriff wie nach einem Ding, das in der Rum- 
pelkammer pensionierter Gegenstande hangt. Sie war noch vor hun- 
dert Jahren lebendig, die Humanitat, und treibend sogar in der euro- 
paischen Kultur; und selbst, wo man sie vortauschte, bewies man (ge- 
rade dadurch) Respekt vor ihr. Der privilegierte Morder mordete in 
ihrem Namen, weil ihm sein Geschaft sonst gestort worden ware. Sie 
war ein »Faktor« im offentHchen Leben, »mit dem man rechnen 
mufite«, wie heme noch Valuta und Psychoanalyse. Sie war mehr als 
ein Kulturelement, namlich: modern. 

Sie ist heute ein »technischer« Ausdruck zur Kennzeichnung einer hi- 
storischen Epoche, Die jammerHche Hiille eines Begriffs. Die Auf- 
schrift auf einer wissenschaftlichen Kiichenschublade. Und gelegent- 
lich das Abzeichen einer lacherlichen Briidersekte, deren Satzungen 
ein Riickwartsleben gebieten. Die Ehrfurcht, die ihr die Welt heute 
entgegenbringt, gleicht jener, die uns - nicht erfuUt, sondern nur an- 
weht bei der Erinnerung an ein autoritares Requisit, wie Kaiser Bar- 
barossas Bart zum Beispiel. Die Humanitat ist selten, aber biUig; denn 
der Wert europaischer Kulturtugenden (und -untugenden) sinkt und 
steigt mit ihrer alltaglichen Begehrtheit. Der Wert der Humanitat ist 
lediglich der einer Tugend-Antiquitat. 

Nichts von dem, was seit dreifiig Jahren fiir die Menschheit geschehen 
ist, geschah fiir die Menschlichkeit. Krieg nnd Revolution hatte der 
Magen verursacht. Vertreter der Menschlichkeit ist der lausufiliche 
Saccharin -Pazifismus, das Programm eines passiven Tierschutzvereins, 
dessen Mitglieder aus Mitleid fiir die Infanterie das Trommelfeuer 
nicht goutieren. Wenn dieser Pazifismus einen Protest veranstaltet, 
wird's eine Prozession. Die Bewegung appeliert an - die Humanitat, 
die bereits in der Rost- und Riistkammer Mitteleuropas hangt. Dieser 
Pazifismus glaubt - er hat noch nie gezweifelt. Er ist sehr oft verzwei- 



I92I 631 

felt. Weil er die Bestie im Menschen nicht bekampft, sondern einzu- 
scUdfern versucht, wundert er sich iiber die Wirkungslosigkeit seiner 
Wiegenlieder. Er gibt an, gegen den Krieg zu sein, und ist gegen den 
Kampf : Er bekampft den Krieg also nicht, sondern »wendet sich gegen 
ihn«. 

Die Humanitat der Vergangenheit aber kdmpfte. Ihre Mittel waren 
Aktion, Tatigkeit. Ihre Wirkung die Tat. Ihr Erfolg Segen. Ihr Protest 
Hilfe. 

In den letzten Tagen horte ich das Wort Humanitat, von einem Naiven 
gesprochen, einem Osteuropaer, einem russischen Dichter: Maxim 
Gorki. Er schrie es so laut, und es klang so erschiitternd merkwiirdig; 
wie wenn er nach dem Verbleib des Barbarossaschen Leibfriseurs ge- 
rufen hatte. 

Es antwortete ihm Gerhart Hauptmann. Und es sah einen Moment 
lang so als, als troffen wir alle von Mitleid und Liebe. 
Maxim Gorki unternimmt eine Reise nach Europa. Er wird wahr- 
scheinlich Vortrage halten fiir die hungernden Menschen in Rufiiand. 
Und alle, die Rabindranath Tagore gehort haben, werden Gorki horen. 
Und werden hoffentlich Geld geben, ohne zu begreifen, weshalb Ma- 
xim Gorki, dem die herrschenden Bolschewisten nicht freund sind, 
sich fiir RuEland »ins Zeug legt«. Wir sind*s gewohnt, dafi Verfolgte 
ins Ausland fliichten. DaE Verfolgte ins Ausland gehen, um fiir ihre 
Heimat Gutes zu tun, ist seltsam. Denn es ist Humanitat. 

Maxim Gorki lebte mit einer Frau in Amerika, die er nicht nach den 
giiltigen Gesetzen geheiratet hatte. Kein Hotel nahm ihn auf. Er fand 
keine Wohnung. Die angloamerikanische Moral verurteilt solche 
Leute. Dieser New Yorker Mob, Reprasentant des grobkarierten Fort- 
schritts, der Grammophonkultur und des Wolkenkratzers, jagte Gorki 
auf die Strafien. Weil die amerikanische Welt keine Abweichung duldet 
von der gesellschaftlichen Uniformitat. 

Wenn diese Hoteliers und Wolkenkratzer heute an der Hungerpest 
stiirben, der Humane wiirde fiir sie betteln gehen. 
Dieses typische Beispiel einer Humanitat: ein grower Mensch, der, kalt 
gegen eigenes Schicksal, sachlich bleibt auch im Schmerz, den ihm 
seine Wunden verursachen; vom Verfolger zum gehetzten Tier ge- 
macht, im hetzenden Tier dennoch den Menschen liebt; der nicht nur 



632 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»seelischen Schmerz« leidet um Fremde, sondern korperlichen, wirkli- 
chen um sich und andere — dieses Beispiel fiir Humanitat ist in West- 
europa nicht zu finden. 

Der amerikanische Polterich schamt sich seiner Eigenart wenigstens 
nicht. Der europaische pohert mit Sentimentalitat. Die Gemeinheit, 
der die Humanitat zum Opfer in Europa fiel, nennen wir »Ordnung«. 
Auch vor hundert Jahren logen die Vertreter der Gemeinheit, dafi sie 
Ordnung vertraten. Aber die gemein Behandehen logen nicht mit. 
Scharf war die Trennung zwischen Bestie und Mensch. Diesen 
schiitzte Humanitat vor jenem. 

Vor hundert Jahren hafSte der Mensch die Zensur. Heute sieht ein mit- 
teleuropaischer Poet aus wie ein Wachtmeister in Zivil. 
Tausend grofie und kleine Gemeinheiten begegnen dir taglich, wenn 
du glaubst, Ordnung zu sehen. Kein Kiinstler, kein Weiser, kein Pro- 
phet erhebt sich gegen sie. 

Wenn heute wer einen Verein zum Schutze der Menschheit gegen die 
Behorden Europas griinden wolhe - wer wolhe Mitglied sein? 
Wer entrustet sich liber das anschleimende Betasten eines Grenzrevi- 
sors? Uber den Zwang zum Fingerabdruck jedes Reisenden? 

Ich weifi, da8 Maxim Gorki in den mitteleuropaischen Stadten bei der 
Pohzei den Vornamen seines Vaters wird angeben miissen. Er ist an 
schHmmere Dinge gewohnt. Aber in Rufiland fuhlte er bei jedem poU- 
zeihchen Knutenhieb den Schmerzensschrei der Kameraden. 
Wenn er in einem mitteleuropaischen Pohzeibiiro hinter der Barriere, 
die den groEenwahnsinnigen Schreibfederbiittel nicht sorgfaltig genug 
vor einer wehrlosen Menschheit abzaunt, »Warten Sie!« wird horen 
miissen, wird er vergeblich lauschen auf eine geringe Entrlistungsgeste 
aus dem Kulturgetue drauf^en. 

Der Mangel an geistigem Lebensgehalt bedingt den Mangel an Huma- 
nitat. Schmerz des Nachsten war auch vor hundert Jahren nicht eige- 
ner Schmerz, wohl aber Schmerz der AUgemeinheit. (Nun ward 
fremde Freude zum eigenen Schmerz.) 

Schmerz des Nachsten fiihlen ist immer eine geistige Angelegenheit, 
die nicht vorwartsbringt. Der Gegenwartsmensch, der nur vorwarts 
geht, versucht, aus dem Schmerz des Nachsten zu lernen. Und das ist 
immer eine praktische Angelegenheit. 



I92I 633 

Nachster sein heifit namlich: Gegner sein. Leid des Gegners ist mein 
Vorteil, Aus dem sozusagen passiven Vorteil aktiv sich entwickeln las- 
sen - der Gegensatz der Humanitat: Viktoritat. (Die Lebenshaltung 
des Siegers, der nur ein »Gewinner« ist.) 

Fremde Not lehrt Europa nur, da£ der Bolschewismus Not bringt. 
Und jeder Wehschrei aus dem Osten hei£t ins Westeuropaische iiber- 
setzt: Hutet euch! 

Denn wir sind Gewinner. Unsern Arm spannt die Spiralfeder. Unser 
Ziel ist die Beute. Neben uns keiner. Gegen uns alle. Unter uns nicht 
Erde, sondern »Terrain«. Uber uns nur noch Wolken, die wegzukrat- 
2,en das Ziel unserer nachsten Jahrzehnte heif^t. 

Berliner Borsen-Courier, 7.8. 1921 



LI-TAI-PE IN BERLIN 



Herunter mit dem Yadekrug 

In einem Zug! 

Licht bliiht an alien Wegen 

Ich habe nimmer mehr genug. 

Ich bin ein Pflug. Ein Wolkenpflug; 

Und Blumen springen mir entgegen. 

Die Lippe lallt. Die Wimper wacht, 

Es offnet sacht 

Sich uber mir ein Fenster. 

Ein Vogelschwarm schwebt durch die Nacht, 

Durch unsrer Herzen dunkle Nacht, 

Wie singende Gespenster. 

Li-Tai-Pe - er ist seit 763 nach Christi Geburt tot - sang so vom 
R^ausch. Er lebte einundsechzig Jahre, und er war fiinfzig davon be- 
•auscht. Klabund, der ihn aus dem Chinesischen iibertragen hat, weifi 
^u erzahlen, dafi Li-Tai-Pe bei einer nachtlichen Kahnpartie ins Was- 
;er fiel und ertrank. Li-Tai-Pe hatte vorher mehrere Yadekriige in 
iinem Zug heruntergetrunken. 



634 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Li-Tai-Pe ist in China sehr popular. Man singt ihn auf den Strafien und 
Platzen. Seine Lieder pfeifen die jungen chinesischen Kavaliere wahr- 
scheinlich auf dem Bummel wie bei uns »Warum denn weinen?« Denn 
das chinesische Volk hat einen ganz andern literarischen Geschmack. 
Auch bei uns ertrinkt manch ein Dichter bei nachtlichen Kahnpartien, 
ohne dafi daraus Konsequenzen gezogen wiirden. In China garantiert 
Tod im Rausch ewiges Leben. 

Zwischen dem oben zitierten chinesischen Gedlcht aber und unserer 
Nationalhymne »Warum denn weinen?« ist ungefahr ein Unterschied 
wie zwischen Peking und der JoachimsthalerstraCe; den Yadekriigen 
und den Likorglasern; dem FluK Bo-yeh und der Spree; den chinesi- 
schen Rauschgetranken und den Dielendiktinern; einem berauschten 
Kuhurmenschen und einem besoffenen ZiviUsationsvieh. 
Obwohl eigenthch Stimmung ist in unseren Schnapstempeln : Gliihbir- 
nenballetteusen in roten Reifrockchen schwingen an der Decke. Vom 
Podium gleiten Tschinellentropfen schmelzend in dunkelrosa Erotik. 
Der Markor tragt ein scharfes Diplomatenantlitz und reicht Rechnun- 
gen dar wie Ultimata. Die Sofas sind mit Gemiitlichkeitsseegras gepol- 
stert. Ausbreitet sich eine Lauschigkeit und Preiscourant. 
(Wenn Li-Tai-Pe ein Berliner Operettendichter gewesen ware, so gabe 
es Li-Tai-Pe-Diktiner. Wir lassen namlich zum Unterschied von den 
Chinesen kein Kulturgut unindustrialisiert; Kunst und Kaufmann 
heifit die Ausstellung unseres Jahrhunderts.) 

Es ist schon, sich auszumalen, unter was fiir Vorkehrungen wir Li-Tai- 
Pe-Diktiner tranken: auf chinesischen Terrassen; hohle Bambusstab- 
chen brachten wir an alten Brieftauben aus den Heeresbestanden an, 
auf dafi sic kreisend in den Liiften, den asiatischen Sumsang fabrizier- 
ten; und Geishas, von Professor Haas-Heye inszenierte, tanzten Jazz- 
band. 
Und ein Rausch iibermannte uns wie Kunstgewerbe. 

SamtUche Sonntagsnachte sind durchtorkelt von Beschnapsten, Jiingst 
mu£te ein Untergrundbahnschaffner dran glauben. Ein subalternei 
Trottel, der, wenn er niichtern, die Polizei heilig halt, brachte seine fei^ 
unterdriickte Wut gegen die Behorde, von Eierkognak aufgemuntert, 
gegen den harmlosen Beamten zum Vorschein. 

Noch stank er nach dem Parfiim des Dielensofas, und schon schlug ei 
wie ein Zuhalter. 



I92I 635 

Ich sah einmal betrunkene russische Kriegsgefangene, Sie stanken nach 
Fusel und walzten sich unter Liebkosungen am Boden. Dann kam der 
Abend, sie hiillten sich furchtsam in ihn, wickelten sich im Dammer 
ein und sangen: polubyl ja tibia. Sie stotterten und lallten, und die 
Melodic hatte Tonliicken. Aber alle diese Tonliicken waren ausgefiillt 
mit spharischem Klang, so wundersam, dafi man eben nicht singen 
konnte. Weil es in ihnen vieltausendmal schoner sang. Ich schlofi dar- 
aus, dafi Menschen, die so schone Lieder haben wie jenes polubyl ja 
tibia, ruhig Fusel trinken diirfen. Es ist eine der grofiten Grausamkei- 
ten der Geschichte, dafi Lenin dem russischen Volk seinen Schnaps 
genommen hat. Es wird ein Volk von Ingenieuren und Telegraphen- 
stangen warden, und wenn's ihnen wieder gutgeht, werden sie leider 
keinen Wodka mehr trinken, sondern Eierkognak. Franzosischen, 
Und singen werden sie: »Warum denn weinen?« . . . 
Denn nicht der Schnaps an sich ist schlimm, sondern die National- 
hymnen. Der Ton macht die Musik und die Musik die Menschen. 
Wenn Li-Tai-Pe in Berlin Li-Tai-Pe-Diktiner getrunken hatte, er 
wiirde wahrscheinlich dennoch geschrieben haben: »Alle Wolken gin- 
gen iiber See. Und die Vogel schwingen wie Gelachter iiber fernem 
Land.« 

Und er ware auch bei einer Kahnpartie auf der Spree ins Wasser gef al- 
ien, ohne einen Unter^rundbahnschaffner verpriigelt zu haben . . . 
Schon ist der Rausch schoner Menschen. 

Die Hauser in den Strafien geben endgiiltig ihren Militarismus auf und 
lockern sich im Gefiige. Die Schornsteine der Fabriken neigen sich zu 
mir herab und fliistern mir Wolkengeheimnisse zu. Wenn irgendwo 
jemand ein Fenster aufklinkt, tont es wie ein silberner Tropfen. Die 
Plakate an den Litfafisaulen geben ihre Buchstaben frei, und alles Pa- 
pier verschwindet. Die Buchstaben tanzeln. 

Ich entsinne mich, wie mir einmal im Rausch das Wort »Gummi« von 
der Wand entgegensprang. Die Silbe »Gum« liebte ich, ich rifi sie her- 
unter und verbarg sic in meiner Tasche. Nur noch »mi« blieb an der 
Wand, ein Fremdes, Unpersonliches. Ich glaube, daE darin die Kunst 
liegt: das unor^anisch Zusammengefiigte zu trennen und natiirliche 
Unordnung wieder in die Welt zu bringen. Und alle diese Notwendig- 
keitsschonheiten sind ohne Rausch nicht zu fiihlen. 
Aber die VerindustriaHsierung des Rausches erzeugt die Besoffenheit 
der Sonntagsnachte. Der Alkohol ist primitiv und elementar, ein ver- 



6}6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

borgenes Element, wie Luft, Wasser, Feuer offene sind. (Die Welt ist 
vielleicht aus Alkohol zuerst entstanden.) 

Die alberne Menschheit bezwang die Firne der Ewigkeit durch Draht- 
seilbahn und den Alkohol durch cine Verbindung mit Sofa, Lampen- 
schirm und Chanson und machte den Rausch kauflich, wie sie die Lau- 
nenhaftigkeit des Gliicks in die Formen der Staatslotterie prefite. Un- 
ter solchen Umstanden diirfen sich nicht alle betrinken. Nur die Li- 
Tai-Pes der Welt, die Toren und Gotterlieblinge, die aus Yadekriigen 
trinken, selbst wenn man ihnen Barglaser vorsetzt, und die zum SchluC 
nachtlicherweise sich ins Waser gieiten lassen, als waren sie selbst bis 
zur Neige geleerte Yadekriige. 

Leider aber diirfen hierzulande die Li-Tai-Pes nicht trinken, Sondern 
ihre Widerparts, denen Yadekriige hochst gleichgiiltig sind. 
Der Inhalt einer modernen Likorstube ist grauenhaft. Denn rauschbe- 
sessen ist hier das Ordnungstier. Der Trager der Weltordnung. Die 
Pfeiler der Biederkeit. Die Atlasse der Tugend. Die Vorzugsschiiler 
Die Lieblinge der Polizei. Fine Sittsamkeit, die ihrer selbst iiberdriissig 
wird am siebenten Tage, da Gott und die Geschafte ruhen, und iibei 
die Strange der Polizeistunden haut: Hier steht der wohlfrisierte Kan- 
nibalismus plotzlich zu Berge. 

Jede Montagssonne geht auf iiber einer besoffenen torkeinden Stadt. 
Die Kultur stinkt nach Kognak aus zahllosen Miindern. Und jedei 
erlebt den nachsten Sonntag und den nachsten Schnapsladen. Und kei- 
ner, keiner, der den schonen Tod Li-Tai-Pes fande! 

Berliner Borsen-Courier, 14.8. 1921 



DIE FREMDE STADT 



Seit ungefahr einer Woche wohne ich in einer neuen Stra£e, und es ist. 
als ob ich in eine fremde Stadt gereist ware. Noch weifi ich wenig vor 
den Sitten, Menschen und Dimensionen dieser Stadt, aber die Hauptei- 
gentiimlichkeit ihres Charakters glaube ich gefunden zu haben: Sie isi 
eine Balkonstadt. 
Der sie erbaut hat, war ein Architekt mit Sehnsucht nach Siiden, und ei 



1921 ^37 

nachte kein Hehl daraus. Zwanzig Jahre iang ging seine Seele schwan- 
ger mit Giebeln, Erkern, Tiirmchen, Wetterfahnen, seine Seele war ge- 
w^issermafien ein komprimiertes Niirnberg, und im einundzwanzigsten 
^eschah es, dafi man sie auf einen freien Platz losliefi. Und nun schiit- 
:ete der Architekt seinen siidlichen Segen aus. Weil aber die Stadt of- 
:enbar moglichst viele Menschen zu beherbergen hat, mufSte er groCe 
Hauser bauen, das heifit eigentlich ein Haus aufs andere setzen, so 
ange, bis vier oder fiinf Hauser aufeinanderhockten. Dann stiilpte er 
iber diese Ungetiime ein spitzes Niirnberger Dach und schnitzte aus 
den Bauchen der einzelnen Stockwerke Balkonchen und blies runde 
ind viereckige Nischen aus den Volumen der Zimmer. So also, dafi 
>eine Sehnsucht gestillt war, aber erst oben. Unten tragen die Hauser 
lie iiblichen Fassaden, die breiten Torbogen, die glasernen Tiiren, die 
.tumpfen Klinken und die zoologischen Glockenziige, wie zum Bei- 
jpiel Lowenkopfe mit lechzenden Zungen, die man kitzeln mufi, 
Venn's drinnen lauten soil. An den Flurwanden blinken rahmenlose 
)piegel. So dafi die Menschen, die hier von unten hinaufzugelangen 
^flegen, mit Lift, wenn sie Herrschaften, und ohne Lift, wenn sie's 
loch nicht sind, sich selbst sehen diirfen, ohne sich allerdings kennen- 
:ulernen. 

Vlich machen diese Hauser, in denen die sehnsiichtige Architekten- 
;eele noch Hegt, so unsagbar traurig, weil sie halb sind. Es war ihre 
Serufung, zweckmafSig zu sein, wohnlich und dauerhaft, mit Licht 
md Luft. Aber ihre Sehnsucht war es, schon zu sein und zwecklos wie 
lie Schonheit. Sie mufiten sich dem lacherlichen Zwang ihrer irdischen 
Vesenheit fiigen und durften sich erst ganz hoch oben erlauben, Luxus 
inzulegen, aber auch ihn noch fur praktische Bediirfnisse herrichten. 
iier symbolisiert sich das leben Tausender Architekten und der Ab- 
tand zwischen dem, was sie gewoUt, und dem, was sie geleistet. 
vlanche Menschen sagen: Balkong. Das klingt so, als ob er schon hin- 
inter^efallen ware, mit einem Blumentopf aus Ton womoglich und 
uner halben Fensterscheibe dazu. Denn es liebt hierzulande jeder sei- 
len Balkon und schmiickt ihn mit Geranien, Begonien und Pelargo- 
lien und anderen Pflanzen, die wie fremde Weltteile heii^en. Das 
:ommt von der Sehnsucht der Menschen, die, um von unten hinaufzu- 
;elangen, ein halbes Leben brauchen, und die andere Halfte zur Um- 
etzung in Ordnung, dem Sprichwort getreu. Nie vielleicht kommen 
ie in eine Gegend, die so ahnlich heiEt wie eine ihrer Blumen. Sie 



638 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

pflanzen das Exotische vor ihr Haus und an ihr Herz und machen das 
Symbol des schwer Erreichbaren heimisch. So lebt sich ihr Drang ins 
Freie in vorgebauten Ziegelsteinen aus und auf, und zwischen ihnen 
entlad sich ein Teil ihres Daseins, zum Beispiel: die Spritzkanne; aber 
auch die Liebe, der Appetit und das LampenUcht. 
Dieses Licht ist rotlich gedampft und sieht aus wie ein kleines Wald- 
brandchen am Horizont oder auch wie eine kleine Ampel in einer Ka- 
pelle am Wegrand irgendwo. Nun gab mir ein Gott Schonheitsdurst 
genug, den Waldbrande einerseits zu vermehren und zu stillen anderer- 
seits vermogen, und auch frommen Sinn, der offen ist fiir die Heiligkeit 
verlorener Waldkapellen. Aber eine ganze Zeiie verlorener Waldkapel- 
len, hingetupft an eine Waldreihe und erfiillt von irdischem Tellerklap- 
pern und Silbergabelklang, ist wohl imstande, meiner Andacht eine 
empfindiiche Liicke zu verse tzen. So sehe ich manchmal mit pietatslo- 
sem Aug* auf das Innenleben meiner Nachbarn, das sie nach aufien 
gestiilpt haben, um es auf den Balkons zu liiften. Und manchmal schame 
ich mich meines iiberheblichen Sinnes und meiner heimlichen Schandta- 
ten, denen ich es verdanke, dafi ich nicht tun kann wie meine Nachbarn. 
Ich sehe nur einzelne Lichter und denke der Kapellen am Wegrand. 
Vielleicht, denke ich, waren die Menschen verschwiegen, mehr nach 
innen gekehrt, wenn nicht das Wesen der Balkons darin bestande, ihren 
Eigentiimern eine ampellauschige Abgeschiedenheit vorzutausen, Und 
auch das Rote Licht (habe ich gefunden) ist solch eine Tauschung. Wem 
es scheint, der glaubt, nicht gesehen zu werden. Und wird doch nur rot 
gesehen . . . Und vielleicht auch wollen die Menschen gesehen werden. 

Das ist gewilS: dafi ich ein Einsamer bin in dieser fremden Stadt und daC 
mich des Morgens, wenn ich durch die Strafie gehe, ein Schauer dei 
Heimatlosigkeit iiberfallt inmitten so vieler Heimatlichkeit. Der Klang 
eines morgenfleifiigen Klaviers; die weifien Gardinen hinter den Fen- 
sterscheiben; ein Mann in Hemdsarmeln; eine Frau in der Nachthaube 
ein Hund an einem Laternenpfahl; eine Litfafisaule mit frischtriefenden: 
Klebstoff ; ein Portier mit Messingpaste fiir die Tiirklinke; ein frischge- 
wichster Schusterjunge; eine knusprige Backerin; ein Friseur, der wit 
ein weifier Flakon vor seiner Tiir steht - alle sind mir fremd, weil sit 
nichts von mir wissen, obwohl sie mir alles erzahlen. Sie griifien einan- 
der mit vertrauten Blicken, und in jedes Auge spiegeln sich des Nach- 
sten Erlebnisse. 



I92I 639 

Und die Menschen hier sind sehr sauber. Sie riechen nach Seife, harter, 
brauner Wiirfelseife, mit der mich meine Xante zu waschen pflegte. 
Die Frauen haben ihr Haar straff zuriickgekammt und die Ohren frei. 
Es ist so eine Atmosphare seelischer Kasteiung um sie. Ihre Stunden 
fliefien iiber von Tatigkeit, und ihre Dokumente sind in Ordnung. Sie 
diirfen ihre Seelen auf offener Handflache tragen. Ihre Vergangenheit 
ist fleckenrein wie das Messingbecken iiber dem Friseurladen. Ihre Ge- 
genwart ist Einkaufen. Ihre Zukunft Rechnen. Sie sammeln ihre Tage 
in ein Album wie Briefmarken. Sie sind Tage- und Jahresammler. 
Nie war ein Unbekanntes in ihrem Leben, aber auch nie ein Hafihches. 
Im Schatten ihrer Tugenden wuchsen sie und gediehen. 
Ich beneide sie. 

Taghch begegnet mir ein Herr auf der Treppe, der von Beruf Repra- 
sentant ist. 

Ich weifi zwar nicht, was er reprasentiert; aber er ist ein Reprasentant. 
Auch wenn er keine Handschuhe tragt, sind seine Hande feierlich, als 
triigen sie Leichenkerzen. Er hat einen Strohhut auf dem Haupt, aber 
es ist ein Zylinder. Sein Schritt ist direktorial. Sein Auge ruht strafend 
auf etwas. Er ist stumm, aber um ihn hore ich seine Stimme schwingen, 
eine tiefe Stimme mit Donnerankiindigungen. Ich griiEe ihn nicht, aber 
es ist so, als wiirde ich ihn griifien. Er ist vielleicht ein Konduktansa- 
ger, und taghch geht er jemanden begraben. 

Er war ein braver Sohn, und er lernte fleifiig. Er war gewifi irgend 
jemandes Stolz. Ich woUte, ich konnte neben ihm sitzen und von ihm 
abschreiben. 

Ich sehe seine Stirn nicht, aber sie ist hoch und gewolbt. Sie mu£ Raum 
haben fiir die vielen kleinen Ehrenpforten in seinem Schadel. 
Manchmal aber fiihrt er ein blauaugiges Madchen an der Hand, das Lili 
heifit. Er hort sichtlich auf zu reprasentieren. Einmal beugte er sich zu 
dem Kind herab, weil es einen kleinen Handschuh verloren hatte, und 
es war, wie wenn ein historischer Kaiser plotzlich zu lachen anfinge 
oder wie wenn ihm sonst was Menschliches passierte. 
Immer heimischer werde ich in der fremden Stadt. 

Berliner Borsen-Courier, 21. 8. 1921 



AMtJSEMENT 



Ein Amusement ist zum Beispiel das Panoptikum in der Lindenpas- 

sage. Hier ist zu sehen, wie Weltgeschichtssegmente, in Wachs ge- 

formt, des erbarmungslosen Fliichtigkeitsgesetzes aller Begebenheiten 

erlost warden und ~ aere perennms - sicht- und greifbar aus der Welt 

der Abstraktionen ins entschiedene Dasein der Materialismen treten. 

Aber klaglich scheitert ihr Versuch, Ruhe in der Bewegung vorzutau- 

schen und augenblicklichen Stillstand eines sonst pulsierenden Lebens, 

Denn die Materie, aus der sie bestehen, wirkt starker als der Ausdruck, 

der ihnen verliehen ward. Nichts ist mehr tot denn Wachs, 

Also ist die Tragik des Panoptikums: aktuell sein zu woUen und immer 

musealer zu werden. Durch die scheinbare Lebendigkeit bemalten und 

bekleideten Wachses nur noch sein unerbittliches Totsein herauszu- 

streichen. 

Die »Schreckenskammer«, zu der Jugendliche keinen Zutritt haben, 

enthalt zum Beispiel die Darstellung eines Kasseneinbruchs. Der Kas- 

senbesitzer liegt halb noch im Bett und halb schon am Boden, Rotes 

Wachsgerinnsel entstellt sein Gesicht, Und der Einbrecher bohrt an 

der Kasse herum, schrecklich beleuchtet von seiner Laterne. 

Kaiser Barbarossas Bart ist durch den Tisch gewachsen, aber irgendein 

Lausbub drang unbekiimmert um Sagenheiligkeit und Majestat in den 

wachsernen Kyffhauser und zupfte Barbarossa eine Barthalfte weg. 

Der Kaiser sieht sehr bemitleidenswert aus. 

Der Sultan spielt Schach mit seinen Mamsellen, von denen mehrere 

entkleidet im Wasserbassin baden, das aber eigentlich ein Spiegel ist. 

An der Totenbahre seines alten Kaisers steht Bismarck in einer misera- 

bel genahten Uniform. 

Vor der Polizeiwachstube hockt die arretierte Strafienverkauferin, de- 

ren Zundholzschachteln immer noch fiinf Pfennig kosten. Oh, wie 

grausam braust das Leben liber das Panoptikum hinweg, und wie 

iiberwuchern es die Preise! 

Das eigentliche Amusement aber und das ewig Aktuelle sind die Auto- 

maten im Panoptikum mit den kriminalistischen und pornographi- 

schen Uberschriften: »Der Raubmorder bei der Arbeit. « »Nur fiii 

Herren! Im Strandbad!« »Intimes Liebesleben.« 

Und das ist ein billiges Amusement: zehn Pfennig. Und hier ist zu 



19 2 I 641 

lernen, wie sehr sich die Zeiten gewandelt haben. Denn die Kunden 
dieser Automaten sind nicht Halbwiichsige und Jugendliche, sondern 
alte Herren mit Kautschukkragen, Kiirafi und Rollchen. Sie schauen 
sich die Augen aus und entladen ihren armseligen Uberschufi an siindi- 
gem Geliist in den armseligen Kasten. So standen sie vor zwanzig Jah- 
ren, so stehen sie heute. Sie sind die Cunctatoren, die Unentschiede- 
nen, die Halben . . . und sind dariiber alt geworden. 
Indes unsere Jugend - seht! - aus anderem Holze geschnitzt ist. Sie 
sieht und kostet die Nacktheit in Natur und raubmordet gelegentlich 
selbst. Im Panoptikum ist zu lernen, wie die Nacktkultur die Automa- 
tenkultur abgelost hat. Und der Tausender das Zehnpfennigstuck. 

Berliner Borsen-Courier, 23.8. 1921 



BUCHMACHER KLANTE 



Er muf^ es sich gefallen lassen, dafi iiber ihn gesprochen wird wie uber 
eine vergangene Angelegenheit. Obwohl er, seiner eigenen Versiche- 
rung gemaf^, noch »dasteht wie am ersten Tage«. Denn er ist den Lo- 
kalbezirken der Aktualitat bereits entriickt und in die ewigen Gefilde 
der Kulturgeschichte dieses Jahrhunderts eingegangen. Er ist der Re- 
prasentant des modernen Siegergeschlechts. Der Homo novus: phanta- 
siearm und phantastisch in der Wirkung; beschrankt im Konnen und 
unbegrenztes Vertrauen genieEend; ein Durchschnittsmensch mit 
Macht iiber Duchschnittsmenschen. 

Seine Geste war (vielleicht unbewuEt) antikisierend, als er sich im Zir- 
kus die vier Lorbeerkranze reichen lief$. Er wui^te nicht, daf^ er damit 
ein Stuckchen Zeitsymbolik einfuhrte: Er schuf den lorbeerbekranzten 
Buchmacher, der fortan ein bedeutender Bestandteil der europaischen 
Kulturphysiognomie bleiben wird. Den Klantes des Jahrhunderts 
hatte noch die Bildlichkeit gefehlt. Dieser Klante wird sich dem Be- 
wufitsein der Historic einpragen durch die Tatsache der Lorbeer- 
kranze. 

Man erinnert sich, daf^ Demosthenes, der ebenfalls ein braver Mann 
war, nur unter mannigfachen Schwierigkeiten zu einem armseligen 
Lorbeerkranz gelangt ist. Klante erhielt deren vier. Demosthenes war 



642 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

allerdings kein Buchmacher. Klante ist nicht nur das, sondern auch ein 
erfolgreicher Redner, Auch seine Reden werden von unsern Nachfah- 
ren dereinst im Obergymnasium der Zukunft - einer Sportschule mit 
Wettbetrieb als Hauptfach - mit Muh und FleifS gelesen werden. Auf- 
warts weist die Entwicklung des Menschengeschlechts. Es ist kein 
Fortschritt, sondern ein Fort-Wettrennen der Kultur. 
Was an den Lorbeerkranzen des Herrn Klante zu merken ist. 

Der Buchmacher Klante verleiht seinen Handlungen revolutionare 
Talphysiognomie, indem er den »kleinen Mann« emporfuhren will 
zum Likorglas, dem Symbol des Wohlstands und Gegenstand des Nei- 
des. Er will sozusagen der Begriinder des Klantediktiners werden. Er 
weifi genau, was den »kleinen Mann« vis-a-vis den sozialen Problemen 
bewegt: den kleinen gedriickten Mann (aus alien Klassen der Bevolke- 
rung), der ewiglich in Geldkalamitaten lebt. Klante kennt den Neid, 
die einzige Form der Emporung, die sich der kleine Mann leisten darf. 
(Der Neid ist namlich kein Vergehen und wird von den Gerichten 
nicht geahndet; er lafit sich verbergen und erfordert keinen personli- 
chen Mut; er ist kein sichtbarlich revolutionares Geliist; er paart sich 
sogar mit der Bravheit: Neid ist die Rebellion der Gehorsamen.) 
Also sprach Klante: »Ich bin emport iiber eine Welt, in der der kleine 
Mann nicht einmal zu seinem Glaschen Likor kommen darf. - Seht, 
das ist meine Sozialisierung.« 

Was Klante sich gestattet hat, darf sich nur der sehr GrofSe erlauben 
oder der sehr Naive. Buchmacher Klante ist weder das eine noch das 
andere. Er ist nur selbst aus dem Holz geschnitzt, aus dem der Hen- 
die kleinen Manner hergestellt hat. Er kennt sein Geschlecht. Dessen 
Sehnsucht und Kiimmernis. Er weifi, dafi der kleine Mann nicht Hun- 
gers stirbt, aber nur Brot essen darf. Klante verspricht ihm das Aben- 
teuer der Auster. Die Buntheit des Tausches. Klante ist des kleinen 
Mannes Abenteuer und Sensation. 

Buchmacher Klante ist kein Revolutionar, aber eine typisch revolutio- 
nare Erscheinung. Er hat seine Vorganger: z.B. den Herrn John Law, 
den Griinder der Mississippibank. 

John Law griindete diese Bank kurz vor der groEen franzosischen Re- 
volution in Paris, mitten in der Stadt, auf einem Holzgeriist. John Law 
verkaufte Aktien zu hohen und kleinen Preisen. Er erzahlte, da£ er 



19 2 1 643 

Landereien am Mississippi kaufe. Und die »kieinen Manner« wurden 
Mississippi-Grundbesitzer. 

A.ls John Law angegriffen wurde, entstand eine Law-Partei. Sie be- 
>tand aus »kleinen Mannern«. Aus den Daseinsplantlern sozusagen, 
die sich jahrzehntelang nach einem grofien Wunderbaren, einem ge- 
leimnisvollen Mississippi sehnen. 

Den Menschen ein Mississippi geben, darin liegt das Geheimnis der 
Macht liber sie. Den Biirostuhlmenschen mul^t du zum Gliicksritter 
jchlagen. Gib ihm die siifSe, atemraubende Spannung und Unsicherheit 
and nicht das Gliick, sondern die schwachste Moglichkeit, es zu errei- 
:hen! Befreie sie aus der Tretmiihle ihres gleichgultigen Broterwerbs! 
Man nehme den Tagen die graue Uniformitat und stecke sie in aben- 
ceuerliche Gewander. Denn seltsam ist die Seele des kleinen Mannes: 
Michts ist ihm ferner und nichts sicherer als das Abenteuer. Nie wird 
er nach dem Mississippi wandern. Aber er klammert sich mit fanati- 
scher Inbrunst an die Fata Morgana des Mississippi. Er fiirchtet die 
Wiederkehr seiner grauuniformierten Tage. 
Er hebt die Liige vom Mississippi. 

Nichts AbenteuerUches aber hat zum Beispiel der Name »Klante«. 
Sondern im Gegenteil: klanghche SelbstverstandUchkeit. Er ist biderb 
und treufest. Sein Trager kann Sackelwart sein; Fahnenbewahrer; 
Freund der Witwen und Waisen; Geschworener und ausgelost sogar; 
ein gesinnungstiichtiger Mann; mit einem Herzen bewehrt, das fiir et- 
welche Interessen schlagt. Fast mochte ich Klante heifien. 
Aber der Buchmacher ist im Gegenteil ein Mississippi-Klante. Un- 
sterbhch lebt er fort in der Geschichte. 
Sein Name sei gefliigeh . . . ! 

Berliner Borsen-Courier, 28.8. 1921 



NACKTHEIT 



Auf den Wegen des Fortschritts liegen die europaischen Gefangnisse. 
Der Justiz vornehmste Aufgabe ist das Konservieren der alten Kultur- 
errungenschaften und infolgedessen die Bekampfung der neuen. Sie 



644 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

behiitet die alte Kulturerrungenschaft: die Kleidung vor der neuen, 
welche nach Wyneken die Nacktheit sein soil. Wenn Wyneken sich als 
Zukunftsmensch offenbart, fiir den ihn seine Anhanger halten, und 
seine Lehre von der Nacktheit durchdringt, wird einige hundert Jahre 
spater ein Mann, der wieder das Bekleidetsein predigt, bestraft werden, 
sobald er im Rock einen Knaben im Matrosenanzug umarmt. Wyne- 
ken wurde weniger einer Unsittlichkeit wegen verurteilt als wegen 
einer Unsitte. Es war der Prozef^: Bratenrock kontra Nacktheit. 
Alle Vorwiirfe gegen die Justiz seien daher dem Verwaltungspolitiker 
iiberlassen. Der kulturhistorische Betrachter verzeichnet hochstens die 
seltsame Caprice der Geschichtsgottin, die Wynekens Verurteilung in 
eine Zeit verlegt, in der die Ehrenferien des Fahnrichs Oltwig bekannt 
werden, Und obwohl beide Angelegenheiten nichts mehr miteinander 
gemein haben, als dafi sie beide justizielle MafSnahmen sind, glaube ich, 
eine Verwandtschaft feststellen zu diirfen zwischen jenem Knaben, der 
Wyneken anklagte, und dem Fahnrich Oltwig. Jener Knabe hat Talent 
zum Fahnrich; er wird ein nicht nur angezogener, sondern sogar uni- 
formierter Knabe. Die Sympathie der Justiz hat er auch schon. 
Bedauerlich, dafS der Prozefi nicht in Berlin stattgefunden hat. Die 
Hauptstadt hat mehr kulturelles Schamgefiihl und nimmt mehr Riick- 
sicht auf Europa, weil sie die Verantwortung fiir das Reich tragt. Dem 
provinziellen Richter ist nicht Europa und nicht die Geschichte mafi- 
gebend, sondern der Gemeinderat als sittliche Instanz. Und Gemein- 
derate (Manner, von denen die ganze deutsche Zylinderindustrie lebt) 
sind selbstverstandlich gegen Nacktheit. 

Nackt ist die Welt nur im Wannseebad und in einer gelegentlichen 
Liebesstunde. Wyneken war aber sogar nackt, als er die Ilias las. Viel- 
leicht hat er nackten Schiilern zugemutet. Hexameter zu skandieren! - 
Hier ist der Punkt, wo die Welt die Welt nicht mehr versteht: Die 
Wiirde des Menschen war in Wynekens Hand gegeben, und er hatte 
nur die Badehose an! Er wollte Jugendbildner sein - und er sah aus wie 
ein Schwimmlehrer! 

Es ist schwer, sich eine Wynekensche Stunde vorzustellen. Wenn ich 
an einen nackten Lehrer denken soil, steigt das Bild meines Geogra- 
phieprofessors auf, der in meiner Vorstellung als der Inbegriff lehrer- 
hafter Autoritat lebt. Er trug einen grauen SchlulSrock, und aus seiner 
oberen Rocktasche starrten bunte, gespitzte Stifte, gleichsam Speere 



I92I 645 

ier Wissenschaft, gegen die Saaldecke. Seine Hosen waren kurz und 
liefien peinlich gewichste Zugstiefel sehen. Seine Weste war kariert und 
>ah aus wie eine Landkarte mit Meridianen und Parallelkreisen, aus der 
kadte, Flufi, Wald und Berge wegradiert waren. 
Fiirchterlich der Gedanke, da6 dieser Lehrer nackt sein konnte! Dafi 
ch ihm jemals du hatte sagen konnen. Mein Geographieprofessor 
Dhne die Bleistiftspeere und ohne Landkarte auf der Brust! 
Es hat jeder von uns in seiner Vorstellung einen Geographieprofessor 
eben. Und wir wehren uns halb unbewufit gegen einen kleiderlosen 
Lehrer. Die Nacktheit hat nichtso sehr einen erotischen Beigeschmack 
mt einen lacherlichen. Die Vorstellung, dafi ein Lehrer sich seiner 
\utoritat und seiner Landkartenweste entledigt, um einen Schiiler, 
lessen erste Pflicht der Respekt ist, zu umarmen und gewissermafien 
lie Distanz totzudriicken, ist fiir eine in Kleidern erzogene Generation 
io grotesk, dafi sie eher an eine sitthche Verfehlung denkt. 
[n ihrer Offensive gegen Wyneken wird die Justiz von der Wissen- 
schaft unterstiitzt. Es gibt eine Wissenschaft von der »Inversion auf 
Diogenetischer Grundlage«. Die GleichgeschlechtUchkeit ist demzu- 
"olge naturgegeben. 

Manchmal wird namHch sogar die Wissenschaft hysterisch, und dann 
■ichtet sie noch mehr Unheil an, als wenn sie normal bleibt. Sie erhebt 
nne Vermutung zur Theorie, denn sie ist es sich schuldig, aus Theorien 
lu bestehen und nicht aus Vermutungen. Wenn sie einmal mit der 
Phantastik arbeitet, ist sie ihrem Ruf gemafi verpfhchet, diese zu heih- 
^en. Man sehe z.B. die Psychose der Psychoanalyse. 
Seiche Wissenschaften haben das Ungliick, als Begleiterscheinungen 
les europaischen Kaffeestillebens zu gelten und die Domane der Lite- 
ratur zu sein. Wer von den Mokkatrinkern hatte nicht schon »Trau- 
Tias« und »Komplexe« zu verzeichnen gehabt. Welches Literatenweib- 
:hen ist nicht uberzeugt, daf5 das Traumbild einer strickenden Grofi- 
nutter unbedingt mit ihrer Erotik zu tun hat? 

Popularitat ist den Wissenschaftlern, die kiihne sexuelle Probleme auf- 
vvirbeln, gewifi. Im Bewuf^tsein der Zeit, wenn auch vielleicht nicht im 
Bewuf^tsein der Richter, lebt die Theorie von der »naturgegebenen 
Gleichgeschlechtlichkeit«. Wenn selbst die Wissenschaft die harmlose 
Nacktheit nicht mehr gelten lafit, wie soil es der Gemeinderat? 



646 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Skeptiker spricht: Was soil uns Wyneken? Acht Jahre Nacktheit 
in der Jugend wiegen den Rest von fiinfzig Jahren im Bratenrock nicht 
auf. Der Jiingling, der in Wald und Feld sich zur inneren Freiheit her- 
angetummelt, mufi endlich in die Welt des aufieren Zwangs treten. Wir 
sind nicht Hellas! Uns leuchtet nicht die Sonne Homers, sondern das 
Karbid. Unser Lebenskampf ist »Konkurren2«. 

Der Glaubige juchzet: Heil wird der Welt geboren! Ein neuer Men- 
schenschlag erwacht! Es wird eine Welt aus Siegfrieds sein. 
Fiir die Skeptiker zeugt jener zwolfeinhalbjahrige Junge, der partout 
gegen Wyneken aussagte. 

Mir scheint, dieser Junge ist ein Problem. Ein zwolfjahriger Knabe, der 
die Autoritat seines Vaters miCachtet und der sich in der Rolle des 
Teufelsstiirzers gefallt, zeugt mehr fiir die Skeptiker, als alle gegen das 
Urteil erhobenen Proteste fiir die Glaubigen zeugen. 
In diesem zwolfjahrigen Knaben verkorpert sich die retardierende Ge- 
walt der Zylindertrager. Das Problem Wyneken steht hier nicht mehr 
zur Sprache. Hier ist die phanomenale Erscheinung eines Zwolfjahri- 
gen, uber den ein Reformer stolperte. 

In einem Knaben verdichtete sich der Protest der bestehenden Autori- 
tat. Mich interessiert das Schicksal dieses Zwolfjahrigen, Was wird aus 
ihm? Wen wird er ans Hakenkreuz nageln, wenn er erst erwachsen ist? 
Nun ist der Beweis da fiir den Untergang dieser Welt: Sie verjiingt sich 
nicht, sondern veraltet. Und schon sind die Vater kluger als die Sohne. 

Berliner Borsen-Courier, 4. 9. 1921 



KINDER 



Die Kinder sind in dieser Welt, in der die Erwachsenen so unwahr- 
scheinlich rasch iiberhandnehmen, das einzig Erfreuliche. In meiner 
Strafie spielen Kinder, und ich sehe ihnen zu: Sie beschaftigen sich 
nicht mit Psychoanalyse und Graphologie; nicht einmal einen »Kom- 
plex« haben sie. Von Traumas ganz zu schweigen. Sie lesen keine Neu- 
igkeiten und wissen nicht, wer Klante ist. Sie regen sich nicht auf, 
wenn eine Zeitung verboten wird. Es ist emporend, wie gleichmafSig 
sie Reifen spielen, wahrend man der offentlichen Meinung einen Maul- 



19 2 I 647 

iorb anprobiert. Ich glaube gar, sie ahnen nichts von der Geliebten 
R^oswolskys, die das grofite Werk des Jahrhunderts sein soil. Sie pfei- 
fen auf das Jahrhundert. Und sie haben keine Spur von Gesinnung . . . 
Dadurch unterscheiden sie sich in der Hauptsache und sehr vorteilhaft 
ran den Erwachsenen. Eine Gesinnung kann entweder sehr edel sein - 
and dann mufi man sie biifien. Oder sie ist gemein - dann biifit sie der 
mdere, Meist aber ist sie politisch, und dann biifien sie alle. Die Kinder 
laben keine Gesinnung und diirfen sich freuen. Sie sind nicht gesin- 
lungslos wie gelegentlich Erwachsene. Sie sind gesinnungsrem, 
Fraurig ist nur die Tatsache, daf^ die Kinder alter werden miissen, von 
jinem Beruf er^riffen und vom Leben eingetreten. Sie miissen eine 
^Generation* bilden, das heifit: aus der stillen Strafte in die Weltge- 
ichichte gelangen. Denn nur der Geschichte wegen werden Kinder ge- 
boren und weil die Historiker Epochen brauchen. Bei dieser Gelegen- 
lieit fallt manches fiir die Statistiker ab, die hocherfreut sind, wenn sie 
Geburtenzahlen berechnen diirfen. (Epidemien sind ubrigens auch was 
fiir Statistiker.) 

[hrer Pflicht eingedenk, wachsen die Kinder und lernen in der Schule 
Gedichte und Sprichworter. Zum Beispiel: Edel sei der Mensch, hilf- 
reich und gut! An guten Lehren mancher Art ranken sich die Kleinen 
iozusagen empor, bis sie endlich zur letzten Weisheit gelangen, nam- 
lich zum SchiefSpulver. Dann werden sie entweder Soldaten, oder sie 
begniigen sich mit der Ermordung eines Spaziergangers. 
S)7enn ich derlei denke, kann ich kein Kind mehr ansehen, ohne seine 
Zuruckentwicklung zu prophezeien. Ich fiirchte, dafi mir jener gold- 
blonde Knabe nach funfzehn Jahren im Buchladen begegnet, wo er 
binter einem mit Stimmungswachskerzen bestandenen Pult erlesene 
[o Doppelsinn!) Lyrik in den tantenbesaten Raum fallen lassen wird. 
Oder er konnte auch ein Magistratsschreiber werden in der Abteilung 
romisch IV, und seine Lebensaufgabe bestande darin, rationierte Dop- 
pelmilch gesegneten Frauen vorzuenthalten. Ich sehe schon, wie er 
ionntags, weit iiber seine Verhaltnisse hinaus im Bett liegend, den 
Hochzeitsmarsch zwischen pergamenten diirren Lippen zerpfeift und 
am Nachmittag mit seinem Madchen in den Grunewald zieht, der sau- 
ren Minne zu pflegen. Und ihr Kleid riecht nach Starke. 
Er ist ein Streber, er strebt der Sektion romisch XXVI entgegen, wo 
das Biiro einen roten, grungeranderten Teppich hat und an den Tiiren 
V^isitenkarten hangen. Diese Stellung ist mit einer Pension, einer le- 



648 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

bensianglichen, verbunden und einem um genau zwanzig Millimeter 
tieferen Grufi des Magistratsdieners, der Knutschke heifit und nicht 
anders. 

Was kann mein Liebling noch alles warden? Ein Staatsanwalt, der mich 
verurteilt? Ein Grenzrevisor, der mit zahlreichen Handen in meinen 
geheimsten Taschehtuchern nach Unmoralitaten stochert? Ein Schie- 
ber im Giirtelrock, der das Rot seiner knallenden Stiefel gegen meine 
Nase spritzt, wenn er mir in der Eisenbahn gegeniibersitzt? Dauerred- 
ner, Geheimspitzel, Madchenhandler, Heiratsvermittler, Geldverlei- 
her, Steuereinnehmer, Gemeinderat, Leichenbeschauer, Assessor, Fa- 
milienbadaufsichtsbeamter? Was wird aus meinem lieben, blonden 
Knaben? 

Und das braune Madchen, das die Schwester an der Hand fiihrt und 
das mir vor einigen Tagen sein neues Kleid zeigte und mich fragte, ob 
ich auch so schone Wasche hatte? Wird sie Beamtin im Telephonamt 
oder im Biiro der Stenotypistinnen? Und keines von den jungen, unge- 
duldigen, kleinen, weifibeblusten Madchen wird eine Viertelstunde 
friiher den Brief fortlegen diirfen, der mit den geschaftsdeutschen 
Wendungen anfangt: Wir bestatigen dankend und erlauben uns inlie- 
gend . . , Indes drauEen schon Heinrich wartet . . . 

In der »Salzburger Zeitung« las ich eine Geschichte, so wunderbar, 

dafi sie nur das Leben erfunden haben kann. 

Es ging ein Gendarmeriewachtmeister iiber Land, ein »Postenfuhrer«, 

und kam an einem kleinen See vorbei. Ein fiinfjahriges Madchen stand 

am Ufer und weinte, weil ihr Papierschifflein so weit hinausge- 

schwommen war. 

Da beging der Gendarmeriewachtmeister eine Pflichtverletzung, in- 

dem er seinen Dienstweg unterbrach, seine Riistung ablegte und ins 

Wasser sprang, um dem Madchen sein Papierschifflein zu holen. 

Ein giitiger Herrgott, dem es furchtbar fatal war, da£ in seiner Welt ein 

Edelmensch Gendarmeriewachtmeister sein mufite, des kargen Brotes 

wegen, bUes ein bifSchen in die Wellen, strudelte sie durcheinander. 

und der Gendarm ertrank, das Papierschifflein in der Hand. Man 

konnte ihn nicht mehr retten. 

Ich kann mir schon denken, dz& an jenem Tag ein Wanderer vielleicht 

beraubt wurde, weil der Weg unbewacht blieb. Aber was bedeutet ein 

ijberfall gegen die Heldentat des Gendarmen? 



19 2 1 649 

Er ertrank nicht wegen eines Uberseedampfers, nicht einmal eines 

Menschenlebens wegen. Sondern wegen eines kleinen Schiffleins aus 

Papier, dem ein kleines Madchen nachweinte. 

Was ist ein Held, der hunderttausend Feinde ertrankt, gegen diesen 

Wachtmeister? 

Seine Seele schwamm ins Paradies auf einem wunderbaren Wolken- 

schiff, ganz aus WeifS und Gold und Nichts. Ja, solche Gendarmerie- 

wachtmeister gibt es. Aber sie ertrinken gewohnlich. 

5ie konnen nur den kleinen Madchen begegnen, die mit Papierschiff- 

iein spielen oder neue Kleider anhaben. Mir begegnete einmal ein ras- 

selnder Polizeiunhold und legte mich fast in Ketten, weil ich keinen 

Pafi fiihrte und er mir meine Existenz nicht glaubte. 

Denn ich bin erwachsen. Ich beschaftige mich gelegentlich mit Psy- 

:hoanalyse und Graphologie. Nur auf Roswolskys Geliebte habe ich 

/erzichtet - ich bin beim »Faust« stehengeblieben , . . 

Berliner Borsen-Courier, 11.9. 1921 



REISE 



Die fremden Lander bliihen erst hinter den Grenzen auf, von ZoUrevi- 
joren bewacht, umrandet von PafSgesetzen, und die Feme, nach der die 
iehnsucht zielte, ist auch nur ein Staat mit Oberhaupt und Schutzpoli- 
^ei, Bevolkerungszuwachs und Steuerdeklaration. Hielt man einen 
;xotischen Laut fiir den Schrei der Sehnsucht, so war's bestimmt nur 
;in Pfiff der Lokomotive, Alle Bahnhofe der Welt riechen gleichmafSig 
lach Steinkohle und nicht nach Versprechungen. Der Expref^zug ist 
Jtickig, von schnarchenden Menschen erfiillt, die nicht aussehen wie 
Eleisende, nicht den Duft fremder Geheimnisse tragen, sondern But- 
:erbrot in fleckigen Taschen und Sef^hafte sind, alle Schwachen ihrer 
;rbarmlichen Menschlichkeit in dem Quadratmeter Coupe auspacken 
ind so nebeneinander haufen, dafi der Betrachter erschrocken in den 
[Corridor zurlickprallt. Ich sah eine wunderschone Frau in mein Abteil 
iteigen, und meine Seele erbebte. Am nachsten Morgen schlug sie die 
\ugen gegen das Gepacknetz auf, und ich blickte niichtern auf ein 
J^esen in weibUchen Kleidern, dessen Gesicht alle Folterqualen einer 



650 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

durchriittelten Nacht in seinen Ziigen trug. Der Wind, der durch dai 
offene Fenster kam, mischte Rufi und Puder durcheinander, und dei 
Schlaf lag wie Kleister in ihren Augenwinkeln. Wie mufite ich erst aus- 
sehen ! 

Ich kam in fremdes Land und driickte einem unbekannten Portiej 
mein Billett in die ausgestreckte Hand statt einer Visitenkarte, wie e; 
sich eigentlich gehort hatte. In der fremden Stadt sah ich griinpatiniert^ 
Kirchenkuppeln sich wolben und Kirchtiirme, die gotisch in den Him- 
mel turnten. Bettler lauerten vor den Kirchenturen und Bettlerinner 
mit Bartstoppeln, sozusagen schiecht rasierte Bettlerinnen. Sie lauerter 
den Giaubigen auf und liberfielen weiche Seelen mit einer frommer 
Litanei. Kinder, Greise und Frauen warfen den Bettlern Geld in der 
Schofi und dachten sich dabei: Gott sieht es. 

Ich schaute in fremde Biiroraume, und die Leute, die dort arbeiteten 
trugen Schutzarmel, schwarze, genau wie bei uns daheim. Blonde unc 
anders gefarbte Madchen safien liber Schreibmaschinen und dachten ar 
die sechste Stunde, weiche die Stunde der Erlosung fiir die Frauen die- 
ses Jahrhunderts zu sein pflegt. Aber es war erst nach zwei. Von einenr 
nahen Glockenturm fiel ein Viertelstundenschlag in den Biiroraum 
und die Madchen horchten auf, denn es konnte, wer weifi, ein Wundej 
sich ereignen und sechs schlagen. Aber als ware es bei uns, blieb e; 
hartnackig ein Viertel nach zwei, und die Madchen klapperten riisti^ 
weiter. Auch in den fremden Landern sind die Uhren seelenlose Ma- 
schinen. Und die Madchen werden es auch . . . 

Ich kam in ein Spiral, und es roch nach Kampfer und Jodoform, wi( 
alle Spitaler der Welt. Die Krankenschwestern flatterten mit breiter 
weifien Hauben wie mit gesteiften Fliigeln von Bett zu Bett, und di( 
Kranken stohnten so bekannte Laute, dafi es mir heimatlich wurde 
Offenbar, dachte ich, sprechen die Menschen nur dann fremde Spra- 
chen, wenn sie gesund sind. Aber der Schmerz ist die grofite und sieg- 
reichste Internationale und sein Ausdruck iiberall verstandUch wi( 
Musik. 

Die Arzte kamen in weil^en Manteln, ein bifichen blutbespritzt, au; 
dem grofien Operationssaal, wo sie einen einzelnen zum Wohle dei 
Gesamtheit gerade zerschnitten hatten. Der Kranke wurde hinausge- 
tragen, von zwei gleichgiiltigen und stammigen Wartern, und er laj 
noch im Dammer der Narkose, einen Schritt vor der Schwelle des Pa 
radieses, und in seinem blutlosen Gesicht lag die Seligkeit des Jenseits 



I92I 651 

A.lle Menschen sind gut, wenn sie tot sind, dachte ich. Bei uns daheim 
sehen die Toten auch so aus. 

/Vuch in den Garten der fremden Stadt war ich, wo die Liebe bliihte. 
Frauen und Manner gingen hier und saf^en zusammen auf den Banken 
und versicherten einander, dalS sie sich iiebten, was hochst iiberfliissig 
s^^ar, denn man merkte es ohne weiteres. Der Abend ging in den Alleen 
lin und her und wartete auf die Nacht wahrscheinlich. Ein Schutz- 
nann stampfte einher und bemerkte ihn gar nicht, obgleich es doch 
seine Pflicht ist, alles Verdachtige sofort aufzuschreiben. 
[n den Gast- und Kaffeehausern des fremden Landes flitzen die Kell- 
ler dienstbereit, in Erwartung des abgeschafften Trinkgeldes, durch 
die Reihen der Gaste, die trotzdem ungeduldig sind und gelegentlich 
nit den Eheringen ge^en die Glaser klopfen. Und daran erkennt man 
lie Verheirateten. Man kann Tee, Kaffee und Likor trinken, es 
jchmeckt manchmal anders als bei uns, aber wenn man bereits getrun- 
icn hat, ist es, als hatte man's zu Hause getan. 

Die Menschen sprachen anders. Die Hauser sahen anders aus. Es war 
iurzum ein fremdes Land. Aber was maEgebend ist und die Nationen 
ier Welt eigentlich reprasentiert, namlich die Grenzgendarmen und 
lie Zollwachter - sie sind hier und dort einander gleich. Sie haben alle 
Beutehande und tastende Blicke, die korperlich sind. 
[ch weifi nicht, was jemand zu erzahlen hat, wenn er eine Reise tut. Ich 
tonnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein. Wenn nur nicht 
lie Bahnhofe waren. Man giaubt, ein schriller Laut, der die Nacht 
lurchschauert, sei nur ein Pfiff der Lokomotive. Und es ist ein Schrei 
Ier Sehnsucht. Und wunderschone Frauen steigen gelegentUch zu 
nnem ins Abteil . . . 

Berliner Borsen-Courier, 2. 10. 1921 



PLUG NACH DORTMUND 



;ch suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den menschHchen Befor- 
lerungsmitteln; und finde das Schnupftuch, die Fahne des Trennungs- 
ichmerzes, die auch ein Passagier eines Aeroplans im Propellerwind 
lattern lassen muf^. 



652 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Als ich in das Flugzeug stieg, stellte ich mit irrtiimllcher Genugtuung 
fest, dafi sich die Eisenbahn iiberlebt habe — bis mein Reisegenosse, 
ein Kaufmann aus Krefeld, zu winken anfing. Keiner seiner Angehori- 
gen war auf dem Flugplatz zu sehen - aber er winkte. Woraus ich 
fiiglich schlofi, dafi in uns Passagieren das Fliegen ist und das Fahren; 
dafi also jemand in ein Flugzeug steigen kann, um sonnenaufwarts zu 
rattern, und es ist - als rollte er in einer Postkutsche. Und umge- 
kehrt . . . 

Sagte ich: »rattern«? So ist es! Steht es irgendwo gedruckt zu lesen, dafi 
ein Aeroplan aufschwebe, so nenn' ich's eine Liige. Er propellert sozu- 
sagen aufwarts. Die Luft ist das Hartnackigste der Elemente. Sie will 
Meter um Meter erobert sein. Man kampfte sich hinauf. 
Der Benzinmotor prustet; der Wind saust in den Gestangen; die Pro- 
peller rasen mit irrsinniger Geschwindigkeit; die Pneumatikrader 
driicken Gras und Boden wund; tausend eiserne Armchen und Hebel- 
chen arbeiten keuchend und verzweifelt, als wiirden sie bezahlt; kleine 
Rader schwitzen Ol. Und die Summe all dieser Leistungen bewirkt 
kaum, was das Fliigelpaar eines gemeinen Sperlings ganz selbstver- 
standlich tut. Wenn ich im Aeroplan sitze, bin ich demiitig, als ritte ich 
auf dem Giebel eines Schneckenhauses. Je hoher ich gelange, um so 
klarer wird mir meine UnzulangUchkeit. Eine Lerche sehe ich senk- 
recht abwarts schiefien. Was ist eine Lerche gegen den Geist des Me- 
chanismus, der mit mir fliegt? 

Noch eines ward mir unverstandlich, ich meine den Ikaros. Wie 
konnte er iibermiitig werden, wahrend er flog? Weder Vogel noch 
Wind, noch Wolke mufi ihm begegnet sein . . . 

Dennoch singt Triumph in meinen Adern. 

Es ist ein grofies Flugzeug der Deutschen Luftreederei auf einer weiten 

Wiesenflache. Der Pilot, der es lenkte, heifit: Kurt Ungewitter. Herrli- 

cher kann kein Pilot heifien. 

Kurt Ungewitter hat komprimierte Ozeane von Blaue und Ather in 

den Augen. Sein Haar ist glatt riickwarts gekammt und jederzeit so, als 

ware ihm eben die Pilotenhaube abgestreift worden. Er hat grofie, 

Starke und schone Hande. 

Er ist ein Flugmensch. Mehr als ein Tatmensch. Er vollfiihrt, was ich 

traume. Indes ich sinniere, fliegt er. Dieweil ich schlafe, erobert er 

Erobert er den Himmel, vor dem alle grofien Eroberer haltgemacht. 



1911 653 

Ihm ist die Metaphysik des Unbegrenzten physikalisch und selbstver- 
standlich. Ungewitter, ich beneide dich! . . . 

Das Flugzeug rollt erst mit grofiem Getose ein Stiick Wiese entlang, 
nimmt einen Anlauf wie ein Hochspringerund erhebtsich dann unmerk- 
lich. Schon bin ich zweihundert Meter hoch und weifi es nicht. Nun aber 
fallt mein Blick, erhascht noch den Wipfel eines Baumes, den Zipfel eines 
Waldes, das verkleinerte Bild eines Menschen, eines Artgenossen, der, 
wie ich vor einer Stunde noch, auf seinen gottgegebenen Beinen stelzt, 
indes ich, Ubergangsexemplar bereits, mit entlehnten Fiiigeln in eine 
angewisse Blaue husche, Mensch eines kiinftigen Jahrhunderts. 
Wenn ich die Augen schlieEe, fiihle ich, wie mein Korper alle kleinsten 
Bewegungsnuancen des Flugzeugs mitlebt, Mein Blut hat den Takt und 
ien Schwung der Propeller. Ich weite mich in der Maschine. Ich fiille sie 
lus mit meinem Leben. Meine Korperlichkeit nimmt der Maschine Di- 
nensionen an. Ich bin das Fliegende. 

Die Welt ist ein Croquis, eine Landkarte, eine vollgezeichnete Schultafel. 
DaE ich Meridiane und Parallelkreise nicht sehe, liegt nur daran, daf^ sie 
iiinne Striche sind. Felder schrumpfen ein wie trocknende Tiicher. 
Landstrafien ringeln sich, weifi, gelblich, schmal, bilden Dreiecke, Vier- 
;cke, Polygone. Ein weifies Pferd vor einem Wagen nimmt Form und 
3ewegung eines weifien Flohs an. 
Dh, welch ein Flohzirkus . . . ! 

xh fiihle, dafS ich fiir alle, die unten sind, kleiner und kleiner werde. Ein 
^unkt, von einer Feder gegen den Himmel gespritzt. Ich werde nichts 
md aufgesogen von der Unendlichkeit. 

3aE ich auch so teilen kann, ist wunderbar. Ich stehe gleichzeitig unten 
md oben. Meine irdische Vergangenheit lehnt sich unbewuEt auf gegen 
neine neue Tat. Ich kann mich gleichsam von unten beobachten. Denn 
est verbunden sind wir der Erde und ihr ewigUch anheimgefallen. Re- 
jenwiirmer sind wir, auch wenn wiruns Schmetterlingsfliigel ansteckna- 
leln. 

rgendwo geschah ein Ruck, eine kleine Schraube sehe ich hinabstoEen, 
vie eine erkaltete, finstere Sternschnuppe fliegen mag. Die Propeller 
>ewegen sich langsamer, indes unten ein Quadrathaufen von Mauern 
md Hausern auftaucht, ein gesetzmaftiges Gewimmel sozusagen, eine 
Itadt, Braunschweig, 



6$4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wir landen auf dem Flugplatz, horen nachste Gerausche wie aus seltsa- 

mer Feme, Worte klingen diinn, als waren sie hinter Glaswanden ge- 

sprochen, in den Schlafen hammern Propeller, die langst stille standen, 

ewigiich fort. 

Kinder staunen einen seltsamen Sagenvogel an und Ungewitter, der 

sich herausschalt aus grofien Filzstiefeln, schiank und entrindet wie ein 

Pfahl. 

In Dortmund war Grofiflugtag, und looM. kostete ein Flug von 20 

Minuten. 

Von alien, die sich zum Fliegen meldeten, bleiben zwei mir ewigiich im 

Gedachtnis: eine alte Frau und eine junge. 

Die Alte trug einen Reiherhut und war nicht gesonnen, ihn abzulegen. 

Sie kroch mit vieler Miihe an einer Leiter empor und in den Aeroplan. 

Der Hut schwankte indes wie ein Teller auf einem Rohrstabchen, und 

die Reiher straubten sich fiirchterlich im Winde. Aber die Alte flog mit 

gehifiten Seelensegeln. 

Die Jiingere war die Frau eines Lahmen, den sie im RoUstuhl fiihrte. 

Sie flog zwei-, drei-, viermal, indes der RoUstuhl mit dem Lahmen 

wartete. 

Ich sehe die Tage, die roUstuhldurchfahrenen, Ian gen, lahmen Tage 

dieser Frau. Heute entfaltete sie ihr Freiheitsbediirfnis, Ding, das sie 

war, Bestandteil eines RoUstuhles, Lokomobil eines lahmen Mannes. 

Und flog. 

Ich verstehe sie und die Alte. Sie wollen Triumphgesang horen in ihren 

Adern. 

Berliner Borsen-Courier, 4. 10, 1921 



NELSON-THEATER 



Uber die »Revue« des Nelson-Theaters, die sich »Bitte zahlen!« nennt, 
ist hier schon ausfiihrlich gesprochen worden. Es bleibt iibrig zu be- 
richten, daf^ in der am 4. Oktober stattgefundenen Premiere Direktor 
Darsteller und Autoren herbstblumenbekranzt am Schluf^ danker 
durften, dieweil das Publikum, die Revuegeniisse eben noch verdau- 



I92I 655 

end, verschwenderisch Beifallsbezeugungen austeilte. Die »Revue« traf 
namlich den Geschmack des Nelsonpublikums ausgezeichnet, indem 
sie Toiletten mit Chansons garnierte. Jene schienen mir vollends ge- 
lungen, diese nur zum Teil und insoferne sie von Teobald Tiger 
stammten. (Nebenbei gesagt: Er sollte seine poetische Fruchtbarkeit - 
iiber zwei Drittel der Chansons hat er besorgt - mit einem anderen 
Tiernamen decken; weder Panther noch Tiger sind so fruchtbar.) - 
Eine Uterarische Note versuchte Blandine Ebinger mit einem Wed- 
dingdirnenlied anzuschlagen. In dieser glanzenden, vom Wedding wie 
von Literatur gleich weit entfernten Atmosphare verhallte solch ein 
Ton selbstverstandlich. 

Berliner Borsen-Courier, 6. lo. 1921 



HEIMKEHR 



In der ganzen Nachbarschaft sind plotzlich die Gardinen von den Fen- 
stern verschwunden, und ich freue mich ob der sichtbar gewordenen 
Heimlichkeiten der vielen fremden Menschen, die mich gar nichts an- 
gehen und meine Nachbarn sind. 

Ober Nacht miissen sie gekommen sein, wie Zugvogel, deren Anwe- 
5enheit immer iiberraschend ist; Zugnachbarn sozusagen. Eines Mor- 
tens erwachte hinter der Tapetenwand, an der ich schlafe, eine Melo- 
dic, verworren noch und schlafrig, als ware sie mit dem Unken Fuf^ aus 
dem Klavier gestiegen. Es war eine Ubungsmelodie, und ich erkannte 
die vertraute musikalische Friihandacht einer Heimgekehrten, 
5eit jenem Morgen weiE ich, daf^ Fraulein Trude wieder da ist, und ich 
^estehe, dafi mich ihre Anwesenheit beruhigt. Es ist gesund zu wissen, 
laE sich in unserer naheren Umgebung keine aufregenden Ereignisse 
mllziehen, und insbesondere keine Umwalzungen. Wie leicht kommt 
IS zum Beispiel in den Bei^en vor, daE jemand abstiirzt oder sich ver- 
obt! Ich danke Gott, daf^ nichts dergleichen geschehen ist. . . 
jegeniiber in der ersten Etage ist auch die blonde Frau wieder am 
?^enster zu sehen. Frauen am Fenster sind immer anziehend, es ist, als 
viirden sie jemanden erwarten - und wer kann wissen, ob sie nicht 
nich erwarten? Sie sehen aus wie Gefangene, und ich darf mir einbil- 



656 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

den, dafi ich sie vielleicht, ja wahrscheinlich befreien werde, Ich Hebe 
Frauen am Fenster, und insbesondere die blonden. 
Aber eigentlich Hebe ich den Oktober, einen Monat, in dem die Ge- 
wohnheiten und GewohnHchkeiten wiederkehren, einen herrHchen 
Monat, gesetzt und ohne Phantastik. Ich weifi, dafi ich im Oktober 
niemanden befreien werde, und erkenne die realen Grundlagen der 
Welt und meines Lebens. Ich Hebe die Distanz von Fenster zu Fenster, 
weil sie die Erfiillung unseHger MogHchkeiten ausschHefit. Ich bin 
iiberhaupt sozusagen ein DistanzHebhaber. 

Hinter den geschlossenen Gardinen der fremden Fenster konnte Un- 
glaubHches geschehen. Gespensterwandel oder Einbruch oder ver- 
schwiegene Orgie. Es war unheimHch, geschlossene Fenster zu sehen; 
wie ein AnbHck gehender, aber zeigerloser Uhren oder die GeseU- 
schaft eines Taubstummen. Nun ist es mir bewufit, dafi nichts gesche- 
hen ist. Rote Kissen und weifie Bettlaken iiber fremden Fensterbret- 
tern sind sehnstichtigen Augen ein Labsal. 

Jeden Morgen geht der Beamte wieder seinen Weg ins Biiro. Er hai 
nicht einmal seinen Stock in der Sommerfrische vergessen, wo mar 
doch derlei zu vergessen pflegt. Im Gegenteil: Er klopft mit seinerr 
Spazierstock auf die Pflastersteine, als waren es grofie Zuckerwiirfe^ 
und als hatte er die Gewifiheit, dafi sie eines Tages ganz selbstverstand- 
lich auseinanderfallen werden. Die alte Dame mit dem Kapotthiitchen 
auf dem immer ein paar zerdriickte Glastrauben klimpern, trippeli 
wieder iiber die Strafie. Wie leicht hatte ein Windstofi, wie er in Kuror- 
ten so haufig aufzutreten pflegt, ein klimperndes Glastraubchen au; 
der Gesellschaft der iibrigen reifien und entfiihren konnen - hui, weii 
in einen schwaneberuderten Teich! Aber nichts dergleichen! Ein zufal- 
Hger Spiegel in einem Wartesaal zweiter Klasse oder ein gutmiitigei 
alter Herr hatte der Frau leicht sagen konnen, dafi sie ihren Hut hart- 
nackig schief aufsetzt und dafi das Leben keine Maskerade ist. Haber 
die Windstofie aufgehort? Sind in den Wartesalen die Spiegel abge- 
schafft? Haben die alten Herren aufgehort, gutmiitig und hilfreich zi 
sein? 

Ich kann auch nicht finden, dafi Fritz gewachsen ware. Unlangst ginj 
er mit seiner Mutter und woUte ein Reifibrett haben, Seine Mutter abei 
fragte mich, ohne an Reifibretter nur zu denken, ob ich nicht sehe, wi( 
grofi Fritz in den paar Wochen geworden sei. Ich sagte selbstverstand 
lich ja, aber ich log. Fritz wird wohl immer klein sein, ein Liliputane; 



I92I 657 

vieileicht und im besten Fall ein iiberaus kurzstleliger Mensch. Und er 
hatte doch wirklich wachsen konnen! Was haben denn Kinder sonst in 
den Ferien zu tun? 

Seit Jahr und Tag kommt der Herr mit dem grauen Pliischhut um drei- 
viertel zwolf nach Hause. Er war zwei lange, unerhort lange Monate 
fort, aber er kommt immer nach dreiviertel zwolf nach Hause. Es ist 
nichts veranderlich in der Welt, und das oberste ihrer Gesetze ist das 
Gesetz der Tragheit. 

Wie aprilhaft schienen mir Mensch und Ding noch im Juni, ehe jene 
Fenstergardinen sich schlossen. Ich erwartete, da£ der Herr mit 
Pliischhut schon um sechs Uhr, mogUchst vor Sonnenuntergang, zu 
Hause sein wiirde; da{^ Fritz, ein Dutzend Reifibretter unter dem Arm, 
lang wie ein Laternenpfahl, iiber die Straf^e stochern wiirde; dafi ein 
machtiger Sturm aile Glastrauben der alten Dame weit iiber fremde 
Lande getragen, in blaue Seen geworfen hatte und daf^ sie jetzt im Be- 
griff seien, iiber den grol^en Ozean zu schwimmen. Und ganz im stil- 
len hoffte ich, daf^ etwas passieren wiirde mit der blonden Frau am 
Fenster. So viele schone Manner wandern im Sommer durch die Welt 
und halten Auslug nach wartenden Frauen. Wozu hat uns der liebe 
Gott den Sommer geschenkt? 

Es ist gar nicht beruhigend im Oktober. Das Laub fallt mit einer un- 
glaublichen Sicherheit von den Baumen - und man konnte glauben, 
d-a& es ein gewohnlicher Herbst ist, ein Oktober, in dem sich die Welt 
auf ihre Niichternheit besinnt. Aber mir bleiben die Menschen ver- 
dachtig. Wo waren sie? Was trieben sie? Seltsame Gefahren haben sie 
vieileicht erlebt, und ich teile nur ihre WochentagHchkeiten. Die 
blonde Frau am Fenster verschweigt mir etwas. Manchmal glaube ich, 
einen fremden Schimmer um die alte Frau mit dem Kapotthiitchen 
spielen zu sehen, und - irre ich nicht - mengt sich eine seltsame Melo- 
dic in das Geklimper ihrer Glastrauben. Und vieileicht ist Fritz ge- 
wachsen? 

Berliner Borsen-Courier, 9. 10. 1921 



WELTGERICHT 



»Angesichts derSchwere 
der Verantwortlichkeit . . .* 



Casaren, Heerfiihrer und Politiker nennen das Weltgericht ihr zustan- 
diges Forum. Auf ihren Schultern ruhen die Tressen der Verantwor- 
tung. Voi^esetzter jener Menschen, die keine Vorgesetzten auf Erden 
haben, ist die »Weltgeschichte«, von der ein Dichter sang, sie sei das 
Weltgericht. Unerschiitterlich ist das Vertrauen der Menschheit in 
diese letzte und etwas spate Instanz. So unerschiitterlich, dafi sich die 
Welt freiwillig in Subordinierte teilt und solche, die der Weltgeschichte 
zur Verfiigung stehen, um von ihr gerichtet zu werden. 
Indessen ist die Weltgeschichte gewissermafien ein Nachnahme-Welt- 
gericht. Sein Urteil fallt, wenn der Angeklagte nicht mehr erreichbar 
ist; und dem geschehenen Unrecht bleibt nichts iibrig, als zum Him- 
mel 2u schreien. 

Es ergibt sich bei naherer Betrachtung, dafi die Weltgeschichte selbst 
aus jenen Ungerechtigkeiten zusammengesetzt ist, gegen die sie An- 
klage erheben soil. Sie ist ein juristisches Monstrum: Delikt, Staatsan- 
walt und voUziehende Strafgewalt in einem, 

Sie verkiindet ihr Urteil durch den Mund der sogenannten »Nach- 
welt«, die stets bereit ist, alle Ungerechtigkeiten, insofern sie alt sind 
und den Antiquitatswert erreicht haben, zu verdammen; und neue zu 
arrangieren. Das Urteil iiber die neuen pflegt die »Nachwelt« der 
»Weltgeschichte« zu iiberlassen . . . 

Was bedeuten der Weltgeschichte ein paar Jahrzehnte? Den hundert- 
millionsten Teil eines gottlichen Atemzuges. Sie bedenkt nicht, die 
Weltgeschichte, dafi sogar schuldige Politiker irdischen Gesetzen un- 
terworfen sind, einem langsamen Weltgericht sich durch Ableben ent- 
ziehen konnen und auf der grof^artigen historischen Weltanklagebank 
hohle Begriffshiilsen zuriicklassen, Schall und Rauch, was (ebenfalls 
nach einem Dichterwort) Namen bedeuten soil, 
Der saumige Brieftrager, der nur zwei Tage zu spat eine Postkarte zu- 
stellt, ist bei lebendigem Leibe erreichbar. Uber ihn hat Gott einen 
Postamtsdirektor gesetzt. Uber dem Postamtsdirektor hangt der Post- 
minister, und der ist wieder dem Reichstag Rechenschaft schuldig. 
Aber seht, der Reichstag selbst beschlofi die Funfundzwanzig-Pfen- 



I92I 659 

nig-Steuer fiirs Telephon - und wer richtet dafiir den Reichstag? Und 

gesetzt den Fall, ein Postminister ware absoluter Kaiser und sein Un- 

heil keine Telephonreform, sondern ein Krieg - er wiirde bestimmt 

dem »Weltgericht« iiberliefert. 

Doch fiirchtet ein Tyrann keineswegs ein Gericht, das den Beklagten 

nur auf eine einzige Weise verurteilen kann: namlich zeit seines Todes 

mit einem unangenehmen Attribut behaftet zu sein; zum Beispiel: 

Iwan, der Grausame; oder: Friedrich mit der leeren Tasche; oder Ka- 

tharina, die Blutige. 

Fiirwahr! Ein Schof fen gericht ist wirksamer denn ein Weltgericht! Der 

Schutzmann vom Potsdamer Platz kann mehr als die Weltgeschichte! 

Und deucht mich die Mitwelt auch nicht sehr vertrauenswert, haftbar 

ist sie eher als die Nachwelt. 

Wie ist also in den »offiziellen Kreisen« der Glaube aufgetaucht, dal5 

sich irgendein mit der europaischen Unordnung beschaftigter Rat »an- 

gesichts der Schwere der Verantwortlichkeit« nicht zu irgendeiner Sa- 

che entschlieEen konnte? Wen fiirchtet solch ein Rat? 

Das Weltgericht eben! Und diese Angst einer Vize-AUmacht vor 

einem langsamen Weltgerichte fordert Gelachter heraus. Und Protest: 

im Namen des Brieftragers. 

Diesen ereilt die Strafe fiir ein geringes Versaumnis sofort. Ein schuldi- 

ger Politiker darf in pensionsumfriedeter Stille an einer Verteidigungs- 

rede arbeiten, die er gar nicht mehr wird halten konnen. 

Uberhaupt ist die Weltgeschichte unzuverlassig. Von den Pharaonen 

liefi sie die grofiartigen Pyramiden stehen, aber der agyptischen Konige 

Edikte und Rankiinen sind vergessen. 

Oh, glaubten wir doch noch an den Teufel! Angst vor Beelzebub ware 

wirksamer als die Angst vor der Weltgeschichte. Der Teufel hat Flam- 

menzunge, Schweif und Horner und ist unentbehrlich fiir die Politik. 

Er konnte uns das europaische Gleichgewicht wiederbringen, das zu 

ihm gejagt wurde. 

Berliner Borsen-Courier, 16. 10. 1921 



MONDFINSTERNIS AUF DER STERNWARTE 



In herbstlichen Vollmondnachten soil der Mensch nach Treptow gehn; 
weil iiber dem Treptower See der sichtbare Atemnebel der Welt lagert, 
der in der Friedrichstrafie zum Beispiel noch niemals anzutreffen war. 
Wir aber gehen nach Treptow nur, wenn an mildem Sommersonntag- 
abend Tanzlust sich regt oder die Sternwarte eine Mondfinsternis ar- 
rangiert. Wir sind gebildet und imstande, die kosmischen Begebenhei- 
ten Gott sei Dank an authentischen Orten wahrzunehmen. 
Gestern nacht gelang es der Erde, sich undankbarerweise zwischen 
Sonne und Mond zu schieben, so, dafi ihr Trabant fast ganz erlosch. 
Hieraus ist zu sehen, dafi wir Menschen unsern anfechtbaren Charak- 
ter von unserer Mutter Erde beziehen, dieser Jammerkugel, und dafi 
daran leider nichts mehr zu andern ist. Wir haben eine geradezu kos- 
mische Unanstandigkeit. 

Auf der Dachterrasse der Treptower Sternwarte standen viele Fern- 
rohre und sehr viele Menschen, Sie klappten einen - gewohnlich den 
rechten - Augendeckel zu, hielten zur Sicherheit noch die Hand darauf 
und blinzelten mit dem linken Auge gegen den Mond, der im Fernrohr 
runzlig ist wie eine weifilackierte Pomeranze. 

Der Kegelschatten unserer miserablen Erde bifi sich inzwischen hart- 
nackig und gefrafiig vom rechten Rand aus in die Mondscheibe, wie 
Fritz in ein Butterbrot. Der Herr Direktor Archenhold flatterte in 
einem dunklen Lodenmantel iiber die schmalen Treppen zum grofien 
Fernrohr und erlauterte das Ereignis. Er sah sehr schon aus, der alte 
Professor Archenhold: Sein Haar war sehr weiE, als hatte es das ganze 
bedrohte Mondlicht eingefangen. Er stand am Fernrohr, zwischen ei- 
sernem Gestange, ein Kapitan auf der Kommandobriicke, und es war, 
als kommandierte er den Erdschatten. Zum Schlufi geiang es ihm, den 
Mond aus seiner fatalen Lage zu befreien, 

Wahrend die Welt immer dunkler wurde und die Rander des Mondes 
sich roteten, die Menschen auf der Terrasse gespenstisch aussahen wie 
ein Haufen Heimatloser, Ungliickiicher, um den teuren Mond klagen- 
der Wilder - weder Kleidung noch sonstige Kultur war an ihnen zu 
sehen (wegen der Dunkelheit) -, gedachte die Natur mit Dankbarkeit 
des Films und der Regisseure, ohne die ihr ein solch Spektakel niemals 
ganz gelungen ware. 



1921 66i 

Erschiitternd wirkte auf mich die plotzliche Begegnung mit zwei 
Briefmarkensammlern, die wegen des Kellnerstreiks zur Mondfin- 
sternis nach Treptow gekommen waren. Wahrend sie die schmale 
Wendeltreppe zum grofien Fernrohr emporstiegen, sprachen sie von 
der Uberfliissigkeit ungestempelter Briefmarken eines neuen Staates 
und raschelten mit Papierschnitzeln erfolgreich in den Weltenraum 
wie in einen blauen Aschenbecher. 

Also bewiesen sie die anthropozentrische Weltanschauung. Und der 
gesamte Kosmos suchte vergeblich nach einem Wolkentaschentuch, 
um sein AntUtz darein zu verbergen. 

Berliner Borsen-Courier, 17. 10. 1921 



»SATAN, FREIHEIT, REVOLUTION« 



So lautet der Titel eines Vortrags, den am 17. d.M. im Bliithnersaal 
Herr Hanns Heinz Ewers redete. Herr Ewers hatte ebensogut von 
»Beelzebub, Hexensabbat und Walpurgisnachten« reden konnen. 
Oder von »Hufeisen, Pentagrammen und Vampiren«. Hanns Heinz 
Ewers ist namlich beeideter Sachverstandiger fiir GruseUgkeiten, ein 
literarischer Hexenkiichenjunge, der nebenbei ein Flei£aufgabe-In- 
teresse fiir menschHche Pikanterietriebe beweist. Ein Dichter fiir die 
reifere Halbwiichsigkeit, der sein Publikum nicht aus den vertrete- 
nen Kinderschuhen kommen lal^t. Die Erscheinung des vortragen- 
den Ewers: eine kerngesunde Belanglosigkeit in Dekadentengewan- 
dung. 

So angetan, versuchte Ewers den Titel seines Vortrags mit drei von 
Kant gelegenthch genannten Begriffen: Gott, Freiheit, Unsterblich- 
keit, in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Im Laufe der 
Vorlesung gelang es Ewers, Gott als die Macht fiir Mittelmaf^igkeit 
und Masse seinen Horern darzubieten, Satan als den Gott der 
Freien. Aber am Schluf^ erwies es sich, dafi der Gottglaube im we- 
sentlichen dem Satansglauben gleich sei. Also der Glaube an Moralin 
und spiefibiirgerhch »Gutes« gleich dem Glauben an das absolut 
Gute der Freien. Goethe wurde »Revolutionar«, sein »Prometheus« 
zum Revolutionshed von Ewers ernannt, anstelle der Marseillaise. 



662 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Fiir die Revolutionare im sozialen Sinn hat Ewers nichts iibrig. Sie, 

behauptet er, kampften nur im Namen des »guten Gottes« der Mittel- 

mafiigkeit. 

Der Applaus der zahlreichen Ewersleser war gewaltig. 

Berliner Borsen-Courier, 23. 10. 1921 



SCHILLERPARK 



Der Schillerpark eroffnet sich unvermutet im Norden der Stadt, eine 
iiberraschende Kostbarkeit hinter dem Alltag nordlicher Schultheifie 
und Patzenhofer: ein Park im Exil. Er sieht aus, als ware er einmal im 
Westen gewesen und als hatte man ihm, anlafilich seiner Verbannung, 
seinen Schmuckteich genommen und die Edelschwane und das Wet- 
terhauschen mit Barometer und Sonnenuhr. 

Geblieben sind ihm die Trauerweiden und sein Gefolge, die Parkwach- 
ter. Das sind schweigsame und wahrscheinUch wertvolle Menschen, 
weil sie keinen seelenverderbenden Beruf haben. Sie sind die einzige 
harmlose Polizei in dieser Welt, von Gott und dem Magistral einge- 
setzte Warnungstafeln, die vor Langerweile plotzlich ihren Standort 
verlieEen und in den Alleen auf und ab zu wandern anfingen. Auf 
ihren Gesichtern steht die verwitterte Inschrift: Burger, schlitzet eure 
Anlagen — und die Weidenruten, die sie in Handen halten, sind ge- 
wissermafien wedelnde und sanfte Rufzeichen. Die Parkwachter sind 
iibrigens die einzigen Lebewesen, die befugt sind, den Rasen zu zertre- 
ten. 

Ich wiifite gerne, was die Parkwachter im Winter tun. Undenkbar fast, 
dafi sie jemals den Park verlassen und in einer Kuchenwohnung hausen 
mit Weib und Kindern. Sie hiillen sich vielleicht in Stroh und Lappen, 
und die Voriibergehenden halten sie fiir Rosenstocke. Faune aus Mar- 
mor oder erzene Brunnenengel. Oder sie graben sich fiir den Winter 
ein und ersprief^en dann im Lenz mit den Primeln und den ersten Veil- 
chen. Dafi sie sich von Hagebutten nahren wie Waldwesen, habe ich 
selbst gesehen. Wenn man sie fragt, besinnen sie sich lange, ehe sie eine 
Antwort geben. Es ist immer ein Stiick Einsamkeit um sie, wie um 
Totengraber und Leuchtturmwarter. . . 



19 2 1 66} 

Die Menschen, die in der Gegend des Schillerparks leben, miissen an 

jedem Vormittag arbeiten. Deshalb ist der Schillerpark genauso men- 

schenleer, wie wenn es verboten ware, ihn zu betreten. Nur selten 

tropft ein Arbeitsloser durchs Gehege. 

LJnd zwei Madchen, siebzehnjahrig und naturbeflissen, wandeln durch 

seine Allee, Das sieht aus, als vermochten Birken plotzlich zu wan- 

dern. Die wirklichen Birken aber sind festgewurzelt und diirfen sich 

Qur in den Hiiften wiegen. 

Die Kinder kommen um drei Uhr nachmittags mit Schaufeln, Spaten 

and Miittern. Sie legen die Mutter auf den breiten, weifien Banken ab 

and trippeln zum Sandplatz. 

Den Sand hat der liebe Gott eigens flir die Kinder erfunden, auf dafi sie 

in weiser Ahnungslosigkeit des Spiels Zweck und Ziel irdischer Tatig- 

keit versinnbildlichen. Sie schaufeln den Sand einer Stelle in einen 

Blecheimer, schleppen ihn an eine andere Stelle und schiitten ihn hier 

aus. Dann kommen andere Kinder und schaufeln den aufgehauften 

Sand wieder dorthin, woher er stammte. 

Qnd das ist das Leben. 

Die Trauerweiden dagegen erinnern an den Tod. 

Me sind ein bifichen willkiirlich und iibertrieben, immer noch griin 

^nmitten herbstlichen Farbentohuwabohus, und sie haben ein mensch- 

[iches Pathos. Die Trauerweiden hat Gott nicht von Anbeginn erschaf- 

Fen, wie Haselstraucher etwa und Apfelbaume, sondern nachdem er 

iich entschlossen hatte, die Menschen sterben zu lassen. Sie sind gewis- 

sermaf^en sekundare Baumerscheinungen, Flora mit Intellekt und Be- 

wufttsein fiir Zeremonielles. 

A.uch im Schillerpark fallt das Laub herbstgemaf^ von den Baumen, 

iber es bleibt nicht liegen. Im Tiergarten zum Beispiei darf ein wehmii- 

:iger Wanderer im Laub geradezu waten. Das verursacht ein poetisches 

Rascheln und macht die Seele schwer. Im Schillerpark aber sammeln 

die Weddingmenschen jeden Abend das Laub und trocknen es und 

leizen damit im Winter. 

Das Rascheln ist ein Luxus; als ware Poesie ohne Zentralheizung na- 

:urwidrig. 

Die Hagebutten sehen aus wie kleine, rote Likorflaschchen zu Rekla- 

nezwecken. Sie fallen ganz umsonst von den Baumen und werden von 

len Kindern gesammelt. Die Parkwachter sehen solchem Gehabe ru- 



664 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hig 2u. Man hat Vertrauen zu dem Herrn, der die Wachter auf dem 
Felde speist und mit Magistratskappen kleidet. 

Berliner Borsen-Courier, 23. 10. 1921 



DIE WELT OHNE ERSTE 



Der Verkehrsminister wird nachstens die erste Wagenklasse aus den 
Eisenbahnziigen entferneri. Es wird nur noch Zweite, Dritte und 
Vierte geben. Das ist ein gekopftes Zahlsystem. 
Das ist ungefahr so, wie wenn die Schopfungsgeschichte anfangen 
wiirde: Am zweiten Tage schuf Gott . . . Der erste ist gar nicht geschaf- 
fen worden. Der Hebe Gott begann sein Schaffen, indem er abschaffte: 
den ersten Tag namlich. Den gibt es nicht. Das ganze so unerhort re- 
spektable Geschlecht der ersten Erscheinungen ist fort. Es gibt nicht 
nur keinen Anfang, sondern auch kein Anfangen mehr. 
Das ist eine Entdeckung, welche die Welt auf den Kopf stellen wiirde, 
wenn sic nicht eben durch diese Entdeckung gekopft wiirde. Die Rela- 
tivitatstheorie ist gewifi nicht imstande, feststehende Begriffe so heftig 
umzustofien: Es macht kein Kind mehr einen ersten Schritt; es hat kein 
Mensch einen ersten Erfolg, eine erste Enttauschung, eine erste Lei- 
denschaft. Es ist alles Wiederholung. 

Schon iiber Stadt- und Untergrundbahn diirfte sich wundern, wer 
fremd war; und wer einheimisch war, auch. Aber es war doch noch 
wenigstens das Bewuf^tsein von der Existenz einer ersten Wagenklasse 
bei der Eisenbahn iiberhaupt da. Dieses wird nunmehr verschwinden. 
Das Wissen um die erste Wagenklasse war's. Es war ein Glied in der 
Luxus-Traumstelle des Emporstrebenden. Es war eine charakteristi- 
sche Nuance des Wohlergehens. Es war eine Sprosse in der Amtsspra- 
chentonleiter des Schaffners. 

In der Vierten sagte er nur: »Die Fahrkarten, bitte!« - In der Dritten: 
»Bitte, die Fahrkarten !« - In der Zweiten: »Guten Tag! Jemand einge- 
stiegen?« — 

Aber in der Ersten schob er behutsam die Tiir zuriick und sprach zu 
dem einen Herrn, der die Erste gewohnUch ausfiillt: »Guten Abend! - 
Bitte die Herrschaften um die Fahrkarten!«- 



I92I 665 

Und dann stellte es sich heraus, dafi dieser Pluralis maiestaticus ein 

Attache war oder sonst ein Freikartenbesitzer. 

Diese erste Wagenklasse brauchte ja nicht niitzlich zu sein! Sic sollte 

nur dasein: das Symbol Ats Unerreichbaren, der Duft einer pliischro- 

ten Vornehmheit . . . 

Es erwies sich, dafi selbst jene, die imstande gewesen waren, sich die 

Vornehmheit zu kaufen, darauf verzichteten. Also ist die Erste iiber- 

fliissig. Sie starb an der vornehmen Blutleere. Sie ward immer unirdi- 

scher. 

Gebheben ist die Zweite. Sie ist jetzt Erste. Und wer will, kann darin 

ein Symbol fiir die Relativitat der Erscheinungen sehn. Sie heifien nur 

verschieden. 

Berliner Borsen-Courier, 24. 10. 1921 



TIERE 

RUckkehrin den Zirkus 

Im Hagenbeck-Zirkus kann man wilde Tiere sehn, gezahmte Domp- 

teure und applausfressende Clowns. 

Die kaukasischen Baren tragen ihre Krallen in gefiitterten Handschu- 

hen. Die Eisbaren trollen in weifien Winterkostiimen. AUe Baren zei- 

gen den seltsamen Ehrgeiz, aufrecht zu gehen auf zwei Beinen, um die 

Ehre der Tierwelt vor dem Parkett zu retten. Das gelingt ihnen voll- 

ends, wenn sie einen Foxtrott tanzen. Die Menschen im Parkett brum- 

men, um auch nicht zuriickzustehen. 

Die Baren sind sehr musikalische Tiere. Sie fallen nie aus dem Takt, 

nur die Kapelle tut es manchmal. Das aber sieht man gar nicht, weil die 

Musik hoch oben sitzt und Spharentangos erklingen lafit. 

Wenn die Baren aus der Arena kommen, fallen sie wieder auf ihre 

Vorderfiifie, sie bummeln auf alien vieren in den Kafig zuriick und 

versinken in Vierfiifilertum, als gabe es iiberhaupt keine Kultur und 

keinen Jazzband auf der Welt. 

Da sind zum Beispiel die Lowen ganz anders: Sie wissen genau, dafi sie 

die Konige der Tierwelt sind, als batten sie die Fabeln von Lafontaine 

und Emanuel Geibel gelesen, und sie wissen, was sie der Literatur und 



666 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sich selbst schuldig sind. Sie recken ihre wunderschonen Schweife mit 
den Quasten und lagern sich malerisch wie Bettvorleger. Aufierdem 
hocken sie wiitend auf hohen Postamenten wie doppelte Buchhalter 
auf Kontorstiihien und weigern sich, iiber einen Halbreifen zu sprin- 
gen, Der Dompteur hat einen blinkenden Revolver und eine Peitsche. 
Die Lowen zahmen ihn mit einem BUck. Dann streckt er den Revolver 
vor, um den Lowen zu beweisen, dafi schliefilich wir das Schiefipulver 
erfunden haben. Das wird gebiihrend anerkannt, und die Reputation 
der Menschheit ist wiederhergestellt. 

Mit den Berberlowen ist auch eine mannliche Gourvernante gekom- 
men, ein dunkelhautiger Berber mit einem Zopf und einem guten 
Hausvatergesicht. Ein Clown wickelt ihm gelegentlich den Zopf auf, 
und der Berber lachelt iiber so vie! europaischen Geist. Er hort das 
Publikum briillen, und ihm ist sehr heimisch zumute. 
Die bengalischen Konigstiger haben entschieden etwas von Feuerwerk 
in ihrem Wesen (was sich schon in ihrem Namen ausdriickt). Sie solien 
durch einen Reifen springen und wundern sich, dafi die komplizierten 
Menschen so einfache Leistungen sehen woUen. Manchmal denkt sich 
ein Tiger: Warum durch einen Reifen? Ich kann durch zehntausend 
Wustenmeilen springen, und keiner klatscht Bravo. Die Menschen 
sind sonderbare Fleischfresser! 

Wenn es dem bengalischen Konigstiger schon zu langweilig geworden 
ist, erweist er dem Publikum den Gefallen und springt durch den Rei- 
fen. Dabei entbloEt er ganz deutlich den Hinterteil seines Korpers - 
der sehnig ist und spriihende Muskeln hat - und denkt sich nichts 
Boses dabei. Er hat nicht den geringsten Respekt vor der Menschheit. 
Vielleicht ahnt er gar nicht, dafi ihr ein strenger Sachverstandiger der 
Nacktheit wie Professor Brunner angehort? Die bengalischen Konigs- 
tiger sind sehr zuriickgebHeben in der Kultur. 

Die Elephanten aber wandem schon ganz haarlos und unzensuriert 
durch die Arena. Man hat ihnen die Stof^zahne schon weggenommen, 
weil die Menschen Zigarrenspitzen, Papiermesser und Aschenbecher 
brauchen. Sie haben nur noch die Riissel behalten. Sie benehmen sich 
kindisch wie Sauglinge, und das Parkett freut sich, daf^ es schon so 
erwachsen ist. Sonst sieht es keinen Unterschied. 

Berliner Borsen-Courier, 3. 11. 1921 



LEBENSFREUDEN 

/. Premiere 

>tatt »Premiere« sagt man auch »Erstauffuhrung«, aber das ist lange 
licht dasselbe. Es ist ein Unterschied wie zwischen »Saison« und »Jah- 
-eszeit«. 

[n dem Wort: Premiere liegt die ganze Feierlichkeit einer Erstauffiih- 
"ung, das feingekleidete Parkett, die umfassende Urteiisfahigkeit der 
^ritiker und die feiertagliche Seele des Dichters. »Die Premiere« ist ein 
;vallendes Wort, sozusagen eine seidene Wortrobe. 
^ur Premiere kommen nur die Sachverstandigen mit Straf^en-, Stadt- 
ind Untergrundbahn, denn ihnen ist das Ganze eine Erstauffiihrung. 
Das sachunverstandige, aber verstandnisinnige Publikum der Logen 
jnd Orchesterstiihle rattert in Autos heran, die gewohnlich lackiert 
;ind. Das erhoht den Kunstgenufi. 

Vlan muf^ wissen, dafi man bei einer Premiere ist; sonst glaubt man 
eicht, das Stiick schon irgendwo gesehen zu haben. Oder man ver- 
;vechselt es mit einem alten. Bei dem ansehnlichen Alter, das die Lite- 
-atur schon erreicht hat, und bei der enormen Dichterzahl, der sich 
Europa nicht erfreut, ist es natiirlich schwer, lauter ganz neue Stiicke 
^u finden. 

3ei Premieren sitzen (in den mittleren Reihen) die Mutter jungerer 
jchauspielerinnen, die NebenroUen haben. Diese Mutter sind an einem 
?laid erkennthch, das sie auf dem Arme tragen, um keinen Preis der 
^eh in der Garderobe abgeben und nach der Vorstellung ihren Toch- 
;ern zum Biihnenausgang bringen. Die Mutter sind sehr erhitzt und 
jrauchen das Plaid fiir sich selbst. Aber sie tragen's nicht. 
)o ist die Mutterliebe. 

Die Schauspielerinnen verlassen sich auf ihre Weiblichkeit, wenn ihr 
Talent versagt. Sie halten die Kritiker durchaus fiir Wesen mannlichen 
I^eschlechts. Aber diese Sorglosigkeit ist nicht immer zuverlassig . . . 
Die Pause findet gewohnlich nach dem zweiten Akt statt - und da 
veif^ man schon alles. Dennoch sieht man auch noch den dritten und 
;rlebt die Uberraschung, daf^ der Dichter auf die Biihne gezerrt wird. 
iein Anblick mildert das Urteil der Zuschauer. Demzufolge konnte 
nan sagen: Ein lebender Dichter ist ein halber Erfolg. Die meisten 
ebenden Dichter haben auch halbe Erfolge zu verzeichnen. 



668 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Claqueure sind im Saal verstreut wie Konfetti. Sie sind einerseits 
bezahlt und leben davon. Andererseits gehoren sie der kunstsinnigen 
Gemeinde der Direktionsvertrauten an und klatschen aus Begeisterung 
fiir eventuelle Vorteile. Sie sind sozusagen Kliqueure. Es klatscht aus 
jedem Winkel, und das Gerausch beeintrachtigt die Urteilskraft. 
Die Kritiker stopfen sich Berufswachs in die Ohren und urteilen. 



//. Bar 

In der Bar ist die Musik gedampft wie das Licht. AUe Klange haben 

rote Lampenschirme aufgesetzt. 

Hinter dem Bartisch wachst aus der Mitte von Flaschen und Likorgla- 

sern eine hochfrisierte Blondine empor wie eine Reklame. Sie hat sich 

ein siifSes Lacheln angezogen, das sie zu Hause ablegt zugleich mit dem 

Korsett. 

Die Tische sind klein und die Preise grofi. Sie sind auf einer schlanken 

Papiertafel verzeichnet, aber man liest sie erst, wenn man im Begrifl 

ist, sie doppelt zu sehen. Von dieser wunderbaren Eigenschaft dei 

Menschen konnen die vielen Bars lange Jahre leben. 

Die Kellner sind giattrasiert und verschwiegen. Sie miissen iiber alk 

schlechten Witze iacheln, die man ihnen mit einem Trinkgeld zw 

schenken pflegt. Und die Menschen machen sehr schlechte Witze. 

In der Bar sieht es auch um acht Uhr abends aus wie nach der Pohzei- 

stunde. Die Atmosphare ist geheimnisvoll. Siifie Gefahr Uegt in dei 

Luft. Und man fiirchtet sich nicht. 

Die Likorglaser sind schlank und kostbar wie geschUffene Jungfrauen, 

Sie zerbrechen haufig mit einem wundersamen Geklirr; man mochtt 

ihnen auf der Stelle nachsterben. 

Aber es gibt sehr viele Likorglaser auf der Welt. 

Die Herren mifihandeln ihre Augenhohlen mit Monokeln und setzer 

sich auf die hohen Postamente vor dem Bartisch, daft sie aussehen wi^ 

Monumente. Ihnen wird nie die Nachwelt eines setzen - sie kommer 

ihr zuvor. 

Geldgewinnend lachelt die Bardame. 

Die Musik spielt einen rotlich gedampften Foxtrott. Zwei Paare tanzer 

in der Mitte und kosten einen Vorschuf^ auf die SeUgkeit. Sie lacheln 

und reden nichts miteinander, sie hangen irgendwie mit dem Fiedelbo- 



1921 66^ 

gen des Primgeigers zusammen, der schwarzes, glattgescheiteltes Haar 

hat und eine Vergangenheit vorzutauschen versucht. 

Er sieht aus wie ein Spanier, von einer nordlicheren Gegend kann 

keine Rede sein. Der Klavierspieler ist miide und manchmal bebrillt, 

verheiratet und Vater. Er arbeitet viel und miihsam und hat kein Inter- 

esse fiir Foxtrotts. Seine Finger wissen nichts von seiner kummervollen 

Seele, als hatte er sie angezogen, ehe er sich ans Instrument setzte, wie 

fremdes Handwerkszeug. 

Gott Hest in der Seele des Klavierspielers und lafit die PoUzeistunde 

hereinbrechen. 



///. Variete 

Fiir »Variete« ist kein deutsches Wort gefunden worden. Man kann es 
ebensowenig iibersetzen wie »Pikkolo«. 

Man konnte es vielleicht »Vermischtes« nennen, aber das khngt belei- 
digend und - was noch schlimmer ist: sachUch. 

In dem Wort Variete fiihlt man das » Amusement* voraus, dafi auch 
nicht ganz »Unterhaltung« bedeutet. »Variete« ist ein flitterbehange- 
nes Wort. Die ganze Welt unbegrenzter Moglichkeiten driickt es aus. 
Es dehnt sich in der letzten Silbe, straff und elegant wie ein gespanntes 
Silberseil. Scheinwerfermystik liegt in diesem Wort. 
Zu den unverwiistlichen Bestandteilen jedes Varietes gehort ein Hu- 
morist, der vor geschlossenem Vorhang aufgeht wie ein Mond am 
Himmelsrand. Der Humorist redet flief^end in Kniittelversen und ver- 
schiittet Schiittelreime so zwanglos, als ware die gebundene Rede seine 
Muttersprache. 

Sehr beliebt ist ein Nackttanz als Mittelpunkt. Ein beweglicher Mittel- 
punkt sozusagen. Die Nackttanzerinnen haben verhei£ungsvolle 
Schleier an, deren Rander so kunstvoli hergestellt sind, da£ sie altere 
und wohlhabende Herren in der ersten Reihe im Voriiberfliegen strei- 
cheln. 

Nackttanze gehoren zu jenen verbotenen Auffiihrungen, iiber die 
man, der Natur der Sache gemafi, hinwegschwebt. Der Herr Professor 
Brunner wird dereinst von der Kulturgeschichte in einem Atem mit 
den Nackttanzen genannt werden, obwohl er noch nie auch nur einen 
einzigen gesehen hat. 



6/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Im Variete sind die Kellner weiEgekleidet und gehen bierspendend 
durch die diirstenden Reihen. Indessen tritt oben ein Clown auf, der 
gewohnlich einen danischen Namen tragt und die einfachsten Lebens- 
aufierungen wie Atmen, Gehen und Stehen mit sehr viel Kunst kom- 
pliziert, 

Er wendet ein Hochstmafi von Klugheit an, um wie ein Idiot zu wir- 
ken. 

Hinter ihm erklettert ein Trikotmensch eine schwankende Stange, 
ohne jeden andern Zweck als den, »der Mann auf dem Bambusrohr« 
heifien zu konnen. Solange er oben ist, halt die Musik den Atem an, als 
machten die Instrumente Lungengymnastik. 

Ihre zuriickgehaltenen Gerausche brechen los, wenn der Mann wieder 
unten ist, und verursachen einen »Tusch« wie beim Geburtstag eines 
Veteranenhauptmanns. 

Zu den ausiibenden Variete-Kiinstlern gehort seit einiger Zeit der Ele- 
phant, der mit dem Riissel trommelt, als hatte er ihn zu diesem Zweck 
bekommen. Die modernen Elephanten werden von Damen erzogen, 
die einen Turban tragen und grofie Goldringe in den Ohrlappchen. 
Das sind die Elephantennursen. 

Das Variete ist ein zwangloses Theater, was schon die Kellner mit dem 
Bier beweisen. Es gibt Spannung statt Andacht. Es ist eine Art zwang- 
loser Kunsttempel. Wahrend der Vorstellung darf man sogar Schrip- 
pen essen wie in der Theaterpremiere. 
Hier schliefit sich der Ring. - 

Berliner Borsen-Courier, 6, ii. 1921 



WILDE BUHNE 



Das literarische Kabarett Berlins fangt hier an, sich eine eigene Physio- 
gnomic zu schaffen. Noch ist jede einzelne Nummer ein Versuch. 
Noch schwankt man zwischen Wedding und Montmartre und schlagt 
zwischendurch einen harmloseren Ton an, den das Publikum auch 
gerne hort. Aber aus all den gepfeffert-erotischen, sozial-revolutiona- 
ren und anspruchslos-heiteren Elementen entwickelt sich deutlich ein 
eigener deutscher Kabarettstil, weniger akademisch als der Mont- 



I92I 671 

martre und dennoch literarisch wertvoll. Er bleibt der Wedekind-Tra- 
dition treu, ohne in ihr zu erstarren. Das deutsche Kabarett mufi sich 
nun endlich entschliefien, den didaktischen Ton abzulegen. Das Ka- 
barett ist pointierte offentliche Kritik, wie ein llterarisches Witzblatt, 
und keine Besserungsanstalt. 

Dem Novemberprogramm der »Wilden Buhne« verleiht Leo Heller 
mit einigen Liedern aus der Welt des Nordens einen chrakteristischen 
Zug. Die »BerIiner Moritat« zum Beispiel, die Annemarie Hase zu 
einem scheufilich mifStonigen Leierkasten mit ironischer Realistik 
singt, hat alle Kennzeichen eines guten »Weddingliedes«. Es ist nicht 
stilisiert, sondern wahr. Es ist ohne Tendenz. Es trifft, ohne zu zielen. 
Trude Hesterberg singt das »Borsenlied« von Walter Mehring. In die- 
sem Lied ist schon der Krampf des Autors zu sehn: Er will unbedingt 
»der Zeit ihren Spiegel vorhalten«. Er iibertreibt also - nicht kiinstle- 
risch, was selbstverstandlich geboten ware-, sondern sachlich. Trude 
Hesterbei^ schmettert (in einem ulkigen Borsenkostiim) diesen 
Kampfgesang gegen die Borse mit erfrischender Sieghaftigkeit hinaus. 
Sie sieht dann in zwei andern Liedern (»Die Kn6pfelschuh« von Heller 
und »Bein ist Trumpf« von Radetzki-Janowitz) entziickend aus. Das 
ist gute, durch Literatur gemilderte und vertiefte Operettenkunst. Eine 
neue Nuance bringt Berthold Reijlig mit »Liedern zur Laute«. Er hat 
loch etwas Provinz abzulegen. Maximiliane Ackers und Lotte Velden 
5angen und spielten (ein Standchen aus dem i6.Jahrhundert, den 
Deutschen Tanz von Mozart). Maximiliane Ackers ist ein schelmisches 
Madchen mit einer nicht immer ausreichenden Stimme, aber sehr viel 
Musikalitat im Leibe. Ein »Racker«, der, ohne zu wissen, wie er ins 
[Cabarett kam, nichts von Montmartre- und Weddingatmosphare an- 
limmt, sich selbst treu bleibt, mit frommer Frohlichkeit zwitschert, 
ivie's kommt. Oh, Abwechslung und Labsal! 

K.urt Gerron erzielt mit seiner pointiert-intellektuellen Art, grofistad- 
;ische Chansons vorzutragen, und mit seiner reichen, rein mimischen 
Begabung grofte Wirkung. Alfred Beierle spricht Wedekinds Ballade 
>Die Keuschheit« mit grof^er Meisterschaft. Es geHngt ihm, den gan- 
^en grausigen Wedekindhumor in einer einzigen Geste zu komprimie- 
•en, wenn er zum Beispiel eine Faust drohend emporstreckt, ehe er 
;elbst hinter einer Stuhllehne zum Vorschein kommt. Sozusagen eine 
ichauspielerische Pars pro toto. Ein fiirchterhches Gelachter lebt in 
liesen Versen Wedekinds. 



6/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wilhelm BendoWy der eine Dame von der Miinchener Oktoberwiese 
darstellt, entfesselt mit treffenden satirischen Pointen Stiirme der Hei- 
terkeit. Er hat sich in seiner sachlich-ironischen Art zu einem Humori- 
sten individuelier Pragung entwickelt. 
Marcel Glodki hat einige gute Biihnenbilder gezeichnet. 

Berliner Borsen-Courier, lo. ii. 1921 



>BUCH UND BILD«-AUSSTELLUNG 



Heute mittag, izUhr, wird in Anwesenheit des Reichsprasidenten 
Ebert im Staatlichen Kunstgewerbemuseum die Ausstellung »Buch 
und Bild« eroffnet. Gestern waren Pressevertreter zur Vorbesichti- 
gung eingeladen. Die Ausstellung umfafite die meisten Parterreraume 
des Kunstgewerbemuseums und gibt ein reiches Bild von der Entwick- 
lung des deutschen Kunst- und Buchhandels. Die letzte Biicherschau 
dieser Art hat im Jahre 1880 stattgefunden. 

Die Herbstschau dieses Jahres hat eine grol5ere Reichweite als irgend- 
eine rein lokale Ausstellung, wie Hofrat Dr. Kleiner-Leipzig, der Erste 
Vorsteher des Borsenvereins der Deutschen Buchhandler, in seiner 
Ansprache ausfiihrte. Die Ausstellung soil vielmehr ein Bild von der 
Wirtschaftslage des deutschen Buchhandels im allgemeinen geben. Pa- 
piernot und geanderte Kreditverhaltnisse schrankten den deutschen 
Buchhandel wahrend des Krieges ein, die allgemeine Teuerung nach 
dem Kriegsausgang verschlimmerte die Situation. Durch den Zerfall 
der Habsburger Monarchic und die Revolution in Rutland wurde der 
deutsche Absatzmarkt verringert, die Geldentwertung hat in Deutsch- 
land gerade jene Schichten am hartesten getroffen, die als Biicherkaufer 
in erster Linie in Betracht kamen. Dennoch ist das Buch heute noch 
eines der biUigsten Erzeugnisse in Deutschland. Es zeigt im Durch- 
schnitt nur eine Erhohung auf das 7- bis 8fache, wahrend alle anderen 
Waren um das i5fache gestiegen sind. Einen Ausgleich hat der Buch- 
handel darin gefunden, da£ bei Auslandsverkaufen Valutaaufschldge 
stattfinden. Trotzdem wird das deutsche Buch im Ausland noch nicht 
zu teuer und konkurrenzunfahig. 
Schlimm ist der Sortimenter dran, der auf Rabatte angewiesen ist, die 



1921 6/3 

noch keineswegs seinen Reingewinn darstellen. Trotz alien Schwierig- 
keiten fangt der Buchhandel an, was die Buchausstattung betrifft, die 
Verhaltnisse der Vorkriegszeit zu erreichen. Den besten Beweis liefert 
die Aussteilung selbst. Zierliche Liebhaberausgaben, fein abgetonte 
Einbande in Leder, Pergament, Leinen. Die Bibel, der Koran, Klas- 
sikerausgaben, ake und neue Lyrik auf kostlichem Biittenpapier, in 
origineller Schrift. Von ganz eigenartigem, intimem Reiz sind die 
Bibelausgaben des Brandusschen Verlags (Berlin). Buchhandlerische 
Delikatessen. Delphin-Verlag, Fischer, Cassirer, Rowohlt, Kurt 
Wolff, Kiepenheuer, der Sybillenverlag - der Raummangel verbietet 
die voilstandige Aufzahlung. Zurich und Wien sind vertreten und 
deutsche Verlagsstadte. Ein paar gelungene und biUige Reproduk- 
tionen hat die Anstalt Hanfstaengel ausgestellt. Ein sehr gut reprodu- 
zierter Rembrandt (»Der Mann mit dem Goldhelm«) kostet z.B. nur 
dreifiig Mark. 

An die Buchausstellung angeschlossen ist eine kleine Drechsleraus- 
stellung. Hier ist allerlei Holzgerat zu sehen, kleine Stander, Aschen- 
becher, Lampenschirme, alles fein und unaufdringlich, ohne die 
anspruchsvolle Warenhausgeste des ublichen kunstgewerblichen KU- 
schees, an dem unsere Stadt so reich, so reich ist. - Uber den Gesamt- 
eindruck - und manches einzelne - der Aussteilung wird noch etwas 
zu sagen sein. Sie ist eine der geschmackvoUsten der letzten zwei Jahre 
und hat nur einen Fehler mit alien andern gemein: Sie ist zu grofi. Man 
kann mit dem Trommelfeuer von Eindriicken kaum fertig werden. Im 
iibrigen muf5 man dem deutschen Buchhandel Gllick wiinschen und 
Erfolg. Nicht nur im Interesse der geistigen Kultur, sondern auch der 
Volkswohlfahrt: Vom Buchhandel leben noch viele andere Gewerbe. 

Berliner Borsen-Courier, 12. 11. 1921 



BEGEGNUNGEN 

/. Boy 

Man konnte glauben, dafi die Boys der ganzen Welt einem Geschlecht 

entstammen und eine eigene Rasse bilden wie Zwergpinscher. Abei 

die kleinen Boys wachsen und werden grofi und sterben als Zahlkell- 

ner. 

Alle Boys haben rote Wangen und sehen frisch aus, dafi man geneigt isl 

zu glauben, sie wiirden in der Kiiche nicht nur in Frack und lange 

Hosen gesteckt, sondern auch angestrichen und mit Sauglingsduft 

durchtrankt. Zu Hause tragt kein Kellnerknabe einen Frack, sondern 

einen abgelegten Anzug vom alteren Bruder, der beispielsweise Rohr- 

leger ist. 

Auch benimmt sich ein Boy zu Hause sehr kindlich, wie es seinen 

Jahren angemessen, und an freien Tagen geht er mit seinen Spielkame- 

raden auf den Rummelplatz. Dafiir bekommt er Schlage zu Hause und 

mufi bitterlich weinen. 

Wenn aber die Dammerung hereinbricht, sind seine Tranen getrock- 

net, und seine Kindheit liegt feme wie ein gliicklicher Sommertag. Ei 

schluckt einen Kaffeeloffel Mannlichkeitstropfen, Marke Virinol, und 

gehabt sich erwachsen. Je weiter die Nacht fortschreitet, desto mannli- 

cher wird er. Gegen Mitternacht ist er am erwachsensten. 

Da kann er einem gutgebauten, breitschultrigen, groften Herrn in den 

Pelz helfen, ohne auf einen Stuhl zu steigen. Es ist, als wuchse der Boy 

mit seinen hoheren Zwecken. 

Der Pelz ist sehr schwer, ein Stadtpelz, innen mit Biberfellen tapeziert, 

mit einem feierlichen Sealkragen. Zwei Kurschnerjungen mufSten ihn 

tragen, als er geboren wurde, und die Kiirschnerin mufite husten, wenn 

sie ihn aufhob. Aber - siehe! - der Kleine halt den Stadtpelz im Gleich- 

gewicht mit Daumen und Zeigefinger wie eine Apothekerwaage. 

Manchmal lachelt eine Dame dem Knaben zu, und er blinzelt reif und 

erfahren. Er ist in erotischen Dingen Skeptiker und Kenner, 

Der Boy hat noch keine Kellnertatigkeit auszuiiben, weil er erst lernen 

mufi. Aber er sieht aus, als sei er nur zum Boysein verpflichtet und 

zum befrackten Dasein. Er erfiillt lediglich eine Art Reklamezweck 

wie jene winzigen Likorflaschchen, die als Probemuster gratis und 

franko versendet werden. Die Boys sind Probemusterknaben. 



I92I 6/5 

5ie haben etwas WunderkindmaEiges wie siebeneinhalbjahrige Kla- 

viervirtuosen. Aber sie beherrschen weder ein Instrument noch einen 

[mpresario. Auch haben sie kurzgeschnittenes und sogar linksgeschei- 

teltes Haar. Und tragen Frackhemden. (Wo warden diese Frackhem- 

den hergestellt?) 

Manchmal hort man durch den Larm eines Gasthauses cine Ohrfeige 

schallen. Dann gehort sie entweder einem Gast oder dem Boy. Aber in 

neunzig von hundert Fallen gehort sie dem Boy. Es ist ein Gesetz in 

der Welt, das bestimmt, daf5 die Kleinen von den GrofSen geohrfeigt 

sverden. 

Der gro£e Markor zerschlagt auch gelegentlich eine Porzellantasse, 

Dann hat er nur die Pflicht, sie zu bezahlen. 

Wenn der Boy eine Tasse zerschlagt, muC er aufierdem noch bezahlen. 

Das ist der Unterschied. 

[ch habe einmal einen kleinen Jungen auf der Strafte weinen gesehen, 

der seinen Rollschuh zerbrochen hatte. Ein Herr versprach ihm neue 

Rollschuhe fiir den nachsten Tag, denn es war schon Abend, und die 

Kaufladen schlossen. Aber der kleine Junge weinte unaufhaltsam. Er 

hatte gar nicht RoUschuhe gespielt, sondern er war auf ihnen in sein 

Hotel geroUt. Er war ein Liftboy. 



//. Clown 

Vor einem halben Jahr ungefahr starb in einem Berliner Zirkus ein 
Clown, knapp ehe er in die Manege treten sollte. Den Clown hatte der 
Schlag getroffen. Die Zeitungen iiberschrieben die Nachricht von sei- 
nem Tod falschUch: »Der Tod in der Manege«. 

Dann erfuhr die Welt, daf^ der Clown fiir einen alten Vater und fiir 
sine Frau und zwei Kinder gesorgt hatte und dafi er ein sehr braver 
Biirger gewesen. Seine Hauptnummer bestand darin, daf^ er seit funf- 
zehn Jahren, Abend fiir Abend, sich riicklings auf den Boden legte, 
indes eine feingekleidete Dompteuse einen grol^en Kragenbar iiber sei- 
nen Korper schreiten Hefi. Also war er eigentlich nur ein Anla£ fiir die 
Produktion des Kragenbaren. 

Welch ein geistreicher Kragenbar! - sagten die Leute, als sie sahen, daE 
dem Clown nichts geschah. - Welch ein dummer Clown! - hatten sie 
gesagt, wenn der Herr Kragenbar den Clown zerstampft hatte. 



6/6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Clowns miissen ein halbes Leben liber eine neue Lacherlichkeits- 

variante fiir ihren Frack nachdenken und werden trotzdem nicht un- 

sterblich. In zehn Jahren kann man eine neue Odyssee geschrieben 

haben und Jahrtausende lang in der Untersekunda skandiert werden. 

Der Clown aber ist nur ein Pausenzubehor. Als Ereignis steht er im 

Rang eines Klingeizeichens und Trommelwirbels. Einmal sah ich einen 

Clown aus dem Zirkus heimgehen. Seine Frau ging mit ihm, er trug 

seine Berufskleidung in einem schwarzen K5fferchen. Sie sprechen 

jetzt von der Teuerung und von Stiefelsohlen, dachte ich. 

2u Hause hat der Clown vielleicht Wohnstube und Kiiche, und in der 

Wohnstube steht ein breites Messingbett. Von den vier bHnkenden 

Bettkugeln fehlt die rechte am unteren Ende und ist unter das Bett 

geroUt. 

Neben den Schranken hangt ein Oldruck. Darauf sieht man einen Na- 

chen iiber den See gleiten, in dem sich ein Mond auf Gelatine spiegelt. 

Uber dem Spiegel ist ein Lorbeerkranz befestigt mit einer roten 

Schleife. 

Der Clown hat alle Witze in der Manege gemacht, und zu Hause ist er 

schweigsam. Er denkt vielleicht an Teuerung und dergleichen, 

Ja, er denkt vielleicht in der Manege sogar an fehlerhafte Stiefelsohlen. 

Wenn ein Kragenbar iiber seinen Kopf hinwegstapft, denkt er: Kra- 

genbaren brauchen keine Stiefelsohlen. Dann driickt er einen verbor- 

genen Knopf im Unterfutter seiner Weste, und seine brandroten Pe- 

riickenhaare steilen sich und stehen aufrecht wie Stecknadeln auf 

einem Nahkissen. 

Gott aber kennt alle Gedanken und alle verborgenen Knopfe. Deshalb 

schickt er manchmal dem Clown den Tod hinter die Manege, und den 

Boy lafit er Zahlkellner werden. 

Berliner Borsen-Courier, 13. ii. 1921 



KLOSTERSTRASSEN-BOHEME 

Bin Be such im »KHnstasyl« 

^ov mehr als einem Jahre griindete Kathe Hyan das »Kunstasyl« in der 
tClosterstral^e, in einem der altesten Hauser des alten Berlin. Von den 
^ahlreichen »Griindungen« des letzten Jahres hatte diese nicht nur am 
neisten ethische Berechtigung; sie hatte sogar Popularitatsmoglichkei- 
:en. Das alles roch nach »Zukunft«: die altberlinische Klosterstraf^e, 
lie Nahe der Parochialkirche, die Menschen im Kunstasyl selbst und 
vas sonst an »Milieu« vorhanden war. Die Zeitungen schrieben liber 
las »Kunstasyl«, das Publikum las - und kam nicht. Der Eintritt war 
rei, jeder durfte fiir die hungernden Schlitzlinge des Asyls geben, was 
;r wollte und konnte. Es erwies sich, dafi das bemittelte Grofistadtpu- 
)likum keinen richtigen Instinkt hat: Es ging ins Kabarett, um sich an 
J^eddingUteratur zu ergotzen und an den stiHsierten Ansichtskarten- 
^erbrechern. Dort, wo das Elend selbst zu sehr war- nicht sein mani- 
■iertes, fiir westliche Bediirfnisse zugeschnittenes Bild-, horte das In- 
eresse auf. Mehr als ein Jahr wuchs das Kunstasyl in der Klosterstrafie 
)escheiden und still. Dichter, Maler, Musiker und Bildhauer (begabte 
md weniger begabte) bevolkerten es. Die einzige Legitimation, die 
hnen abverlangt wurde, war nicht die GroEe des Talents, sondern die 
3eschaftigung mit der Kunst. Was den Besuchern des Kunstasyls ge- 
)oten werden konnte, waren also unter Umstanden Dilettantismus 
md Unreife. Aber unter Umstanden auch reife Darbietungen klinstle- 
ischer Personlichkeiten. 

IS stimmt namlich nicht, dal^ die »Boheme« in Berlin tot ist. In der 
Closterstraf^e und in der Umgebung der Parochialkirche stirbt und 
^erdirbt eine andere »Boheme« als jene, die im alten Cafe des Westens 
n den letzten Jahren herumfaulenzte. Die Klosterstral^enboheme hat 
:ein Verhaltnis zu Mokka und »Pump«. Ihr Elend ist nicht ihr Aus- 
langeschild, sondern ihr Schicksal. Sie lebt nicht vom Zahlkellner und 
'^on der Verachtung fiir die Biirgerlichkeit. Sie sieht zu einem Zahlkell- 
ler empor als zu einem Wesen aus der lichterfiillten, speisenduft- 
lurchtrankten Atmosphare, die man - weif^ Gott, niemals - wird mit- 
tmen diirfen. Nicht nur sie selbst ist arm - auch ihre nachste und 
lahere Umgebung ist es. Im Leben der Cafeboheme gibt es sogenannte 



6/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

»Zufalle«. Im Leben der Klosterstrafienboheme gibt es nicht einmal 
auf5ere Ereignisse von Bedeutung. Der Mokkaliterat hat Beweglich- 
keit. Der Klosterstrafienbohemien ist riihrend hilflos. Das Abzeichen 
des Cafebohemiens - ein Kragen, an dem die Armut sichtbar klebt, der 
aber auch Glanz- und Sauberkeitseventualitaten besitzt - diesen Kra- 
gen hat der Hungerleider aus der Klosterstrafie nicht. 

Kathe Hyan lud die Presse zu einem Abend. Man sah ein paar hiibsche 
Bilder, horte Musik und war erstaunt iiber die Offenbarung eines wah- 
ren Dichters. Er heifit de Witt, Man nennt ihn »Wunderlos«. Er hat 
einen Zyklus Gedichte geschrieben, deren Held »Wunderlos« ist. Die- 
ser Dichter war noch nie gedruckt. Seine Gedichte kann man im 
Kunstasyl horen. 

Was er schreibt, sieht im ersten Augenbhck nach Christian Morgen- 
stern aus: das Schicksal eines Mobelwagens; eines Stuhlbeines. Abet 
die Gedichte sind gewifi keine »Nachahmungen«. Form und Inhalt nui 
machen sie Morgensternschen Dichtungen ahnlich. Aber sie enthalten 
eigene Personlichkeit. Sie haben nicht die traurige LiebUchkeit Mor- 
gensterns. Sie sind keine Idyllen, sondern Tragodien. Wenn »Wunder- 
los« ein Mittel gefunden hat, in einen Bildrahmen zu steigen und seine 
irdische Wesentlichkeit aufzugeben, so tut er's, weil er die Welt nicht 
mehr vertragt. Ein Morgensternscher Wunderlos hatte es getan, weil ei 
es vor Liebe zur Welt nicht mehr ausgehalten hatte. - (Der Dichter di 
Witt lebt vom Verkauf alter Biicher.) 

Ich weifi nicht, was Kathe Hyan gelungen ist im Laufe dieses Jahres, 
Sie hat ein paar Malern - glaub' ich - Bilder verkaufen helfen. Sie hai 
vielen Hungrigen zu essen gegeben. Und sie hat einen ungedruckter 
echten Dichter ausfindig gemacht. 

In Anbetracht der zahlreichen schongedruckten Un-Dichter eine Lei- 
stung, Ein paar Dilettantismen verzeiht man gern. Sie sind jedenfall; 
harmloser und nicht so anspruchsvoll wie jene in den Kabaretts, die 
man teuer bezahlt. 

Berliner Borsen-Courier, 14. 11. 1921 



EPILOG 2UM »REIGEN«-PROZESS 



Ein Prozefi von sittengeschichtlichem Format und deutscher Griind- 
lichkeit; teilweise heiter in der Wirkung und vielleicht ernst in den 
Folgen; ais kulturhistorische Erscheinung notwendiger denn die Auf- 
fuhrung des »Reigens«. 

Der Prozefi zeigte mancherlei: erstens, dafi eine gesetzliche Begriffsbe- 
stimmung iiber »Sittlichkeit« (insofern sie aus einem Kunstwerk 
spricht) lacherlich ist. Es gibt keine »normalmenschliche« Empfin- 
dung, die als Grundlage fiir eine Gesetzesbestimmung iiber Sittlichkeit 
dienen konnte. Zweitens: dafi das ganze grofie Gebiet der Kunst einem 
grofien Teil der gebildeten deutschen Menschheit verschlossen und un- 
v^erstandlich ist; dafi Regierungsrate in kiinstlerischen Dingen Anal- 
phabeten sein konnen. Drittens: daft seiche Regierungsrate dem Ge- 
richt mafigebend und sachverstandig sind; dafi also die Behorden um 
sin paar Jahrhunderte hinter der Kulturentwicklung zuriickgeblieben 
5ind. 

A.lle diese Tatsachen sind uns niemals so deutlich zum Bewufitsein ge- 
kommen wie durch den »Reigen«-Prozefi. Nicht weil das Werk etwa 
^edeutend, die Auffiihrung eine klinstlerische oder ethische Tat von 
listorischer Notwendigkeit ist - sondern weil der Prozefi einen Ab- 
ichnitt in der Entwicklung der deutschen Offentlichkeit beschliefien 
^onnte, ist er als Ereignis wichtig. 

neht man von den muckerischen Argumenten der beruflichen Anstofi- 
lehmer ab; der Tugendbiindler von Geburt und Neigung; der offentU- 
;hen Sittentanten; der politischen Nutzniefier und gewaltsamen Ten- 
ienzmacher - so bleiben immerhin einige Einwiirf e ehrhch Erbitterter, 
lie mit jenen Biitteln der Tartuffemoral nicht in einen Brunner zu wer- 
"en sind. Diese EhrUchen halten dem Dichter die skeptisch-leichte Be- 
landlung menschlicher Heiligtiimer vor. Das ironische Lacheln iiber 
?*roblematisches und Natiiriich-Religioses. Sie tadeln nicht die Wahl 
les Themas, sondern seine Behandlung. Das aber macht gerade die 
Jchnitzlersche Eigenart aus: iiberlegenes Lacheln bei irdischen 
Jchmerzen; die Dinge zwar nicht vom Standpunkt der Ewigkeit zu 
)etrachten, aber vom Standpunkt der Ahseitigkeit; die Weltweisheit 
;ines - gesunden Menschenverstandes. Wedekind ringt mit den eroti- 



68o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schen Problemen. Schnkzler tut sie ab. Pathetische Menschen empfinden 
Schnitzlers Lacheln arrogant. Der »Reigen« 1st ihnen eine Naturlaste- 
rung. 

Den Sensiblen kann die Auffiihrung eine Preisgabe keuscher Verschwie- 
genheiten bedeuten. Alles Geschlechtliche ist zwar nicht Geheimnis, 
aber Verschwiegenheit. Es auf die Biihne bringen heifit es an die Offent- 
lichkeit zerren und entweihen. 

Nur die wirkliche Notwendigkeit einer »Reigen« -Auffiihrung kann sie 
vor den Sensiblen entschuldigen. Wo aber lag diese Notwendigkeit vor? 
Wie ist der Nachweis zu erbringen, dafi das Stiick aus ethischen, nicht aus 
sensationellen Griinden aufgefiihrt wurde? Um das Buch lagerte seit eh 
und je die Pubertatsneugier der Minderjahrigen. Das Geheimnis dei 
»verbotenen Vrucht«. Das waren die Griinde seines Erfolges. Nicht sein 
Kunstwert. Nicht seine Bedeutung. Es mag ein reizendes Kunstwerk 
sein, sagen die Sensiblen, aber es bringt uns keinen Schritt weiter. Was 
Schnitzler mit geistreichen Pointen sagt, wissen wir selbst. Ja, er nahen 
sich dem gefahrlichen Paradox und entfernt sich von der Wahrheit. »Ein 
Juwel«, mag sein! Aber muflte es aufgefiihrt werden? Eine Angelegen- 
heit,bei der der Reife sich amiisiert und nur der Primaner sich aufregt? . . . 

Ja, nur die Primaner regen sich auf, und die Vorzugss chiller unter der 

Primanern entriisten sich und klagen an. Brunner ist der Musterknabe dei 

amtierenden Prima. Er »hetzt«. 

Der »Dolus« ware in der Frage zu suchen: Geschah die Auffiihrung au; 

ethischen oder sensationellen Motiven? Nicht in der Frage: Ist sie unsitt- 

lich oder nicht? 

Den Vorwurf der Sensation widerlegen die Personlichkeiten der Haupt- 

angeklagten ; und der Umstand, dafi die »Reigen«- Auffiihrung dezent bi; 

zur Langweiligkeit war. 

Eine der haufigsten Fragen im Verlauf des Prozesses war: »Was versuchi 

der Dichter nachzuweisen?« 

Und auf die Anschuidigung einer Zeugin, junge Menschen miifiten au; 

dem »Reigen« die Notwendigkeit eines »leichten Lebenswandels« ablei- 

ten, weil doch die Selbstverstandlichkeit des Ehebruchs und der Sunde 

durch Anschaulichkeit sozusagen gepredigt werde, warf ein fur der 

»Reigen« eintretender Sachverstandiger die Frage ein: »Glauben Sit 

nicht, dafi junge Madchen die. Verwerf lichkeit mancher Manner kennen- 

lernen und also gefeit sind gegen Verfuhrung?« 



1921 68i 

So wird nicht liber die ungewollte Wirkung eines Kunstwerks verhan- 
delt, sondern liber seine didaktischen Zwecke. 

Von Gottsched, der den Nutzlichkeitszweck der Poesie gepredigt hat, 
bis zu diesem »Sachverstandigen« ist kaum ein Schritt. Bezeichnend 
fur die Orientiertheit mancher Beteiligter. 

Sagte ich, es sei ein Prozefi von deutscher Grundlichkeit? - Es ist ein 

ProzefS des Danebenredens. 

Die Mark fallt, die Abrlistungskonferenz tagt, die Weltgeschichte be- 

iteht aus lauter Ereigniswirbeln -^ hier wird tagelang an dem »Reigen- 

Problem« vorbeigeredet. 

(\ber der Mif5griff des Staatsanwalts ist ein paar verlorene Tage wert. 

N^och nie sah man die Feigenblatterkampen so hlillen- und hiiflos. Es 

tvar ein geistiger Nackttanz der Anklager . . . 

Berliner Borsen-Courier, 16. 11. 1921 



SIEGDERVERNUNFT 

Der Freispruch im »Reig€n« -Froze fi 

Der »Reigen«-Prozefi hat mit einem Siege der Vernunft geendet - und 
las ist einen Triumphruf wert, selbst wenn man liberzeugt ist, dafS ihre 
^iederlage eine Ungeheuerlichkeit ware. Eine Verurteilung aller oder 
luch nur einiger Angeklagter hatte den Anbruch einer Muckermor- 
jenrote bedeutet und die Verzweiflung aller geistig Freien in Deutsch- 
and. Der Freispruch aber ist die Anklindigung einer Morahstendam- 
nerung und ein Trost. Hat es sich doch in diesem Prozef^ nicht um die 
)eteihgten Personlichkeiten und das Prozefiobjekt, den »Reigen«, ge- 
landelt! Der Prozef^gegenstand war nur ein AnlaiS, und Klager und 
^.ngeklagte waren die prominenten Vertreter zweier Welten. Jedes 
Won, das hier gesprochen wurde, hatte allgemeine Gliltigkeit, jedes 
Vort: das lacherliche und das weise. Jedes Wort vertrat und verriet 
ine Terminologie. 

Deshalb ist ein Gllickwunsch, der den Freigesprochenen dargebracht 
i^ird, ein Bekenntnis zur Freiheit und eine Huldigung vor dem Geist. 
Jnd darliber hinaus ein Ausdruck der Hochachtung vor der Ohjekti- 



682 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

vital des Gerichtes; und ein Zeichen beginnenden Vertrauens zu den 
Vertretern irdischer Gerechtigkeit. 

Denn gewiB haben diesen Ausgang des Prozesses auch das Gewicht 
und die Zahl der von der Verteidigung geladenen Autoritaten herbei- 
gefiihrt. Hier sprach sich nicht nur Autoritat, sondern sogar autori- 
sierte Wissenschaft gegen Brunner und fiir den »Reigen« aus. Es war 
wirklich kein politischer Prozefi. Denn unter den Sachverstandigen, 
die fiir die Angeklagten zeugten, befanden sich Manner, die mit dem 
einen oder andern der Klager die konservative Weltanschauung teilten. 
Es war nicht durchaus der Kampf : revolutionar contra konservativ. Es 
war nur der Kampf der geistig Klerikalen gegen die geistig Freien; der 
moralisch Gebundenen gegen die wirkHch SittHchen; der Halbgereif- 
ten gegen die Erwachsenen. 

Dennoch wird von jenen, deren Beruf es ist, jedes Ereignis poUtisch 
auszumiinzen, auch diesmal versucht werden, Revolution und Repu- 
blik fiir den Freispruch verantwortlich zu machen. Waren die Ange- 
klagten verurteilt worden, jene poUtischen Falschmiinzer hatten nicht 
versaumt, die Verurteilung der Reaktion gutzuschreiben. Ihre Agita- 
tionsbereitschaft ist fiir alle Falle vorbereitet. Und es ist eine gliicklicht 
Fiigung, dafi der Freispruch in der ersten Woche des neuen preufii- 
schen Kabinetts erfolgte. Jenen, die von der neuen Regierung Schlim- 
mes befurchteten, ist das Urteil eine Befreiung. Den andern sei es eir 
Beweis dafiir, dafi der deutsche Richter unabhangig bleibt von politi- 
schen Tatsachen. In dem politisch weitgespannten Rahmen des neuer 
Kabinetts hatten sich mancherlei Einfliisse geltend machen konnen 
Dafi es nicht geschehen ist, nimmt den ewigen Hetzern jedes Agita- 
tionsmitteL 

Nicht zuletzt ist der Umstand beachtenswert, dafi die Staatskasse ver- 
urteilt wurde, die Prozefikosten zu tragen. Vielleicht soil den staatsan^ 
waltschaftlichen Behorden damit ein nicht mifizuverstehender Winl 
gegeben werden. Der Staat ist verurteilt, die hysterischen Ubertreibun 
gen sechzigjahriger Pubertatler durch bares Geld zu siihnen. Vielleich 
wirkt bei jenen offentlichen Funktionaren, die keine Achtung vor den 
Geist haben, die Achtung vor dem Gelde. Das Unheil, das sie anrich 
ten, erscheint ihnen erst bedeutend, wenn es in der Zahlensprache aus 
gedriickt wird. Vielleicht be wirkt der Respekt vor der Ziffer offentli 
chen Segen: dafi nicht jedem moralischen Wahnsinnsausbruch eine 
ewigen Sittentante mit behordlichem Eifer nachgespiirt werde; dafi dl 



l^ll 683 

zum Ausschopfen vergifteter Brunner verwendete Energie fiir positive 
Leistungen gebraucht werde. 

Der Kunst diirfte ein iiberbeflissener Diener des Staats gelegentlich 
Schaden zufiigen; der Staatskasse kann er solches niemals antun. 

Berliner Borsen-Courier, 18. n. 1921 



GLOCKENSPIEL 



Der Kriegsgefangene kam von Sibirien nach Japan und fand dieses Land 

wunderbar und selig. Er safi in einem Teehaus. 

In den japanischen Teehausern ist der Tee ein gottliches Getrank in der 

Farbe braungolden wie der Anfang einer Abendrote; im Geschmack 

herb; gluhend und kiihlend in einem, wie die Beriihrung einer Geisha, 

sagen wir. 

Das schonste in dem japanischen Teehaus war das Glockenspiel; ein 

Gonglautewerk an der Tiir. Die Tiir ging unaufhorlich, und die Glocke 

spielte. Es war eine braungoldenc Klangfarbe; die Farbe des Tees. 

Der Kriegsgefangene nahm die Glocke mit, ehe er nach Berlin zuriick- 

iehrte. 

Vlan mufi wissen, dafi der Kriegesgefangene einen kleinen Konditorla- 

len in der Nahe der Friedrichstrafie betreibt. Er hat das japanische 

Lautewerk an seiner Ladentiir angebracht. 

^m Konditorladen sind Schokolade, Pralines und Keks zu kaufen. Wer 

:um ersten Mai eintritt, vergiEt, was er wollte, und horcht nach der 

jlocke, die zehn Minuten lang lautet. 

ndessen steht der Kaufmann ein biEchen ratios und begreift nicht, 

veshalb die Leute nicht sprechen. Ihm ist, als hatte er eine gemeine 

^adenklingel an der Tiir. 

Cathe kommt jeden Tag Keks kaufen - und der Konditor ist uberzeugt, 

lafi man seinen Keks alien Backwaren der Welt vorziehen miisse. 

)er Konditor wird reich werden, sein Sohn wird bereits fiinf Filialen 

laben, und mit dem Glockenspiel werden die Enkel Unfug treiben, zum 

;ro^en Arger des Frauleins, von dem anzunehmen ist, dafS sie verbittert 

Ardy und der Mama. 

^ber es kann auch sein, daE jene Glocke auf einen grolSen Miillhaufen 



684 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

kommt und ihre musikalischen Gelenke verstopft werden. Nie wird 

ein Sterblicher noch einmal ihre Klange horen. 

Nur Kathe, die jetzt achtzehn Jahre alt ist und gerne Keks ifit, wird 

einmal spater noch diese Glocke lauten horen und wird sagen: Vor 

wenigen Jahren hat der Konditor noch . . . 

Und es werden Jahrzehnte sein. 

Berliner Borsen-Courier, 23. 11. 1921 



DER »NORMALMENSCH« 

T^ur Psychologie der letzten Prozesse 

Ein zwar langst in der Gesetzgebung bestehender, in der Offentlich- 
keit aber wenig bekannter Begriff ist durch die letzten Prozesse fast 
popular geworden: der »Normalmensch«. 

Seit jener antiken Forderung: panem et circenses ist eine Erwahnung 
eines dieser Worte nicht mogUch, ohne dafi das andere gleichzeitig in 
der Vorstellung auftauchte. Wie weit entfernen sich diese Zwillingsbe- 
griffe voneinander, wenn wir ihnen deutsche Bezeichnungen geben: 
»Brot und - Theater« ; »Nahrung und - Spiel« ; unumgangliche korper- 
liche Lebensnotwendigkeit und - geistiges Bediirfnis. 
In den Gerichtsverhandlungen gegen angeblich unsittliche Kunstwerke 
offenbarten sich in korperhcher Deutlichkeit jene Gegensatze zwischen 
dem Nur-Brotbediirftigen und dem geistig Lebenden, Die bekannte 
»Kluft zwischen Volk und Kunst«, Der Gegenstand literarischer Be- 
trachtungen, asthetischer Auseinandersetzungen gewann sozusagen 
praktischen Umril^. Selbst der Verteidiger der Corinthschen Bildei 
wufite nur den Umstand anzufiihren, dafi die Bilder fiir eine exklusive 
Gruppe bestimmt seien. Kiinstler und Kunstwert haben nur dann Aus- 
sicht, freigesprochen zu werden, wenn sie nachweisen, dafi sie nicht fiir; 
Volk geschaffen haben bzw. nicht fiirs Volk bestimmt sind, sondern fiij 
eine kleine Schar Verstehender und Sachverstandiger. Ist durch dieser 
Umstand noch nicht der Beweis fiir die peinliche Scheidung zwischer 
Kunstkaste und Volk erbracht, so doch zunachst der Beweis fur die Exi- 
stenz zweier Kunstarten: einer exklusiven, vornehmen, volksabgewand- 
ten; und einer allgemein-verstandlichen und approbierten Volkskunst, 



I92I 685 

Diese Feststellung enthalt zwei schwere Urteile: erstens: Das Volk ist 
jnreif; zweitens: Die Kiinstler schaffen ohne Widerhall und Wir- 
iung. 

Der vom Gesetz willkuriich erfundene »Normalmensch« ist der einzige 

>achverstandige, dessen Urteil mafigeblich und entscheidend wirkt. Ein 

ibsoluter Begriff ; die hohere Mathematik openert mit solchen Begriffen. 

3as »sittliche Empfinden« des Normalmenschen soil einziger Maftstab 

lein - und siehe, der Normalmensch hat kein sittliches Empfinden, weil 

;r einfach iiberhaupt nicht da ist. 

xgendeine sehr vage Vorstellung von den Charakterumrissen des Nor- 

nalmenschen besteht : Er ist vermutlich der mafivoll gebildete wie enthu- 

;iasmierte, real gesinnte und nach keiner Richtung bin verbildete »Mann 

Lus dem Volke«. Das Mafi, mit dem er selbst seine Umwelt mifit, und 

enes, mit dem er gemessen wird, ist das Mittelmafi. Er vereinigt in sich 

licht die Eigenschaften des Publikums, wie es sein soil, sondern des 

^ublikums, wie es ist. Er ist weder verdorben noch erhaben. Er steht 

:wischen dem Verworfenen und dem Idealen und ist der Gegensatz 

»eider. 

^ach den geltenden Anschauungen ist also der Kiinstler, der wirken will, 

erpflichtet (oder verurteilt), fiir den »Normalmenschen« zu schaffen. 

?ut er es, so hat er seine Mission erfiillt. Er hat sein Volk belehrt, erfreut, 

rhoben. 

^berderKiinstlertut's nicht. Erschafft vielmehr fiir den/iie^/menschen. 

)ie Gesetzgebung - eine der vielen Ausdrucksformen der offentlichen 

/leinung - ist gerecht genug, es anzuerkennen. Sie spricht also den 

Liinstler selbst frei. Sein Werk verurteih sie. 

sfoch lebt der Idealmensch nicht - so folgert sie. Noch lebt der Normal- 

lensch. Was jenem zutraglich und notwendig, kann diesem schadlich 

nd Verderben sein. Nach Jahren erst kann dieses Kunstwerk Segen 

nrken. Heute ist seine Wirkung Fluch. 

)er Schopferische steht also fern der Gegenwart, fern seiner Umwelt, 
srn seinem Volke; er steht abseits, in sakularer Entfernung. Er ist seinem 
^olk nicht Bediirfnis wie tagliches Brot. Er ist Wegweiser an einer Strafe, 
ie zu betreten verboten und unmoglich ist. Es ist schwer, sich etwas 
:heinbar Uberfliissigeres vorzustellen: ein Wegweiser, der ver^ebens 
ach Wanderern spaht. 



686 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ware der Idealmensch mafigebend fiir die Wirkung eines Kunstwerks 
- und nicht der Normalmensch-, es wiirde bedeuten, dafi unser Ge- 
schlecht von der Tendenz beherrscht wird, vorwartszugehen, nicht in 
der Mitte stehenzubleiben. 

Es war immer die tragische Seligkeit der Fiihrer, voranzugehen und 
allein zu gehen. Aber er horte hinter sich den herrlich-ungleichmafii- 
gen Tritt der Nachfolgenden. Jener Wald, jener Hiigel, jene Ebene, ar 
denen der Fiihrende jetzt eben stand - sie warteten auf die Nachfol- 
genden. Die »Normalmenschen« waren bereit, Zukunftsmenschen zt 
werden. 

Heute versagt der Normalmensch nicht nur dem Fiihrer die Gefolg- 
schaft, sondern er bleibt vor der Gerichtsbarrlere stehen, um iibei 
seine Fahigkeit oder Unfahigkeit, dem Fiihrer zu folgen, Zeugnis ab- 
zulegen. 

Steht der Kiinstler aufierhalb der Biirgerlichkelt? Aufierhalb der Ge- 

genwart? Aufierhalb seines Volkes? 

Soil der Gewerbetreibende, der Handwerker, der Kommis, der Chauf 

feur, der Bankdirektor ein wichtiger »sozialer Faktor« sein? 

In jener Zeit, in der die Forderung panem et circenses erhoben wurde 

war der Dichter nicht weniger wichtig als der Backer. Seine Schopfunj 

war Brot. 

Alierdings - er schuf und wirkte fiir ein Geschlecht, das jene Forde 

rung erhoben hatte. 

Nicht der »Normalmensch« nennt »Kunst«c und »Brot« in einen 

Atem, sondern der Idealmensch. Nicht der Mittelmafiige, sondern de 

Strebende; nicht der Stehengebliebene, sondern der Vortwartsschrei 

tende. 

Der Kiinstler war Flelsch und Blut vom Fleisch und Blut seines Vol 

kes. Zwar ragte er in die Zukunft, aber er wurzelte in der Gegen 

wart. 

Seine Gefolgschaft war seine Genossenschaft. 

Dieses Verhahnis andert sich oft im Laufe der Zeiten. Vielleicht fiihr 

die fortschreitende Uberwindung des Materialismus zur Aufhebun 

der Kunstkaste. 

Man ist nicht auserwahlt, um lediglich fiir Auserwahlte zu schaffer 

Der Kiinstler muf^ sich einfiigen in die Gesamtheit. Die Gesamthei 

muf^ sich dem Kiinstler erschlief^en. 



1921 6«7 

Der Normalmensch darf kein Mafistab sein. Er darf nicht einmal als 
wirklicher Begriff abstrakt herumspuken.- 

Berliner Borsen-Courier, 27. 11. 1921 



STIMMEN DER VOLKER 

Funfuhrtee in der Staatsbibliothek 

3ie Lander der wilden Volker sind von unendlich schoner Armut. Sie 
laben nur zwei und drei dumpfe Laute, sie bestehen im ganzen aus den 
:wei Vokalen: o und u - es sind die schonsten Vokale in alien Spra- 
;hen, weil sie gewissermafien Himmel und HoUe bergen, Hohen und 
fiefen, und ratselhaft sind wie Ursprung und Endziel. 
57enn ein »Wilder« sein totes Weib beweint, dann schlittet er ganze 
•Clagewinde uber sie. Vielleicht ist sie, solange sie lebt, ihm nur Werk- 
:eug und LaSttier nach den geltenden Sitten seines Stammes. Wenn sie 
ot ist, adelt er sie durch seinen Schmerz zu einer Naturkraft, die ihm 
in unentbehrliches Lebenselement gewesen und die nun verloren ist. 
!)as Volk der »Singhs«, das im Weltkriege gegen uns kampfte, hat 
vunderbare, einfache Geschichten. Es scheint ein Volk von Epikern 
;u sein, komprimierenden Epikern; in zehn Zeilen erzahlen sie ein 
;anzes Zweitausend-Hexameterepos. 

lO inhaltsreich ist zum Beispiel die Geschichte von dem Papagei und 
[em Affen. Der Affe scheint dem Vogel so menschenahnlich, daE er 
ich wundert liber die Unfahigkeit der Affen, Hauser zu bauen, um 
ich vor Sturm und Wind zu schiitzen. Der Affe gesteht, daE er noch 
mge nicht menschliche Fahigkeiten habe, - Die Singhs gehoren zu 
len wenigen Dichtern, die die unerhorte Tragik des Affenwesens, der 
ialbheit, des Zwittertums, des zwischen den Entwicklungsgraden Ste- 
enden zu behandeln gewuf^t haben. 

bn den Leistungen der wissenschaftlichen »Lautabteilung« erfuhr 
lan bei einem Funfuhrtee, den die Gesellschaft der Bibliotheks- 
-eunde in der Staatsbibliothek veranstaltete. 

7ahrend des Krieges sammelten deutsche Professoren die Lieder der 
Iriegsgefangenen auf Papier und fingen sie in Grammophonplatten. 



688 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

So entstand eine Bibliothek aus tonenden Buchstaben. Die Phrase vom 
»toten Buchstaben« verliert ihre Berechtigung. Wahrend auf der Licht- 
bild-Leinwand die Texte erscheinen, ertonen sie in laudicher Umfor- 
mung aus dem Grammophon. 
So kann die Technik eine Lust warden. 

Man sah an diesem Abend auch Handschriften der Philosophen: Kep- 
lers, Pascals, Bayles, Voltaires, einen Brief Friedrich des Grofien an 
d'Alembert, einen KoUeginder Kants von der Universitat Konigsberg, 
Schillers Tractatio: »De discrimine«, Alexander von Humboldts An- 
trittsvorlesung an der Berliner Universitat vom 22. Oktober 1818. Die 
Handschrift Darwins, Nietzsches und Einsteins. 
Etwas unvermittelt dazwischen auch Handschriften von Dichtern, die 
unmittelbar mit der Philosophic zu tun batten: z.B. ein Manuskript 
Justinus Kerners. 

Die Bibliothek hat eine »Lautabteilung« geschaffen. Es wird eine spre- 
chende Bibliothek. Und daran lernt der Mensch, dafi nichts in der Welt 
Nur-Mittel und nichts Nur-Zweck ist. 

Wie eins ins andere greift und dieses das erste stiitzt. Wie eine Erschei- 
nung tausend neue gebaren kann. Wie die Erfindung des Grammo- 
phons nur eine Wunderzwischenstufe war und erst zu dem grofiter 
aller Wunder fuhrt: zur Auferstehung des Buchstabens, 

Die Kriegsgefangenschaft war eine der hafiUchsten Erscheinungen dei 

letzten Jahre. Von ihren traurigen und schlimmen Folgen spricht di< 

ganze Welt. 

Aber wie aus Menschenungluck Menschenstolz erbliiht, wissen we 

nige. Wie Zwietracht Frieden gebart. 

Dafi deutsche Professoren die traurigen Kriegesgefangenen ihre Hei 

matlieder singen Uefien - das taten sie fiir die Wissenschaft - und wul^ 

ten vielleicht nicht (ganz von ihrem nachsten Ziel in Anspruch genom 

men), wieviel sie den Seelen der armen Singhs gaben. 

Eines der schonsten Andenken an den Krieg ist jene Geschichte voi 

dem Affen. 

Berliner Borsen-Courier, 30. 11. 192 



DOLLARFIEBER 



Der Wochenchronist verzeichnet Sinnbild und Sensation dieser und 
inderer Tage: den Dollar. Mit seinem Schicksal ist das der Gegen- 
;\^artsmenschheit verkniipft. Sein Aufstieg ist Erhebung derer, die ihn 
Dcsitzen, sein Sinken ihr Sturz. Er ist Hintergrund des Geschehens und 
^nergiequelle des Lebens. Lallen die Sauglinge in den Wiegen nicht 
;chon seinen heiligen Namen? Ist er nicht der letzte Hauch Sterben- 
ler? Auferstehende und Genesende fragen nicht mehr nach der Tradi- 
;ion: Wo bin ich? sondern: Wie hoch steht er? 

Die Lebendigen und die Gesunden sind mit der Verrichtung jener An- 
iacht beschaftigt, die man »Spekulation« heif^t. Indem sie das Mittel 
!;um Zweck erheben, sinken sie zur Passivitat von Mitteln herab. In- 
iem sie das Schicksal beim Schopfe zu fassen vermeinen, werden sie 
»^on einer unsichtbaren Unheimlichkeit gefafit. 

^as bleibt iibrig von den Gesetzen und Formen, in denen sich das 
Leben gestaltete, jeder sein Leben gestaitete? Die Voraussetzungen 
liefien: Vernunft, Einsicht, Erfahrung. Die Voraussetzungen heifien: 
31aube, Wunsch, Hoffnung. 

Das sind reUgiose Requisiten. Nicht Priester und Wunder, sondern 
khwankungen der Kurse haben den Nationalismus ad absurdHm ge- 
"iihrt. Da liegt er. 

5eht, wie war der Dollar einmal nur Geldeinheit eines fremden Lan- 
les! In Grenzen acht- und umrechenbar. Ein geschaftliches Verkehrs- 
nittel, wie es gesellschaftliche gibt. Wer gab ihm die Macht, Dimensio- 
len anzunehmen? UnerforscWich sind seine Wachstumsbedingungen. 
W\r vermissen den Philosophen, der die Metaphysik des Dollars in ein 
System bringen, den Dichter, der seine unberechenbare Gewalt besie- 
^en konnte. DaE jene beiden noch nicht gefunden sind, kommt daher, 
lafi zu Philosophen und Dichtern nur ein femes Echo des Jammers 
iringt und der Freudenrufe liber Sturz und Flug des Dollars. 

Diese schwankenden Begebenheiten haben die Physiognomie der Welt 
/erandert. Bis jetzt gaben Lebensweise und Beruf den Menschen Ziige 
ind Umrifi. Nun erkenn' ich sie nicht mehr. 



690 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Jener Kutscher, der, Ziigel in der Linken, Peitschenstiel in der Rech- 
ten, Requisit einer Droschke scheint, war einmal bekannt. Ich wufite, 
wie er sich zu Hause benahm, wenn er nachts heimgekehrt war. 
Manchmal ging ein femes Rossewiehern durch seinen Traum; oder 
eine Peitsche knalite; oder ein Taxameterzeiger kreiste rasend in der 
Runde. Im Wirtshaus trank er einen Schnaps, und er dachte an Heu 
und Fahrgast und Schimmel. 

Nun lauert in seinem Aug* etwas Unbekanntes. Ich kenne nicht mehr 
seinen Tag. Wer weil5, seine Nachte beherrscht der Kurszettel. Sein 
Taxameter ist nicht rund, sondern eine senkrechte Leiter und jede 
Sprosse eine wachsende Zahl und die hochste zu erkUmmen des 
Droschkenkutschers traumhaft-angstUches Bemiihen. 
Ich sehe in die Stuben meiner Nachbarn, und alles ist noch so, wie es 
war. Da steht noch der Papagei im Kafig auf der Konsole in der Nahe 
des Fensters. Da spielen noch die Kinder mit Dominosteinen und 
Dauerdeckchen. Da geht der Vater jeden Abend mit Harry, dem 
Hund, spazieren. 

Aber hier besteht der unabweisUche Verdacht, dafi alles aufiere Leben 
dieser Menschen triigerisch ist. Fieberhaft und unsichtbar arbeitet fiir 
sie der Dollar. Dem Gesetz der Tragheit nur gehorchend, tragt der 
Papagei noch sein altes Federkleid. Wenn er woUte - ho! -, welch 
schmucken Pelz darf er sich leisten! 

Und Harry wedelt noch mit seinem Schwanz - und hundert seidene 
Taschentucher kann er haben! 

In New York spielen in diesem Augenblick vielleicht halbwiichsige 

Knaben mit Dollars harmlose Spiele. 

An einem Postschalter steht ein Mann und schickt 10 Dollar an seinen 

Vetter, der zum Beispiel in Merseburg lebt. 

Im Aufgabeschalter waren jene 10 Dollar noch zehn Geldeinheiten. 

In der Stube des Empfangers werden sie erst zu »Dollars«. 

Der Vetter in Merseburg kauft Dollars fiir Dollars. Der Vetter in New 

York arbeitet nur fiir Dollars. 

Der Vetter in Merseburg kann sich ein halbes Merseburg kaufen und 

der in New York nicht ein einziges Haus ! 

Zwischen Dollar und Dollar liegen ganze Welten! 

Oh, welche Verwirrung! . . . 

Berliner Borsen-Courier, 4. 12. 1921 



ZWEI MONUMENTALFILME 



Ich ging in ein Kino, um die Abenteurerin von Monte Carlo zu sehen. 
Das ist eine Frau! sagte ich mir. Wir lieben derlei Frauen, die sich - 
metaphorisch und korperlich - iiber das Niveau der herrschenden Sitt- 
lichkeit im Aeroplan erheben. Wenn sie im Kampf gegen Polizei und 
mifiverstehende Mitwelt unterliegen, gehort ihnen unser Schmerz. 
Wenn sie siegen, unsere Bewunderung. 

Die Hersteiiung solcher Filme kostet sehr viel Geld. Das wissen wir 
Zuschauer, und dieses Bewufitsein erhoht unser Interesse zu jener In- 
tensitat, die der »Monumentalitat« des Films entspricht. 
Mir aber geschah es, dafi mich die Abenteurerin von Monte Carlo 
ganzlich unberiihrt liefi. Ich kam namhch mitten in die Mef^terwoche 
und sah einen Arbeitslosenmarkt in Amerika. 

Auf eine Art von Bretterpostament traten hundert und mehr Arbeits- 

lose einzeln hintereinander. 

Sie boten sich an. Um ihren Wert zu beweisen, zogen sie sich die 

Rocke aus und Uefien fremde Hande iiber Muskeln, Brust, Bauche und 

Oberschenkel tasten. 

Es war ein »Monumentalfilm«. Die Schauspieler waren echte Arbeits- 

lose. Sie spielten »Rindermarkt«. In ihren verhungerten Gesichtern 

zuckte Gier nach Gekauftwerden. Es war ganz selbstverstandlich, dafi 

sachliche Fauste an ihren Korpern herumhantierten. Examinierende 

Augen nach ihren Schultern fasten. Sie horten auf, einzelne zu sein, 

und wurden Knochenpraparate. 

Das Mefiterwochenbild flitzte mit der iiblichen Geschwindigkeit vor- 

iiber. 

Aber der Eindruck, dafi in Amerika unerhorte Monumentalfilme vom 

Leben hergestellt werden, war so machtig, dafi ich nichts von der 

Abenteurerin von Monte Carlo sah. 

fa, es war vielleicht das Kabinett der Madame Bovary oder ihr indi- 
sches Grabmal. Es war vielleicht die Sumurun Roswolskys oder der 
Golem des Doktor Cahgari. Ich habe die Abenteurerin von Monte 
Carlo vollkommen vei^essen. Sie interessiert mich gar nicht. Ihre 
spannenden Momente waren lacherliche Gesuchtheiten. In jeder ihrer 



692 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Bewegungen horte ich das Diktat des Regisseurs. Aber in jenem Mef?- 
terwochenbild, das so bescheiden zwischen einem Wintersport und 
einem Tennisturnier aufgenommen war, lag alles, was einen Monu- 
mentalfilm eigentlich ausmacht: die unglaubhafte Wahrheit; Tragik, 
die nicht mehr zu fassen ist; Spannungen, die Stillstand des Herzens 
verursachen. 

Keine Filmregie der Welt kann mit dem photographischen Apparat der 
Mefitergesellschaft konkurrieren, wenn der liebe Gott einen kleinen 
Ausschnitt aus seinen Monumentaltragodien vor die Linse riickt. 

Berliner Borsen-Courier, 9. 12. 1921 



PROFESSOR BRUNNER IM HORSAAL 



Professor Brunner hatte einen Vortrag iiber »Kunst und Sittlichkeit« 
angekiindigt. Er hielt einen iiber den »Reigen«-Prozefi. Im Horsaal 51 
der Universitat, auf Einladung des Euckenbundes. Prof. Brunner wie- 
derholte sein sachverstandiges Urteil aus dem »Reigen«-Prozefi, ver- 
vollstandigte es, las Briefe vor, die ihn als Martyrer und Helden feiern. 
Rudolf Eucken, Max Koch, Max Wundt stimmen nicht nur mit Brun- 
ner iiberein, sie sind sogar von ihm entziickt. Sie teilen ihr Entziicken 
mit vielen einfachen Briefschreibern. So zum Beispiel mit einer »Beam- 
tenfrau fiinfter Rangklasse«, die sich in ihrem Brief an Brunner selbst 
als solche bezeichnet und ihrer Uberzeugung Luft macht, dafi sie trotz 
Revolution und 9. November »gesellschaftliche Unterschiede« gelten 
lafit. Infolgedessen entschuldigt sie sich erst bei Prof. Brunner, dafi sie 
ihm uberhaupt einen Brief zu schreiben wage. Zum Schlufi weist sie 
auf ein Theaterstiick in einem Berliner Theater hin - Brunner nannte es 
nicht - und wiinscht, dafi es anders gespielt werde, Sie iiberbrlickt da- 
mit gewissermafien alle Klassenunterschiede und beweist, dafi das An- 
stofinehmen kein Vorrecht der Professoren ist. Brunner lafit nachstens 
eine Broschiire mit all diesen Zuschriften erscheinen. Der Euckenbund 
vergafi nicht, durch seinen Vorsitzenden auf Brunners Zeitschrift »Die 
Hochwacht« hinzuweisen und zum Eintritt in den Euckenbund - dem 
Brunner selbst angehort - einzuladen. Prof. Brunner sagte u.a., der 
»Reigen« - wie man ihn auch beurteilen moge - sei keine Kunst, nach 



I92I 693 

der sich gerade das Volk sehne. Im iibrigen nahm er- als Anhdnger des 
Eros - Schnitzler die leichtfertige Behandlung der geschlechtlichen 
Probleme iibel, nicht etwa die Behandlung iiberhaupt. Die Anwesen- 
den waren begeistert, Euckenbund und Brunnerfreunde sammein sich 
2u Kampf und Sieg, Brunner steht da als der Retter aller Teile des 
deutschen Volkes - von Eucken bis zu jener »Beamtenfrau funfter 
Rangklasse«. Heil! 

Berliner Borsen-Courier, 14. 12. 1921 



DER MUSTERKNABE 



In diesen Tagen warben zwei Prozesse um das Interesse des Publi- 
kums: der ProzeE gegen die Kappisten und der gegen Peter Grupen, 
den Helden von Kleppelsdorf. Der erste hatte bereits geschichtliche 
Distanz, als er anfing. Die Ereignisse, die er behandelte, lagen nicht 
nur v^eit zuriick, sie waren wie jedes politische Ereignis, das iiberwun- 
den ist, schon von historischem Umrifi. 

Eine Fiille von allezeit gegenwartiger Menschlichkeit dagegen offen- 
barte der Kleppelsdorfer Mordprozefi. Hier spannt ein Ratselhaftes; 
hier ist ein bestimmtes Milieu durch einen juristischen Querschnitt 
blof^gelegt; hier gewinnen tausend Nuancen eines Gesprachs, einer 
Haltung, einer Gebarde nicht nur formale, sondern auch ausschlagge- 
bende Bedeutung. Was im Augenblick des Geschehens als nebensach- 
lich in der Rumpelkammer des Gedachtnisses lagert, erwacht plotzlich 
aus AnlaE der Tat und steht als Zeuge auf und ergibt, aneinanderge- 
fiigt, die Etappen des Weges zur Tat. 

Der Mittelpunkt aber, Peter Grupen, steht da als ein lebendiger Beweis 
fiir die Theorie von der Unerforschlichkeit der menschlichen Seele, in 
der Widerspriiche zwillingshaft nebeneinander schlafen. Peter Grupen 
spielt »Seelenlabyrinth«. Und ist das Muster eines bestimmten 
Menschentypus: des um jeden Preis Sterbenden. Den die Welt gern 
hat, weil sie Tatigkeit und Fleif^ iibermafiig hoch einschatzt. Weil sie 
gewohnt ist, aus der Tatsache des »Getriebes an sich« auf ein hohes 
Ziel zu schheEen. Sie weif^ nicht, da£ der Weg zu den Abgriinden 
ebensoviel aufierliche Miihe erfordern kann wie jener, der zu den Ho- 



694 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hen fiihrt. Daf5 Rastlosigkeit allein noch keine Tugend ist, daf5 an 
dem Schwung der Treibriemen noch nicht zu erkennen ist, ob der 
Motor zum Segen oder zum Verderben arbeitet. 
Der Zufall hat an einem Exempel aufgezeigt, dafi ein »allgemein ge- 
schatzter Mitburger« ein widerwartiger Mensch sein kann, Dafi alle 
Kennzeichen der gesellschaftlichen Bravheit nichts beweisen. 

Peter Grupen ist ein Braver. Seine Pflicht gegen Staat und Gesell- 

schaft erfiillt er. Er ist energisch. Man schatzt Energie. Kraft zieht 

Krafte der Umwelt an. Den Energischen unterstutzt man. Den Verio - 

renen lafit man fallen. Die Menschen verlangen gar nicht, dafi man fiir 

sie arbeite. Sie sind zufrieden, wenn jemand fiir sich arbeitet. In die- 

ser Welt der Lumpen und Landstreicher ist der Mann, der sich mit 

Handen und Fiifien emporarbeitet, ein Labsal dem Herzen und eine 

Augenweide. 

Peter Grupen hat mit Fleifi und Begabung die Baugewerkschule be- 

sucht. Hunderte werden Maurer. Peter Grupen aber verlor einen 

Arm im Krieg. Und das hat zwiefache Folgen: 

Erstens wird er nicht mehr bescheiden Ziegel an Ziegel fiigen. Zwei- 

tens wachst sein Ansehen. Er hat fiir die Allgemeinheit geblutet und 

einen Arm verloren. Er fallt ihr dennoch nicht zur Last. Er arbeitet 

mit der Linken. Und ftigt mit dieser der Allgemeinheit Schaden zu, 

fiir die er die Rechte geopfert hat. 

Ein Juwelier borgt ihm Geld. Einmal tausend, ein anderes Mai zwei- 

tausend Mark, ein drittes Mai viertausend. Er verkauft die Erbschaft 

seiner Mutter und verdient dabei. Vielleicht laEt er bei dieser Gele- 

genheit seine Familie zu kurz kommen - wer erfahrt davon? Was ist 

weiter daraus zu schliefien? 

Er lernt. Er arbeitet nicht nur fiir, sondern auch an sich. Er hat ge- 

hort, dafi Schweifi und Miihe ihren Lohn bringen. Wo ist der? Peter 

Grupen hat lange genug gewartet. Er verlangt vom Schicksal den 

Lohn fiir seine Bravheit. In dieser einen Beziehung nur erhebt er sich 

nicht iiber das Niveau des Lesebuches. Er will das Gold der Morgen- 

stunde. 

Der Verlust des Armes hat Peter Grupen gewifi nicht umgewandelt. 

Aber beeinflufit. 

Man beachte, wie musterhaft sich der InvaUde Grupen benimmt: 

Jetzt lafit er sich erst recht nicht fallen. Hatte man seine Tat nicht ent- 



I92I 695 

deckt, nur seine Personlichkeit, er ware alien Invaliden der Welt als 
energisches Beispiel vorgestellt worden. Seht! da ist einer, dem der 
Unfall nur ein Ansporn ist. Er lernt mit der Linken schief^en: 
gleichsam cine aufiere Wirkung seiner prachtvollen Energie. Er hei- 
ratet, um ein neues Leben zu beginnen. Er heiratet sorgfaltig, nach 
dem Geschmack aller um die Mitgift ihrer Schwiegertochter bangen- 
den Vaterherzen. Eine Apothekerswitwe mit Vermogen. Keine 
»Hergelaufene«. Er wird sogar ein Musterschwiegersohn. Ihm ge- 
lingt, was den meisten Schwiegersohnen unmoglich ist: die Liebe 
seiner Schwiegermutter zu gewinnen. 

Er ist ein Vorzugss chiller des Lebens. Blond und Pflichtmensch. Er 
leidet niemals Not, und das gewinnt Anhanger. Er erspart den Men- 
schen den peinlichen Anblick des notleidenden Kriippels. Er festigt 
im Gegenteil ihr Vertrauen auf die redliche Sieghaftigkeit des 
menschlichen Willens. Nur in einem Punkt weicht er von dem vor- 
geschriebenen Pfade der Musterknaben ab: im Geschlechtlichen. 

Die Wissenschaft bemiiht sich um die Zusammenhange zwischen der 
Sexualitat des Menschen und seiner Wirkung auf die Mitwelt, Peter 
Grupen stellt den Typus des damonischen Verfiihrers dar. Nicht des 
»Frauenlieblings«. Er wirkt nicht durch Charme, sondern durch 
dunkle Ratselhaftigkeit. Mit zahlreichen Frauen hat er Verhaltnisse. 
Das ist weniger sein Sport als zweckmafiiges Treiben. Der Genufi ist 
nebensachliche Begleiterscheinung. Er will nicht geniel^en, sondern 
nutzniefSen. Jedes Verhaltnis tragt etwas ein. Jedes Andenken der 
Liebe hat einen materiellen Wert. Peter Grupen weiE auf^erdem, dafi 
amourose Leidenschaften - wenn man von ihnen spricht und wenn 
man sie verschweigt - die Respektabilitat der Personlichkeit bei 
Mann und Frau erhohen. Mann und Frau schenken ihm Vertrauen. 
Die Kinder fiirchten sich vor ihm, aber sie fallen ihm anheim. 
Plotzlich stofit er auf Widerstand. 

Sein Plan verwirklichte sich langsam, aber ziemlich glatt: Seine Frau 
war verschwunden, und man glaubte ihm, dafi sie ihn verlassen 
habe. Ihre Abwesenheit eroffnet ihm neue Heiratsmoglichkeiten. 
Aber er wird iiberall abgewiesen. PlotzHch fallt den Leuten seine 
Unheimlichkeit auf, Plotzlich weckt er Furcht. 

Auch Dorothea Rohrbeck weist ihn ab. Gewif5 will er ihr Geld und 
durch sie nur endlich zu seinem Ziel: zum Reichtum. Aber auch 



6<)6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

seine Unwiderstehlichkeit erleidet einen empfindlichen Stofi. Und das 
Streben des Erfolgssiichtigen wird durch die verletzte mannliche Eitel- 
keit geschiirt. 

Wahrscheinlich iiberrascht ihn die Entdeckung, dafi er nicht sorgfaltig 
genug sein Musterknabenantlitz gewahrt hat. Er hatte nur an die eine 
Weisheit des Lehrbuches geglaubt: dafi Eifer zum Erfolg fiihrt. Nicht 
an die andere, dafi alles Bose sich racht. Er mufi beides erfiiilt sehen. 
Aber noch immer ist er der Musterknabe. Er sitzt in der Anklagebank 
wie in der ersten Schulklassenbank. Er weifi auf aile Fragen ruhig zu 
antworten. Er lacheit sogar iiber die Irrtiimer seiner Lehrer, der Rich- 
ter. Er weifi alies besser. 

Wenn er zum Tod verurteilt werden soUte, wiirde er das Muster eines 
Hingerichteten abgeben. Wenn er ins Zuchthaus kommt, wird er flei- 
fiig Strafhausarbeiten machen, sich ordentUch auffiihren, den Aufse- 
hern ein Wohlgefailen sein. 

Die Musterknaben sind nicht gewalttatig, wenn sie durch ein Guck- 
loch beobachtet werden. 

Berliner Borsen-Courier, 18.12. 1921 



GROSSENWAHN 



Im Kabarett »Grofienwahn« erstickt der Witz an allzuviel Literatur. 
Doch die Lyrik sei gestattet. Sie spielt im Kabarett die Roile des ver- 
sohnenden Elements. Sie ist der Molhon in der Satire. Wenn ihr Inhalt 
sanfte Ironie ist - um so besser! (Peter Altenberg zum Beispiel, den 
Lotte Klein unvergleichUch interpretiert.) Aber den Kitsch, das heifit 
»etwas fiirs Gemut«, leiden wir nicht. Hermann Levy hat aus dem 
Andersenschen Marchen »Das Madchen mit den Schwefelholzern« 
eine kleine dramatische Szene gemacht. Das arme Kind sitzt barfu£ im 
blauen Scheinwerferglanz. Das Ansichtskartenelend, daf^ die Biirger- 
herzen so um die Weihnacht herum riihren soil. 

Es bieibt ein schwachHcher Schwank; dann einige mittelmaf^ige Cou- 
plets, von Herrn Vallentin mit geschaftig-erkiinsteltem Grimm vorge- 
tragen. Sein Zorn iiber diese verdammte Zeit Hegt allzu offenbar in 
seinen Zornesfalten. Der Zorn kommt aus der Uberzeugung, dafi man 



19 2 I 697 

wirkt, wenn man sich recht viel Miihe gibt. Er illustriert so durch viel 
Geschrei und Klimbim selbst jenen »Zeitgeist«, den er zu verspotten 
sucht. - Es bleibt eine Pantomime nach einem altitalienischen Motiv. 
Mit einer literarischen Erklarung fiir jene, die es nicht verstehen soil- 
ten. Man verspricht »musikalische Bewegungen«. Dann sind es pol- 
ternde. - Maria Basson erzahlt in einem Couplet (von Wronski), daf^ sie 
sich mit Kokain, Morphium und dergleichen betauben mufi. (Im Zu- 
borer drangt sich die Frage auf: Wie ein Mensch das alles aushalten 
kann?) Es bleibt die liebliche blonde kleinmadchenhafte Elvira Erd- 
Tiann, die riihrend aussehen kann und der eine schwache hilflose 
5timme zu einem voUendeten Eindruck der Naivitat verhilft, 
5onst bleibt nichts als die Erinnerung an sehr viel Miihe und justament 
luf literarischer Hohe sein wollen, 

Berliner Borsen-Courier, 29. 12. 1921 



1922 



DIE LITERATUR VOR GERICHT 



Die deutsche Literatur stand gestern einen ganzen Tag lang teils vor 

den »Schranken des Gerichts«, teils im Korridor. Der Prozefi Gold- 

baum gegen Kyser nahm einen interessanten Verlauf. 

In der Pause sagte der Schreiber zum Wachtmeister und deutete auf die 

rauchenden Poeten: »Das sind die grofiten deutschen Schriftsteller.« 

Der Wachtmeister war sehr geschmeichelt, ais hatte er ein Verdienst an 

den Werken der Anwesenden. Er safi mit geneigtem Kopf an der Tiir 

und dachte: Alle sind sie gedruckt! 

Die nicht vernommene Literatur safi auf den Banken des Zuhorerrau- 

mes und benahm sich mit parlamentarischer Freiheit, indem sie einer- 

seits Zustimmung nickte, andererseits horbar hohniachelte. 

Die Prozefiparteien redeten Essays und griffen einander mit gefliigel- 

cen Worten an. »Er kennt die Hintertreppen der Redaktionen«, sagte 

zum Beispiel Herr Doktor Goldbaum, der Klager. 

Fragen und Antworten lagen verpackt in stilistischen Meistersatzen, 

die der Vorsitzende erst sozusagen entfaiten muEte. 

Es war ein halbdunkler Wintertag. Mit den elektrischen Birnen 

kampfte der Esprit um den grofieren Effekt. 

A.m Abend zog sich das Gericht zur Beratung zuriick, und in das ge- 

leerte Gerichtsgebaude kamen die Scheuerfrauen, um die Fhesen auf- 

?;uwaschen, auf denen die Literatur iustwandeke. 

Die Frau Wachtmeister kam, sich nach ihrem Mann umzusehen, und 

^r zeigte ihr: Das sind die deutschen Schriftsteller. 

Und sie, die bereits geglaubt hatte, er safie so spat in einem Wirtshaus, 

Dewunderte ihn seiner Dichter wegen. 

Der Vorsitzende war menschUch interessiert, als lase er in einem Buch. 

Es kam ihm vor, dafi er nicht »Parteien«, sondern Lektiire einver- 

lehme. Seine Brille blatterte in den Aussagen. 

Die Schoffen Hefien sich von Dialektik hinreifien, der Klager von sei- 

ler Entriistung. Er vergafi nicht, seine Kriegsdienstleistung zu erwah- 

len, als woUte er so seinen unparzifistischen Charakter verklaren. 

Ein Versohnungsversuch prallte an seinem felsigen »Nein«: zuriick, 

vie eine schiichterne Welle sich an einer Sandbank bricht. 

ipatabends sagte ein Verteidiger, die Atmosphare hatte sich abgekiihlt. 

Da ging der Wachtmeister ein Fenster offnen. 



702 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Nach dem Freispruch zog sich die Literatur zuriick. Sie ging paarweise 
durch die Winternacht heiirij Freund und Gegner miteinander. In aller 
Freundschaft kiindigten sie einander noch ein paar Prozesse an. 
Es war ein Versohnungsfest mit Zwistpointen. 

Berliner Borsen-Courier, 5. i. 1922 



ABENTEURER 

/. Der Hauptmann von Kopenick 

Der Schuster Voigt, der vor einigen Tagen gestorben ist, war ein Aben- 
teurer kleinen Formats und unverhaltnismafiig dauernder Nachwir- 
kung. Es blieb ihm vorbehalten, das Worterbuch der Kriminalistik um 
eine Bezeichnung zu bereichern, Er ist die Veranlassung des Wortes 
»Kopenickiade«. 

Diesem Wort verdankt er die Langlebigkeit seines Andenkens; nicht 
der Kiihnheit seiner Phantasie. Er war ein kleiner, verwachsener Schu- 
ster und schon durch sein Aufieres ein Witz des Schicksals. Sein Unter- 
nehmen verUeh ihm noch eine gelungene Pointe. Er hatte es selbst 
nicht gewollt. Es fiigte sich, da{^ er in einer 2eit des strammen Milita- 
rismus eine unfafibare Wirkung ausloste. Seine Karikaturahnhchkeit 
merkte man nicht. Seinen Befehl horte man und gehorchte ihm. Er 
bewies, dafi die strengste DiszipUn die ewige Dummheit nicht iiberto- 
nen kann. 

Heute ist sein Bild verblafit. Sein Tod Ue£ den Klang seines Namens 
hier und dort aufflattern. Mit ihm stieg die Erinnerung an eine 2eit 
herauf, in der sich das Schicksal noch Witze leistete. Die Gegenwart 
gebart keine so lacherlichen Abenteurer mehr. Sondern pathetische 
und humorlose. Der Schuster Voigt mutet an wie der Exponent des 
vorrevolutionaren Schwindeltums : verhahnismafiig harmlos, schil- 
daisch-humorvoll und von gutem Ausgang. 
Jede Zeit hat ihre Abenteurer. 



1922 703 

//. Graf Schlieffen 

Unsere Zeit hat den Graf en Schlieffen, der vor einigen Tagen zum 
zweitenmal in Hamburg festgenommen wurde. 

Graf Schheffen ist ein biirgerhcher Fahnenjunker; seinen Namen 
kennt man nicht genau. Des militarischen Glanzes kann er auch nicht 
mtraten. Er verkehrt in den vornehmen Kreisen Hamburgs und Ame- 
rikas, verlobt sich mit einer Sangerin, heiratet auf Grund gefalschter 
Papiere, wird bei der Hochzeit entlarvt, flieht nach Berlin mit Hilfe 
iinksradikaler Politiker und verwandelt sich wieder in einen Adeligen. 
Bis er, wieder in Hamburg, endgiiltig in die Hande der Behorden ge- 
rat. 

>o ist der typische Abenteurer des zwanzigsten Jahrhunderts; mit 
^inem SchufS Damonie, mysterioser Herkunft, ins Tragische hiniiber- 
spielend und mit der Politik liebaugelnd. Der fertige Romanheld einer 
revolutionaren Zeit; erotisch und sentimental, kriegerisch und ruhm- 
Deglanzt, gesellschaftlich gewandt und ehrgeizig. Ein Nutzniefier der 
Drunter- und Driiber-Konjunktur, geschaftlich klug und von Roman- 
:ik umschimmert. Bezwinger von Grenzpolizei und Dokumentennot- 
ivendigkeit, besonnener Liigner, filmheldenhaft beherrscht und inner- 
ich iiber den Dingen, in denen er sich verliert, 

Er verliert sich namlich, sehr sympathisch, in den verwickelten Din- 
gen, weil er, gleichsam ein lebendiger Beweis fiir die Wirkung des 
Ewigweiblichen, einer Frau wegen seine Laufbahn vorderhand been- 
iigt. Er reist zu jener Sangerin nach Hamburg, um sie vielleicht doch 
loch einmal zu gewinnen. 

Er hat*s nicht notig. Er konnte jahrelang, unbemerkt von seinen Ver- 
rolgern, ein verwohntes Leben in Berlin fiihren. Aber er liebt wahr- 
jcheinlich jene Sangerin. Oder er fUhlt seine Eitelkeit von ihr verletzt. 
DaE Hunderte ihn fiir den Schwindler halten, der er ist, stort ihn ein 
;venig. Nur daE diese Frau, die ihn geliebt hat, ihm nicht mehr glauben 
cann, ist schmerzlich. 

Der Graf Schlieffen ist kein hartgesottener Sunder. Er wird in jenem 
?unkte sympathisch, wo er verwundbar ist. Er tragt sozusagen im 
H[erzen eine Achillesferse. Den »Grafen Schlieffen« versteht man. Er 
^eht, wenigstens mittelbar, durch ein Weib zugrunde. Das ist mann- 
ich. 



704 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

///. Furst Awalow-Bermont 

Der Fiirst ist ein blirgerlicher Russe, der eine militarische Karriere ge- 

macht hat, seit der Revolution in Berlin wohnt und an Baltikum-Sol- 

daten und -Offiziere gewissermafien postume Orden verleiht. Die 

Polizei hat ihn deshalb ausgewiesen. 

Fiirst Awalow ist ein Schwarmer und kein Schadling. Er glaubt wahr- 

scheinlich an seine Durchlauchtigkeit und seine Bedeutung. Er be- 

wohnt eine mittelmafiige Pension im Westen mit einem Adjutanten. 

einem ehemaligen Offizier. Ein Besuch beim »Fursten« gehort zu den 

grotesken Erlebnissen in Berlin. 

Der Adjutant meldet an, man wartet in einem Zimmer, dann fliegt die 

Tiir mit pathetischer PlotzHchkeit auf, und der Adjutant meldet: »Se, 

Durchlaucht«- Und herein prasselt, scheppert, klirrt die hohe Gestah 

des Fiirsten, der schon und von gesundem Wuchs ist wie eine Edel- 

tanne aus den Garten von Zarskoje Selo. 

Seine Stimme ist herb und rauh. Die Silben marschieren auf, knapp 

und stramm, und richten sich wie Satzkompanien. Seine Rede ist eine 

militarische Funktion, seine Gesten fiktive Gewehriibungen. 

Fiirst Awalow glaubt an sich und seine Sendung. Auch er ist verstand- 

lich als Opfer seiner Zeit. Der Zar ist ermordet, und Awalow fiihlt sich 

verpflichtet, vor der Welt den Vertreter des echten Rutland zu spielen, 

Er kostiimiert sich als personifizierte Demonstration gegen Trotzki 

und Lenin. 

Er ist gewifi tapfer und gegen die Welt nicht unehrlicher als gegen sicli 

selbst. Eine Saule des Monarchismus will er darstellen und tragt da; 

Schicksal einer Kulisse. 

Er ist ein Abenteurer aus Selbsttauschung. Er diinkt sich General und 

Macchiavelli zugleich. Er ist nur ein Ordensverleiher. 

Berliner Borsen-Courier, 8, i. 1922 



REGEN 



In der Mitte trieft der Schutzmann und regelt den Verkehr. Er ist 

durch einen weiten Gummimantel vor dem Regen gesetzlich ge- 

schiitzt. Seiner Trompete entflieht ein klagender Ton, der, kaum gebo- 

ren, bereits iiberfahren wird von polternden Omnibussen. 

Der Zigarrenhandler hat ein graues Tuch iiber seinen Laden gebreitet, 

den er an einem Schulterband auf der Brust tragt. Er steht ewig an 

derselben Strafienecke und wird deshalb »fliegender Handler« ge- 

nannt. 

Die Zeitungsfrau hat ein Blechschildlatzchen auf der Brust und laUt die 

Namen der Blatter aus. Sie ist grauhaarig und vom Regen verwaschen. 

Viele Regenschirme schwanken iiber die Stral^e. Menschen iiberda- 

chend. Ungeschiitzt nur ragt ein marmorner Staatsmann auf seinem 

Sockel; barhauptig ist er den Tropfen preisgegeben. Er hat eine Kielfe- 

der in einer Hand und ein Buch in der andern. In dem aufgeschlagenen 

Buch hat sich ein kleines Bachlein gebildet. Ein Spatz steht darin und 

schliirft Regenwasser der Weisheit. 

Ein Knabe steht in der Mitte des Biirgersteigs und weint. 

Eine Dame in Trauer ist im Begriff vorbeizuwoUen und hah inne. Der 

Knabe erwartet seinen akeren Bruder, um in den Zirkus zu gehn. Und 

der Bruder kommt nicht. 

Viele Regenschirme sammeln sich um den Knaben und schwanken ge- 

riihrt. Ein Polizist la£t sich Bericht erstatten und schickt den Knaben 

nach Hause. Dumme Weiber! sagt er unhorbar. Die Dame in Trauer 

ist tief beschamt. 

Die Manner recken ihre Schirme selbstbewufit den Wolken entgegen. 

Der Knabe wartet auf die Strafienbahn. Sie segelt herbei wie ein Schiff. 

Gischt schaumt an ihren Radern empor, Der Motorfiihrer sieht aus 

wie eine menschenahnliche Konstruktion aus Mantelstoff und Wetter- 

brille. Auf dem hintern Trittbrett wimmelt es von einem dicken Herrn. 

Der Knabe sieht neben dem dicken Herrn wie ein Beistrich aus. 

Hinter der Strafie frostelt ein Park. An seinen mageren Baumzweigen 

bleibt der Regen hangen. Der Parkwachter wandelt hin und her, wie 

ein Baum, der seinen Standort verlassen und gehen gelernt hat. 

Berliner Borsen-Courier, lo. i. 1922 



NACKTTANZE 



Celly de Rheydt steht als Vertreterin der Nackttanzkunst vor dem Ge- 
richt. 

Als sie nach Berlin kam, tanzte sie gelegentlich mit grofiem Erfolg die 
Horselbergszene aus »Tannhauser«. Es war in einem kleineren Thea- 
ter. Die Tannhauseroper sah dort ungefahr so aus, als hatte Richard 
Wagner sie fiir das Ballett verfafit. 

Der Venusberg wurde aus seiner storenden literarischen Umgebung 
sozusagen herausgemeifielt und stand fiir sich allein da, betanzt von 
nackten Madchen. Sie waren von hauchdiinnen Schleiern nicht ver- 
hiillt, sondern umweht. Und sicherlich war diese Darstellung der Ve- 
nusbergszene die wahrheitsgemafie. Die jungen Damen der klassischen 
Liebesgottin trugen auch keine Kleidung. Der Opern-Tannhauser ist 
bemiifiigt, fleischfarbene Kleidungsstucke fiir Haut zu halten und sich 
von ihnen verfUhren zu lassen. Der Tannhauser, den Frau Celly auf 
der Biihne umtanzen liefi, sah echte Nacktheit um sich wie der richtige 
Tannhauser seinerzeit. 

Gegen eine solche naturalistische Wiedergabe der Zustande auf dem 
Venusberg ware auch vom kiinstlerischen Standpunkt nichts einzu- 
wenden gewesen. Jedoch ist die Oper nicht dieses Venusberges wegen 
geschrieben worden, und dessen erotische Zustande sind der Tragik 
des Helden wegen da. Deshalb war's ein Mif^brauchen des Werks. 
Frau Celly de Rheydt lieh sich von der Kultur sozusagen den Richard 
Wagner aus, um, bloE mit seinem Nimbus angezogen, tanzen zu diir- 
fen. 

Ich sah noch mehrere Horselbergdarstellungen im vei^angenen Jahr. 
Die Leute safien mit roten Wangen an weifi gedeckten Tischen und 
tranken abgestandenen Sekt. An den Tischen vorbei wirbelten die 
Frauen, rhythmenlos, und sahen aus wie verkorperte Gegensatze der 
Musikakte. 

Langstielige Lorgnons sprangen mit horbarem Klaps in die Hohe und 
reckten ihre Halse. Ehrsame Hornbrillen erglommen. Konzentrische 
Kneifer verloren ihren Halt auf den Nasen. Die ganze Optik war in 
rosa Erotik gehiillt. Die nackten Madchen streiften hier und dort ein 
Tischtuch. Durch die Manner, die am Tisch zusammengeriickt safien 



1922 707 

und mit den geroteten Geskhtern wie ein Biindel unheimlich grofier 

Riesenradieschen aussahen, ging ein Zucken, und sie taten einen 

Schluck sauren Sekts. 

Eine Saison lang dauerte diese Berliner Korperrevue. Dann war die 

Masse durch die Masse stumpf geworden. 

Die Welt begann wieder auf Spitzenhoschen zu reagieren. Die Horn- 

brillen interessierten sich flir Unterrocke. Die Kneifer - oh, kostlicher 

Doppelsinn des Wortes ! - verloren ihren Halt nur noch beim Anblick 

seidener Striimpfe. 

Nun ist es wieder wie einst. Die Verhiillung wirkt, nicht die Erfiillung. 

Das Versprechen und nicht das Geschenk. 

Infolgedessen kommt mir der Celly-de-Rheydt-Prozefi ein bif^chen 

antiquiert vor. 

Viele Erwachsene gelangen aus der Pubertal nicht heraus. Sie sind Zo- 

tenleser und Kabinengucklochseher. Ihr Bediirfnis erschopft sich voll- 

kommen in einem ewigen Forschen nach Wandritzen und Schlussello- 

chern. 

Aile dem Amusement geweihten Statten kommen diesem Bediirfnis 

freudig entgegen. Die Rocke der Damen auf den Buhnen sind mehr- 

fach geschlitzt. 

Ein wohlgeformtes Bein enthiillt sich flir eine Sekunde dem applaudie- 

renden Blick und verschwindet wieder mit unheimlicher Schnelligkeit. 

Eine Spange an der Schulter will den Anschein erwecken, dafi sie allein 

Vorderteil und Riicken des Kleides zusammenhalt und - hast du nicht 

gesehen! - plotzlich aufspringen kann. 

Auf ein solches Versagen einer Spange harrt man. Ach! Sie springt 

nicht. Es fallt ihr nicht ein zu springen. Und iiberdies ist das Kleid 

sicher zugenaht. 

Die Leute haben ihr Geld gezahlt, um einen Genufi zu empfangen. 

Man bot ihnen nur die Erwartung und die Enttauschung. 

Das ist unsittlich. 

»Celly de Rheydt« sei Marke und Sammelbegriff. Es gibt also: beklei- 
detes »Celly« und unbekleidetes. 

Dank dem letzteren war die Welt nahe daran, von ihrem Pubertats- 
drang nach Beinen, Schultern und Briisten befreit zu werden. Wenn 
den Statten des Amusements befohlen worden ware, drei Jahre lang 



708 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nackte Tanzerinnen in Massen auftreten zu lassen, so hatten vielleicht 
sogar liisterne Agraffen ihre Anziehungskraft verloren. 
Wer die Nacktheit verbietet, fordert die Erotik des geschlitzten Kleides; 
des Schliissellochs; der liickenhaften Badekabine. 

Daf5 nun aber gar die Justiz sich in ehrfiirchtige Togas hiillt, ein Staatsan- 

walt schlaflose Nachte verbringt, Akten dimensional anschwellen, Ver- 

teidiger ciceronische Beredsamkeit entwickeln und ein Pfarrer als Sach- 

verstandiger geladen wird, das ist eine Verschwendung von Pathos und 

Feierlichkeit, deren oft und dringend gebrauchte Wirksamkeit in dieser 

Welt der Gottlosen und der Spotter nur abgestumpft wird. 

Der harmiosere Teil der Offentlichkeit ist imstande, den Celly-de- 

Rheydt-Prozefi fiir einen Kampf der Freiheit gegen die Muckerei aufzu- 

fassen, etwa wie ein »Reigen«-Prozefi, weii jener diesem auf dem Fufie 

folgt. 

Der Staat macht fiir die Erledigung dieser Angelegenheit eine viel zu weit 

ausholende Geste. 

Man wird sehr viele Phrasen tonen horen, von Freiheit, Tyrannei, Opfer. 

Die Welt des Amusements wird sich ein paar Begriffe leihen von der 

Kultur. Eine Anleihe wie jene der Frau Celly de Rheydt bei Richard 

Wagner. 

Es wird um die Frage: »Trikot oder Fleisch im Venusberg« gehen, und 

man wird glauben, es handle sich um die Sittlichkeit »Tannhausers«. 

Oh, welche Verwirrung!- 

Berliner Borsen-Courier, 15. i. 1922 



DER SPRUCH AN DER WAND 



In Pompeji - so berichten die Blatter- sind neue Ausgrabungen gemacht 
worden. Es gelang, ein Haus mit Balkons, Loggien und einem fast 
unversehrten Stockwerk aus der Lava zu befreien. In einem der Zimmer 
fand man die Wandinschrift: 

»Dh sollst nicht begehren nach dem Weibe Deines Ndchsten.« 
Aus dieser Inschrift schHel^t man, so wird berichtet, dafi der Inhaber des 
Hauses - ein Philosoph gewesen sei. 



1922 7^9 

IS mufi doch eine seltsame Stadt gewesen sein, dieses Pompeji! Seine 

Durchschnittsbewohner hielten es fiir selbstverstandlich, nach den 

^eibern ihrer Nachsten zu begehren. Nur die Philosophen taten es 

^ffenbar nicht und schrieben das Verbot an ihre Wande. 

Die Ausnahmemenschen, die Exzeptionellen waren es. Die einfachen 

Burger- die Handler, Soldaten, Baumeister-, alle verlangten sie nach 

len Weibern ihrer Nachsten. 

[m Europa des zwanzigsten Jahrhunderts ist es umgekehrt: Die 

Durchschnittsmenschen sind meist Ehemanner, und alle tragen sie das 

jebot, nicht nach dem Weibe des Nachsten zu verlangen, wenn nicht 

in den Wanden, so doch auf den Lippen; wenn nicht im Herzen, so 

loch im Gedachtnis. 

Mur die Ausnahmemenschen, sagen wir: die Anhanger der epikurai- 

;chen Philosophic, machen sich nichts aus dem Gebot und folgen dem 

Beispiel der Durchschnittsbiirger von Pompeji. 

>o andern sich die Sitten, oder die Frauen, oder die Philosophen. 

Es kann aber auch sein, daE der Bericht iiber die Ausgrabung sich irrt; 

ene Wandinschrift verrat vielleicht gar nicht den philosophischen Be- 

-uf des Hausbesitzers, sondern irgendeine furchtbar tragische Ge- 

;chichte: 

£r besaf^ vielleicht eine Frau, auf die er eifersuchtig war, und lief$ seine 

^and den Besuchern ein Memento entgegenrufen. 

3der er selbst hatte lible Erfahrungen mit der Frau seines Nachbarn 

^emacht, und er woUte es just nicht vergessen. 

3der er wuf^te von einem Fehltritt seiner Frau, und da er ein zartfiih- 

endes Gemiit besafi, gab er ihr sein Wissen auf diese umstandhche 

Weise. 

Miemand kann heute den wahren Sachverhalt noch erkennen, da der 

K-adaver jenes vermeintlichen Philosophen unkenntlich in eine Lava- 

iruste eingewickelt ist; alle Frauen in Pompeji fiir alle Ewigkeit stumm 

;ind; und die Geheimnisse der Stadt sozusagen in einer Lava von Jahr- 

lunderten verborgen ruhen, verschiittet sind von der Vergangenheit. 

^enn einmal - so stelle ich mir vor - eine unserer Stadte verschiittet 
;viirde wie dazumal Pompeji - man konnte nach zwei Jahrtausenden 
mlaf^lich einer Ausgrabung ein unversehrtes Zimmer finden mit Sprii- 
:hen an der Wand. 



/lO DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die zum Beispiel so lauten: 

»I15, was gar ist, 
Trink, was klar ist, 
Sprich, was wahr ist.« 
Und man wiirde daraus schliefien, dafi der Inhaber des Hauses eine 
prachtvoUe Kochin, einen alten Weinkeller gehabt habe und ein we- 
gen seiner Wahrheitsliebe allgemein verhafiter Zeitgenosse geweser 
sei. 
Uber meinem Bett stehen drei Spriiche: 

»Frisch hinein!« 
»Nur ein Viertelstiindchen!« 
»Ordnung ist das halbe Leben!« 
Ich weifi wohl, dafi, wenn der letzte Spruch befolgt wiirde, die ersten 
zwei sich von selbst gewissermafien erfiillen wiirden. 
Aber ach! - ein ganzes Leben ist man bestrebt, Ordnungen in ein hal- 
bes zu bringen, und es gelingt nicht einmal fiir ein Viertelstiindchen. 

Berliner Borsen-Courier, 17. i. 1922 



WESHALB DIE LIEBE ERLISCHT 

Die drei GrUnde - Diefreie Liebe ~ Und die »wahre Liebe« 

Im choreographischen Bund Lichterfelde spricht ein Herr Ottc 
Blank iiber das traurige Thema: Weshalb die Liebe erlischt. 
Es ist ein interessantes Thema, und es soUte sich jeder junge Mann 
nicht nur dem Erloschen der Liebe hingeben, sondern auch den Ursa- 
chen, die dazu fiihren. 

Es waren sehr viele junge Manner im Saal, denen man teils das Ent- 
stehen, teils das Erloschen der Liebe ansah. Die jungen Damen, die 
auch anwesend waren, weil zum Erloschen der Liebe unbedingt zwei 
notwendig sind - das erfuhr man spater aus dem Vortrag-, trugen 
gleichgiiltige Gesichter, als ware ihnen die Liebe gleichbedeutend mit 
einem geringfugigen Kurzschlu£ bei einer entfernten Tante in Magde- 
burg. 

So stolz sind die Damen. 
Und schiichtern sind sie auch zugleich. Sie saf^en namUch in den 



1922 yii 

riickwartigen Banken und hiiteten sich wohl, ein bifichen vorzuriik- 

ken. 

Dagegen saKen die jungen Manner demonstrativ interessiert in den 

ersten Reihen, um die Weisheit sozusagen aus erster Lippe zu sau- 

gen. 

Auch ehrbar verliebte Pdrchen waren zu sehen. Die saf5en zusam- 

men und verglichen die apodiktischen Wahrheiten des Vortragenden 

mit den Symptomen, die ihr Zusammensein aufwies. Sie degradier- 

ten sich so selbst zu lebenden Demonstrationsobjekten und prakti- 

schen Beweisen fiir die Theorien des Meisters Blank. 

Ehepaare im mittleren Alter waren nur sparlich vertreten und diese 

wenigen so angefiillt mit Selbstbewuf^tsein und Uber-den-Dingen- 

der-Liebe-Stehen, dafi sie den Ehebegriff iiberhaupt reprasentierten. 

Me saEen da wie zur Kontrolle dessen, was iiber das Erloschen der 

Liebe gesagt wurde. Wer sie ansah, wufite alles und brauchte gar 

licht erst hinzuhoren. 

Unsinnigerweise batten manche auch ihre Kinder mitgebracht, ge- 

mssermaEen die Folgen der erloschenden Liebe. 

Der Vortragende hatte ein gleichgiiltiges Gesicht, in dem nicht die 

Spur eines Erlebnisses verzeichnet war und das harmlos und jung- 

Fraulich aussah wie eine blankgewischte Schultafel. 

Dennoch leitete er seinen Vortrag mit einem Hinweis auf seine »rei- 

:hen Erfahrungen« ein, die sich ihm eigens zu Vortragszwecken zur 

Verfugung gestellt haben diirften. Ich habe die unabweisliche Emp- 

findung, dafi er aufierhalb seines Berufes als Berater in Liebesangele- 

^enheiten fern von den Erfahrungen lebt, den reichen. 

Er sagte namUch, die Liebe erlosche durch: i. Armut, 2. Tempera- 

Tienty 3. durch »n€He Einflusse anderer Nature. 

Die Armutj so fiihrte er aus, sei ein »schHmmer Gesell«. Das Wort 

ies Dichters vom »Raum ist in der kleinsten Hutte« bewahrheite 

sich keinesfalls. Der Dichter hat von den kleinsten Hiitten offenbar 

keine Ahnung gehabt. 

Das Temperament - er meint das hitzige - sei gefahrlich, weil es die 

Gefiihle durch »haufige Anwendung« abnutze und stumpf mache. 

Das dauert so ein Vierteljahr, und dann ist der Zauber weg. 

Die »neuen Einfllisse« sind Ablenkungen eines oder des andern Teils 

der Liebenden, sei es durch Personen, sei es durch Erlebnisse, ande- 

:es Milieu, neuer Beruf und dergleichen. 



712 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Von alien Dichterworten iiber die Liebe sei nur eines wahr. Das lautet 

Drum prufe, wer sich ewig bindet. 

Der Vortragende ist trotzdem ein Gegner der freien Liebe, weil si( 

»das Gewissen stumpf macht«, und zweitens: weil wir einfach »nocl: 

nicht so wait sind«. 

»Das wird noch Jahrhunderte dauern«, sagte er, und sein prophetisct 

aufgerissenes Auge schweifte von den Horern weg in die blaue Zu- 

kunft. 

Von dort kehrte es erst wieder beim Schluf^ des Vortrags, der in einej 

Verherrlichung der »wahren Liebe« ausklang. 

Die Ehepaare stiefien sich mit den EUenbogen zardich an, und die jun- 

gen Damen trauten sich teilweise in die ersten Banke von 

Die Liebesparchen erglanzten intim und verdunkelten den Schein dcj 

drei elektrischen Birnen und Apfel. 

Die selbstandigen jungen Manner machten unglaubige und enttauschu 

Gesichter. 

Ach! Sie waren gekommen, um einen Nackttanz von schamlosen Wor- 

ten und Begriffen zu sehen, und sie erlebten einen frommen Reiger 

sittlicher Traktatlein. 

Sie beschlossen, sich anderwartig zu entschadigen, wozu es auch ir 

Lichterfelde Gelegenheit gibt. 

Die kleinen Kinder trippelten an der Hand ihrer Mutter aus dem Saa 

und begannen, der Liebe entgegenzuwachsen wie Azaleen nach einenr 

Sommerregen. 

Und ich fiihlte in meinem Herzen die Liebe erwachen. Trotz alle- 

dem! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 19. i. 192; 



MELODRAMATISCHE WIRKLICHKEIT 



Die WirkHchkeit hatte seit eh und je literarische Ambitionen; sie 
bringt Symmetrie in die Begebenheiten, stilisiert die Menschen und 
verleiht ihren Handlungen gelegentlich eine Pointe, 
Im SchlieffenprozefS blamierte sie sich. Sie machte, wie ein Literat, dei 
gewissenlos geworden ist, Konzessionen an den billigen Geschmack. 



1922 713 

»Kitsch« nennt man ein willkiirliches plumpes Umbiegen der Wahrheit 
in rohe oder sentimentale Effekthandlung. 2um Beispiel: die Kenn- 
zeichnung eines Schurken durch einen brandroten Knebelbart; die eines 
engelhaften Frauenzimmers durch himmlische Augenblaue; die Hab- 
sucht, die Geldgier und den Neid durch tiickische Verwandtschaft, die 
dem Erben nach dem Leben trachtet; Gift in seine Topfe tut und Mor- 
der dingt; Findigkeit und rachende Vergeltung durch einen - ach, wie 
schlauen - Detektiv, der mit Wachspuppen die Morder verleitet und ihr 
scheinbarer Komplize wird. 

So getreu ist diesmal die WirkHchkeit den Spuren eines kitschigen Ro- 
manciers gefolgt, dafi sie sich selbst desavouierte, indem sie - unwahr- 
scheinhch wurde. Nicht einmal der Wirkiichkeit ist noch zu trauen. Die 
KriminalpoUzei, die ja sozusagen von Geburt an Unwahrscheiniichkei- 
ten gewohnt ist- nicht einmal sie konnte die Geschichte von den Mord- 
planen der grafHchen Famihe glauben. Sie sagte: Das ware Kino. Und 
das Leben scheute sich nicht, einen Schundfilm zu verfassen. 
Seine Handlung ist grob und einfaltig: Der junge Graf, der kein Geld 
lat, beneidet und hafSt den Erbgrafen. Die arme Grafin mochte reich 
jein. Welch primitive SelbstverstandHchkeit! Die Folge ist, dai^ die ar- 
nen Grafen beschlie£en, die reich en zu ermorden. Und als wollten sie 
hr Tun und ihre Absicht mit noch mehr kitschigem Gehalt erfiillen, 
iingen sie sich Morder, statt selbst und unauffalHg zu toten. Und als 
;tanden diese im Solde eines Kriminalromanschreibers, benehmen sie 
;ich ungeschickt und schminken sich romantisch. Ja, einer geht hin und 
rerr'it sich und seine Auftraggeber dem bedrohten Majoratsherrn. Der 
lat einen so unerschiitterlichen Glauben an die Niichternheit des Le- 
)ens, dafi er den abenteuerlichen Enthiillungen lange nicht traut. Seltsa- 
nes Gefiihl, so plotzlich mitten aus Abrechnungen iiber die letzte 
irnte, FamiHenfesten, Jagden, Pferdezucht und Obstkultur in das 
►cheinwerferlicht eines sensationellen Kriminalstucks zu geraten! 
Jnzweifelhaft wird die Begebenheit erst nach dem Gestandnis der 
chuldigen. Und dieses hat nicht nur einen iiberraschenden Inhalt, son- 
ern auch eine verbliiffende Form. 

)as Unglaubliche entwickelte sich mit einer plumpen Selbstverstand- 
chkeit. Eine Stutze des Hauses gibt den Rat, einen Menschen umzu- 
ringen, wie Stlitzen des Hauses sonst zu raten pflegen: Lassen Sie doch 
en Zaun niederreifien! Oder: Sie miifiten den Koch abschaffen! 



714 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

Wie Mutter sonst Sohne zu mahnen pflegen: Du mufitest doch dein 
Examen machen! - so spricht hier die Mutter: Du mufit ihn toten! 
Der gedungene Morder erzahlt einigen Bekannten von seinen Absich- 
ten, und sfe - raten ihm ab. Wie sonst Bekannte wohl zu sagen pflegen: 
Ich rate Ihnen nicht, den Kammgarnersatz zu kaufen! Kaufen Sie lie- 
ber den karierten englischen Stoff ! - so spricht hier der und jener: Ich 
rate Ihnen nicht, den Majoratsherrn zu toten! 

Der Auftraggeber erklart dem Gedungenen den Mechanismus der 
Schiefiwaffe, als ware es ein Kodak, mit dem ein Onkel liberraschend 
photographiert werden soil, oder ein Feuerwerk fiir eine Geburtstags- 
feier. 

Selbst durch den Zynismus des hartgesottenen Verbrechers von Ge- 
burt und Beruf zittert noch gelegentUch das Grauen des Mords. In der 
Kreisen der Schheffens hat ein Mord nichts Fiirchterhches. Man be- 
spricht ihn bei Tisch, zwischen Suppe und Rehriicken, wie einen ge- 
meinsamen Ausflug. Das Blutvergie{^en nimmt sich harmlos aus wit 
ein Gesellschaftsspiel. Das Bleigiefien in der Silvesternacht ist gewich- 
tiger. 

Hier liberschreitet das Leben sogar die Grenzen des Kitschiers. Diesej 
lafit Verschworungen, Attentatsvorbereitungen und schreckhche Plant 
sich ganz anders vollziehen: Die Verbrecher selbst sind von der Unna 
tiirlichkeit ihres Vorhabens sozusagen angesteckt. In ihrem Sprechei 
und Tun zittert die Romantik der Verworfenheit. In den Vorbereitun 
gen der Schheffens zittert gar nichts. Sie haben scheinbar keinen Sim 
fiir das Ungeheuerhche. Sie verschieben die Mafie. Um Geld zu be 
schaffen, gibt es zwei Moglichkeiten: entweder heiraten oder toten. 
Zwischen einer nicht standesgemafien Heirat und einem standesgema 
f^en Attentat gibt es scheinbar keinen Unterschied. Ja, jene ist soga 
schlimmer als dieses. Die Grafin, die kaltbliitig einen Mord plant, em 
port sich iiber die reichen Eltern, die den jungen Grafen erst sehei 
woUen, ehe sie ihm die Tochter geben. Das sind zu grof^e Schwierig 
keiten fiir einen Grafen. Einen Schlieffen nimmt man ohne weitere 
zum Schwiegersohn, oder er totet den Majoratsherrn, als wahre er si 
die Ehre des Standes besser. 

Der jiingste Sohn der Grafin betrachtet »Verrat an der Familie« a] 
Siinde, verbrecherische Mitwisserschaft beschwert ihn nicht. Wenn ei 
Rauber seine Briider nicht verrat, so wahrt er die Prinzipien des Rau 
bertums. Der junge Schlieffen halt an der Familienehre fest, auch wen 



1922 7^5 

lie Familie keine mehr hat. Auch er sieht die Dinge verkehrt, Er iiber- 

ichatzt den Stand auf Kosten der personlichen Sittlichkeit. Und er 

jlaubt, eine unsittliche Tat ware besser, wenn ihr Urheber Schlieffen 

leifit, schlimmer, wenn er Meyer hief^e. 

yie grofite Schuld dieser Schuldigen ist ihre Borniertheit. Eine Reise 

;u den Eltern der reichen Braut ist eine Demiitigung. Die Gemein- 

chaft mit einem zweifelhaften Gemiisehandler keine. Sie haben eine 

,bnorme Sittlichkeit. Ein falscher Standesdiinkel stiitzte diese Krank- 

leit, die von Geldgier verursacht worden war. 

Der Charakter der Schlieffens ware nie offenbar geworden, wenn das 

.eben sich in diesem Fall nicht so kitschsiichtig gezeigt hatte. Jene 

eiche »Partie« hatte leicht zustande kommen konnen: Die Tochter 

ines Biirgerlichen ware Grafin, und der Graf Hans Heinrich hatte 

larmlos auf Hasen und Kaninchen geschossen und nicht auf Majorats- 

lerrn. 

o sind die Launen des Lebens schicksalhaft. Es wollte einmal sensa- 

lonell sein, und statt in den ausgefahrenen und wohlbekannten Gelei- 

en zu bleiben und die Menschen ihren gemachlichen Weg des Heira- 

ms gehen zu lassen und des niichternen Ablebens, schob es hier einen 

Liegel vor, legte dort ein Hindernis und machte gewissermafien seinem 

men hterarischen Namen Schande. 

Jnd bewies allerdings, da£ die Anstandigkeit von Zufallen abhangig 

;t. 

Berliner Borsen-Courier, 22. i. 1922 



DIE TONENDE MAUER 

Liebeshriefe und andere Korrespondenzen 

)ie Straf^e heifit Miillerstrafie und ist von solch qualvoller Unaufhor- 
chkeit, als triige sie ihren Namen nicht nach einem, sondern nach 
len Miillers der Welt. 

ie liegt, wie das meiste QualvoUe, im Norden der Stadt und besteht 
xs Mietskasernen und Lagerplatzen und auch freien Platzen, die, von 
retterzaunen mangelhaft verdeckt, ihre peinlichen Blof^en den Pas- 
mten enthiillen miissen. 



7l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Kein Unkundiger ahnt, dafi von dieser Miillerstrafie ein bescheidene] 
Seitenweg zu dem wenig bekannten und wie durch eine besonden 
Harte des Magistrals nach dem Norden versetzten aristokratischer 
Schillerpark fiihrt, Dagegen sieht jedermann gegeniiber diesem We^ 
einen Kintopp, in dem anachronistische Filme gegeben werden, Unc 
links neben den Lichtspielen sind, konnte man sagen: die Tonspiele. 
Ich meine: die tonende Mauer. 

Ich stand an einem linden Tauwettertag zwei Stunden und langer ne 
ben der tonenden Mauer und lauschte ihren Offenbarungen. Sie wufit< 
von zwei Kinderbetten, einem Kinderwagen, einem Militarmantel 
einem grauen Strafienanzug, einem »frisch abgelegten Frack«, zwei un 
orthographischen Cutaways, die mit »K« und »ai« geschrieben waren 
und mehreren Schlafstatten und Zimmern fiir garantiert solide Herrei 
bei anstandigen Familien; und weniger anstandigen Anzeigen. 
Diese Mauer ist namlich eine Art Inseratenzeitung aus Mortel unc 
Stein, in der die Zeile gar nichts kostet. Oder eine ausgerollte und Fla 
che gewordene Litfafisaule. Die Menschen im Norden, die etwas ode 
sich selbst anbieten, und die andern, die ein Bediirfnis nach Kinderbet 
ten, Schlafstatten, Freundschaft und Liebe haben, verkehren dure] 
schriftliche Ankiindigungen auf dieser Wand miteinander, 
Und auch jene, die einander personlich schreiben miissen, benutzei 
die Mauer. Wer lesen kann, liest hier eine Welt. 
Eine Schrift lautet: 

Libe Miez, ich kohme Sontag wie gewohnlig. 
Es ist wahrscheinlich der Brief eines Halbwiichsigen an die Geliebt 
seines mutierenden Herzens. Ich stelle mir vor, dafi »Miez« ein was 
serblondes Madchen ist mit Haaren, die so feuchtglatt gestrahlt sine 
als hatte man sie schon aus dem Spreekanal gezogen. Viele arme Mad 
chen im Norden haben noch im lebenden Zustand Haare und Gesich 
von freiwillig Ertrunkenen. 

Ich stelle mir auch vor, dafi die Miez heute urn sechs Uhr, wenn sie au 
der Fabrik gekommen ist, zu der Wand lauft ihre Korrespondenz ho 
len und dafi sie vielleicht gehofft hat, er wiirde ausnahmsweise einm; 
am »Sohnabent« kommen, erstens, weil sie sich ja sehnt, und zweiten* 
damit doch endlich auch eine Abwechslung da sei. 
Ach! sein Instinkt ist stumpf, und sein Sinn schlafrig, und seine Vei 
nunft gebeut ihm todliche Regelmafiigkeit. Er »kohmt Sontag« un 
»wie gewohnlig« . . . 



1922 717 

Eine blaue Kreide hat solches mitzuteilen: 

Ich ferkaufe den blauen Hut, wen Du nicht abholen 
komty Elsa! 

Pauline Ebers. 
Ich weifi, dafi Elsa der schone blaue Hut gefallt, den Pauline Ebers hat. 
Es ist, sagen wir, ein himmelblauer Hut, blau wie die Luft im Monat 
Marz, in dem die blaue Farbe sich jedes Jahr immer neu gebart. Oder 
es ist ein ultramarinblauer Samthut, leuchtend wie Gottes ewige Giite. 
Solch einen Hut mufi man haben, und man will ihn bei Pauline Ebers 
kaufen. Er kostet einen sogenannten Pappenstiel, den man nicht be- 
sitzt. Es ist sehr lacherlich, keinen Pappenstiel zu besitzen. Daher zahlt 
man eine kleine Angabe oder tragt den Pappenstiel in Raten ab. Wenn 
man aber drei oder noch mehr Raten schuldig bleibt, ist diese Pauline 
Ebers imstande, den wunderbaren Hut einem Fremden zu verkaufen. 
Oh, welch ein Jammer! 
Mit einer weifien Kreide steht am unteren Mauerrand: 

Paule gib mir meine Kiselsteine! 
Es gibt sehr viel Tragik in der Welt, fast noch mehr als Kieselsteine. 
Am traurigsten ist es, wenn Paule sich die Kieselsteine leiht und gar 
nicht mehr daran denkt, sie zuriickzugeben. Dabei ist zu bedenken, 
dafi der Mensch jeden Tag Kieselsteine braucht und dz& man sie in der 
grofien Stadt nicht sehr haufig findet. Man muE schon einen Bauplatz 
ausfindig macheri oder in einen noch wenig bekannten Park laufen, um 
schone, glatte Kieselsteine zu finden, die vom Regen glattgeschliffen 
sind, daC man sie in die Tasche stecken kann und in den Handen fiih- 
len wie etwas Sanftes, Frommes, unendlich Kostbares. 
Ich wiinschte mir sehr, einen oder mehrere solcher Korrespondenten 
zu sehen, und ich sah, als es zu dunkein anfing: ein kleines Madchen, 
eine Frau und zwei Manner. Sie klebten Zettel an die Mauer. 
Das kleine Madchen war offenbar von ihren Eltern hergeschickt. Sie 
trug keinen Kleister mit, sondern schwenkte den schon klebrigen Zet- 
tel wie ein kleines Fahnlein in der Hand. Er war klebebereit und gut 
stilisiert und zeichnete sich durch eine kiinstlerische Rondeschrift aus. 
Es war ein prachtvoUer Zettel, und er kiindigte eine Schlafstelle an. Fiir 
die Quahtat dieser Schlafstelle sprachen die Orthographic und die Kal- 
ligraphie. Und wenn sonst nichts auf diesem Zettel stiinde als nur das 
Wort Schlafstelle und die Adresse, ich wiirde hingehen, brauchte ich 
eine Schlafstelle. 



7l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Frau trug einen Kleistertopf unter dem Tuch mit einem sparlich 

behaarten Pinsel. Sie wahlte einen moglichst auffalligen Platz fiir ihre 

Kundmachung, es war sozusagen ein Platz an der Sonne, wie er dieser 

Frau im Leben niemals beschieden sein wird. 

Und sie kiindigte ein Rad zum Verkauf zn. 

Die zwei Manner, die von ihren Pappenschildern so beschattet waren, 

dafi ich nur ihre gedrungenen Gestalten und ihre kurzen, muskelstrang- 

karierten, nackten Halse sah, waren schon mit der Technik des Klebens 

vertrauter. Sie hatten eine Tube Zahnpasta in der Tasche, und sie 

quetschten daraus behutsam Regenwiirmer aus Klebestoff und bef estig- 

ten geschickt und sicher ihren Zettel, so dafi er alien Unbilden der 

Witterung standhalten wird. 

Sie suchten einen jungen verschwiegenen schlanken Gefdhrten zu Sport 

und SpieL 

Es ist schon und erhebend, wieviel Respekt die Menschen voreinander 

haben. Keiner, der mit unehrlicher Getriebenheit sein Plakat iiber ein 

fremdes klebt. Raum fiir alle hat diese Wand. 

Ich hor' das ewige Tonen dieser Mauer. Sie offenbart mir die Leiden und 

Kiimmernisse aller, die hier ihr Privatleben plakatieren. Ohne Scheu 

und aufrichtig. 

Ein anderes Mai will ich versuchen, ihnen alien zu folgen, die hier 

anzeigen, Kinderbetten kaufen, Schlafstatten mieten, Cutaways anpro- 

bieren. 

Und, wenn ich kann, den Kindern Kieselsteine bringen, Fraulein Else 

die Raten fiir den blauen Hut bezahlen und »ihn« veranlassen, einmal 

auch am Sonnabend zu kommen, auf dafi »Miez« sich freut. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 24. i. 1922 



DAS TESTAMENT DES DICHTERS 



Der Dichter fiihlte seinen Tod nahe und schamte sich vor der Nachwelt 
alles Uberfliissigen, das er im Leben vollbrachte, und alles Notwendi- 
gen, das er unterlassen. Denn er wufite, dafi man der Nachwelt nicht nur 
grofie Werke, sondern auch Rechenschaft schuldig ist - fur das bifichen 
Unsterbhchkeit, das zu verleihen allein in ihrer Macht steht. 



1922 JV) 

Er packte also ein paar Dokumente ein, Zeugnisse keuscher Ver- 

schwiegenheit. Er vernichtete sie nicht, um sich nicht dem Verdacht 

auszusetzen, er hatte Gott weifi was Fiirchterliches der Nachwelt un- 

terschlagen. Aber er bestimmte: Erst nach fiinfzig Jahren diirfen die 

Manuskripte gelesen werden. 

Der Dichter Grillparzer, Osterreicher und Skeptiker, mag vielleicht so 

spekuliert haben: Entweder bin ich in fiinfzig Jahren vergessen, dann 

schert sich die hochverehrhche Nachweh eh net um die Papiere; oder 

ich bin beriihmt und uber fiinfzig Jahre hinaus unsterbhch - dann 

mag's die Nachweh wissen. 

Immerhin ist es mogHch, dafi der osterreichische Dichter Grillparzer, 

der gelegentlich boshaft und der Literaturgeschichte nicht griin war, 

die Forscher auf die Folter der Neugier spannen wollte (die man bei 

Forschern »Wissensdurst« nennt). 

Oder er zweifelte vielleicht an einer dauernden Wirkung, und er 

wiinschte, eine begrenzte Unsterblichkeit sich vorzustellen, indem er 

wenigstens dank seinem Verbot weiterlebt, wenn schon nicht durch 

sein Werk. - Aber diese Theorie ist eine traurige und gewagte. 

Am Sonnabend waren die fiinfzig Jahre seit dem Tode Grillparzers 

um, und die Manner der Literatur harrten der Eroffnung des Nachlas- 

ses. 

Da aber stellte es sich heraus, dafS die gescheiten Forscher eh schon 

alles wufiten, besser fast als der Grillparzer. Wessen der Dichter sich 

vielleicht so geschamt hatte, seines unentschiedenen Verhaltnisses zu 

Kathi FrohUch - der traurigen Gestalt mit dem heiteren Namen-, da- 

von wissen alle Gymnasiasten von den Giebeln der Mittelschulwissen- 

schaft schon seit fiinfzig Jahren. 

Nur ein Satz eines Tagebuchblattes wird noch Thema germanistischer 

Seminariibungen werden: 

»Oh, weh, weh denen, die ein Herz haben, wenn sie betrachten, und 

keines, wenn sie — .« 

Hier bricht der Satz ab; - »bedauern sollen« konnte man vielleicht 

aphoristisch nach dem Sinn des Vorhergehenden erganzen. 

Grillparzer hat diesen Satz nicht voUendet, ehe er seine Manuskripte 

einpackte. 

Manchmal ist es, als ware dieser Satz ein Gestandnis Grillparzers, des 

Osterreichers, der vielleicht deshalb so schwer um die hochste Vollen- 

dung kampfte, weil ihn sein Herz in der Betrachtung storte, weil es 



720 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nicht die zur Betrachtung unerlafilich notwendige personliche Distanz 

hat, ohne die alle Dinge sozusagen im Neigungswinkel des Gefiihlfel- 

des stehen . . . 

Oder: Zwischen den traurigen Zeilen lachelt gar der Ironiker uber die 

Bemiihungen, den Satz zu voUenden: iiber die Feierlichkeit bei der 

Eroffnung gleichgiiltiger Blatter; iiber die Orientiertheit der Literatur- 

geschichte — 

und iiber die hier niedergelegten Betrachtungen. 

Berliner Borsen-Courier, 25. i. 1922 



DIE ASYLE DER HEIMATLOSEN 

Orientalen und Russen - Studenten aus Arabien - Die Teestube 

Viele Fremde aus dem Osten kommen in dieses Lokal, das aufierlich 
sich unauffallig-assimiliert einfligt in die Zivilisationsphysiognomie 
der NUrnberger- und der Kurfurstenstrafle. 

Daf$ die Fremden aus dem Osten so gerne sich im Berliner Westen 
aufhalten, hat seinen tiefen psychologischen Grund: Ich vermute, dafi 
sie die ZiviUsation entbehren und Sehnsucht haben nach technisch ent- 
wickeltem Europaertum. Sie etablierten sich also, wenn sie nur halb- 
wegs bemittelt sind, in der Nahe der Untergrundbahnhofe, der Likor- 
dielen und der Kinopalaste. Und nur die hoffnungslos Armen siedeln 
sich in der Gegend der Warschauer Briicke an. 

In dieser »Diele« in der Niirnberger Strafie, die Restaurant und Cafe 
zugleich ist, verkehren in den Nachmittagsstunden Menschen aus dem 
Agypterland und aus Arabien, Armenier, Kleinasiaten und Syrer. 
Manchmal sieht das Lokal aus wie ein aufgeschlagener ethnographi- 
scher Atlas. Mir ist, als wenn ich die Tische und Nischen nicht in der 
horizontalen Flache betrachtete, in der sie sich dem Blick darbieten, 
sondern als blatterte ich Tisch fiir Tisch, Stuhl fiir Stuhl um und lase 
die verbindenden Texte, die ich mir aus dem gelernten Mittelschulma- 
terial rekonstruiere. 

Nun bin ich zu phantastischen Ubertreibungen genotigt, zumal, wenn 
sich in die Betrachtung der Orientalen Wehmut mischt, weil sie gar so 
zivilisiert in der Niirnberger Strajle sitzen, in einer Stube, in der die 



1922 Jl\ 

Lampen fiir mitteleuropaische Begriffe und Poesiebediirfnisse mit 

bunten Taschentiichern bekleidet sind, auf daft sie Stimmung entwik- 

keln. 

Ein Fellache, der aus der Untergrundbahn steigt statt vom Riicken 

eines zweimal gehockerten Kamels, ist tragisch. Das Schiff der Sand- 

wiiste sollte ihn tragen, statt dessen spuckt ihn die Bahn der Stadtwliste 

aus. 

In weifien Gewandern soil er malerisch lagern im Schatten einer Palme, 

einer Dattelpalme, wenn moglich, am Rande einer Oase, und Wasser 

aus hohlen Handen schopfen, statt dessen sitzt er nach europaischer 

Unsitte auf einem erbarmlich harten Stuhl, stiitzt den Ellenbogen auf 

sine Marmorersatzplatte und tragt einen Stehumlegekragen und einen 

mglischen Anzug mit wattierten Schultern. 

A.ch! Und wenn ich verstiinde, was er spricht, ich wurde feststellen, 

daft Dollarkurse sein Gemiit bewegen. 

Die Studenten sind jung, und es sind viele. Sie setzen sich mit einem 

[ubel an einen Tisch, als batten sie im Triumph eine Stadt erobert. Sie 

laben flackernde Handbewegungen, als hielten sie flatternde Fahnen 

n siegreichen Fausten. Sie lesen in englischen Zeitungen und sprechen 

^on Politik. Sie bedrohen ihre abwesenden Feinde, und ich erkenne, 

laft sich die Studenten der ganzen Welt gar nicht voneinander unter- 

;cheiden. Sie stehn wahrscheinlich alle auf Chamberianischem Men- 

;urboden, tragen geistigen Wichs und sind mit einem Wort deutschna- 

ionale Araber. 

^uch Kaufleute sind zu sehn, und es sind ganz hervorragend verniinf- 

ige Manner, mit philosophisch vorgewolbten Stirnen und edlen Na- 

;en, sanften blassen Ohren und schmalen Wangen, Manchmal nur ist 

:in stilles Giimmen in den dunklen Augen, die scheinbar je nach Stim- 

nung ihre Farbe verandern und bernsteingelb werden konnen. 

rre ich nicht, sind jene dort Menschen vom Kaukasus. Sie sprechen 

lit weichen, warmen Stimmen, als hiillen sie die Worte zartHch ein, 

tatt sie in die Luft zu schicken. Sie haben eine weifte Hautfarbe und 

inen schlanken Wuchs. Sie konnten grofte Pelzmiitzen auf den edlen 

iauptern tragen und reich verzierte Dolche in breiten Giirteln, aber 

ie tragen steife Hiite und unscheinbare graue Straftenanziige und sit- 

en in der Niirnberger Strafte. 

chrag gegeniiber dieser Cafestube ist eine zweite Konditorei, die au- 

erlich ihrer Umgebung vollkommen assimiliert scheint und im Innern 



722 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

eine echte russische Teestube darstellt, wie man sie wirklichkeitsge- 

treuer auch in Rutland nicht sieht. 

Das Buffet hat allerdings Sarotti-Schokolade und auch sonst westliche 

Geniisse aufzuweisen. Allein, die Anordnung verrat dem Kenner die 

russische Sachlage. Die Likorglaser glanzen in anmutiger Aufforde- 

rung und gruppieren sich um die Likorflaschen. Auf dem Tisch Uegen 

russische »Prykuski«, weifie runde Beugel. Die Besitzer der Stube sind 

Russen. Und die Kellner auch. 

Sie tragen weifie Uniformgewander wie die iibUchen Verpflegungs- 

trainsoidaten der mitteleuropaischen Gasthauser. Aber sie haben keine 

iibhche^Sachlichkeit in den Bewegungen noch in den Fragen, Ihre Hof- 

Hchkeit hat ein Riickgrat und ist eine wunderbare Mischung aus Selbst- 

bewufitsein und BereitwilUgkeit. 

AUe Gaste sprechen russisch. Den Tee bekommt man nicht in Schaler 

und auch nicht in vernickehen Behaltern, sondern in ordenthchen Gla- 

sern, wie es sich fiir Tee gehort. Man sieht, dafi er rostbraun ist unc 

klar wie geschmolzener Rubin. 

Die russischen Gaste rekrutieren sich aus den Fluchtlingen, Sie trager 

teilweise noch Nationalkostiime. Ein grofier Mensch mit blanker 

Schaftstiefeln und einem schmalen Ledergurt um die Hiiften; eir 

Mann in bestbiirgerHchem Pelz mit einer unendUch hohen PelzmutZ( 

auf dem Kopf, eine Dame mit einen Zweispitz. 

Fast alle kennen einander. Es wird nach der Adresse eines Herrn ge^ 

fragt, und eine mannHche Stimme gibt aus dem Hintergrund eine Pen 

sion am Kurfiirstendamm an. 

Es ist ein sehr strenger, frostiger Winternachmittag, und hier ist e 

warm, behagUch und heimatlich. 

Die vereisten Fensterscheiben konnten die Vorstellung hervorrufen 

dafi hinter ihnen nicht die Niirnberger Strafie hegt, sondern womog 

Hch der Newski-Prospekt. 

Manchmal steigt ein Gesang aus einer Mannerkehle und bricht sofor 

ab. Es ist, als traue man sich nicht, heimatUch-ungezwungen zu wer 

den. 

Sie wissen wah'rscheinlich nicht, dafi ein paar Schritte weiter andr 

Menschen sitzen, auch Menschen im Exil oder zumindest in de 

Fremde, und dafi sie alle die Niirnberger Strafie einte zu einer Gesell 

schaft Obdachloser, die ihre Heimat nie verlassen konnen, auch i; 

Berlin nicht und nicht in der Nahe der Untergrundbahnstation Wit 



1922 7^3 

tenbergplatz, weil sie die Heimat auf dem Riicken tragen, ewiglich, wie 
Schnecken ihre Hauser. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. i. 1922 



ICH LERNE REDEN 

Fur drei Mark - Der zage Schritt - Das Gefuhl der Rache 

Am Alexanderplatz driickte mir ein zweibeiniger Zettelverteilungsap- 
parat ein grlines Reklameblattchen in die Hand. Darauf stand: 

»Professor Walther B .. . erteilt Sprechunterricht. - Freier Mann - 
freies Wort; Konzentration macht Personlichkeit; N erven in der 
Hand - Publikum in Gewalt. Beginn der Kurse heute. Meldung 
sofort. Blumenstrafie (Hausnummer).« 

Ich begab mich zum Herrn Professor. Um 7/2 Uhr abends begannen 
die Kurse. Drei Mark kostet der Kurs. 

Vierzehn Schuler, dem Handarbeiterstand offenbar zugehorig, und 
einige junge Menschen aus der Konfektion wollten Redner werden, 
ihre Personlichkeit konzentrieren, ihre Nerven in der Hand halten und 
das Publikum in die Gewalt nehmen. 

Vollendete Meister konnen bekanntlich niemals aus einem fertigen 
Kurs springen. Den jungen Leuten gefiel die Kunst der Beredsamkeit 
so gut, daE sie direkt aus dem ersten Kurs in den zweiten hiniibersegel- 
ten, dem Herrn Professor zur Freude. 

Der stellte sich hinter eine schiitzende Stuhllehne und feuerte aus gela- 
dener Brust eine Eroffnungsrede gegen die Zuhorer ab. 
In der Eroffnungsrede lag das Programm des Herrn Professor einge- 
hiillt wie ein Geschofi in der Patronenhiilse. 

Das Programm bestand in der Hauptsache aus den im Reklamezettel 
angedrohten Bestandteilen. 

Also sprach der Herr Professor ungefahr folgendes: Die grofien Red- 
ner des klassischen Altertums, wie zum Beispiel Cicero und Demos- 
thenes, miifSten uns lehren, wie die Zuhorer »zh nehmen« seien. Denn 
das »Nehmen« sei die Hauptsache. 



724 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In der Art, wie jemand sich zu Worte melde und dann vor die Ver- 

sammlung trete, liege schon der Erfolg bzw. das Mifilingen. Man kann 

sich mit lauter, selbstbewufiter Stimme zu Wort melden oder stotternd 

und mit leiser, und man kann aus seiner Sitzreihe mit zagen, trippeln- 

den Schritten herauskommen oder mit festem Auftreten. 

Bei der Erwahnung der »zagen, trippelnden Schritte« erhob sich ein 

gewissermafien homerisches Gelachter, wodurch der vom Professor 

gewiinschte Kontakt mit der Antike wenigtens in epischer Beziehung 

hergestellt war. 

»Auf die Konzentration«, so fuhr der Redner fort, komme es an. Den 

Gegenstand, den man besprechen wolle, miisse man fest im Auge be- 

halten, dann konne man frei iiber ihn Endgiiltiges sagen. Keine Ablen- 

kung durch Beifall oder Widerspruch. 1st man aber schon einmal aus 

dem Konzept gebracht, so warte man ein bifichen, lasse den »Sturm 

vorubergehen« und denke wahrend dieser Pause womogUch iiber 

einen Witz nach, der nicht einmal ein gescheiter sein miisse. Das Publi- 

kum nehme auch dumme Witze entgegen. 

Um diese Bemerkung zu begriinden lachte der ganze Kurs. 

Dann fragte der Professor: Wer melde t sich zu Wortf - und er tat diese 

Frage mit einem solchen Aufwand an Pathos, als wollte er fragen: 

»Wer meldet sich zum Demosthenes ?« 

Es meldete sich ein antik aussehender junger Mensch in einer Weste 

aus braunem Peluche mit wunderschonen Perlmutterknopfen. Verlieh 

ihm dieses Gewand schon eine sozusagen glanzende Autoritat, so 

wurde diese noch erhartet durch den vorschriftsmafiig festen Tritt, den 

der junge Mann gegen den Fufiboden schmetterte, sowie durch eine 

grammophonahnhche Stimme, die so klangerfiillt war, als hielte der 

Demosthenes einen Trichter aus Schallblech vor den Lippen. 

»Das Thema?« fragte der Professor. 

»Uber das Gefuhl der Rache!« schmetterte der JiingHng. Dann sprach 

er. 

Die Rache verglich er mit einem gefraEigen wilden Vogel, mit einem 

krachzenden Raben zum Beispiel. Es war eine Art Gefliigelrache. Den 

zu Rachenden nannte er ein Opfer, und die Racher gliederten sich in 

Familienracher, Liebesracher, politische Racher usw. Es gab eine blu- 

tige Rache und eine unblutige. 

Diese Einteilung war genau auf einem Zettel verzeichnet und bedeu- 

tete Punkt a und b. Der junge Mann warf jedesmal einen Blick in sei- 



1922 7^5 

nen Zettel, stach gleichsam die einzelnen Punkte auf. Er sah aus wie ein 

Spatz, der Brosamen aus einer Hand pickt. 

Bei der blutigen Rache klatschte ich Bravo. Dadurch geriet das Kon- 

zept ins Wackeln, und der junge Mann, eingedenk der Mahnung des 

Professors, dachte liber einen Witz nach. Er fand ihn schliefSlich, und 

es sah aus, als holte er ihn mit elastischem Schwung aus den Tiefen 

seines Gemiits, 

»Hat Ihnen jemand Ihre Braut erschlagen?« fragte er mich. Und das 

Auditorium lachte. 

»Beide Brdute!« sagte ich. 

Der Herr Professor B. unterbrach unsern Dialog und sagte: Mutwil- 

lige Witze diirfe ein Redner nicht machen. 

»Soll ich /e/gwilUge machen?« fragte ich. Worauf alle mich sehr bose 

ansahen und mit scharfen militarischen Korperbewegungen ihre BHcke 

auf mich richteten wie auf einen General bei der Parade. Somit war 

meine rednerische Ausbildung beendet, und ich kehrte reuig zum 

Schreiben zuriick. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 27. i. 1922 



WELT IM EIS 



Die Ereignisse vollziehen sich alle gleichsam gedampft und mittelbar, 
als lage zwischen ihnen und uns eisblumenbesates Glas. Die Aufien- 
welt vermittelt sich auf dem Umweg iiber Trikot und Pelz. Der ego- 
zentrische Mensch wird noch egozentrischer. Er entwickelt Eigen- 
warme und hiillt sich in sie wie in Wattekreise. Die Seele liegt unnah- 
bar wie ein einziger Kern in zahllosen Schalen verpackt. Die Wahrneh- 
mungen erreichen kaum die auf^erste Schale des Ichs. Altruistische Ge- 
fiihle, wie Liebe und Mitleid zum Beispiel, werden aufgebraucht von 
den Bediirfnissen der eigenen Personlichkeit. So wandelt der Mensch, 
unaufhorhch mit der Beheizung seiner selbst beschaftigt, in einem Ne- 
bel notwendiger SelbstUebe durch die Grausamkeit des Frosts. 
Der Himmel triigt sich eine marzliche Blaue vor, als wandelte keine 
mondblasse Sonne iiber ihn, die ihren Namen nicht verdient. Sie weckt 
literarische Erinnerungen an Werchojansk und Korolenko. Es ist eine 



726 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Sonne der Verbannten und der Heimatlosen, Wenn sie untergeht, 
glaubt man's ihr nicht, dafi sie iiber der anderen Halbkugel wieder 
emportaucht. Man glaubt, sie begebe sich in eine Warmestube oder in 
das Asyl fiir Obdachlose . . . 

Des Nachts sehen die Sterne aus wie Quecksilberkiigelchen, die festge- 
froren und fiir Thermometer nicht mehr zu branch en sind. Der Wind 
streicht behaglich seinen Weg, als ware ihm warm, und fortwahrend in 
die gleiche Richtung, als hatte der Kurfiirstendamm kein Ende und als 
miifite man niemals kehrtmachen. 

Am Tage erglimmen die Lichter in den Hausern, gelb und blinzelnd 
und verlegen. Der Mensch dreht frierend und vergeblich am Rad der 
Zentralheizung und sieht hohnisch auf einen Passanten der Strafie, der 
befliigelt seinem Hause zueilt, als erwarte ihn dort ein Glaubiger. 
Manchmal betrachtet man den Wetterfrosch, der partout unten sitzt, 
auf der letzten Sprosse der Treppe, sozusagen unter dem Gefrierpunkt. 

Der Omnibus schiittet nach hinten Menschen aus und schopft andere 
auf die Plattform. Der Aufforderung des Schaffners, auf das Dach zu 
steigen, begegnen die Menschen mit einem festen Nein, das sie im In- 
neren halten und aus Furcht vor Kalte nicht iiber die Lippen lassen. So 
bleibt sozusagen die Jefinersche Hintertreppe der Gefahrte verwaist, 
und nicht einmal der Kortner besteigt sie. 

Die wohlhabenden Sweaterwickelkinder zeigen gerotete Wangen und 
die armen gewissermafien geblaute. 

Diese verkaufen auch Streichholzer, als waren sie von Andersen, der in 
den Schaufenstern der Buchhandlungen ausliegt, verziert mit marchen- 
haften Majestaten, die noch auf Thronen sitzen und giildene Zepter in 
Handen halten, mit denen sie ihr Volk in Liebe und Giite regieren. 
Daran glauben die Kinder. 

In der Mefiterwoche sieht man Skilaufer, Menschen mit langen Bret- 
tern an den Fiifien, die durch wei£e Schneedecken geometrische Zeich- 
nungen ziehen wie auf Zeichenblattern aus Schulheften. Manchmal 
sausen sie iiber einen Abgrund. Ob sie driiben ankommen, ist hochst 
unwahrscheinlich. 

Noch lebensgefahrlicher ist ein Winterball. Die Musikkapelle spielt 
Shimmy und setzt sich in einem tosenden Galopp iiber alle Vorurteile 
des Taktes hinweg. Der Kapellmeister rudert mit den Frackarmeln ver- 



1922 JZ-J 

zweifelt, als galte es, sich aus einem tiickischen Klangestrudel 2;u be- 

freien, in dem man hilflos untergehn konnte. 

Hinter beladenen Tischchen sitzen wohltatig einkassierende Damen, 

deren Zweck am nachsten Morgen in den Zeitungen ausgewiesen er- 

scheint. Unter den Erschienenen sind sehr beriihmte Personlichkeiten 

zu sehn, denen die Ehrenkarte vom Gesicht abzulesen ist. 

Die Fenster speien Lichtbiindel auf die gefrorene Strafie. In der Ecke 

starrt ein Dienstmann in die Hohe wie ein bekleideter Eiszapfen. 

In diesen kalten Tagen berichten die Blatter von alleriei wichtigen Er- 
eignissen. Aber ihr Widerhall ist unwahrscheinlich fern, und der 
Mensch wundert sich, da£ so viele Geschehnisse noch Luft haben zu 
geschehen. Man hort von Wirklichkeiten wie von libersinnlichen Din- 
gen. 

In Konstantinopel stiirzt eine Strafie ein, und darunter ist eine versun- 
kene Stadt. Der Papst stirbt, und die Kardinale wahlen einen neuen. 
Die Regierung wird sogar mit einem Vertrauensvotum geschmiickt. 
Auch berichtet man von einem Mann, der an den Reichstag das Ersu- 
chen gerichtet hatte, den Abgeordneten Vorschlage machen zu diirfen, 
mittels derer aller Not auf einmal ein Ende bereitet wiirde. 
Leider wird man diesen Mann nicht sprechen lassen, und ich werde ihn 
niemals von Angesicht kennenlernen. Er gehort sicherUch zur grofien 
Menge der Weltverbesserer und kostenlosen Propheten. Seine Zeit ist 
der Hochsommer, und in der Hitze blieb er bestimmt unerkannt. In 
diesen Eistagen ist er ein Phanomen. 

Auf dem Weg vom Gehirn in die Feder erfrieren die Gedanken und 
bleiben sozusagen in der Gegend des Oberarmes stecken. Dieser Mann 
aber hat seine Vorschlage zu Papier gebracht, in einem schlechtgeheiz- 
ten Zimmer wahrscheinHch. Denn es ist anzunehmen, dafi die Bewoh- 
ner gutgeheizte Stuben wie solche Einfalle haben. 
Ich stelle mir vor, dafi er die vereiste Welt gar nicht kennt. Er miiftte 
einmal sehn, wie eine Herde von Brennabor betrunkener Menschen 
die grofSe Allee hinunterwallt, an frostigen Nachmittagen, dem Asyl 
fiir Obdachlose entgegen. 

Und wie fiinf und sechs betrunken und erfroren liegenbleiben. 
Eine ganze Welt von Cannes bis Genua, von Washington bis Tokio 
liegt im Eis. Es ist nicht zu sprengen. 

Berliner Borsen-Courier, 29. i. 1922 



DAS GERICHT IN DER HOH' 



Das Gericht sz& gestern auf dem Balkon im Potpourri. Vielleicht 
wird unerbittliche Strenge, wenn sie aus der Vogelperspektive 
kommt, erbittlicher; vielleicht ist es giinstig, wenn sich eine Anklage- 
bank zur Auflagebiihne erweitert; wenn der Angeklagte tanzt, statt 
2u sitzen; und wenn er dem Gerichtsbalkon hoflich seinen Riicken 
zuwendet. 

Das Parkett war ausverkauft. Die ausgeschlossene Offentlichkeit liefi 
die Gelegenheit, sich einzufinden, nicht unbeniitzt. Sie war nicht 
rachsiichtig und verfiigte keineswegs den Ausschlufi des Gerichts. 
Das Publikum sah, wie der Apparat der Justiz »sich in Bewegung 
setzte«, als die Richter Platz nahmen. 

Es klatschte lebhaften Beifall, als woUte es die Stimme der offentli- 
chen Anklage iibertonen. Vom Balkon her wehte eisiges Schweigen, 
die aufgeregten Seelen kiihlend und die erhitzte Inbrunst der Begei- 
sterung stillend. Unhorbar, aber fiihlbar, schwieg sozusagen die 
Stimme der Vernunft. 

Zwischen dem Gericht in der Hoh* und dem Publikum zu ebener 
Erd' bildete sich eine vertikale Bannmeile des Respekts. 
Die Kellner umsegelten mit den Frackschof^en sorgfaltig die Tisch- 
kanten und Anstandsklippen auf dem Balkon. Stiegen sie dann herun- 
ter in die Offentlichkeit, wehten ihre Frackschofie noch Wiirde von 
oben und zerstaubten in der Luft gewissermafien Autoritatsatome. So 
waren sie Mittler zwischen Diesseits und Jenseits. 
Die Gerechtigkeit hielt Kaffeetassen und andere Gerate in Handen. 
Ihre symbolischen Waagschalen und die Binde hatte sie in der Garde- 
robe wahrscheinlich abgegeben. 

Die Rampenlichter spendeten rotlichen Lokalaugenschein, in dessen 
Strahlen sich die Sachverstandigen ein deutliches Urteil bilden konn- 
ten. 

Die durchsichtigen Schleier der Tanzerinnen schamten sich und 
strengten sich vergeblich an, ihre Poren zuzumachen. Die nackten 
Tanzerinnen hiillten sich so vollkommen in Dezentheit, daE man 
nichts mehr von ihren Korpern sah. 

Ein Mann am Tisch in der dritten Reihe rief laut: Bravo!, um dem 
Balkon die Volkesstimme zu Gehor zu bringen. 



1922 729 



Die Tanzerin warf, indem sie sich verneigte, einen glanzenden Blick 

lach oben, wie um das Gericht zu erleuchten. 

IS hatte die ganze Zeit in wohltuendem Halbdunkel gesessen, 

Berliner Borsen-Courier, 31. i. 1922 



DER CHAUFFEUR KAISER KARLS 



m Cafe, in dem die Uberreste der Boheme an ihren Schulden, die sie 
m alten Cafe des Westens gemacht haben, weiterzehren, an einem 
risch zwischen Dichtern und anderen fraglichen Existenzen; kurz, an 
neinem eigenen Stammtisch traf ich gestern einen Mann vom Hof : Es 
St der Chauffeur des osterreichischen Hofes, der ehemalige Leib- 
hauffeur des ermordeten Erzherzog-Thronfolgers von Osterreich- 
Jngarn, Franz Ferdinand, und der spatere Chauffeur Kaiser Karls des 
.etzten. 

ir heifit Schober wie das gegenwartige osterreichische Staatsober- 
.aupt, aber er ist jetzt Chauffeur der tschechoslowakischen Gesandt- 
chaft in BerHn, bei der er seit dem Umsturz bedienstet ist, wie zu 
offen zur grofSten Zufriedenheit beider Potentaten. Dieser Chauffeur 
)t deshalb eine so bemerkenswerte PersonHchkeit, weil er zu den 
leistphotographierten Menschen Mitteleuropas gehort. Er selbst be- 
itzt eine grofSe Anzahl Postkarten, auf denen er in Begleitung von 
'iirsten und Generalen, Befehlshabern und sonstigen blamierten Men- 
3hen der Weltgeschichte zu sehen ist. Das hei£t: Die anderen sind 
igentlich in seiner, des Chauffeurs, Begleitung - wenigstens zu der 
ieit, in der sie photographiert wurden. Seit damals haben sich die Ge- 
Lchtspunkte verschoben, und die Verschuldungen der Chauffeure am 
7eltkrieg sind geringer geworden als die der »fuhrenden« Personlich- 
eiten, von denen man sich jetzt zu iiberzeugen anfangt, dafS sie nur 
ie Gefiihrten waren - zumindest von den verdienstvollen Chauffeu- 
m eben. Herr Schober ist jetzt ein liebenswiirdiger junger Herr in 
ivil, der sich im Cafe sehr gerne interviewen la£t und schon deshalb 
inem General vorzuziehen ist. 

lerr Schober ist gut gekleidet und ebenso situiert, denn er verdient 
chechoslowakische Kronen; viel mehr als damals, da er noch bei 



730 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Hofe war. Damals erhielt er hundertfiinfzig Kronen im Monat unc 
mufite sich den Namen eines Habsburgdieners gefallen lassen. Heut* 
dient er seinem angestammten Vaterlande. Er kam direkt vom Militai 
zum Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand nach Konopischt. Da; 
war im Jahre 19 12. Hier bediente er eins der Privatautos des Erzherzogs 
in dessen Dienst er bis zu der Mordtat von Sarajewo verblieb. Von Hau; 
Konopischt weifi er nur Gutes zu erzahlen. Die Frau des Thronfolgers 
die bekannte Grafin Chotek, war eine ausgezeichnete Hausfrau. Sie gal 
sehr viel auf Reinlichkeit im Hause und iiberzeugte sich sozusagei 
eigenhandschuhig von dem Staub auf Nachtkastchen, Tischplatten 
Schubladen usw. Eines Tages kam Kaiser Wilhelm nach Konopischt 
Von jener historischen Begegnung der beiden Potentaten, bei der dii 
Angeiegenheit des kommenden Weltkriegs von den beiden grofien Man 
nern auf einem harmlosen Spaziergang im wunderschonen Park bespro 
chen wurde, verblieb Herrn Schober, dem Chauffeur, eine Krawattenna 
del Kaiser Wilhelms, eine goldene, deren Wert nur ein bifichen darunte 
leidet, daE sie ein grofies »W« aufweist, das man je nach Beheben mi 
»Wilhelm« oder »Weltkneg« deuten kann. Herr Schober tragt jedenfall 
diese Krawattennadel nicht. Als Franz Ferdinand nach Sarajewo fuhi 
liefi er seine Privatautos in Konopischt und benutzte ein Militarauto. We 
weif^, ob Herr Schober nicht allein dadurch seinem Tod entgangen ist. E 
meint allerdings, dafi er vielleicht so geschickt gelenkt hatte, da£ es der 
Attentater kaum gelungen ware, sein Vorhaben auszufiihren. Und es is 
sehr reizvoU, sich vorzustellen, daft vielleicht der ganze Weltkrieg nich 
gekommen ware, wenn Franz Ferdinand seinen Leibchauffeur mitge 
nommen hatte. 

Ich stelle mir Herrn Schober nicht mehr am Lenkrad des Automobils vo; 
sondern: an dem der Weltgeschichte. Dem Konig Ferdinand von Bulga 
rien half Herr Schober einmal in Schonbrunn in den Mantel und bekar 
dafiir einen hohen bulgarischen Orden. Die grofie Silberne erhielt er nac 
jenem Unfall Kaiser Karls in Torrato, wahrend des Krieges. Es war da 
einzige Mai, daft der Kaiser Karl sich in einer problematischen Lebensge 
fahr befand. Damals ware er, so schrieben die Zeitungen, ertrunken. Hei 
Schober weift sonst von keiner Lebensgefahr zu erzahlen. Auch di 
ehemalige Schauspielerin, die Freundin des alten Franz Joseph, konnt 
Herr Schober nach Schonbrunn fiihren. Damals fand sie noch alle Tiire 
offen. Kaum war der alte Kaiser tot - und schon verwehrte man ihr de 
Eintritt. Vor Schonbrunn lag die Barriere des Zeremoniells. 



1922 731 

Herr Schober erzahlt von seinen Kollegen, den iibrlgen osterreichischen 
Hof chauf f euren : Einer, namens Schlager, ist in Wien geblieben und 
steht in Diensten der 5sterreichischen Regierung. Schober selbst ist, wie 
gesagt, in der Gesandtschaft seines Heimatlandes, und der dritte Chauf- 
feur, namens Lehrer, hat wahrscheinHch den harmlosesten der Sukzes- 
sionsstaaten gewahk: Er dient namUch im Hause Rothschild. 

Prager Tagblatt, 3.2. 1922 



TOTE WELT 



Ich stehe in der Bahnhofshalle. 

Sie ist leer und grofi und von widerhallender Stille. Ein gropes Schwei- 

gen tont in ihr wie in einer weiten koniglichen Gruft. 

[n der Mitte der gewolbten Decke hangt still eine Bogenlampe. Sie sieht 

lus wie eine iibergrofie, matte, tote, glaserne Frucht. 

Es riecht nach Steinkohle von vorgestern; gewisserma£en ein abgestan- 

iener Kohlendunst. Ein verwester Geruch, von verstorbener Stein- 

iohle gleichsam. 

[n den Winkeln der Wolbungen bergen sich verwehte Lokomotivpfiffe. 

Ein gewesener Larm liegt in ihnen, ein Larm im Winterschlaf. 

Die Kassenschalter ruhen, mit ratselhaft verschlossenen AugenUdern. 

Ein Gepacktrager lehnt am Gelander wie ein vergessenes Gepackstiick. 

Ein beamteter Mensch schreitet quer durch den Raum wie ein Uberle- 

Dender einer versunkenen Welt. 

Der Zeitungsstand steht in der Ecke, von einem holzernen Dach iiber- 

;volbt; ein Sarg, gestorbene Zeitungen bergend. 

Der groEe Lehnstuhl des Stiefelputzers enthiillt eine Art majestatischer 

Leere wie ein verlassener Thronsessel. 

^n den Signalglocken schlafen die hellen und dunklen Klange. Die Klop- 

?el starren wie gelahmte Zungen. 

Tgendwoher kratzt ein quietschender Ton an der glasernen Schale der 

oten Welt. Ein miihsam verschobener Waggon schreit erbarmhch aus 

ier Tiefe seiner technischen Not. 

Winter den Glasscheiben wartet ein glassturzverhiilltes Buffet des War- 

esaals. Es sieht aus wie ein einbalsamiertes Totenmahl. 



732 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die langen Tische dehnen sich rastlos ins Unendliche, als lagerte aui 
ihnen die Ewigkeit. 
Die Welt ist tot. 

Das war ein grofies Tor, das in die seltsame Feme fiihrte. Eingefangen 

in der glasernen Halle waren Sehnsucht und Erfiillung. Es zitterte das 

Unbekannte und das Heimweh nach der Heimatlosigkeit. Es war 

Etappe und Anfang; Zasur und Auftakt. AUe Bahnhofe waren Intro- 

duktionen. 

Die Schienen glitten schimmernd, langgezogene Bindestriche zwischen 

Land und Land. In ihren Molekiilen hammerten die Klangwellen fern 

rollender Rader, wie Blut in Pulsen hammert. Und an den Wegrandern 

sprofiten Wachter in die Hoh', und Signale erbllihten griin und leuch- 

tend. 

Das Wunderbare erfiillte sich dank einem mathematischen System. 

Der Zauber hatte ausgerechnete und genaue Plane zur Voraussetzung. 

Ein Fahrplan hing an der Wand. Standen darauf Ziige verzeichnet, so 

fuhren sie ab. Die Hebel bewegten sich selbstandig, der Dampf ent- 

zischte geoffneten Ventilen, und alles geschah von selbst. Die Ursa- 

chen blieben verborgen, und also glaubte man fast, sie bestiinden gar 

nicht. 

Um neun Uhr zweiundzwanzig Minuten fingen die Wagen zu roUen 

an, als hatten sie's vom Fahrplan abgelesen. 

Die wirkenden Ursachen gelangen erst zur Kenntnis, wenn sie zu wir- 

ken aufhoren. Es ist, wie wenn jemand zum Bewufitsein seiner Hande 

kame - durch eine Amputation. 

Vorn, in der Lokomotive, stand wie eine Steinkohle in menschlicher 
Gestalt der Lokomotivfiihrer. Als Mechanismus rangierte er Ziige. 
Selbst ein Regierungsobjekt, tat er's in der oder jener Beamtenklasse. 
Nicht, weil ein Fahrplan es kundete, sondern eigentlich, weil eine 
menschliche Hand einen Hebel nach rechts oder links verschob, be- 
gannen die Rader zu roUen. Und eine andere menschUche Hand be- 
rechnete den Fahrplan und kritzelte die Tabellen voll. 
Hunderttausend Hande riihrten sich nicht, und die Welt ist tot. 
Kindischer Streit liber die »Schuld« in Zeitungen, Ausschiissen und 
Gewerkschaften! Es ist eine grof^e Schuld in uns alien; keine soziale. 
sondern gewissermafien eine philosophische: dafS wir beim Anblick 



1922 733 

on Tabellen nicht wissen, dafi ein Gehirn sie hervorbringt; und im 
X^agenabteil, das Gepack verstauend und die Platzkarte schwingend, 
a der Ecke vergessen, dafi die Rader mechanisch einer Hand gehor- 
hen. Der Hand eines Menschen. 

Berliner Borsen-Courier, 5.2. 1922 



DIE WARMESTUBE DER EMIGRANTEN 



Das charakteristische Kennzeichen dieser privaten Warmestube in der 

(empstrafie, im aufiersten Osten Berlins, ist die Kdlte, von der sie be- 

lerrscht wird. 

Is ist keine offizielle Warmestube, wie jene vom Berliner Magistral 

ingerichteten, in denen die offentliche Wohltatigkeit mit Milde ein- 

leizt und mit »2uwendungen« labt. 

iondern es ist eine Warmestube, die sich sozusagen organisch aus 

iem Frost und der niederen Temperatur der Menschen gebildet hat. 

un eingewanderter Russe hatte sich dort vor einem Jahr ungefahr mit 

inem Samowar niedergelassen, dem einzigen Gerat, das er aus seiner 

ieimat hatte heriiberbringen konnen. 

vlit diesem Samowar begriindete er sich gewissermafien eine ko- 

hende Existenz, indem er die ostliche Sitte des Teetrinkens, ihrem 

;eopraphischen Charakter gemafi, im Osten Berlins zu verbreiten 

'ersuchte. 

Is ist gut, Tee zu trinken: Im Sommer trinkt man ihn kalt, und dann 

:uhlt er. Und im Winter trinkt man ihn heifi, und dann warmt er 

loch lange nicht. Wenn man allerdings mit einem bifSchen »Kirsch« 

nischt, dann kann er warmen. 

vlan trinkt also in diesen kalten Tagen Tee mit Schnaps, und dazu 

eicht die Konzession. Oder man trinkt Schnaps in Teeglasern, und 

lazu hat man allerdings keine Konzession. 

m allgemeinen aber setzt man sich hinweg tiber derlei Bestimmun- 

;en, indem man in die Warmestuben seinen eigenen, driiben beim 

*atzenhofer eingekauften Schnaps, am besten in einer Feldflasche, 

nitbringt. 

/or einigen Tagen saf^ ich zwei Stunden (am Nachmittag) in der 



734 D^S JOURNALISTISCHE WERK 

Warmestube und fror, weil ich keinen Schnaps hatte. Die Kalte kar 

aus den mangelhaften Brettern des Ful^bodens und aus den Poren de 

nassen und schwitzenden Wande. 

Den andern Besuchern war's warm. Sie hatten gemeinsame Interesser 

und ich kam mir vor wie ein Ausgestofiener. Ich trug immerhin einei 

weifien Kragen und einen Wintermantel. Die Leute hatten weder Win 

termantel noch Kragen. 

Ich weifi nicht, wovon die Leute alle leben, aber es geht ihnen nicht ga 

so schiecht wie zum Beispiel jenen, die jeden Nachmittag die Schon 

hauser Allee hinaufwandern, der Frobelstrafie entgegen, wo das Ob 

dachlosenasyl sich befindet. 

Die Leute hier scheinen haibwegs satt zu sein und sich mit Handel zi 

beschaftigen. 

Am Tisch links von mir safien drei Artisten aus Petersburg. Der grofie 

Starke mit den rollenden Augen war vielleicht einer von jenen Man 

nern, die gewohnt sind, fiinfhundert Kilogramm mit einem Finge 

wegzuknipsen wie unsereiner ein Streichholz. Der zweite hatte so ul 

kige, schlenkernde Bewegungen, als waren seine Gelenke mit Bindfa 

den zusammengeheftet. Er war vielleicht ein Clown. Und der dritt 

hatte sorgfaltig gescheiteltes Haar und glatte, gedampfte Bewegungen 

sozusagen in Wolle gehiillte Gesten. Ich schlofi aus seiner Vornehm 

heit, dafi er von Beruf mit Eiern und Zylindern jonglierte und dafi ihn 

diese Tatigkeit zur zweiten Natur geworden war. 

Sie sprachen russisch, und ich vernahm nur so viel, dafi sie hier kein 

Aussicht hatten, eine Stellung zu finden. Sie iiberlegten mit Eifer, ol 

eine Abreise nach dem besetzten Rheinland giinstig ware oder ein Ab 

warten in Berlin. 

Einen Tisch weiter sai^ eine jiidische Familie aus Rumdnien^ die auf de 

Reise nach Amerika begriffen ist und infolge des Eisenbahnstreiks ii 

Berlin warten mufi. Die Familie bestand aus einer Groftmutter, die eii 

buntes Kopftuch trug, einem Sohn mit Frau und einem halbwiichsigei 

Enkelkind, einem blonden Madchen mit westlichem Gesichtsaus 

druck. 

Aus der Unterredung erfuhr ich, da£ die Grofimutter nun schon zun 

zweitenmal nach Amerika fahre. Vor achtundzwanzig Jahren, fast au 

den Tag genau, war sie hiniibergefahren, zu ihrem Mann, der driibei 

Orangenverkaufer war. Zwei Jahre lebte sie dort, dann war ihr Vater ii 

Sereth schwer krank, und sie fuhr zuriick. 



1922 735 

[ch sehe diese aire Frau, die aus Sereth stammt und von Amerika er- 
sahlt, als ware es Czernowitz. Sie hat ein zerknittertes Pergamentge- 
sicht, ein gelbes, mit grofien, seltsam scharfen grauen Augen. In diesen 
Augen tragt sie die Blaue des Meeres, das sie einmal befahren hat, und 
seine ganze Unbegrenztheit, Ihr Kopftuch ist mit gelben Wiesenblu- 
men bemalt und gibt diesem alten Gesicht eine fremde Frische, die gar 
nicht dazugehort. 

Sie spricht mit einer rauhen, halblauten Stimme, und ihre Kinnladen 
bewegen sich unaufhorlich, als wiirden sie aufgeweichtes Brot kauen. 
Es sind die mahlenden Bewegungen eines kauenden Kamels. 
Der interessanteste der Gaste aber war Prokop, der Einsame. Ich nenne 
ihn so, weil er ohne Begleitung am Tisch safi mit seinen guterhahenen, 
gutgewichsten Schneestiefeln. Prokop hat einen Bruder in Amerika, 
der mit Schuhwichs handelt und nebenbei eine Schnapsbudike besitzt. 
Prokop riickte zu mir heran, als er sah, da£ ich den »Rol« in die Hand 
nahm, und fragte mich, was ich von der Politik hielte. Prokop ist ein 
ostgalizischer Ukrainer. Er reist seit vier Tagen iiber Krakau, Wien, 
Berlin und wird wohl noch zwei Monate bis nach Amerika brauchen. 
In Berlin kommt ihm der Eisenbahnstreik sehr gelegen, denn er mufi 
seine Pafivisa erledigen. Er fragt mich, ob ich glaube, dafi der Streik, 
just wenn die Visa fertig sind, auch zu Ende sein wiirde. Ich frage ihn, 
was er von Beruf sei. 

Prokop war Kirch ensdnger. Er ging bei Begrabnissen mit und sang bei 
Kindstaufen seine eintonigen Litaneien. 

»In Amerika will ich gar nicht singen«, sagt Prokop. »Ich will auch 
Schuhwichs verkaufen.« 
»Hast du Geld?« frage ich. 

Prokop riickt von mir weg, wirft mir einen griindlichen, verdachtigen- 
den BUck zu und sagt: »Nein, keinen Pfennig !« Und spricht nicht 
mehr mit mir. Oh, er ist schlau, mein Kirchens anger. Er hat gehort, 
daf^ in der Fremde Diebe sind und Schwindler. 
Und er spricht nicht mehr mit mir. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 6. 2.1922 



RUCKKEHR 



Die Menschen kehren reuevoll zu den Brunnen zuriick und zu den 
Lichtern, den bescheidenen, die aus Talg hergestellt sind und bei de- 
nen man sieht, wie sie sterben, wahrend sie leuchten. 
Die Riickkehr der gro{5en Stadt zu den unmittelbaren Wassern der 
Erde ist riihrend anzusehen. Lange Monate und Jahre standen die 
Brunnen, arme Behelfe fur Droschkenpferde und Kutscher, die ihre 
Gefahrte wuschen. Sie hatten keine lebenspendende Bedeutung und 
keine Beziehung zur Kultur. Metallene Verkehrshindernisse, hielten 
sie sich mit Vorliebe in Winkeln und an den aufiersten Randern der 
Strafien auf, als fiirchteten sie sich, unangenehm aufzufallen: unmo- 
derne Provinzler in der zivilisierten Gesellschaft von Asphalt, elek- 
trischen Drahten und scheinwerfenden Automobilaugen. 
Fiinfzig Stubenmadchen reihen sich paarweise vor dem Brunnen an. 
Ei sieh: Die Verwohnten wallfahrten mit Eimern, Kriigen und 
Schiisseln zu den heiHgen Quellen des Kurfiirstendamms. Sie pum- 
pen! Sie heben beide Arme mit dem eisernen Brunnenhebel hoch, 
und ihr Brunnen nimmt sich aus wie ein Handefaken und Beten in 
miUtarischem Takt; wie ein Gottesdienst, zu dem man wenig Zeit 
hat: Die bediensteten Priesterinnen flehen um Wasser. 
Unsichtbar, von Sand und Schnee verschiittet und verstampft, deh- 
nen sich die Schienen, Strafien entlang, iiberfliissige und wie ver- 
wunschene Einrichtungen. Die Dammerung faUt rapid aus den Wol- 
ken herab, iiberraschend und gleichsam ohne Ultimatum. Immer 
gingen der Nacht gewissermaEen Verhandlungen voran, ehe sie ein- 
brach, und die Welt hatte Zeit, sich mit Bogenlampen zu riisten. 
Nun baumeln hoch oben an unverniinftig starrenden Stangen gla- 
serne Kugeln, seelenlos und ausgeblasen. Ein Mond, der sympathie- 
streifend hinter Wolken segelt, hat eine sparliche Rotbeleuchtung 
eingeschaltet. 

Die Menschen wandeln, wie lebend gewordene schwarze Tupfen, 
iiber die weifien Schneestrafien; schwarze Marionetten, von Gott auf 
Eis und Winter erbarmungslos ausgestreut. 

Das Kaffeehaus nur leuchtet heimatlich wie eine Sturmhiitte in den 
Bergen den verirrten und vom Streik verschiitteten Tieftouristen 
entgegen. 



19^2 737 

Es ragt am Gipfel des Wintergebirges, und wer weifi, wann man's er- 

reicht. 

Unnahbar und unabsehlich wie der Morgen birgt sich ein ferner Gott 

tiinter einem dunklen Himmel, der auf Fragen mit Schneeflocken rea- 

giert. - 

Berliner Borsen-Courier, 6. 2. 1922 



ABSCHIED VON CASTANS PANOPTIKUM 

Kaiser Josefs Wiege als Papierkorb - Eine Bank wird eroffnet - 
Der letzte Zauberer 

Voch einmal gehe ich durch die wachserne Kulturgeschichte, die sich 
[]astans Panoptikum nennt und die jetzt, am Funfzehnten, aufhort zu 
;xistieren. In die Raume des Panoptikums, Ecke Friedrich- und Beh- 
*enstraf5e, wird eine Bank einziehn. Ich stelle mir vor, daE in dem 
^rofien Saal in der Mitte, in dem jetzt die Herren in Frack und Waffen- 
*ock sich um einen Thron scharen und in dem Ebert und Scheidemann 
ds die letzten Reprasentanten der gewissermaf^en wachsernen PoHtik 
3eutschlands aufgestellt sind, ein Kassenraum eingerichtet wird mit 
>chaltern aus Drahtgeflecht und blanken Spiegelscheiben mit goldenen 
l^ettern dran. Alltagskassierer werden an griinUchen Pulten sitzen, 
Dollars in Mark umrechnen und umgekehrt; pneumatisch beforderte 
iVechsel werden, zusammengeroUt in Kautschukgliedern, mit lauten 
^st-Gerauschen in die oberen und unteren Stockwerke fliegen. Oh, 
Tonie der Zeiten! 

Die Vorstellung, daS man die Wiege Kaiser Josefs des Zweiten als Pa- 
nerkorh benutzen konnte, geht mir nicht aus dem Sinn, In den grofien 
^elm des historischen Ritters gebe man die Reihennummern fiir die 
rertretenden Parteien; aus der »eisernen Jungfrau«, dem Geriist mit 
len spitzen Nageln, in das die nackten Siinderinnen geschlossen wur- 
ien, macht man Telephonzellen, damit die Menschen durch die kor- 
>erliche Qual des Gestochenwerdens die seelische des auf Anschluf^- 
J^artens vergessen; auf den Reitsattel des Prinzen Louis Napoleon 
etze man den Herrn Bankdirektor (eine symbolische Stellung fiir 



738 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

einen, der es verstanden hat, sich in den Sattel zu setzen); den Mayei 
Anselm Rothschild, den Begriinder des angesehensten Bankhauses 
lasse man allerdings als Hausgott auch in der neuen Bank stehen; au! 
der »Wunderkapelle« mit dem Schweifitiichlein der heiUgen Veronik; 
mache man ein Privatissimum fur die Herren Chefs; in den goldener 
Schrank, der Maria Antoinettes eigenhandig gesticktes Taschchen ent- 
halt, stelle man Benediktiner und Mampeglaser, in die Kurierstiefel au; 
dem i/Jahrhundert tauche man den jiingsten und feinsten Liftboy 
und man lasse schUefihch »Castans Irrgarten<( stehen und zeige drin- 
nen das Schwanken der Kurse. 

Ja, alle diese Dinge sind noch zu sehen. Auch die »Schreckenskam- 
mer«, deren Namen man vielleicht jetzt dem Hauptpostamt odej 
einem ahnUchen Regierungsgebaude verleihen konnte. Die Pupper 
und die anderen Gegenstande sind zum grofien Teil noch gar nich, 
angebracht. Ein Teil wird in die Provinz gehen und das Schicksal de: 
Angeschautwerdens bis zum Lebensende tragen. Ein Teil der Gegen- 
stande kommt in verschiedene Museen. Aber fiir einen grol^en Res 
findet sich kein Kaufer. So will zum Beispiel kein Mensch den Eber 
kaufen und den Scheidemann auch nicht. Es wird nichts iibrigbleiben 
als den Mannern ihre wachsernen Konterfeis zu schenken, fiir den Sa 
Ion vielleicht. Die Dynastie der Hohenzollern ware nach Amerongei 
zu ubersenden, was eine erheiternde Aufmerksamkeit bedeuter 
konnte. Einen Teil der Fiirsten setze man auf die vielen leeren Thron 
stiihle Europas und lasse sie regieren. Die Welt wird's nicht merkei 
(zu reden brauchen Fiirsten nicht gerade unbedingt). 
Dagegen waren manche Folterwerkzeuge unbedingt vor dem Unter 
gang oder der Vergessenheit zu retten und im praktischen Leben de: 
Gegenwart als Gebrauchswerkzeuge einzufiihren. Ich kenne manchen 
der durch den Schraubstock von Schiebung und Wucher und sonstigei 
schadlichen Leidenschaften zu heilen ware. Auch die Schlagrdde: 
sollte man in die Abteilung der Polizei fiir Wucher iiberfiihren. Da; 
Radern gehort zu einem langsamen, aber sicheren Tod, fiir Lebensmit 
telfalscher sehr zu empfehlen. Auf die »Richtbank nebst Richtbeih 
konnte man die wegen Putschversuchen Angeklagten setzen. Ein sinn 
reicher Platz fiir Orgeschisten und ahnliche Korporationen. 
Was die Castan-Aktiengesellschaft bewogen hat, das Panoptikum auf 
zulosen, wei{^ ich nicht. Ich glaube auch, daft es historisch bedingte; 
Schicksal ist. Der Moder, der von den lebendigen Menschen der Ge 



1922 739 

;chichte und der Politik jetzt ausgeht, machte den Moder der Verstor- 
)enen schon ganz unmoglich. 
])ennoch ist sparliches Leben im Panoptikum. 

m Restaurationssaal produziert sich ein Zauberklinstler. Er hat eine 
jlaserne Uhr mit beweglichem und abnehmbarem Zeiger, der, setzt 
nan ihn auf, immer jene Stunde zeigte, die man wiinscht. Dazu lautet 
;me glaserne Glocke die jeweilige Anzahl Schlage. 
Der Zauberer hat Ringe, die, wie man sich im PubUkum iiberzeugen 
Lann, nicht offen sind und die er dennoch ineinanderschlingt und ver- 
Lettet. 

Jnd schliefilich verteilt er charakter- und schicksaldeutende Zettel, fiir 
:wei Mark pro Stiick, und erkennt jedermanns Zukunft, wenn er nur 
les Betreffenden Augen sieht. 

Air sagte der Zettel: »HHten Sie sich vor falschen Freunderiy suchen Sie 
licht nach Ratschlagen, und hefolgen Sie Ihr Ziel mit Ausdauer his arts 
inde. « 

3rei kleine Jungen gehen vor mir her durch den Irrgarten und konnen 
licht wieder heraus. 

iie lachen noch dariiber und wissen nicht, welch ein tiefer Sinn in die- 
em Spielzeug steckt. 

lie wissen nicht, daf^ man diesen Irrgarten jetzt niederreifit, auf Befehl 
ier Weltgeschichte gleichsam, weil die Welt ein potenzierter Irrgarten 
;eworden ist. 

une Bank kommt an Stelle des Panoptikums. Man lasse wenigstens 
[as Akrostichon iiber dem Eintritt, das auf dem Richtschwert von 
ialle verzeichnet ist und das so lautet: 

Ihr gottlosen Menschenkinder 

Unbuf^fertig frevle Sunder 

Schaut aufs Ende, was vor Straf 

Treffen wird dich Siindensklav 

Ich das Werkzeug glaube mir 

Treibe keinen Scherz mit dir 

Ich muf^ strafen das Verbrechen 

Als wir Recht und Richter sprechen. 
Ulen soli der Spruch vorgehalten werden, die sich in der neuen Bank 
in Konto eroffnen wollen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 8. 2. 1922 



AUFERSTEHUNG 



Es ist eine Art Vorweihnachtsstimmung. In der Mitte der Decke ist di 

Lampe bereits entziindet. Und die wegfahren woUen, stehen vor den 

Anhalter Bahnhof und driicken wie Kinder ihre Nasen platt an jene Tiii 

hinter der sich das Wunder eines Eisenbahnzuges voUziehen sollte. 

Die leeren Stufen stromen eine Feierlichkeit aus, als waren sie mit Palmei 

und Lorbeerreiser geschmiickt. Ein Gepacktrager kollert die Trepp 

hinab wie ein schwerbeladener Weihnachtsmann. 

In der Feme lautet ein zages Signalglockchen, sozusagen ein Signal ii 

Rekonvaleszenz. Der Kloppel bewegt sich vorsichtig und hat wahr 

scheinlich ein Tiichlein um den Hals gebunden. 

Wenn irgendwo die Tiir eines Biiros auf geht, widerhallt es im Raum wi 

von einem grofien Ereignis. 

Vom Perron her tont ein Hammern erwachter Hande. Wie eingeschla 

fene Gelenke, die wieder eingerenkt werden, riicken Weichen und Hebe 

in vorschriftsmafSige Lagen. 

Die Lokomotivfiihrer kehren aus der Feiertaglichkeit wieder zu Kohle 

Rufi und Gestank. Die Regierungsrate treten von den Plattformen zu 

riick zu Schreibtisch und Rang. 

Die Gaste, die nach Berlin kommen, tropfen selten wie Wasser au 

abgestellter Leitung aus der Bahnhofshalle. 

Ein mittelgrofSer Herr mit Regenschirm und tigerfellfarbenem Plaid iibe 

dem Arm schreitet kiihn an Land, als kame er aus den Tropen und triig 

das Fell eines wirklichen Tigers, den er mit dem Regenschirm erlegt hatte 

Zehn Droschkengaule wiehern freudig auf bei seinem Anblick. Fun 

Taxameter stellen sich gleichsam zum Sprung auf die Zehenspitzen. 

Die Tore der Welt sind geoffnet und die Grenzen gefallen. Die Stadte de 

Erde riicken langsam aus Postkutschenweite in geringe Eisenbahnstun 

dennahe. Die Schienen erhalten wieder ihre Bestimmung zu binden. 

Es fangt an, sich zu riihren in den grofien Hallen. Die zehntausend Taste 

in den Werkstatten erklappern. Grlin und rot ergliihen die Signale. 

Vor dem grofien Hotel gegeniiber hifit sich der Portier auf wie ein 

Flagge. Der Liftboy flatten; lustig zwischen Lege und Bahnhof. 

Und aus der Hohe drohnt ein altbekanntes Rattern, ein Gerausch, da 

gleichsam heimgefunden hat; heimgekehrte Luftschwingungen. 

Berliner Borsen-Courier, 9. 2. 192 



KOSTUMBALL IN MOABIT 

Die Konigin der Nacht - Malwine im Nationalkostum - Das 
lebende Huhn in der Tombola 

Die Konigin der Nacht hat den Hausschliissel verloren. 

Die Konigin der Nacht heifit »Miez« und ist bedienstet bei der Frau 

Markussohn in Charlottenburg. Den weiten Weg von Moabit aus 

den Biersalen des Herrn Eduard Bock bis Charlottenburg wird sie 

zu Fuf5 zuriicklegen miissen, obwohl sie Kongin der Nacht ist, weil 

die Stadtbahn um 4Uhr friih wahrscheinlich noch nicht vorfahren 

wird. 

Es ware allerdings in Anbetracht des verlorenen Hausschliissels giin- 

stiger, wenn Miez warten wiirde bis 8Uhr morgens. Aber ihr Ver- 

lobter, der Schaffner bei der Untergrundbahn ist und die Kelle bei 

der Abfahrt schwingt, mufi um 6Uhr schon am Potsdamer Platz 

sein. Ohne ihn geht kein Zug. Seiner wartet die Kelie; die Uniform 

hat er in Packpapier mitgebracht und in der Garderobe hinterlassen. 

Der tragische KonfHkt, der sich aus der Doppelwesenheit dieses 

Mannes ergibt, Acs Brautigams einer Konigin und Schaffners, wird 

verscharft durch die Tats ache des verlorenen Schliissels. Noch tanzt 

er in Cutaway und Stehumlegkragen, wahrend die Uniform in der 

Garderobe hegt. 

Der Morgen, der durch die Jalousien dammern wird, schiittet 

gleichsam das Gerausch rollender Hochbahnziige in die Biersale und 

widerhallende »Abfahrt!«-Rufe. 

Indes ist die Nacht noch lang, und ihre Konigin schiittelt die ge- 

brannten Locken, auf denen eine Krone aus Stanniolpapier zittert, 

obwohl sie von Stecknadeln gehalten wird. 

Viele kleine Lichter glimmen im Saal, winzig wie aufgeteilte Licht- 

molekiile. In der Mitte der Decke bilden sie ein Herz: ein groEes 

Herz aus zwei Halften, in einer scharfen Spitze auslaufend. Unter 

dem Herzen hangen Papierkranze, griine und rote Bliiten, die schon 

rascheln, wenn man sie nur ansieht. Ein BUck entlockt ihnen diirre 

Gerausche. 

Der Friseurgehilfe ist da im roten Domino. Er will damonisch sein, 

aber er tanzelt. Seine Bewegunen sind elastisch, es sind Bewegungen 

auf Zehenspitzen. Seine Damonie lost sich in Hoflichkeit auf. Ein 



742 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Teufel mit Kolnischwasser und Puderquaste. Er sieht aus wie ein Zer- 

stauber in roter Etikette. Er stromt erfrischende Kiihle aus statt Betau- 

bung. Er soil Angst erwecken, und er zittert selbst vor dieser Moglich- 

keit. 

Ich vermute, daf5 er die meisten der anwesenden Damen frisiert hat. 

Die Rokokoprinzessin tragt ein silbernes Gewand und hochgetiirmtt 

Locken, sozusagen einen Kirchturm, einen Dom aus barocken Haa- 

ren. Sie hat ein schwarzes Pflasterchen am Kinn und ein zweites arr 

Backenknochen. Diese zwei beklebten Gesichtsstellen verleihen dei 

Dame eine seltsame Macht iiber die Herren des Abends. Noch rastei 

sie von einer Foxtrottrunde, aber schon wogen ihre Briiste neuen Tan- 

zern entgegen. 

Das ist Paula, sagt mir jemand. 

Paula handelt mit Zeitungen am Morgen in der Nahe des Lehrtei 

Bahnhofs. Sie ist kaum fiinfundzwanzig und hiibsch und hat offenbai 

keinen Freund. 

Man glaube nicht, dafi es bei einigen harmlosen Gasten sein Bewenden 

haben wird. Paule Pieker, Freund aus der »Leb€nsquelle«, der mich 

hierhergebracht hat, gehort noch gar nicht zu den GefahrHchsten. Wir 

unterhielten uns iiber den Streik, und Paule, der ein gebildeter Mensch 

ist, fand ihn »phanomenal«. Aus Sohdaritat mit den Charlottenburger 

Streikenden machte Paule zwar gar nichts. Nicht eine einzige Gliih- 

birne im Westen drehte er ab. In seiner Brusttasche rostete die Knips- 

zange. Auch Uberfalle vermied er. Die Dunkelheit ist dergleichen Un- 

ternehmungen, bei denen man sehen mufi, mit wem man es zu tun hat, 

ungiinstig. Haste Pech, so laufst du einem Mann in den Weg, der alle 

deine Knochen zerschmettert mit einem gekriimmten Zeigefinger und 

Daumen. Eine solche Ruhepause hat Herr Pieker schon lange nicht 

mehr gehabt. 

Paule Pickers Freundin heif5t Malwine, sie ist eine russische Jlidin, und 

man nennt sie »die Maltschi«. Sie tragt ein ungarisches National- 

kostiim und das Haar in Locken aufgelost. Sie tanzt sehr viel mit frem- 

den Mannern, aber Paule ist nicht aufgeregt. Sein schliipfriger, Hstiger 

Blick aus grauem Aug' macht alle Tanzbewegungen mit, die drehen- 

den, die rutschenden, die Schleifen, die stoEenden [. . .]. 

»Ist sie nicht piekfein?« fragt Pieker. 

Paule Pieker ist in einem herrlichen Kostiim erschienen: Er tragt ein 

Samtbarett und ein braunes Samtrockchen und ein braunes Lockchen 



1922 743 

n die Stirn gekrauselt. In der Faust hat er einen Knotenstock. Er soUte 
.hn zwar in der Garderobe abgeben, aber Paule tat so, als ob er hinke 
and kriegsbeschadigt sei. 

[ch frage ihn, was er darstelle. »Einen Henker«, meint Paule. 
[nzwischen hat die Musik eine kurze Pause eingeschahet. Der Kapell- 
meister, der Trompete blast und mit Blick, Bauch und Schultern diri- 
^iert, verkiindet diese Pause, indem er an den Rand der bebanderten 
Laube der Musikkapelle tritt mit einer Stimme, die aus zehn Trompe- 
:en zu kommen scheint. Er rat dem Publikum, sich ans Buffet zu bege- 
Den, Karten fiir die Tombola zu kaufen und Konfetti. 
Seiner Ansprache folgte ein vielstimmiger rauschender Beifall und ver- 
Lirsacht ein Erdbeben. Wahrend sich der Kapellmeister verneigte, ist 
2S, als zoge ihn sein miihsam durch Hosenknopf und Weste gebandig- 
:er Bauch iiber die Barriere. Er streckt beide Arme weit seitwarts aus, 
macht Fauste, als konne er sich an einer Stange aus Luft festhalten, und 
^rlangt schliefilich das Gleichgewicht wieder. 

[n der Tombola gewann ein Mann ein lebendes Huhn. Es gackerte 
srbarmlich und streute scheue kleine Blicke aus ins Gewiihl. Der 
Mann, der es gewonnen hatte, prefSte es sehr fest im Arm und fragte 
ieden, ob es Eier hatte. Alle Damen tasteten es der Reihe nach ab, und 
man beschlofi, es sofort zu schlachten. Einer meldete sich zu diesem 
Geschaft und schleppte das Huhn und den Mann in die Toilette. Ich 
bUeb im Zweifel, wen er eigendich schlachten wollte von den beiden, 
bis er mit dem Mann zuriickkehrte und der Gesellschaft verkiindete, 
dafi das Huhn in die Kiiche gegeben worden sei. In einer halben 
Stunde wiirde man sehen konnen, wie sie es beide zusammen essen 
wiirden. 

Maltschi gewann einen etwas friihzeitigen Osterhasen mit abstehenden 
Ohren aus weiEem Flanell. Es war gleichsam ein Osterhase aus dem 
Verbrecheralbum. 

Die grolle Trompete schlug ein Loch in die Pauke und intonierte einen 
Two step. Paule begleitete ihn mit einer schrillen Pfeife, die er eben 
gewonnen hatte. Er machte das so kiinstlerisch, dafS es immer aussah, 
als kame der Pfeifenton aus der Gartenlaube der Kapelle und als ware 
£S ein Fagott, dem man die Kehle durchschneidet. 
LJm Mitternacht ging ich, und die Garderobenfrau bedauerte mich. 
»So fruh schon?« sagte sie. Ich hatte sie in ihrem Schlummer gestort. 
Sie lag auf einem Stuhl wie ein Garderobenstiick ohne Nummer. Sie 



744 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

war schlaff, als bestande sie nur aus Bluse und Schiirze. Als sie danr 
sprach, war's wie ein Wunder. Sie versank schlielSlich in die Ecke unc 
wurde eins mit dem Schatten, der sie umgab. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Biatt, 15.2. 192; 



HELLAS IN DER GROLMANSTRASSE 

Bacchus aufden Fdssern ~ Der Stammtisch - Die Wirtin Abranites 

Seid mir gegriifit, Samos, Zypern, Lesbos! Und ihr, Edelweine von: 
Achilleion! 

Wenn ich in die Grolmanstrafie trete, winken mir, so merkwurdig ei 
auch klingen mag, die edlen rebenbehangenen Hugel und Garten- 
wande agaischer Inseln entgegen. Ein Olymp traufelt Nektar. Edit 
Gotter sitzen in einer Weinstube. Wenn auch in europaischen Gewan- 
dern, so schimmert doch die Antike durch ihre geoffneten Westen. 
Ich begriifie die neue Renaissance des zwanzigsten Jahrhunderts. 
Wie gesagt: in der Grolmanstrafie. Nahert man sich ihrem Ende bezie- 
hungsweise jenem Abschnitt, wo die Schillerstrafie in sie miindet, sc 
bemerkt ein Aug', das in der Niichternheit dieser Welt auf das Suchen 
kurioser Rausche eingestellt ist, einen alten, niedrigen, kleinen Laden, 
der erst um vier Uhr nachmittags geoffnet zu werden pflegt und in 
dem wahrend der Mittagsstunden die alten Gotter anscheinend einen 
tiefen und gesunden Schlaf halten, wie sie ihn seit Homer gewohnt 
sind. Auf dem Schild steht in merkwiirdiger Vermahlung eines mittel- 
europaischen Handelbegriffs mit einem edlen griechischen Namen: 

» Gehriider Abranites<( 

Und links, rechts preisen die Tafeln: Samos-, Zypern-, Lesbos-, Achil- 

leion-Edelweine. 

Gegeniiber ist ein Kohlenladen mit Anthrazit oder dergleichen. In der 

nachsten Nachbarschaft ein Griinkramladen: ein Friseur; ein kleiner 

Park; eine Normaluhr; eine LitfaEsaule. BerHnisches Europaertum mit 

alien Kennzeichen. Darunter verschwindet fast diese Filiale des 



1922 745 

Olymps. Was wissen die Menschen von Lesbos? Ihre Ohren, ge- 

wohnt, den Widerhall von Effekten- und Produktenbezeichnungen 

von den Hallenwanden der Borsen und Banken zu empfangen, halten 

die Insel fiir ein Papier, das man nicht kaufen sollte. Sie glauben, 2y- 

pern bedeute einen Kurswert. Achilleion sei eine Spekulation. 

Gebt ihnen Mampe-Diktinerl 

[ch trete durch die Glastlir, die immer noch europaisch aussieht, und 

bin nicht durch eine Fensterscheibe und ein fiinf Zentimeter diinnes 

Holz, sondern durch meilendicke Jahrhunderte von der Grolman- 

straCe mit ihren Litfafisaulen und Patzenhofern geschieden. 

Hinter dem Schanktisch ist eine Wand aus kleinen Fdssern, moHigen 

Faf51ein mit rundlichen Bauchen. Sie haben den Duft fremder Jahrhun- 

ierte und wunderbare Zeichen auf ihren Boden. Sie sehen Heb und 

;rauhch in die Stube, braun und sanft, mit der Farbe von Wald und 

Erde. Es ist, als wiichsen die Passer selbst auf jenen gesegneten Abhan- 

^en und waren nicht kiinstliche Behelfe. 

Es sind Passer wie jene, auf denen der beschwipste Dionysos ritt an 

leinen Festen. Es sind die Rosse des Gottes Dionysos. 

V[an konnte glauben, diese Weinstube sei gering an Umfang, weil eine 

;chirmende und schlaue Wand sich zwischen die riickwartigen Raume 

md den fremden Besucher schiebt. Ist man erst mutig vorgegangen, 

;ieht man, dafS es eine gar listige Wand ist, zu dem Zwecke, eine kiinst- 

iche Nische hervorzubringen und die Tauschung eines Kellergewol- 

)es voUstandig zu machen. 

iier ist dieses Problem der Verwandlung einer Ebenerdigkeit in Tiefe 

estlos gelost mit Hilfe der Ideenassoziation. Der freundUch-gefallige 

^4oder und eine warme herzHche Feuchtigkeit rufen die Vorstellung 

^on tiefem Gelafi hervor. Es ist, als wenn sich die Gegenwart in Ver- 

;angenheit wandelte. Die Dimensionen tauschen lieblich. 

n solchen Nischen breiten sich Tische und Banke aus, braun, behag- 

Ich, breit, fromm und bieder und mit einem verstohlenen Geruch nach 

leimlicher Siinde. Es ist wie in alten Klosterkellern im Siiden, wo die 

ieiligkeit neben der Siinde wohnt und die Kutte strenge und verdros- 

en einen schwachen und frohHchen Menschen umhiillt. 

^ur wenige Auserlesene kennen dieses Lokal: ein alter Bildhauer, ein 

^aler, ein Professor, zwei Jiingere, von denen man annehmen kann, 

af5 sie werdende Gelehrte sind. Sie bilden einen Stammtisch. Refu- 

ium, Zufluchtsort vor den Unbilden der Zivilisation. 



74^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich safi einen Abend dort, in einen Winkel gedriickt, im Schatten und 

lauschend. 

Jenem alten Herrn, der eben noch ein Europaer war, schwanden die 

Kleider vom Leibe, die lacherliche Hose und der Rock mit den Ta- 

schen. Wie er die Rechte hob und mit ausgestrecktem Finger irgend- 

wohin zeigt, umwallen antike Gewander seinen Korper, und ein Lor- 

beerkranz schlingt sich verstohlen um sein weifies Haupt. 

Wie Jiinger lauschen ihm die andern. Es ist ein Symposion, ein Gast- 

mahl, Sokrates, Plato und Alkibiades sind in Berlin, in Charlotten- 

burg, in der Grolmanstrafie, und ich bin iiberzeugt, wenn ich jetzt in 

die Strafie trate, vor meinem gar nicht mehr erstaunten Blick tate sich 

die alte Pracht der ehrfiirchtigen Akropolis auf. 

Aber ach! wie ich lausche, was hore ich da? Sprechen sie nicht eben 

von Politik? Fiel da nicht ein sproder Klang unter den Tisch, der 

»Amerongen« lautete? 

Oh, meine Gotter haben Leitartikel gelesen! 

Was?! Aus Tempeln soUten sie kommen, langsam wandelnd iiber Ago- 

ras und Platze im Gesprach iiber ewige Dinge. Von der UnsterbUch- 

keit der Seele soUten sie reden, und sie haben mich entsetzlich ge- 

tauscht. 

Nur mit der Frau Wirtin hake ich's noch. Sie spricht Deutsch, aber sic 

ist unverkennbar aus dem edlen Geschlecht der Griechen. Sie ist nichi 

mehr jung, aber ihre Haut hat immer noch die sanfte siidliche Oliven- 

farbe. Ihr Herz ist offen und ihr dunkles Auge freundlich. Sie ist ein( 

Abranites ! 

Etwas schwer vom Wein des Achilleion gehe ich dem Kurfiirsten- 

damm entgegen. Und sehe nicht die Akropolis, sondern die Kaiser 

Wilhelm-Gedachtniskirche. Ihre abendlichen Glocken lauten: Ame- 

rongen! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 16. 2. 192: 



MARIONETTEN AUF DER WANDERUNG 

Das Theater im Waggon ~ Ritter Blaubart - Domroschen - 
»Ich bin gleich da!« 

In der Weydinger Strafie pflegt sich manches Sehenswiirdige zu ereig- 

nen. Ein Wanderzirkus mit Landstrafienzauber; Frauen ohne Unter- 

ieib; Zauberer mit Kartenkunststiicken. 

Zwei oder drei Tage lang lebte dort ein wanderndes Marionetten- 

theater. 

Der Inhaber ist ein Treptower, ehemals Schauspieler in der Provinz. Er 

iaufte sich ein paar Puppen, und da sein Geld nicht ausreicht, um mit 

^hnen weite Fahrten durch Deutschland zu unternehmen, beschrankt 

^r sich auf die Bezirke Berlins. Nachstens will er in Wilmersdorf und 

Charlottenburg gastieren. 

Bines Nachmittags steht er also da, vor seinem Eisenbahnwaggon, der 

jein Haus und sein Theater ist, schwingt eine Glocke, dafi es weit 

n der Umgebung widerhallt, und die Menschen sammeln sich um 

hm. 

Moch sind es zehn oder ftinfzehn, und er lautet unermiidlich weiter. Er 

nacht grofie Bewegungen mit den Armen und schlenkert mit der 

jlocke iiber die Kopfe der Leute hinweg. Es ist, als folgte er dem 

jebot eines geheimnisvollen, unwiderstehlichen Lautezwanges. 

Jnd schon sind die Kinder da, die grofieren und die ganz kleinen. 

Die Hand des Menschen vor dem Waggon bleibt plotzUch still ausge- 

treckt mit der Glocke in der Hohe des Hauptes. Noch ist die Luft 

;rfullt von den gellen Schwingungen des Kloppels. 

'Wer das beste, das groEte Puppentheater der Gegenwart sehen will, 

rete ein und zahle Billetts an der Kasse!« 

n diesem Augenblick senkt sich rollend ein Laden, und hinter der 

^ensterscheibe erscheint eine blonde Dame. 

X^'ahrend die Zuhorer noch uberlegen, ob sie hineingehen soUen, ge- 

lardet sich der Theaterdirektor ganz unbesonnen. Er lacht abwech- 

elnd und schreit durcheinander, indes seine Zunge unaufhorlich Laute 

oUt und Silben wolbt, Worte durch die Lippen hinausstoEt und ein 

'rommelfeuer von Satzen abschieEt, ein Biindel Rufzeichen wie Pfeile 

bsendet und die Besinnung der Zuschauer schlieClich ertotet. 

\s ist ein sehr sehenswerter Mann. Sein blonder Schnurrbart im Ge- 



748 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sicht ist zweigeteilt wie seine Uhrkette auf der Weste. In einem riesen- 

haften haarlosen Schadel huschen zwei flinke mausgraue Auglein hir 

und zuriick, auf- und abwarts. Die kurzen Beine strampeln selbstan- 

dig, als hingen sie durch Bindfaden mit dem Unterleib befestigt unc 

gehorten gar nicht zu dem Menschen organisch. 

Wenn man ihn ansieht, konnte man die Uberzeugung gewinnen, daf: 

man sich Gliedmafien in einem Modegeschaft kaufen kann wie einer 

Spazierstock. 

Es ist ein Februarsonntag, und die Sonne ist da, und die Menscher 

haben Zeit. 

Die Reifen und bereits Verheirateten gehen mit ihren Ehefrauen wit 

mit jungen Madchen. Und die jungen Madchen gehen mit den Liebha 

bern und tun bereits so, als ware es April. Die Strafie ist still, und mar 

hort Spatzen zwitschern. 

Weshalb sollte man sich nicht Marionetten ansehn? 

Um zwei Mark erhalt man am Fenster aus der Hand der blonder 

Dame eine Eintrittskarte. Es sind sehr dauerhafte Eintrittskarten au 

Blech, wie Garderobenmarken, und man handigt sie beim Eintritt wie 

der dem Mann aus, der dadurch sehr viel an Ausgaben fiir Druck unt 

Papier ersparte. Er hat die Frage eines Theaters mit billigen Mitteh 

gelost. 

Dann sperrt der Mann seinen Waggon ab und verschwindet, wer weiC 

wohin. Die Zuschauer sind jedenfalls eingeschlossen. 

Wer will, kann sich auf einen Stuhl setzen, auf eine Bettkante oder au 

einen umgestiilpten Mixlleimer. Es ist eine solide HausHchkeit. 

Vor dem Kassenfenster hangt ein Brett, das plotzlich in Bewegung ge 

rat und sich schliefilich waagrecht ausstreckt, den Zuschauern entge 

gen: als wollte das Fenster dem Publikum die Zunge zeigen, 

Ich bin sehr klug und vermute, dafi auf diesem Brett das Schauspie 

stattfinden wird. 

Und also geschieht es. Eine winzige elektrische Lampe erglimmt, ein 

ganz winzige, junge Lampe. Sozusagen ein Saugling von einer Lampe 

Sie hiillt einen Winkel des Raumes in dunkles Rot. In diesem Dunke 

verschwinden die Strange, an denen die Marionetten gezogen werder 

besonders wenn man nicht hinschaut. Und ich schaue nicht hin. Wes 

halb sollte ich mir die Vorstellung verderben? 

Ja, ich sehe iiberhaupt nur das Fensterbrett. Und ich bin sehr erstauni 

wie der Ritter Blaubart erscheint. 



1922 749 

Der Ritter Blaubart wankt und torkelt bis zur Mitte des Schauplatzes 
vor. Eine Axt sieht man in seinen Handen blitzen. Ihm entgegen 
humpelt eine Frau, eine siifie, junge Frau mit einer goldgelben Pe- 
riicke. »Treten Sie bitte naher!« sagt der Unhold. Dabei schlottern 
alle seine Gelenke, als ware das Sprechen die groEte Anstrengung sei- 
nes Lebens und als kamen die Worte nicht aus seinem Mund, sondern 
aus alien Poren seines Leibes. 
»Oh, mein geliebter Ritter !« sauselt die Blondine. 
Sie schlenkern einander naher. Der bose Ritter Blaubart schwingt 
seine Axt, und schwupps! liegt die Blondine da. 
Dann stellt er sich noch breitbeinig vor das Publikum hin und bewegt 
seine Kinnladen und lacht grauenvoU: »Ha - ha - ha! « 
Somit ist die eine Vorstellung beendet, und es beginnt das Spiel von 
Domroschen. 

Dieses schlaft auf einem Rosenlager. Daran erkennt der literarisch 
Gebildete, dafi sie schon hundert Jahre schlafen mufi, denn die Rosen 
sind teils entblattert, teils sehr bestaubt. Sie sind gewifi vor einem Sa- 
kulum gepfliJckt worden. 

Wie grofi ist aber meine Uberraschung, als ich sehe, dafi dieses Dom- 
roschen jenem bemitleidenswerten Opfer des Ritters Blaubart so tau- 
schend ahnlich sieht wie eine Sch wester? Ja, dafi es wohl die gleiche 
Person ist?! 

Und der Prinz - mein Ehrenwort! -, es ist der Blaubart. Statt der Axt 
hat er einen Sabel. Und das hat seinen Charakter vollkommen gewan- 
delt: Er kiifit, statt zu toten! Oh, wie edel macht ein Schwert einen 
Bosewicht! 

Es sind immer dieselben Gestalten in einer neuen Rolle. Es sind fa- 
belhafte Schauspieler! Sie konnen grofi sein und klein, dumm und 
weise, grausam und gerecht. Nach der Vorstellung schreit eine 
Stimme von oben: »Schlufi der Vorstellung! Ich bin gleich dal« 
Und gleich ist der Herr Direktor da. Er offnet die Tiir und bleibt mit 
^eneigtem Oberkorper so lange stehen, bis das ganze Publikum drau- 
^en ist. Dann holt er seine Glocke und tritt vor seinen Wagen und 
autet alle Welt zusammen. 

£s dunkelt, und die Parchen wandern in die Sonntagsnacht. Die Blau- 
Darte und die Prinzen, und sie sind nicht voneinander zu unterschei- 
len. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 21. 2. 1922 



SCHATZGRABER IN DER ALLEE 

Stammgdste des Misthaufens - Frieda und Minni - Die drei Schweiger 

Am Rande der Frankfurter Allee hat sich mit der Zeit ein Misthaufen 

gebildet. 

Es ist kein aufiergewohnlicher Misthaufen. Er bietet, im Gegenteil, den 

denkbar gewohnlichsten AnbKck. 

Ein Viereck aus Brettern umsaumt ihn. Seine Oberflache ist zackig und 

zerrissen. Er sieht aus wie eine croquismaKige Darstellung eines Gebir- 

ges. 

Er steht gewissermafien zu Lehrzwecken da. Bei Tag bleibt er dennoch 

unbeachtet. Wer sich langere Zeit in seiner Nahe aufhalt, bemerkt, wie 

alle Welt ihn verachtet, indem sie ihn durch Staub, Schmutz und Ab- 

falle vergrofiert. 

Der Schneidergehilfe kommt, behangen mit weifien und schwarzen 

Faden, die an seinem Kleide kleben wie Raupen an einer Baumrinde. 

Der Schneidergeselle hat ein Biigeleisen in der einen Hand und in dei 

andern rote, blaue und griine Stoffrestchen. 

Diese streut er auf den Misthaufen. 

Der Schusterlehrling, frisch und drall wie ein Bauernmadchen, schleu- 

dert mit machtigem Schwung eine zerrissene, durchlocherte Sohle zu\ 

den Mist. 

Die Hausfrau hat Asche dariiber gebreitet! Ein Hahn aus der Nachbar- 

schaft flattert auf einen sanften Gipfel des Mistplateaus und pflanzi 

hier sein Krahen auf, eine tonende Fahne. 

Sobald aber die Finsternis aus den Wolken hereingebrochen ist in dei 

Frankfurter Allee - wo der Abend rascher kommt als zum Beispiel am 

Kurfiirstendamm-, wird der Misthaufen Ziel der Sehnsucht und dei 

Wanderung Hunderter. 

Als hatten sich plotzlich Menschenschleusen geoffnet, so sprudeln 

Korper und Gesichter von alien Seiten hervor. 

Der Misthaufen steht fast heilig da, wie eine Gnadenkapelle, zu der die 

Menschheit pilgert. 

Ich stelle mir vor, dafi manche Menschen von ihm leben. 

Unter diesen entbrennt manchmal ein Streit iiber einen wertvoUer 

Fund, Zum Beispiel iiber einen Zigarrenrest, oder einen Zigaretten- 

stumpf, oder ausgespuckten Kautabak. 



1922 751 

Da halten ein paar Obdachlose ein auf dem Weg zu dem nahen Asyl. 
Es sind drei wunderbare Manner, alle ein bifichen angetrunken, was 
ihnen einen seltsamen Reiz verleiht. Die Trunkenheit macht sie zu 
Biihnenfiguren. Sie konnten so, wie sie sind, auf die Biihne kommen, 
etwa in einer Posse eines Berliner Nestroy. 

Der in der Mitte ist groE, hager, schwarz, Sein Hals schwimmt in 
einem dicken und engen Schal. Ich glaube: Nie kann er etwas ganz 
fest um seinen Hals binden. Ewig wird sich sein grofier Adamsapfel, 
sozusagen bereits eine Adamskartoffel, freimachen, um auf und ab zu 
rollen! Fiir die Diirre seines Halses gibt es keine Enge. 
Er hat einen zerbeulten, harten Hut schief auf den Kopf gedriickt, als 
ware der Hut die Fortsetzung seines Kopfes und natiirlich aus dem 
Schadel gesprossen. 

Der zweite ist dick und rundlich, rotblau von Angesicht, mit einer 
reizvollen knolligen Nase in der Mitte. Er hat ein Bauchlein, das die 
Freiheit Hebt und alle Hosenknopfe sprengt. 

Der dritte ist wiirdevoU, er hat einen rotlichen Bart und griine Au- 
gen. 

Man mufi diese drei gesehen haben, wie sie Abend fiir Abend dem 
Misthaufen einen Besuch machen und in ihm wiihlen. 
Sie finden: eine papierne Zigarrenspitze, zwei Stummel, einen zerbro- 
chenen Bleistiftschiitzer und ein halbverbranntes Schulheft. 
Schweigend stecken sie alles in die Taschen und begeben sich weiter 
auf ihre Wanderung. 

Viele Stammgaste hat der Misthaufen. Halbwiichsige Kinder, blasse 
Madchen mit Mauschenzopfen, die aussehen, als kamen sie von einer 
Kabarettbiihne, wo sie dem Burger grauenvolle Weddinglieder ins 
Ohr sangen zur Begleitung des Klaviers. 
Sie suchen nach Schleiferij Stoffresterij Bdndem. 

Zwischen Frida und Minni entbrennt ein heif^er Kampf um eine Si- 
:herheitsnadel. 

Bei dieser Gelegenheit kommt das Leben beider aufs Tapet, sozusa- 
gen auf die Oberflache des Misthaufens. 

Man hort, dafS Minni von Franz verpriigelt wurde, weil sie ihm im 
khlafe den Schlips gestohlen. 
»Ja«, kreischt Minni, »und die Nadel is echt Jold.« 
Frida meint, selbst Franz sei ein Schwindler und hatte noch nie etwas 
>Joldenes« getragen. 



752 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dagegen ist Frida jetzt »ambulanU, das heifit, sie hat eine Ge- 

schlechtskrankheit. 

Die alten Weiblein graben wahrend dieses Streites in aller Ruhe weiter. 

Sie sehen aus wie vorsintflutliche Heuschrecken auf ihrem Opfer. 

Sie fressen den Haufen halb leer. 

Ringsum ist unbekiimmertes Leben. Die Strafienbahn saust vorbei. 

und Lastwagen poltern. 

In einer halben Stunde ist der Haufen halbvolL 

Morgen kommt wieder der Schneider und streut Stoffreste mit einei 

Hand und Asche aus seinem Biigeleisen mit der anderen. 

Die drei Manner kommen und finden: zwei Stummel und eine Zigar- 

renspitze. So ist das Leben. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 22. 2. 192: 



SECHSTAGERENNEN 



Sechs Tage lang sausten dreizehn Menschen auf Fahrradern im Arena- 
rund des Sportpalastes, und das Pubhkum hat 43000 Mark fiir Preis( 
gestiftet. Die dreizehn fingen Freitag abends um pUhr an, und si( 
rannten Tag und Nacht, zur Essenszeit, zur Schlafenszeit, zu alien Zei- 
ten. 

Wahrend draufien Strafienbahnen zu fahren anfangen und aufhoren 
Menschen sterben, vergiftet, verletzt, iiberfahren werden, rennen drei- 
zehn in der Arena. Bedenkt man, dafS Gott in sechs Tagen die ganz( 
komplizierte Welt erschaffen hat, so diinkt es einen sonderbar, daf 
dreizehn seiner Geschopfe in derselben Zeit nichts anderes tun, als au: 
ihren Radern sitzen und Pedale treten. Doch, heifit es, ware dies eir 
grofies Ereignis, das die Menschheit sehnsiichtig zwei lange Jahre er 
wartet habe. Die ganze Menschheit. Soweit sie Raum fand im Sportpa 
last, vor dem die grofJen Bogenlampen unermefiliches Licht ver 
schwendeten, als waren sie Himmelskorper und wiirden vom lieber 
Gott selbst erleuchtet. Aus dunklen Straf5en dampften die Menscher 
hervor wie aus plotzlich geoffneten Ventilen. Automobile schlangelr 
sich, diinn geworden und elegant, und lie£en ihre Geschwindigkeit ir 
granziosen Kurven abebben. Vor den Kassen drangte sich das Volk zi 



1922 753 

seiner Ertiichtigung. Die Logenplatze kosteten mehr als hundert, und 

der Eintritt fiir Kinder betrug zehn Mark. Ganze Hauser entvolkerten 

sich, und ihre Einwohner setzten ihr Familienleben, bestehend aus 

Kinder, Hunde und Warmeflaschen, im Sportpalast fort. 

So zogen die Griechen mit Sitzkissen und Zwiebeln ausgerlistet in die 

Euripideische Tragodie, die drei Tage dauerte. 

Den vielen Sitzreihen entspriefien auf einmal viele tausend Zuschauer- 

kopfe wie Nadeln auf Steckkissen. Die Musik entfessek einen Marsch- 

orkan: Das Fagott heult und zuckt, diinn und spitz wie ein leckendes 

Flammenziinglein, hervor aus dem ernsten Tongebaude des Fliigei- 

horns, Halblautes Murmeln erhebt sich aus der Menge und entwickelt 

Saulen aus zerstaubten Silben, zerbrockelten Worten, verhauchendem 

Papiergeraschel. Auf einem Stuhi wachst ein griiner Schutzmann in die 

Hohe wie eine Tanne aus einem Gartenbeet. Seine Augen versenden 

moglichst weitreichende Blicke. Es sind sozusagen Blicke auf Zehen- 

spitzen. 

Ober die Barrieren hangen kiihne Menschenleiber wie Kleider zum 

Trocknen. Die Presse sitzt am Ziel, bleistiftbewehrt, sachlich. 

fedesmal lautet eine Glocke, hell und siegreich, und ihre Luftschwin- 

gungen flattern gegen die Saalecke. Die Kinder verstreuen ratlose 

Blicke und suchen ver^eblich nach einem Kontakt mit den Eltern, de- 

ren Oberkorper fast bis in die Arena hinunterhangen. Die weifibeklei- 

deten Kellner spritzen durch die dunklen Menschenhaufen wie abge- 

schossene Leuchtraketen. Zu der Mitte sausen die dreizehn in bunten 

Trikots auf schrager und glatter Ebene wie losgelassene Kreisel. Durch 

sinen Unfall scheidet einer aus dem Wettrennen aus, indem er einfach 

ins Publikum fliegt wie ein geschleudertes Bierglas. 

A.US den hinteren Galerien tonen halbverstandliche Rufe, gewisserma- 

Sen dichtverschleierte Rufe. Sie fallen unter die Rader und werden 

iiberfahren. 

Einer stiirzt, und die Nachfolgenden verwickeln sich in einen Knauel 

lus Stahl, Trikot und Fleischkorpern. 

\us der Aktentasche seines Herrn drangt plotzlich ein mitgenomme- 

ler Dackel seinen Kopf hervor und tut seine Anwesenheit kund. Oh, 

me gern wiirde er hinter den Radern drein rasen! Er wackelt mit den 

Dhren und staunt, dafS Menschen so rasend spazierenfahren. 

Die Damen in den Logen schalen sich langsam aus den Pelzen und 

jereiten sich fiir die Nacht vor und das Wachen. 



754 OAS JOURNALISTISCHE WERK 

Gegen Mitternacht geht die Welt zu den Buffets, Bier trinken und die 

Begeisterung kiihlen. 

Aus mehreren Reihen sagt ein machtiges Schnarchen durch die Luft. 

Kopf lehnt an der Schulter des Nachsten, und eine Sitzreihe nimmt 

sich aus wie eine Zeile Erschlagener. Noch dammert der Morgen nicht, 

und bereits raumt man den Saal. Aus den Banken werden die Men- 

schen herausgeschaufelt und zu den Tiiren hinausgespiilt. 

Graues Morgenblei ergielSt sich iiber den Himmel, hinter dem ein Gott 

in sechs Tagen die Welt erschaffen hat, ohne zu rennen . . . 

Prager Tagblatt, 24. 2. 1922 



DIE AKADEMIE DER HERE 

Haus- und Kleintiere - Die Hundetoilette - Der Papagei 
mit der Odyssee 

Die Hunde sind soeben geschoren und gekammt worden. Sie sehen 
blank und sauber aus und trollen, etwas benommen von dem grofien 
Erlebnis, einher, als waren Wasser und Seife imstande gewesen, ihre 
ganze festgefiigte Anschauung von den Verhaltnissen des Lebens und 
der Welt umzustofien. Es sieht aus, als sannen sie krampfhaft nach den 
Ursachen einer revolutionaren Veranderung und wii^ten nicht, daC 
der Grund in ihnen selbst liegt. 

Ihre Schnauzchen sind rosarot und frisch, und sie riechen unaufhorlich 
an ihrem eigenen Korper und an denen der Kameraden herum, weil 
der scharfe Seifengeruch sie befremdet. 

Herr M. Hinrich, der in der Wilmersdorfer StraEe eine Tierschule hat. 
eine Dressuranstalt filr Haus- und Kleintiere, steht im dunklen Hemd, 
ohne Rock, mit aufgestiilpten Armeln und einem Riemen in der Hand 
inmitten seiner Zoghnge und lehrt sie die Grundelemente des Betra- 
gens und verschiedene Kunststiicke, welche die Tiere moglichst 
menschenahnlich machen konnen. Er ist lebhaft bestrebt, aus ihnen 
das Atavistische herauszuwaschen, mit Lauge und Soda, Atavismus 
und Flohe zu beseitigen und die Natur salonfahig zu machen. 
Im Laufe der Zeiten hat der Lehrer selbst ein paar menschhche Spezia- 
litaten gegen einige tierische eingetauscht: Er kann wundervoli bellen. 



1922 755 

wie eine Lerche trillern, wie ein Papagei knellern, und wenn er will, 

nimmt sein menschliches Antlitz die Form einer Schnauze an und auch 

eines Vogelkopfes, so dafi die Tiere, je nach der Gattung, der sie zuge- 

horen, nicht wissen, ob sie es mit einem dummen Menschen oder mit 

einem anstandigen Geschopf ihresgleichen zu tun haben. 

Zwei scharfe Polizeihunde stehen in eigenen Hutten, durch Drahtgit- 

ter von alien iibrigen Lebewesen getrennt, und mochten gerne ein bifi- 

chen die Umgebung zerfleischen. Sie haben griine Augen, die wunder- 

bar schillern. Bei diesen Tieren handelt es sich wieder darum, sie an 

ihre Abstammung vom Wolfe zu erinnern und sie gleichzeitig mit den 

Methoden eines europaischen Spitzels bekanntzumachen. Diese selt- 

same Vereinigung kostet den Dresseur Miihe. Man kann dem Hund 

nicht leicht erklarlich machen, dafi er die Aufgabe hat, seine natiir- 

lichen Instinkte der feinen menschlichen Kultur zur Verfiigung zu stel- 

len, obwohl der Mensch gut ist. 

Die Papageien, es sind sehr vornehme und kostbare Exemplare darun- 

ter wie zum Beispiel Edelpapageien, Rosenpapageien, Amazonenpapa- 

geien und andere, lernen mit Hilfe vorgehaltener Zuckerstiickchen 

verschiedene deutsche Worter wie zum Beispiel: »Pappichen«y 

»SchnHckU und ganze Verse aus der deutschen Literatur der Gegen- 

wart: »Wer wird denn weinen« . . , und »Gehy sag Schnucki zu mir« . . . 

Die Papageien leben monogam, es sind Parchen da, die man kaufen 

kann, sie sind Eigentum der Schule, und der Herr Lehrer hat sie noch 

aus jener gliicklichen Zeit, da er Menageriedirektor war in Amerika, in 

jenem gliicklichen Lande, wo die Direktoren und allerlei Papageien 

herkommen, 

Es ist ihm so gar gelungen, eine Frau Papagei zum Eierlegen zu bewe- 

gen, es waren sechs Eier und wurden 25 Tage gebriitet. Die junge 

Nachkommenschaft wurde dann einem reichen Vogelliebhaber ver- 

kauft. 

Davon kann man leben. 

Ich bemerke, dafi sich die Papageien nach den Papuainseln sehnen und 

nach den Molukken, wo ihre Heimat ist und wo sie nicht unter dem 

Protektorat eines Erziehers zu briiten haben und auf keine Liebhaber 

angewiesen sind. Sie diirfen sprechen, wie ihnen beliebt, und brauchen 

die deutsche Literatur nicht. 

Jemand hatte die kostliche Idee, ein Kaninchen wie einen Hund ab- 

richten zu lassen. 



75^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Es ist ein geflecktes Kaninchen mit feinen, nervosen Pfotchen. Der 
Herr Lehrer veranlafit es, auf zwei Beinen zu stehen und gleichzeitig 
einen Gummiball ins Maul zu nehmen. 

Das Kaninchen denkt angestrengt dariiber nach, ob es nicht doch viel- 
leicht ein Jagdhund ist. 

Die Hunde wissen schon, dafi es eine Hundetoilette gibt, und sie bege- 
ben sich, am liebsten alle gemeinsam, dorthin, um ihre unanstandigen 
Aufgaben zu erledigen. 

Sie haben sogar schon die nnenschlichen Bewegungen angenommen, 
und wenn sie eintreten, ist es, als griffen sie nach der Westentasche, um 
zu zahlen. 

So nobel kann die Natur werden. 

In vier Wochen kann ein Hund fabelhaft ausgebildet sein, und in sechs 
kann er sogar Kopfspriinge und Purzelbaume machen. 
Lafit man ihn noch langer in der Schule, so lernt er sogar schwimmen. 
Der Herr Lehrer ist niemals gewalttatig, sondern kameradschafthch. 
Es ist eine Schule auf den neuesten Grundlagen. 
Ich vermute, dafi die Schiiler nach zwei Jahren bereits soweit sein wer- 
den, griechische Verba auf mi flektieren zu konnen. 
Die Papageien werden die Odyssee rezitieren. Die Kultur macht 
enorme Fortschritte. Es wird noch dazu kommen, dafi alle Tiere Men- 
schen werden. 
Umgekehrt braucht es nicht mehr zu kommen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 25. 2. 1922 



EIN SCHUSS PULVER 



Wahrend die Lebensmittel unermeElich im Preise steigen, bleiben die 
Totungsmittel unverhaltnismafiig billig, so dafi die Sprache mit der 
Wendung: es ware »keinen SchuC Pulver wert«, die absolute Wertlo- 
sigkeit eines Wesens und eines Dinges ausdriickt. 1st die Fahigkeit, aus 
purem Nichts ein Etwas erstehen zu lassen, Geheimnis der Ewigkeit 
und der Varietezauber geblieben, so ward umgekehrt das Auflosen 
eines Bestehenden ins Nichts ein AUgemeingut, will sagen: Allgemein- ' 
Boses. 

Seine negativen Eigenschaften hat Gott wahllos jedem Menschen mit- 
gegeben: durch eine einzige Fingerkriimmung eine Materie aus der 
sinnlichen Welt auszuloschen. Ja, es scheint fast, als bedeute ein Geto- 
tetwerden einen Wert: namlich den eines »Schusses Pulver«. Und so 
sehr wandelt sich die Sitte im Laufe der Zeiten, dafi viele Menschen in 
Berlin und Umgebung, um ihre Wertschatzung des Nebenmenschen 
zu beweisen, diesem einen Schufi Pulver zusenden. Ehemals sagte man 
irgendeine bedauernde Wendung, z.B.: Es tut mir sehr leid, aber ich 
kann Sie hier nicht brauchen . . .; oder: Ich schatze Sie personhch sehr, 
aber Ihre Wirkung schadigt mich ... - Heute schiefit der Mensch. 
Der Betroffene braucht sich deshalb nicht gleich beleidigt zu fiihlen, 
wenn er auch getroffen ist; seine Ermordung war gewissermaEen nicht 
personlich gemeint. Er wurde nur aus dem Leben entlassen wie aus 
einer Stellung, die er nach Ansicht des Schiefienden nicht richtig ausge- 
fiillt hatte. Mittels einer Pistole entlassen. 

In englischen Zeitungen liest man, dafi der Spazierstock abgeschafft 
wird; an seine Stelle tritt vermutlich der Spazierrevolver. (Fand man 
doch vor einigen Tagen einen Schlagring im Handtaschchen einer Ber- 
liner Nackttanzerin; er lag harmlos da wie eine Puderquaste.) 

Voi^estern fragte ein Faht^ast den Chauffeur, ob er tausend Mark 
wechseln konne. Nein! - sagte der Chauffeur. Da schol^ ihn der Fahr- 
gast nieder. Der Hausbesitzer, der seine Tiirklingel schlecht geputzt 
fand, ohrfeigte seinen Portier und erschof^ ihn noch ein bifichen. Fast 
zu gleicher Zeit verbot Herr von Kahne dem Arbeiter Riedert sowohl 
das Betreten des Waldes als auch das Leben. 
Der SchielSende ist dennoch kein »M6rder«. Die »sittHche Emporung« 



7^8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ist nicht im einzelnen Fall angebracht, sondern richtet sich gegen die 

Gesellschaftsfahigkeit der Pistole iiberhaupt; gegen die Tatsache, daft 

die bequeme »Handhabung« des Mechanismus die leichtfertige Ver- 

nichtung fordert. Dem Drang, ein Beil gegen den Menschen zu 

schwingen, widersteht man eher denn dem Reiz, an einem Zungel zu 

driicken. 

Da der Sohn des Herrn Kahne dem Beamten sein Wort gab, dafi er am 

nachsten Tage wegfahren wiirde, beliefi man ihm seine zwei Spazierte- 

schings, die man bei dem zufallig zu Besuch Weilenden gefunden 

hatte. 

Es ist Sitte, mit Teschings zu reisen und zu schieEen: Der Chauffeur 

hatte es gleich tun sollen; als Antwort auf die Frage, ob er einen Tau- 

sender zu wechseln habe. 

Der Graf Kalkreuth in Potsdam schoft sofort, als man ihn aus dem 

Lokal hinauswies. Allerdings erschofi er gleich darauf sich selbst. 

Er hatte keinen Respekt vor dem Leben; weder vor dem fremden noch 

vor seinem eigenen. 

Das veraltete Gesetz verbietet das Schiefien vorlaufig. Es behauptet, 
dafi unberechtigtes Toten Siihne erfordere. Auch die Religion ist der- 
selben Meinung. 

Und so erweist es sich denn, daft die Menschen vor der ReUgion keine 
Achtung und vor dem Gesetz nur noch eine geringe Furcht haben. 
Das Leben ist ihnen der Giiter hochstes nicht; und die Schuld nicht das 
grofite ihrer Ubel. Weder ihr eigenes Leben noch das der andern; we- 
der die eigene noch die fremde Schuld. Sie sind nicht ungerecht: Sie 
gestatten auch dem Nachsten, was ihnen selbst verboten sein miiftte. 
Die Totungsgewohnheit entspringt der allgemeinen Lebensverachtung 
eher denn der Geringschatzung eines einzelnen Lebens. Was sich als 
Roheit kundgibt, ist unbewuftte Skepsis. Der Mord ist ein Akt der 
chronischen Verzweiflung. 

Denn das sittUche Gebot in der eigenen Brust war, wie man sieht, die 
Folge eines Glaubens und einer Angst. Als die Welt noch furchtsam 
war, fiel es ihr leicht, edel zu sein . . . 

Berliner Borsen-Courier, 26. 2. 1922 



DIE HOFFNUNG AUF »JENUA« 

W^s die Berliner sagen 

Befrage den Kameltreiber in der Wiiste Sahara, was er von der Ge- 
schwindigkeit der Schwebebahn in New York halt. Oder die kleine 
Wassertragerin in Bombay, wie die Abendtoiletten der nachsten Saison 
beschaffen sein werden. 

»Was halten Sie von Genua ?« - fragte ich Menschen, die kaum eine 
Vorstellung haben von den Mobeln eines internationalen Konferenz- 
raumes. 

Sie halten nichts von Genua, und wenn Volkes Stimme Gottes Stimme 
sein soil, i$t diese Konferenz gar nichts wert. 

Zum Gliick 1st das Volk so weit vom lieben Gott wie er von der Politik, 
Eines Tages fragte ich den Postboten. Er kam aus dem Hinterhaus, 
wahrend ich die Treppe hinunterging. Es ist ein Aushilfspostbote. Er 
tragt noch einen feldgrauen Rock und einen Stock, weil ihn die Ferse 
schmerzt. Die Hauser, in denen die Menschen wohnen, sind von seltsa- 
men Ausdehnungsmoglichkeiten mit unzahligen Stufen. Es gibt Leute, 
die im fiinften Stockwerk wohnen und die dennoch eingeschriebene 
Brief e oder Geld empfangen. Davon kann die Ferse schmerzen. 
»Wenn nur erst Genua vorbei ist!« sagte ich. 
»Was ist denn in Genua ?« fragte er. 

»Genua«, sagte ich, »ist eine wunderschone, sehr alte italienische Stadt 
mit fabelhaften Gebauden, und wenn Sie dort Brieftrager waren, wiir- 
den Sie mit Freuden treppauf, treppab wandern und Ihre Fersen voU- 
kommen vergessen. Die Genueser erhalten iibrigens lange nicht soviel 
Briefe wie die Berliner, einfach deshalb, weil sie Analphabeten sind und 
sie nur miihevoll beantworten konnten. Sie konnen weder lesen noch 
schreiben, deshalb gilt dort ein Brieftrager als gebildeter Mann. Wenn er 
kommt, bedeutet es eine Freude, die ganze Familie lauft ihm zur Tiir 
entgegen, und da sie selbst nicht lesen kann, muft ihr der Postbote oft die 
Korrespondenz entziffern.« 
»Das ist schon«, sagte der Postbote, 

»Nicht wahr? Und in einer so wunderbaren Stadt werden sie eine Kon- 
ferenz abhalten.« 
»Der Rathenau geht hin?« 
»Ja, der Rathenau wahrscheinlich. Die Herren werden in einem beque- 



760 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

men Hotel in Genua wohnen, Ausfluge auf dem Meere machen, und 
die See wird vielleicht besanftigend auf ihre Wildheit wirken.« 
»Ich habe zwolfhundert Mark im Monat, eine Frau und zwei Kinder «, 
sagte der Postbote. »Wie wird das weitergehn?« 

Und er hinkte mit seiner Achillesferse sozusagen in ein grofies, scho- 
nes Haus in der Mommsenstrafie, ein glasernes Portal verschluckte 
ihn, und ich horte seine Schritte und seinen Stock noch eine Weile auf 
den fremden Fliesen klappern. Er ging wie ein Daktylus, eine Lange, 
zwei Kurze, und der Stock machte unnotige Zasuren. 

Schrag dem Bahnhof Wedding gegeniiber steht ein Gleiswachter mit 
einer eisernen Stange. Er steht Sommer und Winter dort, es sind viel- 
leicht verschiedene Gleiswachter, aber sie sehen alle einander gleich 
wie die Gleise. Nur hiillen sie sich, wenn die kalte Zeit kommt, in 
Mantel und Pelze, dafi sie aussehen wie eingewickelte Brunnen in klei- 
nen Stadten mitten auf der Strafie. 

Die Stange ist sozusagen des Mannes verlangerter Arm. Je nachdem, 
ob diese oder jene Stadtbahn kommt, steckt er seinen eisernen Zeige- 
finger in die Weichenrille und schiebt die Schienen rechts oder links 
oder gar nicht. Die Freude seines Lebens besteht darin, dafi gelegent- 
lich ein paar Strafienbahnen kommen, die eine gleiche Richtung haben. 
Dann darf er eine Weile wie ein Holzpflock an einem Mauerrand leh- 
nen und mit der Zeitungsfrau sprechen. 
In einem solchen Augenblick fragte ich ihn nach Genua, 
»Ich glaube nicht, det sie wat drehen wer'n in JennaU sagte er. Er sagte 
»Jenua«, und es klang wie ein Vorort von Berlin. »Alle Vierteljahr 
fahren die Herrschaften nach Paris und London und Amerika.« Und 
nichts mehr sagte er. Und es klang gleichgiiltig und sachUch, und es 
war eine tiefe Verabscheuung des reisenden Konferenztums. Er sieht 
nur die Ziige nach dem Norden und zuriick fahren, und noch nie sah 
er einen Zug nach Jenua. 

Ein Mann, der Zeitungen am Hausvogteiplatz verkauft, ist der gebll- 
detste Zeitungsverkaufer. Grauhaarig, mit einem Bart, den Wind und 
Regen waschen, verkauft er die Stimmen der Offentlichkeit mit einem 
schweren Ernst, als waren es die Stimmen des Gewissens. 
Ich kaufte bei ihm zwei Blatter verschiedener Richtung und sagte, man 
miisse sich orientieren, wie alle Parteien liber Genua denken. 



1922 JGl 

>Ein gebildeter Mensch liest alle Blatter«, sagte er. »Aus einem einzi- 

^en erfahrt man nie die Wahrheit.« 

■>Steht etwas iiber Genua heute?« 

>Ich habe noch nichts gelesen. Aber gewifi. Uber Genua schreiben sie 

loch alle Tage.« 

>Das ist zuvieL« 

>Das wird sich erst zeigen, ob die Mark hochkommt. Sie kommt nicht 

loch vorlaufig. Aber alles hangt von oben ab und was sie beraten. 

Jnsereins weifi nichts. « 

Jnd der Mann machte ein demiitiges Gesicht, und ein ungeheurer Re- 

pekt vor den verhiillten Ereignissen, die die Welt regieren, make sich 

larin. 

vlit mir vor dem Blumenladen in der Leipziger Strafie steht eine alte 
■^rau. Sie hat ein schwarzes Latzchen auf dem Kopf wie die Andeutung 
ines Hutes. 

■Die Blumen sind schon«, sagte ich. »Aber in Genua zum Beispiel sind 
loch ganz andere Blumen. « 

Ja, die Blumen sind sehr lieb«, sagte die alte Frau, und ihre Kinnladen 
itterten. Eine kleine behaarte Warze hatte sie am Kinn, das sah wie ein 
lartchen aus. »Jeden Tag, wenn ich vom Aufraumen komm', steh* ich 
ier eine halbe Stunde. Ach, die vielen schonen Blumen! Diese scho- 
len Blumen !« 
Wo raumen Sie auf?« 

Hier, bei den Herrschaften Lifschiitz! Jetzt fahrt die Frau weg, und 
leine Tochter hat ein Kind bekommen. Da geh' ich nach Haus. Ach, 
ie schonen Blumen!« 
Wissen Sie, was Genua ist?« 

Nein, Herr!« sagte sie mit einem verschamten Lacheln, als hatte ich 
Ie nach einer Sache gefragt, iiber die man erroten miif^te, wenn man 
icht schon so alt ware. »Die jungen Herren wissen noch davon! Viel- 
ncht?!« 

Jnd ich kaufte ihr Blumen. Ein kleines FUederstraufichen, es kostete 
wanzig Mark. 

7eil sie nichts von Genua wuf^te. Und geglaubt hat, es sei ein Eroti- 
on und ich pervers. Weil sie meine Frage so richtig eingeschatzt hat. 
Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, i. 3. 1922 



LIEBLING DER FRAUEN 



Es wird berichtet, dafi der vor kurzer Zeit entwichene und spater ins 
Gefangnis wiedergekehrte Peter Grupen taglich sehr viele Briefe und 
Blumen mit der Post erhalte. Die Sendungen aber bekommt Hen 
Grupen nicht einmal zu sehen, und da er auch keine Zeitung lesen 
darf, weifi er gar nicht von seiner Beliebtheit. 

Blumen und Briefe kommen von Absendern weiblichen Geschlechts 
Die Frauen lieben es, wenn der Mann die Schranken der Biirgerlich- 
keit zertriimmert und spaterhin die Gitter seiner Zelle durchsagt. Si( 
lieben, wie man sieht, die Gewalt jedes Ursprungs, und das Ziel isi 
ihnen gleichgiiltig. Deshalb horen sie nicht auf, Peter Grupen, den 
zum Tode Verurteilten, Blumen zu schicken als Zeichen ihrer Erge- 
benheit. 

Vor einiger Zeit wurde der Antrag, Frauen zum Richterberuf zuzu 
lassen, verworfen, und viele reife und dem Manne nicht nur gleichbe 
rechtigte, sondern auch gleichbefahigte Frauen fiihlten sich tief ge 
krankt. 

Auch wenn man durchaus fiir Richter weiblichen Geschlechts einge 
nommen ist, kann man die Tatsache nicht iibersehen, dafi unter dei 
Blumenspendern nicht ein einziger Mann ist. Die Manner sind als< 
offenbar weit entfernt davon, Peter Grupen zu huldigen. Sie stehei 
mehr oder weniger auf seiten des Gesetzes, das Grupen verurteilt hat 
Nur, wie gesagt, die Frauen demonstrieren dagegen. 
Es mufi also in vielen, wenn auch nicht in alien weiblichen Mitbiirgen 
einen leisen, aber konstanten Widerstand gegen das von Mannern ge 
schaffene und von ihnen auch durch die Jahrhunderte vertreten 
Gesetz geben. Wiirden nun Frauen zum Richterberuf zugelassen, we 
weifi, ob sie jenen sicherlich im Unterbewufitsein schlummernden Wi 
derstand mit Hilfe des Gewissens niederschlagen konnten. Wer weili 
ob weibliche Richter Peter Grupen verurteilt hatten. 
Der Mann ist imstande, die nackte Tat von ihren Begleiterscheinun 
gen loszuschaien; er ist kritisch und zerlegend, die Frau ist kontem 
plativ und erganzend; er schreitet auf das Ziel los, die Frau verwei 
unterwegs. Die Gesetze aber sind Friichte mannUchen Denkens, E] 
gebnisse der Logik und der sondernden Vernunft. Romantik ist in it 
rer Welt kein mildernder Umstand. 



1922 7^3 

Der Eintritt der Frau in den Richterberuf miifite eine neue Gesetzge- 

bung zur Voraussetzung haben, eine mit Hilfe der Frauen geschaffene 

Gesetzgebung. 

Und eine solche miiCte die Romantik zweifellos beriicksichtigen. 

Es sei denn, dafi die Manner ihre augenblicklichen Eigenschaften ver- 

anderten : 

Da sie aufhorten, »Ritter« zu sein, und sich in die Kanzleien und Biiros 

begaben, verloren sie viel in den Augen der Frauen. 

Deren ewiges Ideal blieb der Ritter mit dem Schwert. In Ermangelung 

iessen zieht sie den Gewaltmenschen mit den Ellenbogen vor. Beide 

laben die Gefahr und das Gefahrliche gemeinsam. So suchen die 

Frauen vergeblich nach jenem Edlen, dem sie den Kranz reichen konn- 

;en. Sie finden Peter Grupen und schicken ihm Blumen. 

Berliner Borsen-Courier, 1.3. 1922 



FUNDAMT 



Jnterwegs verlor ich eine saffianlederne Brieftasche »mit Inhalt«. 
xh ging, ein ehrlicher Verlierer, ins Fundamt. Das ist ein Zimmer in 
ler Polizeidirektion, ein Zimmer mit Auf- und Vorschriftenj erwach- 
;en aus dem festen Vertrauen der Behorde auf die Biederkeit des Men- 
ichen. Hier ist ihm bequeme Gelegenheit geboten, zu beweisen, da£ er 
;ut ist. (Die meisten behordlichen Einrichtungen rechnen - es ist nicht 
:u leugnen - mit seinen schlechten Eigenschaften; zum Beispiel: die 
nnanzamter; die Fiirsorgeanstalten; die Begabtenschulen; die Staats- 
)pern.) 

Die Fundamter allein reprasentieren den Glauben an die Menschheit. 
n ihnen weht ein milder Hauch der giitig zuredenden vaterlichen 
Vutoritat. Von den beiden alten Mitteln der Regierungen: Zuckerbrot 
ind Peitsche - wird in den Fundbiiros sozusagen nur das erstere ge- 
chwungen. Hier wird Strenge des Gesetzes locker. Finder sein ist 
licht strafbar; im Gegenteil: Es ist jedem frei, ein ehrlicher zu werden. 
lin Finderlohn ist ihm sicher, eine klingende beziehungsweise kni- 
ternde Auszeichnung. Verzichtet er auf diese, winkt ihm, als dem Bei- 



764 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

spiel menschlichen Edelmuts, ewiges Fortleben in den Schulbiichern dej 

Landes. Nimmt er sie, hat er mindestens ein gutes Gewissen, auf dem ei 

sanft ruhen kann. Er darf, wie man sieht, nichf nur ehrlich, sondern auct 

groCmiitig sein. 

In einem Fundamt also, dachte ich, miifSten sich Finder und gefundenc 

Gegenstande in einem fortwahrenden Massengedrange mischen. Id 

stellte mir vor: Alpenketten aus Regenschirmen, Himalajas aus Hand- 

taschchen und eine riesige Menge ehrlicher Finder, vor Edelmut schwit- 

zender, nach Pflichterfiillung lechzender. 

Nichts drangte sich! Eine Frau suchte unter khrrenden Schliisselbiinden 

die ihr der Herr Fundbeamte vorhielt. Eine Liste zahlte mit fetten Buch- 

staben alle Gegenstande auf, die hier abzugeben waren, und hatte dit 

Tiere selbst nicht vergessen. Schranke stehen, aufnahmefahigund -bereit 

Der Beamte wartet mit offener Seele und gewissermafien innerlich ausge- 

breiteten Armen. Ehrlichkeit herausfordernd leuchtet sein Aug'. Seir 

Dasein ist ein Trost; es bedeutet: Haltet den Glauben aufrecht! Verzwei- 

felt nicht! Der Staat selbst glaubt und lafit es sich was kosten . . . 

Das Biiro ist also gefiillt vom Beamten und gleichsam den Begriffen dei 

abzugebenden Gegenstande, ihre »Begriffsbilder« allein sind vorhan- 

den; die platonischen eidola der Wirklichkeiten; die Namen (Wort- 

hiilsen) der Dinge. 

Auch meine Saffianledertasche war in dieser abstrakten Gestalt vorhan- 

den. Ihre Seele hatte gleichsam hier heimgefunden; ins Jenseits allei 

verlorenen Brieftaschen. Ihr Schatten umschwebte mich. 

Der Beamte sagte: meine Tasche sei noch nicht abgegeben worden. let 

durfte nach vierzehn Tagen wieder anfragen; schreiben konne mir da; 

Fundamt nicht, da es keine Spesen machen diirfe. In Dresden zunr 

Beispiel zahlt man fiir jede Auskunft beim Fundamt. In Berlin erfahri 

man Bestatigungen seiner Skepsis ganz umsonst. Es ist geradezu gewinn- 

bringend, in Berlin zu verlieren. 

Und vom Besonderen ins AUgemeine gelangend, erzahlte er: Amschnell- 

sten bringen die unbemittelten Menschen Funde zur Polizei. In einenr 

gewissen Sinn sind also diese die besseren Finder, Die in seinem Sinr 

besseren Finder lassen sich gewohnlich sehr viel Zeit. 

Das ist eine aufierst lehrreiche Beobachtung: Respekt vor fremden: 

Eigentum bezeugen jene, die kein eigenes haben. SeHg sind die Armen 

Armut konserviert den guten Charakter, Reichtum verdirbt ihn. Wie 

man sieht. 



1922 7^5 

Is ist eine so fromme Atmosphare, im Fundamt, dafi ich den skepti- 
chen Zweifel, die Armen hatten eher eine begriindete Angst vor Ent- 
ieckungen als die Reichen, lieber unterdriicke. 

Is ist, wie gesagt, eine solche Vertrauensseligkeit in der Luft, dafi ich 
:umindest meine Fassung wiederfinde, die ich, Torichter, von dem 
X^iederfinden der Brieftasche abhangig wahnte. Ich komme nach vier- 
;ehn Tagen, ich komme im BewufStsein, dafi ich keinesfalls eine Ent- 
auschung erleben werde: Moge sich der Finder nun melden oder 
licht. Der Weg zum Fundamt ist erhebend. Pilgern will ich in dieses 
:ostlichste aller Amter, Ja, ich werde die etwa sich einstellende Briefta- 
che nicht als mein Eigentum empfangen, sondern als unverhofften 
^inderlohn segnen. Fromme Einkehr will ich halten. Nur zu Laute- 
ungszwecken suche ich diese Behorde auf. Fiihlen will ich den sittli- 
hen Gedanken des Staats und wissen, daK er ein Vater ist, nicht nur 
in strenger, strafender, nein! - auch ein mit Sanftheit erziehender. 

Berliner Borsen-Courier, 5.3. 1922 



WOLKENKRATZER 



eit mehreren Wochen ist im Rathaus eine hochst interessante Ausstel- 
ing von Hochhausplanen zu sehen. Nun hort man, dafi der Bau eines 
7olkenkratzers beschleunigt werden soil. Es wird der erste Wolken- 
ratzer Deutschlands sein. 

Wolkenkratzer« ist keine technische, sondern eine volksmafiige Be- 
eichnung fiir jene riesigen Hauser, die man auf New Yorker Strafien- 
hotographien sieht. Es ist ein romantischer und bildhafter Name. Es 
t der Name eines Hauses, dessen Dach bereits die Wolken kratzt. 
twas vom Revolution artum der babylonischen Turmerbauer liegt in 
iesem Wort. 

in Wolkenkratzer - das ist die korpei^ewordene Auflehnung gegen 
igebUche Unerreichbarkeit; gegen das Geheimnis der Hohe; gegen 
ie Jenseitigkeit der Himmelsregion. 

»er Wolkenkratzer bedeutet einen jener Gipfel technischer Entwick- 
ing, auf dem die Niichternheit der »Konstruktion« bereits iiberwun- 
tn ist und sich der Romantik des Natiirlichen zu nahern beginnt. Die 



■]^(> DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wolke, femes, wunderbares Ratsel der Schopfung, Gottes Segen unc 
Fluch, Leben und Vernichtung spendendes Mysterium, vom primiti 
ven Menschen angebetet und gefiirchtet, wird bewohnbar und sozusa 
gen hauslich. Wir werden uns in den Wolken behaglich einrichten. Wi 
werden ihnen Kunde bnngen von den Lacherlichkeiten und den ernst 
haften Dingen dieser Erde. Sie werden das Klappern der Schreibma 
schinen horen und das Klingeln der Telephonapparate; die Gerausch 
der Zentralheizung und das Tropfen der Wasserleitung. 
Es wird eine Art Heimkehr des komplizierten Menschen zur Ur 
spriinglichkeit der Naturgewalt sein. Das ist ein bedeutendes Ereignis 
und mir scheint, dafi wir allzu achtlos daran vorbeizugehn im Begriff 
sind. Die Errichtung des ersten Wolkenkratzers ist ein historische 
Wendepunkt. 

Sooft ich die Bilder von New York ansehe, erfiillt mich eine tief 
Dankbarkeit gegen die Allgewalt der menschlichen Technik. Auf de 
nachsten Stufe ihrer Entwicklung hat die ZiviHsation Gelegenheit, sid 
den alten Begriffen von Kultur zu nahern. 

Als man die erste Dampflokomotive erf and, jammerten die Dichte 
iiber die Verpestung der Natur; sah die Phantasie grauenvoUe 2u 
kunftsbilder: wald- und wiesenlose Erdteile, versiegte Fliisse; vei 
dorrte Pflanzen, erstickte Schmetterhnge, Man ahnte nicht, dafi jed 
Entwicklung einen geheimnisvollen Kreis durchlauft, in dem Anfan 
und Ende sich beriihren und identisch werden. 
Denn die Erfindung des Aeroplans bedeutete nicht Kampfansage a 
alles fUegende Getier, sondern im Gegenteil: Verbriiderung zwische 
Menschen und Adler. Der erste Bergwerksarbeiter drang nicht verwii 
stend in die Tiefe, sondern er kehrte heim in den Schol^ der Mutte 
Erde. Was wie im Krieg gegen die Elemente aussieht, ist ein Biindni 
mit den Elementen. Mensch und Natur werden wieder eins. Und i 
den Wolkenkratzern wohnt die Freiheit ebenso wie auf den Bergen. 
Langersehnte Erfiillung phantastischen Erdenwunsches: die Raumnc 
zu bezwingen durch Aufstieg und Hoheneroberung. Ausnutzung alk 
Dimension: Erhebung, die, aufierlich sichtbar, sich auch dem Inner 
mitteilt. 

Es ist unmoghch, daf5 die Nahe der Wolken ohne Einflufi bleibt ai 
den Menschen. Der Blick, der aus dem Fenster schweifend die Grer 
zenlosigkeit des Horizonts umfafit, wirkt auf Herz und Seek. Di 



1922 J(>J 

Lunge atmet Himmelsluft. Um die Stirn eines Sterblichen ziehen Wol- 
ken wie bisher nur um olympische Stirnen. 

Schon sehe ich den Wolkenkratzer: auf der breitausladenden Grund- 
lage ein schwebendes, schlankes Gebaude, edel und zart in den Kontu- 
ren, die sich weif^ und grau vom blauen Himmel abzeichnen: stark und 
sicher im Gefiige, mit einem naturgebildeten Berg an Kraft wett- 
eifernd. 

Zehntausend Menschen stromen taglich ein und aus: die kleinen Biiro- 
madchen, die aus den engen Lichthofen der Stadt und des Nordens 
kommen, eiligen Rhythmus in den Gliedern, mit schwarzen Lederta- 
schen, Lifte bevolkernd, wie ein Schwalbenschwarm in die H5he 
schieCend. 

Manner, stark ausschreitend, Ziel in den Augen, Unternehmungslust 
in ausholenden Gliedmafien. Maschinenklappern und Rasseln der Ge- 
fahrte; Kommandoruf und Schrei; der gleichmafiige Takt der mechani- 
schen Ratlosigkeit, die einem gemeinsamen Zweck entgegenarbeitet. 
Oben ist Gott aus seiner ewigen Ruhe gestort und zur Teilnahme an 
unserm kleinen Geschick gezwungen. 

Ach! - Schon liest man, daf^ ein grower Unterhaltungspalast im ersten 

Wolkenkratzer Berlins errichtet werden soil. Mit Kinos, Tanzbasar, 

Likordiele, Negerkapellen, Variete, Jazzband. 

Denn die menschliche Natur verleugnet ihre Schwachen selbst dort 

nicht, wo sie sie scheinbar zu iiberwinden im Begriff ist. 

Und wenn es uns gelingen wiirde, sogar einen Planetenkratzer zu er- 

richten und den Mars zu bebauen - die Expedition der Gelehrten und 

Ingenieure ware begleitet von einer Dielenkolonisationsgesellschaft. 

Aus hochsten Wolken sehe ich eine Kahlbaumstube leuchten. Es reg- 

net Mampediktiner. 

Berliner Borsen-Courier, 12.3. 1922 



EINDENKMAL 



Der Bildhauer, der den Auftrag bekame, dem Wiener Dichter Peter 
Altenberg ein Denkmal zu setzen, stiinde verzweifelnd vor einem Pro- 
blem, Peter Altenbergs Antlitz schliefit eine stilisierte Ubertragung in 
ewigem Marmor an sich schon aus. Diese Ziige vertragen kein ideali- 
siertes Pathos und bediirfen keiner Ubersetzung ins traditionell Hero- 
enhafte eines Monuments. Ein Denkmal Peter Altenbergs miifite unge- 
fahr im Wiener Volksgarten stehen, in jenem Park, in dem die kleinen 
Madchen aus den Biiros, den Schulen und den Werkstatten wandeln, 
am Abend, wenn die Sonne untergeht, und auch lang noch spater, 
wenn die dunkle Nacht als eine Wohltat Gottes empfunden wird. In 
jenem Park steht ein anderer grofier Dichter: Grillparzer. In antik stiU- 
siertem Gewand, von den unsterblichen Gestalten seiner Dichtungen 
umgeben. So konnte Peter Altenberg nicht dastehen. 
Egon Friedell hat dem Dichter »P. A.« ein anderes Monument gesetzt: 
ein Buch, bestehend aus Anekdoten und Briefen Altenbergs und Auf- 
satzen zeitgenossischer iiber den toten Dichter. Das Buch ist in der 
Wiener Graphischen Anstalt erschienen, geschmackvoll ausgestattet, 
in Form und Gehalt harmonisch und ein passendes Denkmal. 
Dieses Buch ist namlich imstande, der veranderlichen Erscheinung und 
dem sich selbst stets treuen Charakter des Dichters gerecht zu werden. 
Das Mifiverstandliche aufzuklaren, das scheinbar Selbstverstandliche 
(in einem tieferen Sinn) zu eroffnen; das Widerspruchs voile mit Ironic 
liebenswert zu machen,* das Paradoxale aus tiefster Giite erstehen zu 
lassen, den gelegentlichen Hafi aus der nachsten Nachbarschaft der 
Liebe. Das im normalen Verstandessinn »Verruckte« auch dem durch- 
aus rationalen Leser so darzureichen, dal5 er mindestens lachelt. 
So ersteht aus diesem Buche ein Peter Altenberg, wie man ihn gekannt 
und nicht gekannt. Ein Wiener in stabiler Ekstase, die ihre unwiirdig- 
sten Objekte heiHgt. Ein Dichter hebt einen Kieselstein auf, und es ist 
ein Kristail. Peter Altenberg schreibt einen begeisterten Liebesbrief an 
eine kleine, kiinstlerisch unbedeutende, menschlich mittelmafiige Dar- 
stellerin, und der Empfangerin verzeiht man die Uberschwenglichkeii 
- des Absenders. 

Ein Wiener in stabiler Ekstase. So merkwiirdig die literarische Erschei- 
nung Peter Altenbergs war, so seltsam diese Mischung aus Wienertum 



1922 7^9 

und Charakter. Denn die Gegenstande seines Hasses, seiner Liebe und 
seiner Begeisterung wechselten mit jeder Stunde fast. Aber treu blieb er 
diesen Expansionen und Starkstromspannungen der Seele sein Leben 
lang: der Liebe, dem Hafi, der Begeisterung. 

In seinem Aufsatz liber P. A. erklart Thomas Mann die Erscheinung des 
Dichters aus der Zeit des alten Habsburgerreiches. Thomas Mann sieht in 
Peter Altenberg einen der letzten Reprasentanten der alten Monarchie - 
im asthetischen Sinne; den SprofiUng einer untergehenden Mischkul- 
turepoche. 

Das stimmt nur bedingt. Altenberg war der Sohn eines deutschen Wiens, 
nicht eines schwarz-gelben. Er wies im Gegenteil - auch historisch - 
hiniiber in eine neue Zeit. In die Zeit der Wortknappheit und der strengen 
Kiirze, bei aller Milde des Inhalts. Im Gegensatz zur gerade im alten 
Osterreich hypertrophierten Weitschweifigkeit. Seine eiserne Riick- 
sichtslosigkeit war gar nicht altosterreichisch. Er hatte keine oberflachli- 
che »Liebenswurdigkeit«. Wohl aber erwachst er aus diesem Buch Ue- 
benswert, als Mensch und Poet. Seine Schwachen brauchtman ihm nicht 
zu verzeihen - man mufi sie anerkennen. Es sind die Schwachen des 
letzten Minnesangers; des letzten Troubadours und Frauenlobs. 
Nicht des letzten Osterreichers. 

Berliner Borsen-Courier, 14.3. 1922 



TRAINING 



Die grofien Meister der Boxkunst, die morgen einen sogenannten GrolS- 
kampftag zu absolvieren haben, iiben bereits langere Zeit in der Boxaka- 
demie in Schoneberg. 

Gestern machten sic vor Sportsfreunden kleine Kampfproben, und ich 
ging in die Boxerschule zusehen. 

Ich sah zwei gekreuzte Degen hoch an der Wand, die eine Studenten- 
kappe versohnend verband und am Kreuzungspunkt verdeckte. Dane- 
ben hangt eine alte Fechterausrustung, eine Maske und grofie Hand- 
schuhe, und sonst noch manche von jenen Requisiten, die merkwiirdige 
Kompromisse darstellen zwischen der menschlichen Mordlust und der 
menschhchen Angst um Nase und GliedmafSen. 



770 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

So ist von der Wand her gleichsam der historische Zusammenhang 
hergestellt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein unsichtba- 
res Band getreuer Tradition schlingt sich von den Stricken dei 
Arena zu jenen gekreuzten Degen. 

Im iibrigen ist von dem Historischen mehr oder weniger abgeseher 
und Gewicht, sozusagen »Schwergewicht« gelegt auf die Triumphe 
moderner Technik. 

Man sieht also zum Beispiel ein Zweirad, das fix und ewig im Bo- 
den wurzelt, als wiichse es mit Schraubenfasern aus dem Dielen- 
brett. Es ist ein lustiges Zweirad, es bewegt sich nicht, man kann aul 
ihm tausend Meilen gewissermafien zuriicksitzen, unermiidiich dk 
Pedale drehen und in einer Stunde fiinfhundert Kilometer Fufimus- 
kelertiichtigung gewinnen. Indes darf die Phantasie iiber Land und 
Meer ungehindert schweifen, 

Oder: ein grofies Lederkissen, das an einem Strick hangt. Es fingiert 
einen Gegner. Die Schlaglust der Boxer darf sich ungehindert darar 
austoben. Es empfangt unerhorte Hiebe und wehrt sich nicht, dank 
einer dickleibigen Unempfindlichkeit, wie sie nur ein Kissen aufzu- 
bringen vermag. Der Boxer, der es ziichtigt, schwitzt bereits, das 
Kissen hat die beriihmtesten Gegner personifiziert, die weifien und 
auch die schwarzen, sie sind alle geschlagen - und schwacher, getreij 
im jeweiHgen Rhythmus der empfangenen Leidenschaft, 
Wenn der Boxer genug hat und das bedauernswerte Lederkisser 
einem KoUegen mit frischeren Kraften iiberlafSt, kommt eine Art 
Ruhelager in Betracht, auf dem eine Ruhe so ziemUch ausgeschlos- 
sen ist. 

Es sieht wie ein Sofa aus, und ich stelle mir vor, dafi ich, lage icb 
darauf, in einen genufireichen Schlaf verfallen konnte. Der Boxer 
aber hat sich nicht zu solchen torichten Zwecken hingelegt: Kaum 
lag sein Korper, und schon atmet er aus tiefsten Brusttiefen. Ei 
zieht die Luft ein wie einen festen Gegenstand. Was andere sonst 
frei treiben, dazu ist bei ihm eins, zwei, drei notig. Er macht sicb 
freiwillig das Atmen zur Qual und verbittert sich das Leben, indem 
er den Oberkorper auf- und niederschwingt und mit hocherhobener 
Armen Beschworungsbogen durch die Luft zeichnet. 
Indessen trat sein KoUege in die Arena. Der stellt sich vor den Spie- 
gel und fangt an, fiirchteriich gegen sich selbst zu Felde zu ziehen. 
Es ist, als wenn zwei Seelen in seiner Brust ihren Boxkampf nach 



1922 771 

ufien projiziert hatten. Uber diesem Einkampf steht das Motto: 
iich selbst besiegen ist der schonste Sieg, 

Dieser Sieg gelingt hier zum erstenmal in der ganzen Weltge- 
;chichte. Und es ist schon zu sehen, wie Sieger und Besiegter gleich- 
:eitig abtreten und in einer Person vereinigt sind. Hier ist die Nie- 
lerlage ad absurdum gefiihrt und der Sieg eine Farce. Der Sieger, 
ler sich kronen woUte nach Verdienst, kann's nicht, weil er ein Ge- 
chlagener ist. 

Vndere Boxer aber treten zu zweit auf, es ist eine richtige Probe mit 
Jchadelgedrohn und Rippengekrach. »Kontern« und »krossen« 
lennt man so was, und wie man sieht, sind die fremden Boxer, Plu- 
'^ette und Dastillon, Sasse und Diamant, den einheimischen Prenzel 
md Naujocks gewachsen. 

3ie Boxer sind librigens sehr versohnliche Naturen und nehmen 
;inander gar nichts iibel. Zwischen Blut und Herzstocken glanzt 
loch die Bewunderung des Geschlagenen fiir den Gegner. Man ist 
lankbar fiir einen Nasenstiiber. Weiter kann die christliche Nach- 
tenliebe gewif^ nicht gehen. 

Kn den Wanden der Schule sind Kranze zu sehen, rote Schleifen, 
lie sich mittels goldener Buchstaben dem Sieger widmen. 
Wtr widersteht ihnen? Ihr Anblick ist ein Wink und eine Aufmun- 
erung. Rote Farbenfanfaren, rufen sie zum frohlichen Sieg im Tur- 
ner. 

Winter mir sagt ein Sportsfreund : »Dastillon landet!« 
!ch sah nur den Gegner scheitern. 

Berliner Borsen-Courier, 16.3. 1922 



KARNEVAL 



Vlljahrhch um diese Zeit pflegt der Karneval iiber die Menschheit 
lereinzubrechen wie ein freudiges Ereignis. 

])ie Menschen hissen ihre Freuden und winken mit buntgesaumten 
irwartungen. Sie bilden pflichteifrige Festspaliere. Die humoristi- 
;chen und illustrierten Blatter sagen Begriif^ungsgedichte auf, in far- 
)ige Titelbilder gekleidet. 



7/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aus dem dunklen Ernst der allgemeinen Lage rettet sich dej 

Mensch in die helle Heiterkeit einer besonderen Situation. Seir 

tiefgebeugter Korper schwebt trotz alledem auf tanzendem Bein, 

Er leert sozusagen die bitteren Kelche bis zur Neige der Likoi^la- 

sen 

Er gramt sich so lange, bis er vor Trunkenheit zusammengebro- 

chen ist. 

Seine Pflicht zur Lust ist starker denn das Recht auf Schmerz 

Denn: Wer den Tag verschlaft, lafit kummerios des Nachts di< 

Lichter streiken. 

Ihm geht die Dammerung auf wie den andern die Morgenrote.- 

Er darf sich im Lichte des Mondes sonnen und zu Mitternacht es- 

sen gehen. 

So sind die Note der Zeit Tugenden des Faschings. 

Es ist eine Lust, durch nachtUche Strafien zu wandern. 

Aus trotzdem belichteten Fensterreihen tropfen Twostepklange sil- 

bern aufs Pflaster. Vor dem Hause warten Automobile mit aufge- 

rissenen Augen. Die Chauffeure pendeln hin und zuriick, als hin- 

gen sie, wie Uhrgewichte, an diinnen Ketten. Sie ticken gleichsanr 

auf dem Biirgersteig. 

Wahrend oben gerade die Demaskierung erfolgt und alle Menscher 

iiberrascht sind, dafi sie einander so richtig erkannt haben, als m 

noch Masken trugen. 

In den Nischen, vor denen gewohnlich groEe Stubenpalmen wis 

Wachter der Liebe stehen, ereignen sich beobachtete Details. 

Im Nebenzimmer spielen Ehemanner Skat, und im Salon klopft dei 

Virtuose Beethoven. 

Manchmal geht unten die Tiir auf, und ein Paar trippelt zum Auto. 

Viele Menschen gehen zu Fufi nach Haus und in geselligen Rudeln, 

wie es in der Naturgeschichte heifit. 

Die Damen tragen Halbschuhe und tupfen mit den FufSspitzen aui 

Schneehaufen, wie man mit Zeigefingern auf Torten tupfte, als mar 

noch jung war. 

Manchmal packen sie ihre FuEe, wie Edelsteine, in unermefilich^ 

Schneeschuhe und schliirfen iiber die StralSe, als war' sie ein Schlaf- 

zimmer. 

Die jungen Madchen fiihlen schlafrig ein Erwachen und sind durcli 

Meilen von ihren Miittern getrennt, an deren Arm sie hangen. 



1922 773 

Indessen werden in den Redaktionen die Morgenblatter gedruckt, in 
denen sich mehrere als Verlobte empfehlen. 

Es begeben sich gesellschaftliche Ereignisse verschiedenen Ranges, 
Balle mit Festschriften und Damen umflort. Da sieht man die einen 
unter andern und was sonst noch »erschienen« war. 
In einem vornehmen Hotel, in dem die Bedienung so lautlos ist, dafi 
man das Summen bereits getoteter Fliegen horen konnte, findet, so 
heifit es, ein Ball statt, der auf Auslander und »zahlungskraftige« In- 
lander eine »grofie Anziehungskraft ausubt«. 

Dem alien und dem Karneval will die Polizei entgegentreten mit Tanz- 
verboten und Konzessionseinstellungen. 

Dagegen beschweren sich manche Gastwirte, und der Streit »wogt« 
hin und her, als ware er ein Walzer. 

Das Blaue Heft, i8. 3. 1922 



FIGAROS TURNIER 

Wettkampf der Damenf rise ure im Zoo - Ein 80-Minuten-Rennen - 
Festball und Messe 

Es ereignet sich gegenwartig in Berlin ein grofies Wettrennen der Bar- 
biere um den Preis der Internationalen Meisterschaft und um das »sil- 
berne Schild«, das ehrwurdige, alte Abzeichen der Barbierzunft, das 
seit gestern zu freudigem Streite und mutigem Frisieren den Meistern 
Berlins, Londons, Wiens und anderer Stadte winkt. 
Dieses Wettrennen findet nicht im Sportpalast statt, sondern in den 
Festraumen des Zoos, und es ist ein grofies historisches Ereignis, denn 
es beweist, dal^ die Friseure der ganzen Welt bereits Frieden geschlos- 
sen haben und eintrachtiglich fortan friedliche Frisiersiege auszukam- 
men gedenken statt der iiblich gewesenen grol^en Rasuren des Welt- 
krieges. 

Gestern nachmittag um 3 Uhr begann das Fest mit der Eroffnung der 
Friihjahrsmustermesse, in der verschiedene herrliche Dinge zu sehen 
sind: seltsame Elektrisierapparate aus Glas und Metall, durch einen 
Druck freigemachte blaugriinliche Strome, die geheimnisvoU in den 



774 ^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Glasern spazierenfahren. Die Verkaufer bzw. die Auss teller legen den 
Voriibergehenden, als war's eine Begriif^ung, so ein elektrisch durch- 
flutetes Glasrohrchen auf den Handriicken, das wohlig warmt und den 
Wunsch nach einer linden Beriihrung mit der Kopfhaut verstehen lafit. 
Fohnapparate stehen da mit offenen Miindern, hauchbereit wie kor- 
pergewordene Atemziige. Puderdoschen schichten sich und Haarfar- 
bemittel, die unbedingt sicher wirken und in samtlichen Farben vor- 
handen sind, die hier aufgezahlt seien, auf dafi die Nachwelt erfahre, 
wie bunt ihre miitterlichen Ahnen sein konnten. Es gibt also: hell- 
blond, rotblond, mattblond, mittelblond, dunkelblond, blond 
schlechthin, spezialrot und rostrot. 

Ondulieren kann man sich mit der »Wasserwelle«, was keine fliissige 
Substanz, sondern sozusagen ein Kamm und eine Metapher zugleich 
ist. Auch die lastigen Folgen der Transpiration in den Achselhohlen 
sind zu vermeiden, wenn man eine besondere Kosmetik anwendet, de- 
ren Wirkung »frappant« ist, 

Schone griine Flaschchen bilden wohlriechende Pyramiden und schim- 
mern in magisch fluoreszierendem Licht, als waren's Flaschchen aus 
der Unterwelt. 

Den Mittelpunkt aber bildet das Frisierturnier, angekiindigt durch 
einen Trompetenstofi, der sich steil aufbaumt wie ein Schopf und des- 
sen Tonwellen gleichsam onduliert erzittern. Eingeleitet und eroffnet 
wird das Preisfrisieren durch eine Rede des Herrn Prasidenten, bei 
deren Schlufi Brennscheren leise erklappern. 

An zwei langen Tischen in der Mitte sitzen die Modelle. Hinter ihnen 
stehen die Kampfer im Frack mit den Werkzeugen in der Hand und 
mit Haarnadeln in Vorbereitung. Vor jedem Modell ist ein Toiletten- 
spiegel angebracht, wirft an die Leinwand die Ankiindigung, da£ zwei 
Frisuren in achtzig Minuten hergestellt sein mlissen. Dazu spielt die 
Musik und schiittet gewissermafien Klangstrahnen in den Saal, indes 
die Friseure Haarsymphonien komponieren. 

Der strahlt behutsam und zierlich ein blondes Haarbiischel, jener 
krauselt ein Lockchen, sanft und Hebkosend, daE es aussieht, als forme 
ein Wind Wolkengebild. 

Es ist ein atherisches Frisieren, gewissermaften ein metaphysisches 
Haarformen. So streicht ein Kiinstler iiber ein fertiges Bild etwa, das 
eine zarte Morgenlandschaft darstellt. Man frisiert Kunstwerke, Einge- 
bungen, Harmonien. 



1922 775 

"ndes halten die Modelle still, als waren sit Material. Selbst begierig, 

las Resultat 80 Minuten langer Bemiihung auf ihrem Haupt zu sehen 

ind durch das eigene Gekrontwerden die Kronung des Meisters zu 

^oUziehen. 

Dann kommen die Kopfe mit den dazugehorigen Menschen vor die 

Preisrichter, sowohl die modernen als auch die historischen. 

Bin Rundgang der Schopfer mit ihren Schopfungen voUzieht sich. Die 

Kerren Preisrichter haben bereits klassifiziert, aber die Preistrager 

^^erden's erst haute mittag erfahren. 

Der Beginn des Festballes bringt den Modellen Ehre und Tanz, Die 

listorischen Frisuren ergeben sich willig den modernen Tanztakten. 

Der Ball wird htntt fortgesetzt. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 20. 3. 1922 



DER FURST UND DIE BALALAIKA 



[n der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag drang die Polizei in ein 
Weinlokal im Westen Berlins und »sistierte« 80 Russen und Polen, 
iarunter die vier Balalaika-Musikanten. Es stellte sich heraus, dafi ein 
-ussischer Fiirst und seine Frau zu dem Quartett des Nachtlokals ge- 
lort hatten. Unter den Gasten befanden sich auch Mitglieder der Ro- 
:en Armee. Der Fiirst gab an, daft die Bolschewiken ihm sein Vermo- 
^en genommen hatten und dafi er sich mit der Balalaika seinen Lebens- 
anterhalt verdienen miisse. 

Hun ist die Balalaika ein durchaus feines Instrument, eines Fiirsten 
licht unwiirdig. In Rutland aber war es nicht die Beschaftigung der 
Fiirsten, in Weinlokalen Balalaika zu spielen. In Rutland handhabten 
iieses Instrument zumeist arme Sanger, fahrende Musikanten, und die 
Fiirsten mufiten schon sehr gnadig gestimmt sein, wenn sie dem Kon- 
iert ein halbes Ohr liehen. 

Mun ist es eine Art Rehabilitierung der Balalaika, wenn fiirstliche 
Eiande ihre Saiten zupfen. Ein ganz klein wenig ist die Gerechtigkeit 

[lergestellt. Um andererseits wieder 

A^ndererseits befanden sich unter den Gasten MitgUeder der Roten Ar- 
nee, Angehorige jener Macht, die den Fiirsten enteignet hatte. 



7/6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Im Prinzip kann niemand etwas daran aussetzen, daf5 Angehorige de: 
Roten Armee einem fiirstlichen Konzert lauschen. Allein, die Zuhorej 
safien in einem teuren Nachtlokal und tranken nicht etwa Tee, sonderr 
Wein. Und sie befanden sich nicht in Rufiland, sondern in einem frem- 
den Lande. 

Und wie manchmal ein Polizeibericht historische und philosophisch( 
Zusammenhange beleuchten, Abgriinde aufdecken, Probleme enthiil- 
len kann - das erweist sich hier wieder anlafiHch der erwahnten Aushe- 
bung: 

Mitgheder der ahen Aristokratie und des neuen Regimes safien einig ir 
einem und demselben Lokal, und die einen wiirgten an jenen Friichter 
der russischen Revolution, an denen die andern sich freuten. Es sine 
hypertrophische Friichte der Revolution. Eine historisch-psychologi- 
sche Betrachtung iiber die Entwicklung der Dinge in Rutland wird ar 
den BerUner Nachtlokalen nicht vorbeigehen konnen. 
Denn in diesen Nachtlokalen vollzieht sich erst die restlose sozialt 
Umwandlung der russischen Menschen. In Rutland ist keine Moglich- 
keit vorhanden - aus Mangel an Nachtlokalen. 

Eine Weindiele erst verleiht dem Revolutionar jenen echten Zuhorer- 
schliff, der es ihm moglich macht, einem spielenden Fursten zu lau- 
schen. Eine Weindiele, eine nachtUche, entkleidet erst den Fiirsten sei- 
ner Noblesse und stattet ihn mit einer Balalaika aus. 
In den Weindielen Berlins, bei Sektgelage und Becherklang, vollendet 
sich der Wille der russischen Geschichte. Hier, und nicht in Moskaui 
oder in Petersburg. Es ist, als waren Nachtlokale Utensilien der Welt- 
historie . . . 

Berliner Borsen-Courier, 20. 3. 1922 



ARTISTEN UND FRISEURE 



Es hat sich erwiesen, dafi die Artisten und Friseure eine wirkUch Inter- 
nationale Gesinnung haben. Geschichtsschreiber sollten nicht achtlos 
an der Tatsache vorbeigehen, dafi die ersten internationalen Kongresse, 
die in Berlin seit dem Weltkrieg stattfinden, von den Friseuren und 
Artisten abgehalten werden. 



1922 JJJ 

Auf diesen Kongressen geht es sehr bunt zu. Der Kongrefi der Friseure 
fand in den Festraumen des Zoos start, und seine Teilnehmer kommen 
aus London, Wien, Prag, Briissel, Amsterdam. Der KongrefS der Arti- 
sten wurde Montagnachmittag eroffnet. Delegierte franzosischer, ita- 
lienischer, niederlandischer, belgischer Artistenvereine sind in Berlin. 
Der Kongrefi tagt im Metropolvariete. 

[ch war bei der Eroffnung des Artistenkongresses und horte die Re- 
den. Der Vorsitzende der »Weltliga der Artisten«, Herr Billon aus Pa- 
ris, dessen vornehme franzosische Eroffnungsrede selbst ein artisti- 
jches Werk war, sagte ungefahr foigendes: »In einigen Jahren werden 
Me es erleben, dafi die ungeheuren Fortschritte der Technik alle Di- 
jtanz verringern werden und dafi die Entfernung von Berlin bis Barce- 
ona eine lacherlich geringe sein wird. WoUen Sie, dal5 Ihre Humanitat, 
[hr Menschlichkeitsgefiihl, Ihre Nachstenliebe hinter der Wissenschaft 
^uruckbleibt?« 

Das sagte ein Artist. Angehoriger eines Berufes, der von Intellektuel- 
en geringgeschatzt wird. Herr Billon war ein Poilu, lag fiinfzig Mo- 
late im Schiitzengraben und hat es nach dem Kriege durchgesetzt, dal^ 
leutsche Artisten, ohne ihre Herkunft verleugnen zu miissen, in Paris 
luftreten diirfen. 

Der Kongrefi wurde eingeleitet mit der - Internationale, gesungen von 
linem aus Artisten gebildeten Chor. Die anwesenden Vertreter der 
)reufiischen Regierung horten die Internationale stehend an. Es war 
in peinlicher Augenblick, als ein Delegierter sagte: Die ganze Erde ist 
inser Vaterland. Und als sich dann ein anderer zum Vertreter des Aus- 
i^artigen Amtes wandte und ihn aufforderte - die Pafivisa abzuschaf- 
en. Mit jener Naivitat, die die Vorstellung eines Artisten von einem 
jeheimen Legationsrat entscheidend beeinflufit. Es war eine der lu- 
tigsten Kongref^eroffnungen iiberhaupt. Unter den Gasten sah man 
^werge, Zwitscherer, Tierstimmenimitatoren, Riesen, Gladiatoren, 
pringer, Gedankenleser. Belachini, der beriihmte Gedankenleser, 
angierte als Dolmetsch des itahenischen Delegierten. Als er sich an- 
:hickte, die Rede zu iibersetzen, sagte der Vorsitzende, Belachini 
atte eigentUch gar nicht warten miissen, bis der Delegierte gespro- 
len, da er ja ohnehin alles vorher gewufit habe. Der Vertreter der 
iihnengenossenschaft, Prasident Rickelt, nannte die Artisten »Kolle- 
tn und Kolleginnen« und wurde dafiir intensiv beklatscht. Zum er- 
:en Mai wurde hier von einem offiziell entsandten Schauspieler das 



7/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Aitistentum gewissermafien als die andere Fakultat der Schauspiel- 
kunst anerkannt. 

Diese natiirlichen Artistenmenschen haben meinen alten Verdacht, daf 
die Diplomatie ein Kinderspiel ist gegeniiber der Kunst eines Clown; 
(eine primitive Korperbewegung so zu komplizieren, dafi sie lacherlid 
erscheint), bestatigt. Wenn zehn Clowns im Volkerbund safien, e; 
eriibrigte sich all jene ubermafiige Kraftanstrengung, die nur dazi 
fiihrt, dafi primitive Weltbewegungen so unerhort kompHziert wer 
den, dafi sie tragisch erscheinen. 

Den Artisten fehlt jenes Schmalz der Weltgeschichte, das man »Pathe 
tik« nennt. Deshalb konnten sie den ersten wirklich internationalei 
Kongrefi zustande bringen. Den Friseuren fehlt's an historischer Bil 
dung. Sie sind in der gliicklichen Lage, die Zeitungen nur fiir die Kun 
den abonnieren zu diirfen. Deshalb miifite ein Volkerbund, der etwa 
auf sich halt, alle Artisten und Friseure zu EhrenmitgHedern ernennen 

Prager Tagblatt, 24. 3. 192 



DIE HEIMKEHR DES IMRE 2ISKA 



Imre Ziska ist heimgekehrt zu Gott. 

Ziska war Notar in einer kleinen rumanischen Stadt. Er stammte au 
Ungarn. Zeit seines Lebens hatte kein Mensch daran gezweifelt, da: 
Imre Ziska geboren war und lebte. Seine Existenz war durch sein 
soziale Stellung nicht nur bestatigt, sondern sogar besonders unterstri 
chen. Imre Ziska wurde nicht nur zur Kenntnis genommen, sonder 
auch zur ehrfurchtsvollen Kenntnis. Kraft seines Amtes konnte e 
selbst andern Menschen ihre Existenz, ihre Geburt, ihren Tod un 
ihren letzten Willen bescheinigen. Er gehorte zu jenem groiSen un 
weitverzweigten Apparat, mittels dessen die Schopfung mit ihren Wei 
ken, den Geschaffenen, verkehrt: Er gehorte zur Behorde. Er W3 
selbst Behorde. Seine Unterschrift hatte eine besondere, weil bezahh 
Geltung, Seine Tatigkeit war eine Art Priestertum. Seine schreibend 
Hand hing sozusagen am Arm des Gesetzes. Dessen korpergeworden 
Auswirkung war der Notar Imre Ziska. 
Da wurde Imre Ziska ausgewiesen. Seht: Ein Notar wurde ausgewit 



1922 779 

;en. Irgendein Wahnsinn mufi die Gesetze erfafit haben, dafi sie sich 
;elbst ad ahsurdum fiihrten; sich selbst amputierten. Kein Gott verjagt 
seine schuldlosen Priester. Kein Heiligtum verstofit so mir nichts, dir 
lichts seinen Tempeldiener. Imre Ziska, der Notar wurde heimatlos. 
^ahnwitzige Welt! Ein Notar ohne Dokumente. Er hatte keine staat- 
ich beglaubigte Heimat. Er war in jenem Gebiet geboren, das nach dem 
OC^eltkrieg der Tschechoslowakei zufiel. Die Slowaken sagten: Der No- 
:ar Imre Ziska ist ein Ungar! Und die Ungarn sagten: Der Notar Imre 
^iska ist ein Slowake. Und so stritten sich die Lander um seine Geburt. 
M'icht weil sie stolz auf ihren Sohn waren, sondern weil sie ihn nicht 
laben woUten. Imre Ziska teilte das Schicksal Homers in einem umge- 
E:ehrten Sinne. Zwischen den Grenzen hing Imre Ziskas dokumentari- 
ches Ich in der Luft und zappelte mit den heimatswehen Beinen. Kor- 
)erhch war der Notar vorhanden, staatsbiirgerHch existierte er nicht. In 
Leinerlei Grundbiichern stand sein Name verzeichnet. Pflicht- und 
echtlos, unbeglaubigt und problematisch lebte der Notar. Er atmete, afi 
md trank, also war er. Er dachte sogar und lebte also, auch im philoso- 
)hischen Sinne. Aber er bekam keinen Pa£. Und also lebte er nicht. 
Da ging Imre Ziska in ein Prefiburger Hotelzimmer und erhangte sich. 
ir schritt iiber die einzige Grenze, an der vermutlich kein Pafi verlangt 
v^ird: iiber die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Er machte vor- 
ter sein Testament, ein Testament, das, von einem ungultigen Notar 
interschrieben, angefochten werden konnte. Der letzte Wilie eines 
rlenschen, dessen vorletzte Willenskundgebungen gar nicht zur Kennt- 
lis genommen werden konnten, weil ihnen die Voraussetzungen jedes 
>Cillens: der existente Wollende, fehlte. In diesem merkwiirdigen Testa- 
nent schrieb Imre Ziska: »Ich gehe in die andere Welt, wo mich Petrus 
icht um meinen Heimatschein fragen wird.« 

o starb Imre Ziska, und die PreEburger Behorden, die den lebenden 
*Jotar nicht zur Kenntnis nehmen wollten, werden den Toten ganz 
ewif^ begraben und endhch in ein Kirchenbuch eintragen miissen. In 
ie Rubrik »Staatsburgerschaft« werden sie »Jenseits« schreiben. Wir 
/"ollen hoffen, dafi der Notar in der andern Welt nicht genauso zwi- 
:hen Himmel und Holle wird pendeln miissen, wie er in dieser zwi- 
:hen Ungarn und Slowakei pendelte. Er ist gelautert, weil er mit Be- 
orden zu tun hatte. Sein Selbstmord ist keine Siinde, sondern eine 
vusweisung. Die Ungnade der staatUchen Behorden sichert dem Notar 
ie Gnade Gottes. Imre Ziska ist heimgekehrt. 



780 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Imre Ziska ist gewissermafien demonstrativ aus der Heimatlosigkeit 

der Erde eingekehrt in die Heimatlichkeit seliger Gefilde. Er starb als 

Vertreter einer ganzen Menschheit, und deshalb gewann sein Tod phi- 

losophische Bedeutung. 

Aus der Ruhelosigkeit der Lander, die im politischen Auf und Ab dei 

Gegenwart schwanken, ging ein Mensch in die sozusagen sichere Un- 

gewifiheit. 

Zu einer Zeit, in der die Erde so unsicher ist, daC man sagen konnte 

selbst sie hatte keinen »festen« Boden, ist die jenseitige Welt, die keim 

Grenzen kennt und keinen Boden, zuverlassiger. 

So sehr haben sich die Begriffe Heimat und Vaterland verwirrt, dafi di( 

arme Seele nicht nur, sondern auch die Realitat Korper ihr »Zugeho' 

rigkeitsgefuhl« verloren hat. 

Wie war Heimat einst traulicher Inbegriff sentimental-herzlichei 

Werte: ein Gafichen bog sich in lyrischer Kriimmung, und ein Brun- 

nen sang Vierzeiler. Es war ein integrierender Bestandteil aller Poesie 

Grenze und Ziel einer Sehnsucht. Wurzel der Leidenschaften und ihi 

Angelpunkt. 

Ganz bestimmte, ewig scheinende Begriffe waren mit der Heimat ver 

bunden: ein so und nicht anders gefarbter Zaunpfahl; der Schnurrbar 

eines in bestimmte Farben und Formen gekleideten Schutzmanns; ein* 

Pickelhaube, die in der Feme alle Siifiigkeit und alien Schmerz verlore 

ner Kindheit erhalten konnte. 

Seltsam, wie wandelbar eine Ewigkeit sein kann und wie plotzlich da 

heiligen Gesetzen Entstammte sein Wesentliches verieugnet. 

Tausend Imre Ziskas sind heimatlos geworden im Diesseits. Ein einzi 

ger hat heimgefunden. 

Berliner Borsen-Courier, 26.3. 192 



RADIOPHON 



Die amerikanischen Zeitungen berichten vom »Radiophon«, eine 
prachtvoUen Erfindung, die von Edison begutachtet und als eine Sen 
sation des Jahrhunderts bezeichnet wurde. 
Das Radiophon ist fiir das menschliche Ohr ungefahr, was ein Fern 



1922 j21 

rohr fiirs Auge ist: Ein Radiophon vergrofSert die Gerausche der Welt 
und treibt sie ins Unermessene. Wollte der Mensch mittels eines Ra- 
diophons einem Donnergrollen lauschen, sein Trommelfell kame in 
Gefahr zu platzen. Das Zirpen einer Grille wird, durch das Radiophon 
vernommen, zum Gerausch eines Gewitters; das Pianissimo einer be- 
hutsamen Geige zum hohen Larm einer aufgeregten Riesenorgel; und 
das Summen einer Miicke hort sich an wie ein Blaserchoral. 
Es wird also keine Geheimnisse mehr in der Welt geben: Die geflii- 
sterte Beichte eines verzagten Sunders wird preisgegeben alien neugie- 
rigen Ohren einer Gemeinde, die dank dem Radiophon zur Meute ge- 
worden ist; das zartliche Liebesgesausel eines versunkenen Paares in 
der Parkallee wird den rohen Spaziergangern mit Radiophon schamlos 
deutlich gemacht und rauschend; das trauliche Geplauder im Familien- 
kreise wird alien Nachbarn fiirchterlich zu Gehor gebracht. 
Es gibt keine geheimen Konferenzen mehr, keine gefliisterten Beratun- 
gen, keine »Siegel der Verschwiegenheit«. Das Radiophon erbricht sie. 
Die Diskretion ist laut geworden, die Stummheit redet, die Stille 
schreit. 

Es war zuwenig Larm in der Luft. Die Todesrufe der Sterbenden wa- 
ren zu sanft, um das Ohr der Lebendigen zu riihren. Die Niedenracht 
kreischte, aber man horte sie nicht und blieb gleichgiiltig. Das Trom- 
melfeuer der Gemeinheit machte die Erde erbeben, aber ungeriihrt 
blieben die Schiitzen und die Nicht-Betroffenen. 
Es war hochste Zeit, da£ ein Radiophon erfunden wurde. 

Denn es gingen auch viele wunderbare und wertvolle Klange und Ge- 
rausche der menschlichen Taubheit verloren. 

Niemand lauschte mehr dem Sang der Nachtigall und dem Zirpen des 
Gewissens. Keiner horchte auf die Stimme der Vernunft, und jeder liel^ 
sie ubertont werden von dem Schrei des Instinkts. 
WeiE jemand, wie wunderbar es raschelt, wenn zwei Graser sich be- 
riihren? Oder wenn ein Schmetterling seine Fliigel bewegt? Oder 
wenn die angeblich lautlosen Bliitenflocken im SpatfriihHng fallen? 
*^ie, wenn alles Unhorbare Klang bekame? Wenn tausend helle Glok- 
ien im zarten Wehen eines Lufthauchs klangen? 
Das Flattern einer Fledermaus ist vielleicht gewaltig wie das Knattern 
iines Aeroplans. 
Jnd wir sehen ein, dafS es keine iibermaf^ige Leistung bedeutet, wenn 



782 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wir grofien Larm machen. Wir lernen, dafi es Millionen Stimmen in der 
Natur gibt, majestatischer als Orgeln, imposanter als alle Hymnen der 
Maschinen und der Technik. 

Das Radiophon ist eine Erfindung, auf die wir stolz sein konnen; und 
die uns bescheiden machen kann. 

Berliner Borsen-Courier, 28.3. 1922 



REVOLUTION DER KINDERREICHEN 



Den Kinderreichen wurde es zuviel, und sie schlossen sich in Verban- 
den zusammen und bildeten den iiber ganz Deutschland bereits ver- 
breiteten und popular gewordenen »BHnd der Kinderreichen^. 
Am letzten Sonntag hielt dieser Bund im Berliner Zirkus Busch eine 
Protestversammlung ab. Es war ein Kongrefi aller Bezirks- und Pro- 
vinzverbande. Der Zirkus, einer der grof^ten Versammlungsraume 
Berlins, war halb gefiillt. Der Vertreter aus dem Rheinland iiber- 
brachte allein die Griifie von siebzigtausend Kinderreichen. Wieviel 
Mitglieder der ganze Bund zahlt, ist nicht bekannt geworden. Jeden- 
falls ist er heute einer der machtigsten Organisationen Deutschlands. 
Er besteht aus Angehorigen aller Parteien und Konfessionen, aller 
Stande und Nationalitaten. Allein, es iiberwiegen die revolutionaren 
Parteien, weil - eine iibrigens bekannte Erscheinung - die Konservati- 
ven und Wohlhabenden sparsam sind mit ihrer Fruchtbarkeit. Arbeiter 
und Kleinbiirger, niedere Beamte, Lehrer und Doktoren und alle, die 
in Deutschland von Berufs wegen fiir eine reiche Nachkommenschaft 
sorgen, bilden den »Bund der Kinderreichen*. Es sprachen: ein Privat- 
gelehrter, ein Arbeiter, ein Doktor aus Breslau, ein Beamter aus dem 
Rheinland. Es war unter den Protestierenden weder ein Fabrikant zu 
sehen noch ein Bankdirektor. Kein Wunder, daft die Reden, wenn 
auch nicht immer einen revolutionaren Tenor, so doch durchwegs eine 
revolutionare Terminologie enthielten. Der Bund der Kinderreichen 
offenbarte sich so als ein Bund der Proletarier, der bewuftten, der halb 
bewuftten und der proletarische Zugehorigkeit Leugnenden. Die Ver- 
sammlung forderte: Befreiung von Steuern, von jedem Hausbesitzer 
eine freie Wohnung oder eine zu halbem Mietspreise fiir kinderreiche 



1922 7^3 

Familien, einen groCeren politischen EinfluE der Kinderreichen, und 
zwar soil die Zahl der Kinder die Zahl der Stimmen jedes Wahlenden 
bestimmen. Also: Aufhebung des bestehenden Wahlrechts. 
Den Argumentationen der Kinderreichen wird man sich nicht ver- 
schliefien konnen. Dafi die Zahl der Sprofilinge einer Familie die phy- 
sische und geistige Qualitat des einzelnen Kindes nicht nachteilig ver- 
andert, dafiir Kefert die Geschichte Beweise genug. Aber dafi politisch 
links gerichtete und geschulte Menschen fiir einen Mann, der vier Kin- 
der gezeugt hat, fiinf Wahlstimmen verlangten - das, das weist viel- 
leicht in eine neue Zukunft. Geschah die Forderung unbedacht, so 
eroffnet sie doch theoretisch wahnwitzige Perspektiven. 
Man denke: Es entsteht ein neuer AdeL Die herrschende Klasse der 
Kinderreichen. Prasident der Republik wird nur ein Vater von minde- 
stens zwolf Kindern. Die Unfruchtbaren und Kinderarmen sind in der 
schwachen und ohnmachtigen Opposition, Es steht jedem frei, die 
Herrschaft im Staate auszuiiben, indem er seine Fruchtbarkeit 
potenziert. Als heiligstes aller Tiere wird das vorbildliche Kaninchen 
allenthalben im Staate verehrt und heiHg gehalten. 
Aller Menschen Sinn ist auf Vermehrung gerichtet. Erschreckend 
schwillt die Zahl der Menschen an. Die Erde gleicht einer Versamm- 
lung im Zirkus Busch. StiindHch stolpern Tausende und stiirzen iiber 
die Rander des Planeten hiniiber in den Weltenraum. 
Das sind die Folgen einer vorlaufig noch fernen Zukunft. Die naheren 
Folgen werden sich in einer Interpellation Frankreichs iiber die Ziele 
des deutschen Bundes der Kinderreichen offenbaren. Er bedroht das 
fiktive europaische Gleichgewicht. Die Hausbesitzer fangen mit einer 
lebhaften Kindererzeugung an, um die freie Wohnung fiir eigene 
Zwecke behalten zu konnen. 

Prager Tagblatt, 29.3. 1922 



UBERSINNLICHES 



Vor Gericht stand vorgestern ein Mann, »Horoskopsteller von 
Deutschland« nannte er sich, und wurde verurteilt. Sein Verteidiger 
kob hervor, da£ die im Janner erfolgten Wahrsagungen unmoglich im 



784 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Marz schon eingetroffen sein konnten. Es steht also trotz der Verurtel- 
lung nicht unbedingt fest, dafi der Horoskopsteller geschwindelt hat. 
Es ist moglich, dafi einmal zur Abwechslung ein Wahrsager recht be- 
halt und die Zukunft sich irrt. 

Sie selbst glaubt namlich gelegentlich an Wahrheit und Macht iiber- 
sinnlicher Erscheinungen und verbiindet sich mit den Vertretern der 
Metaphysik. Es ist, als wollte die irdische Gerechtigkeit ihr wesentH- 
ches Attribut, ihre Wirksamkeit und ihre Entschuldigung, ihre Starke 
und ihre Schwache: das Irdische - sprengen und liber die Grenzen des 
Jenseits hinaus Recht suchen und behalten. 

Vor zwei Wochen forschte ein Medium in einer Privatwohnung am 
Kurfiirstendamm nach der verschwundenen Frau des Morders Peter 
Grupen. Im Trancezustand sah das beneidenswerte Madchen einen 
fremden grofien Hafen, vermutUch den amerikanischen, mit einer un- 
ermefilichen Statue. Vielleicht horte sie bei dieser Gelegenheit den 
Klang silberner DoUarmiinzen, vielleicht war es ihr gegonnt, zu be- 
merken, wie im fremden Hafen diese majestatische Goldeinheit sich 
zur Geringfiigigkeit eines Trinkgeldes fiir einen amerikanischen Ge- 
packtrager reduzierte. Wer ware aus solch einer Trance noch einmal 
wiedergekehrt in die armselige WirkHchkeit des Kontinents?! 
Jenes Madchen aber, iibersinnlicher Bote der Justiz, schlich sich nach 
Deutschland zuriick und entdeckte einen Brunnen. Sie sah hinein und 
bemerkte etwas unbestimmbar Grauenhaftes. Vielleicht die Leiche der 
Frau Grupen? Das Medium sagte nichts mehr. Denn nun reklamierte 
der Mond, gewissermafien ein himmlisch beeideter Sachverstandiger, 
sein spiritistisches Recht. Von seiner Erneuerung hangt der weitere 
Erfolg der mediumistischen Forschungen ab. Diese Erneuerung steht 
nun bevor, und wir barren der nachsten Sitzung in der Privatwohnung 
am Kurfiirstendamm. 

(Dazwischen lag freilich eine Sonnenfinsternis. Aber die Sonne hat of- 
fenbar nichts mit dem Peter-Grupen-Prozefi zu tun.) 

So darf die Justiz sich nicht desavouieren. Nehmen Gerichtspersonen 
hier den Wahrsager zu Hilfe, so kann das Gericht ihn doch nicht ver- 
urteilen. Entweder glaubt sie, oder sie zweifelt. 

Glaubt sie an einen Einfluf^ des UbersinnHchen auf irdische Dinge und 
Ereignisse, so wird die Jenseitigkeit degradiert. Die Entwicklung der 
Menschheit von der Anbetung des Stofflichen zum Kniefall vor dem 



1922 7^5 

Geist ist eine scheinbare. In Wirklichkeit ist es ein Abwartsgleiten zum 
Mif^brauch des Wunderbaren. Die Vernichtung des Ratsels durch des- 
sen scheinbare Auflosung, Pressen des Unbegreiflichen in den Rahmen 
des praktisch Alltaglichen. Ein »Engagieren« von Geistern, Nutzbar- 
machen von »Teleplasma« als Gegenstand einer »Branche«. 
Das findet seinen Ausdruck in einer spiritistischen Seance - am Kur- 
fiirstendamm. »Spiritismus am Kurfurstendamm« ist die kiirzeste For- 
mulierung jener komischen Verschmelzung von Niitzlichem und 
Ubersinnlichkeit. Nicht der Kurflirstendamm etwa wird geistiger, 
sondern das Traumhaft-Wesenlose korperiich und gebrauchsfahig. Die 
Privatwohnung am Kurflirstendamm wird hier aus einem Zufall fast 
ein schicksalsmaEiges Entwicklungszeichen. 

Zumutung an den Mond ist es, dafi er Heifer der Gerichte werde. 
Wenn sich die jenseitige Welt um die verschwundene Frau Grupen 
sorgen soil, dann hat sie das Niveau eines Detektivinstituts, Ein Tele- 
plasma, das in einem Brunnen nach Menschenresten sucht, vollfiihrt 
die Aufgabe eines polizeilich beauftragten Tauchers. Der Prophet der 
Vorzeit beschaftigte sich mit Konigen, Kriegen und Pestilenzen, drei 
furchtbaren, aber machtvoUen Erscheinungen. Der Hellseher des Jah- 
res 1922 sucht nach »Steuerhinterziehern«. Der Respekt vor der Uber- 
sinnlichkeit, fiihle ich, verschwindet. 

Denn stiinde selbst eine babelturmgrol^e Freiheitsstatue in jenem herr- 
Hchen Hafen, in den man nur transzendentai gelangen kann, so ware 
sie immer noch eine Lacherlichkeit gegeniiber dem UnfaEbaren, Uber- 
sinnlichen, Ewigen. Der Geist, der auf Bestellung - Postkarte geniigt - 
in die Wohnung am Kurflirstendamm kommt, der Mond, den man 
mittels einer Vorladung vor die Gerichtsbarrieren zitiert, Propheten 
mit konzessionierten Firmen, Teleplasma, das an der Borse gehandelt 
wird - das alles bedeutet den Sturz des Wunders in den niichternen 
Abgrund der Wirklichkeit. 

Es liegt geradezu im Interesse des Wunderbaren, daft sein Prophet auf 
der Anklagebank sitze, nicht neben den Schoffen. 
Der Geist, den man sich »nutzbar macht«, ist nicht mehr vom Schauer 
der Furcht und der Ehrfurcht umgeben und begleitet, sondern unweit 
von der Atmosphare des Profits. Das Spirituelle kleidet man in Ge- 
wand und Korper. Es gibt keine Grenze mehr, vor der das Herz still- 
steht vor Schrecken und Ungewiftheit. 
Taschenlampen modernster Konstruktion durchleuchten das Geister- 



jS6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

reich. Die Teufel, die man selbst, bewufit und absichtlich, an die Wand 
malt, werden nicht geflirchtet. 

Und es ist eine schreckliche Vorstellung, daf^ der Mensch selbst im 
Tode nicht den irdischen Pflichten entronnen ist; dafi ein Verstorbener 
als Zeuge einvernommen wird, von einem telepathischen Gerichtsbo- 
ten ereilt und erbarmungslos aus der seligen Freiheit in die Beschran- 
kung des Diesseits gezwangt; aus der VoUkommenheit gerissen, die 
torichten Zwecke einer »Institution« voUenden helfen mu£. 

Berliner Borsen-Courier, 2. 4. 1922 



»EIN VOLKSFEIND« 

Steglitzer Schlojlparkth eater 

Rudolf Klix' Doktor Stockmann beeinflufit die ganze Auffuhrung, 
Uber die Gestalt Stockmanns aufiert Ibsen in einem Brief: »In zehn 
Jahren steht vielleicht die Mehrheit auf dem Standpunkt, auf dem der 
Doktor Stockmann bei der Volksversammlung stand. « Wir konnen 
heute feststellen, dafS die »kompakte Ma]ontat« der Gegenwart noch 
lange nicht Doktor Stockmanns Standpunkt einnimmt, noch lange 
nicht seine Kampfe ausficht und weder zu seinen Erkenntnissen ge- 
langt noch sich in seinen Konsequenzen unterwirft. Rudolf Klix aber 
bringt unleugbar den Doktor Stockmann jener odidsen Majoritat na- 
her, indem er ihm menschliche Dutzendqualitaten verleiht, die seine 
Ethik zwar nicht beeintrachtigen, aber seinem sittlichen Pathos einen 
Unterton von Lacherhchkeit beimengen. So hypertrophisch darf sich 
die Naivitat Stockmanns auf Kosten jenes Ideahsmus nicht entwickeln. 
Doktor Stockmann ist ein naiver IdeaUst, mit dem Ton auf »Ideahst«. 
Klix aber betont die Naivitat. 

So geht viel Distanz verloren; Distanz, die auch der »ReaUsmus« notig 
hat. Dieser Doktor Stockmann ist fast ein Steglitzer. Wenn seine Toch- 
ter aus der Schule heimkommt, denkt man, sie unterrichte nicht weit 
vom Schlol^parktheater, am Steglitzer Rathausplatz etwa, wo die Frau 
Stockmann Gemiise einzukaufen pflegt. So ist ein Kontakt mit dem 
Publikum hergestellt. Aber ein familiarer Kontakt, kein kiinstlerischer. 
Diese traulichen Beziehungen zwischen Biihne und Zuschauerraum zu 



1922 J%J 

ignoneren gelang nur dem Stadtvogt Stockmann Hermann Greids. Der 
Schuftigkeit des Stadtvogts gab er ein wenig phantastische Unheim- 
lichkeit und legte so einen distanzierenden Bannkreis um die Gestalt. 
Dieser Stadtvogt war im hochsten Grade unsympathisch. Aber seine 
Unannehmlichkeit entwickelte er niemals bis zum Verachtungswiirdi- 
gen: ein Mensch, dem man nicht die Hand reichen mochte, aber vor 
dem man auch nicht, wie der Doktor Stockmann, ausspuckt. 
Die Biirgerversammlung verriet Regieinstinkt. Der Regisseur heifit 
Robert Forsch. 

Berliner Borsen- Courier, 4.4. 1922 



WUNDER 



Ich wollte, ich ware ein Wilder und nach Mitteleuropa plotzlich ver- 
schlagen und konnte mich wundern: iiber meine ratselhafte Fahigkeit 
zum Beispiel, dutch die Drehung eines schwarzen Knopfes eine tote 
Lampe an der Zimmerdecke zum Leuchten zu veranlassen; oder einen 
Quell aus einer Messingrohre zu frohlichem Gesprudel zu wecken; 
oder den Laut einer Stimme in Drahte zu bannen und meine Worte auf 
eine weite Reise zu schicken; als waren sie Briefe, sie sozusagen in eine 
Briefmuschel zu stecken. 

Ich kann ausgezeichnete Phantasien erleben und wundere mich nicht. 
Ich steige in einen Schacht, eine Hand reicht mir Kartchen aus einem 
Schalter, mein Wille wirbelt mich in einen Zug. Er halt, ich komme aus 
demselben Schacht an die Oberflache der Welt - und bin in einem 
fremden Stadtteil. 

Ich schale aus den Hiillen des Wissens und der Kultur das Staunen 
heraus. Ich schlage gleichsam meine offenen Augen noch einmal auf. 
Ich briiskiere alle technischen Moglichkeiten, mich anders fortzube- 
wegen. Ich gehe zu Fu£ durch die Straiten der Stadt. Ich bilde mich 
zum Ungebildeten. Ich lerne Unwissenheit. Ich gedenke zu vergessen. 
Zwischen Haus und Haus sind hoch oben dicke und diinne Drahte 
gespannt. Es sieht aus, als hatte jemand mit starken und diinn gespitz- 
ten Stiften Schatten- und Haarlinien durch die Luft gezogen wie auf 
dem Blatt eines Schulheftes. 



788 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In der Mitte der Drahte hangen unheimlich grofie mattfarbene glaserne 
Trauben. Stiirzt dann die Dunkelheit des Abends aus alien Wolken 
iiber die Strafie, erwachen kleine Lichtpiinktchen in all den Trauben, 
glimmen zuerst und flammen plotzlich, hell und stechend. Die Drahte 
verschwinden in der Finsternis, und die erleuchteten glasernen Trau- 
ben schweben frei und sicher in der Luft wie von unsichtbaren sinnli- 
chen Handen gehalten. Uber ihnen flammen in der gleichen Weise 
kleine Sterne auf, und ich glaube gar nicht mehr, dafi es Sterne sind: Es 
sind lediglich um ein paar tausend Kilometer vom Magistrat hoher ge- 
hangte Bogenlampen. 

Ich gelange an eine Stadtbahnbriicke. Kiihn und stark schwingt sie sich 
iiber die Strafie, ein herrlich gebogener Korper. Sein Material sind Zie- 
gel und Eisen, und doch spannt sich der Bogen, als ware er aus 
Gummi. Unsichtbare Atlasse tragen ein schweres Gewolbe auf den 
Schultern. Ewig schlaft in den Ziegeln ein heimUches Drohnen, und 
wahrend die ganze Briicke in steinerner Stille ruht, sind ihre Molekiile 
in fortwahrender zitternder Bewegung. Wie ein femes Erdbeben er- 
wacht, so ergroUt von fern her ein Zug. Mit gliihweifien leuchtenden 
Augen, die gleichsam geschliffene Strahlenbiindel gegen die Finsternis 
senden, um sie zu durchbohren, schafft er sich Bahn. Er durchhohlt 
die Finsternis, wie man Tunnels durch Gebirge bohrt. 
Tausend rote und griine Lichter gebiert die Nacht. Eine Laterne 
schwankt in der Hand einer dunklen Gestah. Es ist, als triige das Licht 
den Menschen. 

Eine Pfeife schrillt, eine Trompete tutet, eine Glocke lachelt silbern 
wie eine Versohnung in die Dissonanz der Welt. 
Vieie Menschen, die soeben noch hielten, rattern, vom Heben Gott an- 
gekurbelt, ihren Zielen entgegen. Ihre Motoren surren. Wer sie naher 
anschaut, sieht ihre Augen wie Miniaturscheinwerfer Strahlen in die 
Luft speien. Wer naher hinhorcht, hort ihre aufgezogenen Gehirnrader 
abschnurren. 

Sie halten mit einem plotzhchen Ruck vor einem Zeitungsstand, einem 
Zigarrenladen, einer Strafienecke wie Gefahrte. Ihr Wille stehenzublei- 
ben funktioniert wie ein HebeL Die Korper der hinten Folgenden sto- 
fien zusammen. Und waren die dampfenden Kleider nicht, man horte 
gewiE den metallenen drohnenden Anprall der Leiber. 
Tief hinter Wolken und Sternen aber birgt sich ein Gott vor den Wun- 
dern der Welt. Seit jenem sechsten Schopfungstage, an dem er einen 



1922 -/^(^ 

Menschen schuf aus Lehm und Erde und ihm seinen Odem einblies, 

halt er ewigen Ruhetag. 

Indes wandelten sich Lehm und Staub in Panzer aus Metall, und der 

Odem wurde zu Benzin. 

Eine immerwahrende Kette aus Wundern gebiert sich immer neu, me- 

chanisch, verstandesgemafi und selbstverstandHch. 

Berliner Borsen-Courier, 6. 4. 1922 



6647 



Das Borsenbiatt fiir den deutschen Buchhandel teilt die Zahl der im 
Jahre 1920 in Deutschland erschienenen belletristischen Biicher mit. 
Sie betragt sechsUusendsechshundertundsiebenundvierzig, 
Es ist anzunehmen, dafi sich die Offenthchkeit, soweit ihr diese Zahl 
zur Kenntnis kommt, nicht mehr iiber dieses furchtbare statistische 
Ergebnis aufregen wird als zum Beispiel iiber die Forderung der En- 
tente, die Schutzpohzel zu kommunalisieren. 

Es ist auch gewiE nicht leicht, der Welt klarzumachen, dafi ein so rei- 
cher literarischer Segen ein Fluch ist; dafi ein Land, in dem so viel 
gedichtet wird, schlimmer dran ist als eines, in dem viel geriistet wird; 
dafS kein Krieg und keine Pestilenz so verheerend wirken konnen wie 
eine sogenannte schone Literatur. 

Diese Zahl spricht im wirklichen Sinn des Wortes »Bande«. Sie driickt 
alle jene Bande aus, die in den Schaufenstern der Berliner Lindenpas- 
sage, in Zeitungskiosken, Untergrundbahnstationen und Bahnsteigen 
feilgeboten werden. Zwischen Keks und Selterswasser fiir die Reise, 
ohne daf$ merkwiirdigerweise die Lebensmittel durch ein markantes 
Ungeniei^barwerden gegen die literarische Nachbarschaft demon- 
strierten. 

Diese Zahl spricht Bande, in flotten Zeichnungen, in denen der lieder- 
liche Pinsel Strumpfbander offenbart und Enthiillungen verspricht: die 
ganz grofie Literatur, deren Elemente Eros und Saccharin sind, Phra- 
senfuror und Sentiment, Donnerpathos und Gesausel. 
Wer konnte es sich beim Anblick dieser Reisendenlektiire versagen, 
den Schulzwang zu bedauern, auf den wir stolz sind? 



790 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Oh, kostliche Ironie der mifihandelten Sprache, die durch die Umstel- 
lung zweier Laute aus Fruchtbarkeit - Furchtbarkeit machen kann! 
Wer zweifelt noch an der Identitat dieser beiden Begriffe? 
6647 Bande sind zu viel! Und erstreckt sich selbst das deutsche Reichs- 
gebiet uber den ganzen europaischen Kontinent, die Produktion von 
6647 Werken in einem einzigen Jahr hiefie eine geistige Mehrbelastung, 
driickender als jede Steuer und jede Reparationsforderung. 
Denn mafigebend fur die schopferische Potenz eines Volkes ist nicht 
die Anzahl seiner Schreiber, sondern das Ausmafi der (zeitiichen und 
raumlichen) Abstande von Schopfer zu Schopfer. Jeder wirklich Schaf- 
fende braucht ein Mindestmafi von freiem Raum, in dem seine eigene 
»Atmosphare« sich bildet; er bedarf einer keimfreien Umgebung. 
Dichter miissen verstreut sein im Volke wie seltene Goldkorner im 
Sand. Und wenn selbst alle Verfasser der 6647 Bande ehrliche Dichter 
waren, diese erstickende Nahe muEte ihnen alien schopferischen Atem 
rauben. 

Schiimmes bedeutet diese ZahL Sie bedeutet, dafi in dichtbevolkerten 
Mietskasernen Schreibmaschine neben Schreibmaschine klappert und 
die diinnfliissige Nichtswiirdigkeit des diktierenden Dilettanten den 
echten Keim in der Brust des Nachbarn totet. »Schulter an Schulter« 
kann man nur schiefSen. Nicht Werte s chaff en. 

Berliner Borsen- Courier, 7. 4. 1922 



SADHU SUNDAR SINGH 



In dieser Woche sprach der Herr Sadhu Sundar Singh in der Berliner 
Matthaikirche, um sechs Uhr abends, zu einer Zeit, in der die Kinos 
beginnen. Das Publikum stand lange unschliissig zwischen dem Weib 
des Pharao und dem Mann aus Indien. Ein sehr grofSer Teil entschied 
sich fiir Fridericus Rex. 

Es blieben immer noch ein paar Hundert fiir Sadhu Sundar Singh tib- 
rig. Das ist ein Inder christlichen Glaubens, halb wie ein Priester ge- 
kleidet; mit Pupillen, die taglich in Brahmanenweisheit gewaschen 
werden, mystische Atropineinspritzungen erhalten; mit Handen, die 
anscheinend nur zu Beschworungszwecken an den Armen hangen. 



1922 7?i 

Sadhu Sundar Singh sprach von dem Wunder seiner Bekehrung und 
von den Wahrheiten Jesu Christi. Dann wurde fur irgend jemanden in 
der Kirche gesammelt. Und die Orgel spielte. Am nachsten Tag sprach 
der Prophet wieder. Die Kinos waren schlecht besucht. Die Orgel 
spiehe, und man sammelte fiir christlich getaufte Hindumadchen. Sie 
reisten dann nach Prag und weiter nach Europa: indischer Reis mit 
aufgepfropfter Zivihsation. 

Herr Sadhu Sundar Singh wird ebenfalls mehrere europaische Stadte 
bereisen. Die westhche Weh hat einen grofSen Bedarf an Propheten. 
Im Panoptikum der Lindenpassage grassiert ein agyptischer Feuer- 
schlucker. Er heifit Abdul Rahim MiHgi und wohnt in Neukolln. Er 
hat eine Hollanderin geheiratet und vier Kinder gezeugt, die den berh- 
nischen Jargon mundhaben. Abdul Rahim prophezeit am Nachmittag 
den Untergang der Welt. Am Abend schluckt er Feuer. In den Som- 
merferien verkauft er Schniirsenkel vor dem Eingang zum Lunapark. 
In der Kirche, unter den Zuhorern Sadhu Sundar Singhs, befand sich 
auch Abdul Rahim mit Weib und Kindern. Vor dem Eingang stellte er 
zwei seiner Kinder auf und liefi sie Streichholzer verkaufen. 
Ich fragte Abdul Rahim, weshalb er zu Sadhu Sundar Singh gekommen 
sei. 

Ich war auch in der Universitat, bei Rabindranath Tagore, sagte Abdul 
Rahim. Ich mache im nachsten Jahre eine Tournee. 
Wir gingen in ein Cafe, und Abdul Rahim zeigte mir, wie herrlich er 
prophezeien kann. Er schickte seine BHcke ins Jenseits, liefi sie von 
dort, mit Metaphysik gefullt, zuriickkehren und tauchte die Hande in 
die Luft wie in eine Waschschiissel. Dann kreuzte er sie iiber der Brust. 
Seine Frau naht an einem Priestergewand zu Hause. 

Prager Tagblatt, 8.4. 1922 



DER BLAUE DIENSTAG 



Zwei Sonntage, pausenlos aufeinanderfolgend, verdoppeln die Kater- 
stimmung, und ein Dienstag kann blauer sein als je ein anderer Ar- 
beitstag. Ein blauer Dienstag enthalt gewissermafien potenzierte Mon- 
tagsbiaue. 



792 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Unentschlossen wie ein April schwankt der Mensch, zermiirbt von 

Freude an der Natur, zerbrochen von gemeinsam mit Tausenden ge- 

nossener Arbeitslosigkeit, zuriick in die Seligkeit schwei£fordernder 

Mtihe. 

Schrecklich hat ihn achtundvierzig Stunden lang der Zwang gepeinigt, 

etwas zu »unternehmen«, Entsetzt liber die Aussichtslosigkeit, irgend 

etwas »tun« zu konnen, stiirzte er sich kopfuber in rastlose Untatig- 

keit. 

Er ging spazieren, well er mufite. Er begriifite den Regen als einen 

freudigen Anlafi, sich mit Recht argern zu diirfen. Er hatte die Wol- 

kenlosigkeit nicht vertragen, und tief betriibt ware er unter einem un- 

getriibten Himmel gewandelt. 

Heute erschreckt ihn die Wiederkehr des Alltags, noch ehe er sich an 

die bittere Notwendigkeit des Feierns gewohnt hatte. 

Wer so arbeitet wie er, der Mensch, hat ein Recht darauf, feiern zu 

lernen. Die Ruhe, die er verdient hatte, war zu plotzlich und konnte 

nicht genutzt werden. 

Aus der Anstrengung, die er brauchte, um zu ihr zu gelangen, wird er 

riicksichtslos zuriickgestofien in die Miihe, sie zu vergessen. Das 

machte den Dienstag so unendHch blau. 

Denn nichts Qualvolles ist die Gemeinsamkeit der Arbeit. Leid zu tei- 

len war er gewohnt, der Mensch. Der Feiertag zwang ihn auch, seine 

Lust gemeinsam mit den Nachbarn zu kosten. So abhangig von den 

Nachsten machte ihn der ewige Wochentag, dafi er nicht imstande war, 

sich selbst zu freuen. 

Er verringerte seine Freude in dem Ubermafi, in dem er sie gemeinsam 

mit den vielen beging. Er »teihe« sie im wahren Sinne des Worts. Er 

wufite nicht, dafi auch die SeHgkeit, die den Ausruf : Seid umschlungen, 

Milhonen! gebiert, am machtigsten genossen wird, wenn man einsam 

bleibt ... 

Berliner Borsen-Courier, 18.4. 1922 



FAHRT AN DEN HAUSERN 



Der Stadtbahnzug fahrt hart an den Hausern vorbei, und seine Passa- 
^iere konnen - wenn es Friihling wird und die Mauern anfangen, Ge- 
tieimnisse preiszugeben, die Fenterscheiben, Idylle zu offenbaren, die 
Hinterhofe, Heimlichkeiten auszukramen - viel fremde und interes- 
sante Dinge zu sehen bekommen. 

VLanchmal ist eine Stadtbahnreise lehrreicher als eine Fahrt iiber 
Meere und Lander, und die Weitgereisten werden wissen, dafi es im 
3runde geniigt, einen einzigen verborgenen FHederbaum in einem 
^erstaubten Grofistadthof zu sehen, um die ganze tiefe Trauer aller 
verborgenen Fliederbaume der Welt zu verstehen. 
Deshalb bin ich so erfiilh von dem Leben vieler schoner und trauriger 
Dinge, wenn ich von einer Stadtbahnfahrt zuriickkehre, und stolz wie 
*,in Weltumsegler, wenn ich ein Stiickchen Stadt umsegelt habe. 
Denke ich mir die Hinterhofe noch trostloser, ihre FHederbaume 
loch verkiimmerter und die Mauern noch um ein paar Meter hoher 
ind die Kinder um noch wenige Schatten bleicher - so bin ich in 
"^ew York gewesen und habe die Bitterkeit der grofiten Stadte genos- 
en. Denn die wesenthchen Entdeckungen konnen hier und dort, zu 
iause oder ein paar Straiten weiter gemacht werden, und die Dinge, 
he Stimmungen und die Erlebnisse unterscheiden sich nicht im 
jrundsatzhchen, sondern nur im Dimensionalen voneinander. 
!!ine Wand hat Physiognomic und Charakter, und wenn sie auch kein 
^enster enthalt und nichts, was ihren Zusammenhang mit Lebendi- 
;em sonst offenbaren konnte, als hochstens die Reklametafel einer 
ichokoladenfabrik, dazu bestimmt, sich durch die PlotzUchkeit ihres 
^ufblitzens unausloschHch (gelb und blau) festzusaugen in der Erin- 
lerung. 

iinter der Wand aber leben Menschen, machen kleine Madchen ihre 
chulaufgaben, strickt eine GroEmutter, und ein Hund nagt an einem 
Lnochen. Der Puis des Lebens schlagt durch die Ritzen und Poren 
er stummen Wand, durchbricht die Blechtafel der Sarottischokolade, 
chlagt an die Fenster des Zuges, daiS ihr Erklirren menschlichen, vi- 
ahschen Laut bekommt und aufhorchen macht vor der Nahe un- 
ichtbarer Verwandtschaft. 
^ie merkwiirdig ahnUch die Menschen einander sind, die in den 



794 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Hausern an der Stadtbahn wohnen. Es ist, als hatte sich, die Strecken 
entlang und iiber den Viadukten, eine einzige grofie Familie angesle- 
delt. 

Ich kenne bestlmmte Wohnungen an dem und jenem Bahnhof. Es ist 
genauso, als ware ich oft in ihnen zu Besuch gewesen, ich glaube zu 
wissen, wie die Menschen reden und wie sie diese und eine andere 
Bewegung voUfiihren. Sie haben alle ein bifichen Larm in der Seele von 
dem ewigen Geknatter und Poltern der Ziige, und sie sind gar nicht 
neugierig, denn sie haben sich dran gewohnt, dafi jede Minute unge- 
zahhe fremde Schicksale an ihnen voriibergleiten, ohne eine Spur zu 
hinterlassen. 

Es ist immer eine unsichtbare, undurchdringliche, fremde Atmospharc 
zwischen ihnen selbst und ihrer Nebenweh. Sie wissen gar nicht mehr 
dafi ihr Tun und ihre Tage, ihr Traum und ihre Nachte erfiiUt sind vor 
einem Larm. Die Gerausche lagern gleichsam auf dem Grund ihre; 
Bewufitseins, und ohne sie vollendet sich kein Eindruck und keine Er- 
fahrung. 

Es ist ein ganz bestimmter Balkon vorhanden, mit eisernen Gittern, ei 
hangt wie ein Kafig zum Hause heraus, und an einer ganz bestimmtei 
Stelle hangt den ganzen Friihling und Sommer iiber ein rotes Kissen, n 
Sturm und Sonnenschein, wie ein unerbittUch aufgepinselter Olfleck 
Es gibt einen Hof, dessen Luft Schniire durchkreuzen, als hatte eim 
vorsintflutlich marchenhafte Riesenspinne ihr dickes Netz von Maue 
zu Mauer gezogen. Ewig blaht sich dort eine dunkelblaue Schiirze mi 
grofien weifien Tupfenaugen. 

Von meinen Fahrteh her ist mir ein Kind bekannt, ein blondes Mad 
chen. Es sitzt am offenen Fenster und schlittet Sand aus kleinen Spiel 
zeugschiisseln in einen rotlichen Blumentopf aus Ton. Fiinfhundei 
solcher tonerner Topfe mufi jenes Kind schon angefiillt haben. Eine; 
alten Herrn kenne ich, der unaufhorlich liest. Alle Bibliotheken de 
Welt mufi dieser alte Mann schon kennen. Ein Junge lauscht der 
Grammophon, das grofi, mit schimmerndem Trichter vor ihm auf der 
Tische steht. Einen grohlenden Tonfetzen kann ich auffangen und mil 
nehmen. Losgerissen vom Korper der Melodie klingt er mir im Oh 
Fragment eines Fragments, sinnlos, absurd und ungerecht in meint 
Erinnerung identifiziert mit der Erscheinung des Lauschenden. 
So wenige sind, die nichts tun und einfach am Fenster sitzen, um ai 
die vorbeifahrenden Zlige zu sehen. Man sieht, wie langweiHg das Le 



1922 795 

5en sein muE, wenn man mcht arbeitet. Deshalb hat jedes hier seinen 
^weck, und selbst das Animalische ist nutzbringend verwendet. Kein 
rliederbaum in einem Hinterhof, der nicht trocknende Wasche 
;chleppte. Das macht das Traurige dieser Hofe: Wie selten ein Baum, 
ler nut bliiht, keinen Zweck hat, als auf Regen und Sonne zu warten 
ind beides geniefiend zu empfangen, und Dolden tragt, blaue und 
veifie. 

Berliner Borsen-Courier, 23.4. 1922 



DIE MUTTER 



jestern wurde der neunzehnjahrige Arbeiter Franz Zagacki zu fiinf 
ahren Kerker verurteih. Er hatte versucht, seine Mutter, wahrend sie 
Cartoffeln schalte, zu toten, zuerst mit einem Beil, dann durch Wiir- 
;en und Ersticken und schliefiKch durch Messerstiche. Dann raubte er 
ler Mutter, die er fiir tot hielt, eine Brieftasche mit zweitausendzwei- 
lundert Mark aus dem Unterrock, ging in ein Zigarettengeschaft, be- 
ahlte seine Schulden, kaufte Zigaretten, lud seine Freunde und die 
jeliebte, die ihm bei der Totung geholfen hatte, zu einem »gemuth- 
hen Zusammensein« in der Wohnung der vermeintHch getoteten 
flutter und ging wieder fort, um sich einen lustigen Tag zu machen. 
)ie Mutter aber bHeb am Leben, ihr Sohn wurde verhaftet und ins 
Jntersuchungsgefangnis gebracht. 

jestern stand die Mutter vor dem Gericht und erzahlte, da£ sie ihrem 
ohn verziehen habe. Kaum war sie von den Wunden, die ihr der Sohn 
eigebracht hatte, geheih, und schon machte sie sich auf den Weg ins 
Jntersuchungsgefangnis und brachte ihrem Sohn Konfekt und Le- 
ensmittel und kargHch ersparte Brocken. Sie zitterte, noch wahrend 
ie krank lag, um die Gesundheit ihres Sohnes, und hatte ihr Korper 
ie Kraft gehabt und hatte nicht der Lebensinstinkt damals gesiegt, als 
ie dem Tode nahe war, sie ware ruhig unter ihren Matratzen, unter 
enen sie ersticken sollte, liegengeblieben, um ihren Sohn zu schonen. 
7as sie von ihrem Kinde hake? - fragte man sie. Alles Gute! Ach, er 
'-ar ja gar nicht selbst schuld, schlechte Gesellschaft hat ihn verfiihrt, 
1 allem ist die schlechte Gesellschaft schuld. Nichts hat sie von sei- 



796 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

nem Liebesverhaltnis gewufit, er war nur ein bifichen aufgeregter Na- 
tur, der Sohn, und friiher stets ein braver Junge gewesen. 
Diese Mutter wird jetzt haufiger als bis jetzt den Sohn im Krimina 
besuchen. Konfekt wird sie zu Hause einpacken, mit zitternden Fin 
gern, vor Weihnachten und zu alien Feiertagen, arbeiten wird sie unc 
sparen fiir den Sohn, und ihre alte Seele wird um ihn weinen und au 
ihn hoffen. Und es wird genauso sein, als befande sich der Junge nich 
im Kriminal, sondern an der Hochschule oder im fremden Lande ode 
an sonst irgendeinem Ort, woher es nicht leicht ist, zuriickzukommei 
aus beruflichen oder Gott weift welchen Griinden. 
Der Tag dieser Mutter ist ausgefiillt mit Tatigkeit und peinlicher 
manchmal schmutziger Arbeit. Aber zwischen Geschaft und Geschaft 
dem Scheuern der Diele und dem Kleinhacken des Holzes, wird eii 
kurzes verstohlenes Handefalten sein. Und stets, sooft sie sich bin 
setzt, um Kartoffeln zu schalen wie damals, als sie das Beil ihres Sob 
nes traf, weint sie vor Schmerz, aber starker als ihr Weh ist ihre Hoff 
nung, grofier als der Schmerz der Glaube, und langsam wachst aus de 
Liebe zum Kind wie junges Griin aus fruchtbarem Boden vielleich 
sogar noch ein schiichterner Stolz, unbegriindet, sie weifi nicht, wes 
halb, nicht auf den Eigenschaften beruhend, sondern einfach auf de 
Tatsache der Existenz dieses Kindes. 

Und sooft sie das Beil ansieht oder sich seiner erinnert, ersteht ei] 
fiirchterlicher Tag aus der Vergangenheit. Und trotz seiner ganze: 
Furchtbarkeit ist er doch noch schwacher in den Konturen und x 
Eindruckskraft als jener kommende herrliche Tag, an dem der Sob: 
heimkehrt, aufrecht, geheilt und reuig. 

Reuig? Er hat nichts zu bereuen. Die anderen sind schuld, natiirlich di 
andern! Jeden Moment kann die Tiir aufgehn, und er tritt ein, Un^ 
obwohl es fiinf Jahre sind, fiinfmal dreihundertfiinfundsechzig Tagi 
kann es doch jeden Tag geschehn. 

Denn die Mutter halt sich nicht an Tatsachen, sie leugnet den Kalende 
und das Sonnenjahr. 

Berliner Borsen-Courier, 25.4, 192 



DAS PARADIES DER JUGENDLICHEN 

» Willem^ - Schiebertdnze - Der Sekt und die Mddchen - Aus der 
Konfektion 

\mpeln verbluten still und feierlich; sachte verzittert ein rotlich ange- 

lauchter Tango; der Sekt ist billig, er kann nicht berauschen und hoch- 

;tens vielleicht benebeln; Logen enthalten Lauschigkeit und Parchen; 

Jeufzerbiindel liegen, sichtbar fast, aufgeschichtet in den Nischen. 

Das ist das Cafe derjugendlichen. Sie wollen unter sich sein. Die Er- 

vachsenen sind Fremde, als gehorten sie einem andern Geschiecht an, 

inem Geschiecht, das von einem fremden Planeten stammt. Erwach- 

ene haben iiberlegene Blicke und einen seltsamen Ehrgeiz, Polizei zu 

pielen und zu iibertreffen. 

irwachsene sind hafilich. 

Die Berliner »jHgendlichen« sind eine eigene Klasse. Ihre Jugend ist 

Leine Altersstufe, sondern eine Kastenbezeichnung, fast ein Beruf. Sie 

ind gar nicht jung. Sie sind »]ugendlich«. 

lie haben ihre Gerichte, ihre Organisationen, sie wollen auch ihr eige- 

les VergniigungslokaL Das haben sie in der Nahe des Kaiser- Wilhelm- 

^latzes, 

iier diirfen sie iiberlegene Lebemanner sein, von keiner Erwachsen- 

leit Ubertroffene. Sie iibertiinchen den leisen Milchgeruch, der ihnen 

;eitweise noch anhaftet, durch kraftigen Alkohol. Sie schneiden eine 

^ratze, verziehen den Mund, wollen blasiert sein und sehen aus, als 

tiinden sie hart vor dem Weinen. 

lie rufen den Keilner, und es klingt, als riefen sie nach der Mutter. Sie 

rinken Sekt wie Kakao. Wenn sie nach den Briisten ihrer Madchen 

;reifen, mag sie eine unbewul^te Regung Sehnsucht nach Mutterbrii- 

ten empfinden lassen. 

lie rauchen Zigaretten, und es sieht aus, als lutschten sie Nikotin. Sie 

nochten sich gerne eine Serviette umbinden, ehe sie sich rechtzeitig 

loch besinnen, dafS sie erwachsen sind. Stillschweigend geben sie nur 

;u, jugendlich zu sein. Ihr Wunsch nach Erwachsensein ist nicht einge- 

tanden. Sie sind eben, weil nirgends ein Erwachsener zu sehen, er- 

vachsen. 

lie kommen aus der Konfektion, einem Beruf, der am ehesten den Ehr- 

;eiz nach Reife in der Brust des Lehrlings erweckt. Am Tage bekom- 



798 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

men sie Ohrfeigen. Des Nachts rachen sie sich an der erlittenen Unbill 

indem sie Trinkgelder verteilen. 

Willem ist hochaufgeschossen, rotlich-blond und mit Sommerspros 

sen. Ich glaube, er ist ein Lausbub, und er hat den ganzen Tag nicht 

anderes zu tun, als zu wachsen. Ein junger Mann, der nur ein bi{5chei 

beschaftigt ist, kann gar nicht so unverschamt gegen den Himmel an 

steigen. 

Man stelle sich vor, dafi Willem einen braunen Anzug tragt und wat 

tierte Schultern, drei eng aneinandergenahte Knopfe am Rock und eii 

freches Taschentuch, ein rotseidenes, Hnks oben. Dazu hat Willem eir 

phantastisches Abzeichen im Knopfloch, halb ein Hakenkreuz unc 

halb eine Flammengarbe - es mufi einen Verein antisemitischer Feuer 

wehrmanner geben, dem Willem angehort. 

Er tanzt fiir seine sechzehn Jahre alle Schiebertanze ausgezeichnet 

Seine Wattelineschultern schiebt er vor und zuriick, seine Ellenbogei 

rudern in koketten Halbkreisdrehungen. Seine Knie sind leise ge 

knickt, als hatte er ein angstlich behiitetes Podagra. 

Fanny ist ein kleines jiidisches Madchen aus Warschau mit grofien ge 

wolbten Augenbrauen. Sie ist Willems Freundin, scheint es, weil er mi 

ihr iiberhaupt nicht tanzt. Andere tanzen auch nicht mit ihr, denn sit 

fiirchten sich vor Willem. 

Alle andern Madchen sind von einer unbekummerten Blondheit, di* 

erschiittert, ihre Kleidchen sind billig und ihre Hemdchen auch. Di( 

Seidenstriimpfe sind vielfach geflickt und auch zerrissen. 

Die Logen sind eng wie Badekabinen, sie stehen rund an den Wanden 

und in der Mitte glanzt die Tanzdiele wie ein See. Man tut sich in dei 

Logen und aufSerhalb gar keinen Zwang an. 

Lieschen tragt eine grofie schwarze Schleife im Haar und tut mir leid 

Ich glaube, dafi sie aus gar keiner Notwendigkeit heraus ihre Haan 

brennt und krauselt und ihre Lippen karmesinrot anstreicht. 

Aber keine Ktinstelei kann ihren Augen die schalkhafte Frechheit neh 

men. Es ist gut, dafi sie Lieschen heifit, Sie ist klein und rundlich unc 

wird nicht fiir voll genommen, Sie glaubt immer noch, es gabe Ge 

heimnisse, von denen nur die andern wissen. Sie fallt auf plumpe Spafii 

herein, und die Pointen der Witze versteht sie nicht. 

Sie ist unbegabt und kann vielleicht noch anstandig werden. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 26. 4. 192. 



ARMENIERPSYCHOSE 



Vrmenier soUen die zwei turkischen Politiker, Freunde Talaat Paschas 
md Mitglieder des jungtiirkischen Klubs »Union et Progres«, des 
*^achts in der Uhlandstrafie erschossen haben. Tags darauf wurde, 
ibenfalls im Westen Berlins, ein junger Mann tot auf der Strafie aufge- 
unden. Man vermutet, dafi der Erschossene mit dem politischen At- 
;entat in Verbindung steht. Denn sein Gesicht weist zweifelsohne - 
ilawische Ziige auf Man hat in Sachsen bereits einen armenischen Stu- 
lenten verhaftet und nach Berlin gebracht. Augenblicklich ist ein 
Jprachkundiger beflissen, die Korrespondenz des Studenten zu iiber- 
;etzen. Indessen hat sich der Stadt eine Armenierpsychose bemachtigt. 
3ie Zeitungen schreiben, Berlin sei keineswegs ein »Tummelplatz der 
3lutrache«. Diese moge sich woanders tummeln. Die Hausmeister- 
"rauen - sie heifien hier »Hauswartsgattinnen« - sehen in jedem rus- 
lisch-jiidischen Hausbewohner einen Armenier. Und es wohnen in der 
[legend der Uhlandstral^e sehr viele russische Juden. Auch Tiirken halt 
nan fiir Armenier. Chinesen und Javaner erwecken den grol^ten Ver- 
lacht. 

\m Morgen nach dem Attentat stand ich vor dem Hause 47 in der 
Jhlandstrafie, in dem die Erschossenen gewohnt hatten. Die Zeitungs- 
"rauen unterhielten sich, es unterhielten sich die Milchwagenkutscher 
md die Polizisten, die den Tatort nur mangelhaft abgesperrt hielten, 
N^c'A die Hauptsache schon vorbei war. Diese Armenier! - sagte eine 
^eitungsfrau. Es war, als sagte sie: Diese Erbfeinde! Sie soUen zu 
rlause schieften - in Sarajewo! sagte ein Milchmann. Und der PoHzist 
lickte, denn er erinnerte sich, daf^ Sarajewo zwischen Konstantinopel 
md dem Malayischen Archipel liege. Was sind denn das, Armenier? - 
fagte ich. Det wern so Zijainer sint! kam ii^endeine Antwort. Aber im 
lachsten AugenbHck musterten mich vier, sechs, acht Augen so mil^- 
xauisch, daE ich fiirchtete, fiir einen Armenier gehalten zu werden. 
edenfalls wurden nach dem Attentat ein Russe und ein Deutscher ver- 
laftet. Und unter den vielen, vielen Menschen, die stiindhch ins Poh- 
:eiprasidium kommen, um sich die ausgesetzte Belohnung von 50000 
Vlark zu holen, war einer, der versprach, der Polizei eine armenische 
[Cneipe zu zeigen. Es war ein Betverein christlicher Sektierer. Die drei- 
lundertundfiinfzig Armenier, die echten, die in Berlin seit vielen Jah- 



800 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ren ansassig sind und einen unanfechtbaren Tabakhandel treiben, le 
ben in standiger Aufregung, Ich zittere fiir alle Auslander und un 
den Klub der Prager besonders, der unter dem Vorsitz Egon Erwir 
Kischs in der Marburger Strafie den Neid der Eingeborenen er 
regt,.. 

Prager Tagblatt, 16. 4. 192: 



»BALDUINS HOCHZEIT« 

Steglitzer Schlofiparkth eater 

Das norwegische Lustspiel (sein Verfasser heifit Wilhelm Krag, dei 
deutsche Ubersetzer Carl Morburger) hat bereits auf unseren deut- 
schen Biihnen kleine Erfolge gehabt. Es schildert das Hafenproleta 
Hat, wie es stiehit, liigt und heiratet, wie es zigeunert und sefihaf 
wird, wie es »verbricht«, unschuldig, menschlich, harmlose Sund< 
verleugnet und bekennt. Ein sympathischer Menschenschlag: ein in 
Siindhaften kindlicher. 

Alles ist mit iiberlegener Ironie geschildert, aber es ist jene Ironie 
mit der etwa ein humorbegabter Stadter den Bauern, den tolpelhaf 
ten, schildern wiirde. Die Ironie wachst nicht aus dem Milieu unc 
aus dessen poetischer Erfassung, sondern sie kommt von auswarts 
So wirkt ihre Uberlegenheit ein bifichen hochmiitig. 
Das Stiick hat Farbe - und Mr die spezifisch dramatischen Quahta^ 
ten vermissen. Es ware eine gute norwegische Skizze. Es ist eir 
schwaches Stiick. 

Deshalb hatte die Regie (Hans Striem) es also flott skizzieren mils 
sen, nicht sauber zeichnen. Eine im Plug empfangene, im Fluge ge^ 
nossene Impression miifite es sein. Sie hatte Dialoge kiirzen miissen 
statt sie gewissenhaft (im hamburgischen Dialekt) totreden zu lassen 
Statt einer schnellen Kohlenzeichnung gab's eine fleif^ige Griffelar 
beit. 

Viel gute Arbeit der Darstellung war so umsonst. Die Darner 
Loewe und Wohlgemuth^ die Herren Striem und Dittrich verrieter 
gute Beobachtung fiir riihrende Menschhchkeiten. Herr Dresche'i 
aber miifite einmal sich selbst zuhoren; mufite horen, wie die Kon- 



1922 8oi 

onanten, die er abfeuert, sozusagen durch eliminierte Vokale zusam- 
nenhangen. - Man mufi nicht nur verstandlich sprechen, man mufi 
Luch verstanden werden, wenn man poltert. 

Berliner Borsen-Courier, 28.4. 1922 



DIE GE2EICHNETEN 



^aul Uhlig in der Dortmunder Strafie ist ein Kenner von Tatowierun- 
;en. Einerseits tatowiert er selbst, andererseits entfernt er Tatowierun- 
;en. Er hat eine grofie Erfahrung in diesen Dingen. Er war Matrose 
md sonst noch wahrscheinlich Verschiedenes, er hat in Amerika ge- 
ebt und auch in Mexiko. GebHeben sind ihm von seiner iiberseeischen 
/ergangenheit ein seemannischer Backenbart, eine Matrosenkappe, 
veifie weite Hosen aus Segekuch, die ein giinstiger Wind blaht, wenn 
rierr Uhhg auschreitet, und eine Pfeife. Uhhg kann auch Hiihnerau- 
^en schneiden, Seine Kundschaft ist groE, wenn sie sich auch nur aus 
ler Nachbarschaft rekrutiert. Hinter einer Bretterverschalung in sei- 
lem Zimmer nimmt Herr Uhlig seine Operationen vor. Es sind sehr 
nteressante Operationen. Es gibt sehsamerweise sehr viele Menschen 
n Berhn, die ihre Haut verzieren lassen woUen, als ware sie eine Woh- 
lung. Diese Menschen haben sehr viel Schonheitssinn und ein sinniges 
I^emiit. Sie haken was von Symbolen und verstehen auch etwas davon. 
[n Amerika laufen allerdings noch mehr tatowierte Menschen herum. 
JhHg kennt sogar Frauen mit tatowierten Briisten. 
VLan nimmt Tatowierungen einerseits aus Aberglauben vor, anderer- 
►eits, weil man nicht umhin kann, eine herrschende Sitte mitzumachen. 
Vleist aber aus Aberglauben. Ein Anker mit einem Kreuz auf Hand- 
'iicken oder Oberarm bewahrt vor Haifischen und Tod durch Ertrin- 
ien. Eine Flasche auf der Brust schiitzt den Menschen vor Giften aller 
\rt. Ein Schiff mit Segeln bewirkt eine rasche Karriere im Seewesen. Ein 
Eling, eingebrannt auf einem Finger oder am Fufi, bewahrt vor Un- 
;reue. Man kann alle diese Tatowierungszeichen auch anders auslegen. 
Das hangt von dem Lande ab und von dem Individuum. Es gibt Fami- 
ien, in denen sich der Glaube an ein bestimmtes Tatowierungszeichen 
"orterbt, unaufhorHch. Manche Menschen haken Tatowierungen ein- 



802 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

fach fiir schon, Zwei Freunde fiihlen sich durch gemeinsam vorgenom 
mene Tatowierungen auf ihrer Haut in Not und Tod verbunden. 
Neuerdings aber wird ein Bestreben sichtbar, Tatowierungen aus alte; 
und neuer Zeit zu entfernen. Erstens wegen der Poiizei, und dam 
auch, weil man einen Aufstieg in eine sozial hohere Klasse vollziehei 
will. Es haben namlich in letzter Zeit sehr viele tatowierte Menschei 
gute Geschafte gemacht, und sie sind in die Lage gekommen, ihre Ver 
gangenheit verleugnen zu konnen. 

Wahrend ich im Konferenzzimmer Uhligs saK, kam ein Paar, Manr 
und Frau. Der Mann hatte einen Verband um den Kopf, und Her; 
Uhlig erzahlte mir spater, dafi sein Kunde gerade von einer Ohrenope 
ration kame und noch in ambulanter Behandlung sei. Der Mann hatt* 
abstehende Ohren und war ihrer miide geworden. Etwa vierzig Jahn 
lief er mlt diesen abstehenden Ohren herum, und plotzlich war es ihn 
zuviel. Es kommt fiir viele Menschen eine Zeit, in der sie ihrer Korper 
telle miide werden. Der Mann hatte aber aufierdem noch ein ansehnli 
ches Schiff auf dem Handriicken. Es war das Schiff aus einer Opern 
vorstellung vom »FUegenden Hollander « oder wie jenes, auf dem Ro' 
binson Crusoe seine Reise in die Welt angetreten hatte. Es war eir 
Schiff mit Segeln und Tauen und Gestange, und sah man es an, ergrif 
einen die Lust nach Feme, Meer und unbekannten Gegenden. Diese; 
wunderbare Schiff woUte der Mann von seiner Hand entfernt haben 
Es heifit, dafi er Juwelenhandler geworden sei und mit vornehmer 
Kundschaften zu tun haben woUe. Seine Frau tragt am Oberarm einer 
Anker, Zeichen der Hoffnung, wie man weifi. Ihre Hoffnungen schei- 
nen sich erfiillt zu haben, denn sie verzichtet auf den Anker mit Riick- 
sicht auf eventuelle Abendkleider modernen Schnitts. Die Operatior 
dauert nicht lange, die Mittel, durch die eingeatzte Zeichen verschwin- 
den, bleiben Geheimnis jedes Operateurs. Noch niemand ist daran ge- 
storben. Herr UhHg hat eine ganze Schublade voller Dankschreiben 
Darunter auch eines von einem grofien Hamburger Reeder. Es sol 
eingerahmt werden und wird nachstens im Operationszimmer untei 
Glas zu sehen sein. 

Prager Tagblatt, 29. 4. 192: 



DAS LACHELN DER WELTGESCHICHTE 



.n den illustrierten Zeitschriften konnen die Menschen lesen und se- 
len, wie die Weltgeschichte und jene, die fiir sie verantwortlich, alier 
Dffiziositat entkleidet und sozusagen fiir den Privatgebrauch herge- 
•ichtet sind. Die Familienzeitschrift heifit vielleicht deshalb so, weil sie 
las Familiare des Hochoffiziellen dem Leser vermittelt. 
Is ist ein Trost zu wissen, dal5 die Macht auch Stunden hat, in denen 
;ie der Menschlichkeit unterliegt und dafi die Machtigen alltaglichen 
i^unktionen unterworfen sind. Wahrend die Drahtberichte Menschen 
ind Ereignisse in die abstrakten Regionen der BegriffHchkeit zu heben 
ind irdische Zusammenhange zu losen imstande sind, stellt die Photo- 
;raphie die wirklichen Beziehungen wieder her, schiitzt vor Ubertrei- 
>ung und verringert die Distanzen. 

3er sterbHche Mensch, der niemals jenen Grad der Bedeutsamkeit er- 
•eichen wird, auf dem er sein Lacheln der Mitwelt photographisch 
iberHefern konnte, sitzt bewundernd vor solchem Papier, auf dem zu 
;ehen ist, wie Heroen und Halbgotter aus den Eisenbahnwaggons stei- 
;en und Trittbretter beniitzen miissen wie jeder reisende Agent. Er 
;ieht, dafi Einberufer und Vorsitzende von Konferenzen, Schicksals- 
md Schlachtenlenker unter Umstanden Frauen und Tochter haben 
vie er, der Leser, selbst. Er sieht einen General mit der Enkelin spie- 
en, und Riihrung iibermannt ihn. Er sieht den grofien Erfinder hiiflos 
:ingekeilt zwischen drei, vier FamilienmitgUedern und fiihlt ein wun- 
lerbares Verwandtschafts- und Dankbarkeitsgefiihl gegen jenen gro- 
kn Mann in sich aufsteigen. Nie hat die Nation so viel Liebe und 
/erehrung fiir ihre Grofien, wie wenn diese ihren Alhag ein wenig 
iiften. 

Die Photographie ist eine der grofiten Erfindungen der Neuzeit. Un- 
Darmherzig und ohne Sentiment stellt sie Intimitaten her zwischen 
^rofi und klein. Sie wirkt wohltatig nivelherend. Sie ist der wirksamste 
ICampfer fiir Gleichheit. 

Die grofien historischen Ereignisse finden so gewissermafien ihren fa- 
niUaren Niederschlag in den Photographien. Lloyd George, ein Be- 
^riff, der Grofibritannien vertritt, lachelt sofort, wenn er einen Photo- 
jraphen in seinem Gesichtsfeld auftauchen sieht. Er mag noch so ernst 
xnd die Lage noch so verworren sein, er mag die verwickeltsten Pro- 



804 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

bleme in seinem Hirn walzen, an Irland denken und an Rapallo - ei 
lachelt. Dieser Mund, dessen Worte tausend Stenographen mit sorgfal- 
tiger Andacht notieren und zehntausend Telegraphendrahte im Nu ge- 
wissermafien fliigeln; dieser Mund, dessen Befehl Ergebenheit er 
zwingt; dessen freundliche Phrase eine Katastrophe aufhalt und Lawi- 
nen dammt - dieser Mund lachelt. Er lachelt genauso wie der Munc 
eines Bekannten. Genauso wolben sich die Lippen, die Augapfel wer 
den klein, es runzeln sich die Lider, an den Schlafen sieht man zwei 
drei Faltchen entstehen, die Nase faltet sich respektlos an der Wurzel 
als ware sie nicht die Nase Lloyd Georges. 

Was zwingt dem Ernsten, die Verantwortung vor der Nachwel 
Schleppenden das Lacheln ins Angesicht. Furchtlos sieht er dem Feinc 
ins Auge und der Geschichte. Aber vor der winzigen Linse eines Ta- 
schenkodaks wird seine Miene gefallig und unterwiirfig fast. Er lachel" 
vor einem Apparat, wie ein Untergebener zu lacheln pflegt, wenn da 
Vorgesetzte ihm ein Lob zuteil werden lafit. Er lachelt bescheiden 
demiitig, um Nachsicht bittend wie der Diplomat eines besiegten Vol- 
kes. 

Schrecklich erwachen in ihm beim Anblick eines schwarzen Apparatj 
die vielen tausend Bilder in den Zeitschriften der Welt, in denen di( 
Offentlichkeit Gelegenheit hat, mifigiinstige Vergleiche zwischen sei- 
nem Gesicht und dem des Boxkampfsiegers, der sein zufalHger Nach^ 
bar ist, zu ziehen. Furchterlich mahnend kommt ihm zum Bewufitsein 
daE wir alle gleich sind: vor dem Tod und vor dem Photographen. 
In einer illustrierten Zeitschrift sah ich Tschitscherin. Dieser Mann hai 
ein Knebelbartchen und eine Brille, er tragt eine Aktenmappe und ha! 
eine Schulter ein bifSchen schief, vielleicht von der driickenden Verant- 
wortung - und sein Gesicht lachelt. Er spricht mit Wirth, dem deut- 
schen Reichskanzler, und sie haben viel Wichtiges, die beiden, mitein- 
ander zu reden. Aber es sieht aus, als unterhielten sie sich iiber Witze. 
Man glaubt iiberhaupt aus den Zeitbildern ersehen zu miissen, dafS di< 
Weltgeschichte Witze macht und ausgezeichnet aufgelegt ist. Ej 
scheint gar keine Bitterkeiten, keine Tragik, keinen Schmerz, kein Un- 
recht, keine Kommission, keine Besetzung zu geben. Alle Verantwort- 
lichen lacheln. Danach geht es der Welt sehr gut. 
Irgendwo sah ich ein Bild Einsteins, von dessen Genialitat jeder iiber- 
zeugt ist. Herr Einstein wurde in Paris photographiert in einer Lage, ir 
der er sich nicht helfen konnte und wenn auch nicht lacheln, so dock 



1922 8o5 

zumindest freundlich blicken mufite. Wehrlos einer grausamen Linse 

ausgeliefert, safi er, umgeben von einigen Pariser Professoren, und 

links von ihm hatte eine Komptesse Platz genommen, deren Relation 

zur Relativitat im Text nicht des Naheren angefiihrt war. 

Die Komptesse lehnte sich an den Arm des grofien Entdeckers, der, ob 

er nun will oder nicht, die Komptesse zur Seite, in alien Wochenblat- 

tern auftreten mufi. Die Photographie will es. 

Schlechte Laune retouchiert sie. Es gibt keine schlechte Laune. Der 

Sterbliche ist genug verargert. Von seinen Gottern erwartet er ewige 

Freude. Und sie wissen, was man von ihnen erwartet. 

Berliner Borsen-Courier, 30. 4. 1922 



DER MEISTER IM MUSEUM 



Der Boxer Dempsey, der Sieger in alien Gewichtsklassen, dem Car- 
pentier unterliegen mul^te, kam Sonntag nachmittag um halb fiinf in 
Berlin am Bahnhof Zoologischer Garten an. Das Volk lagerte auf dem 
Bahnsteig und befreite sich, als der Zug einrollte, in Jubelschreien, die 
alle Lokomotivenpfiffe iiberschrillten. Die Damen fuhren vor Aufre- 
gung aus ihren Pelzen und schleuderten sie in die Luft. Sie wurden 
dann von Mannern aufgefangen und entweder zuriickerstattet oder 
mitgenommen. 

Herr Dempsey trat aus dem Waggon, ideenassoziative Visionen von 
ankommenden Majestaten auslosend. Er stieg geradewegs in die Popu- 
laritat, vor der ihn Schutzleute und Bahnbeamte vergebens zu schiitzen 
suchten. Schliefilich rettete ihn der witzige Einfall eines Beamten, der 
ausersehen ward, unbewufit ironische Vorsehung zu spielen: Er schob 
Dempsey mit Gepack und Tragern in den Lift, und der Boxer landete 
sozusagen mit alien Schwergewichten in jenem Raum, in dem das Mit- 
sowie Eilgut aufbewahrt zu werden pflegt. Der plotzliche Untergang 
des Meisters verursachte einen psychotischen Sturm seiner Lieblinge 
auf die Stiege, und die Halfte des Volkes bheb zertreten, Opfer der 
eigenen Begeisterung, dargebracht dem Ruhm Dempseys, mit gele- 
gentlich zerfetzten Kleidern auf den steinernen Stufen des Bahnhofs. 
Der andere Teil des Volkes hatte sich vor dem Hotel Adlon versam- 



8o6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

melt. Uberlebende vom Bahnhof Zoo schossen wie abgefeuert In 
Automobile und flogen hinter dem Auto Dempseys her mit der Ra- 
sanz von Maschinengewehrkugeln, bis sie unter den Linden einschlu- 
gen. 

Herr Dempsey aber lag bereits im Bett. 

Den Journalisten teilte ein Sekretar mit, dafi Dempsey drei Tage in 
Berlin bleibt, um die Museen zu besichtigen. 

Und dieses war die grofite Enttauschung des Tages. Was? Museen 
wollte er besichtigen? Museen? 

Umsonst hatte er Carpentier geschlagen, Gegner aus dem Gleichge- 
wicht ihrer Klasse gebracht, umsonst Kiefer zersplittert, Brustkorbe 
plattgedriickt, Weisheitszahne zermalmt, 

Schlummert in semer Heldenseele geborgen ein sehnsiichtiges Gemiit, 
den schonen Kiinsten zugewandt und der Antike? Hat er Sehnsucht 
nach der Welt der edlen Einfalt und der stillen Grofie? Dilletiert er im 
Nebenberuf, wie etwa Maeterlinck in freien Stunden boxte? 
Schamt er sich nicht, der Dempsey? Ach, seine Seele rastet von Knock- 
outs drei Tage lang und trainiert in den Gefilden der Geistigkeit. Un- 
geschlagene Magenstofie zittern in der Luft, indes er Leonardo da 
Vinci bewundert. Oh, wieviel Swings gehen in diesen drei vertrodelten 
Tagen verloren! 

Das Volk wanderte emtauscht zu Friedericus Rex ins Kino. Dempsey, 
der Unbesieghche, war von sich selbst geschlagen worden. 

Berliner Borsen-Courier, 2. 5. 1922 



DAS ENDE DER SPIELKLUBS 



In dieser Woche werden die Berliner Spielsale gewaltsam von der PoU- 
zei geschlossen, und die Physiognomie der Stadt wird um einen we- 
senthchen Zug armer. Die grofien offenen Spielsale der FriedrichstrafSe 
und des Alexanderplatzes, in denen man im Verlauf einer Viertel- 
stunde den Rausch des Reichwerdens und die Qual der Verarmung 
geniefien und erleiden konnte, werden sich in ehrbare Stoff- und Zi- 
garrenladen verwandeln, in denen ein merkantil dressierter Wunsch 
nach Geld den Besitzern geringere Aufregung und gewissere Gewinne 



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dnbringen wird. Ich gehe zum letzten Male in einen dieser offenen 
Laden am Alexanderplatz. Ein grofier Tisch in der Mitte, die Scheibe 
rotiert mit rasender Geschwindigkeit, und die Augen der Umstehen- 
den kreisen mit, die Pupillen entroUen den Augapfeln und kuUern auf 
die Scheiben. Eine ovale Mulde fiillt sich mit Papiergeld. Sie ist von 
Geburt und messingener Natur fiir Hartgeld bestimmt, unverdaut ra- 
gen die Papierscheine hervor, bis die gewaltsame Annexionshand des 
Croupiers einen formlosen schmutzigen Knauel aus Geldscheinen in 
die Lade schiebt. Gleichzeitig dreht seine Linke, wohl orientiert liber 
das Tun der Rechten, den Schliissel um, und das Schnappen des 
Schlosses erweckt fatale Vorstellungen von ewigem, unwiederbringli- 
chem Verlorenhaben. Wenn Enttauschungen sich durch Gerausche be- 
merkbar machen wiirden, sie miifSten wie zuschnappende Schlosser 
klingen. Der Croupier ist ein Matrose. Er langweilt sich, der einzige in 
dieser allgemeinen Spannung. Seine Matrosenbluse mit dem marine- 
blauen Kragen kontrastiert mit seinem Gesicht, das vernarbt und von 
Alkohol verfarbt ratios auf nacktem Haise sitzt und des typischen Ver- 
brecherschals entbehrt, der es einfassen mufi, wenn as seine ihm von 
Gott zugedachte Gefahrlichkeit ausdriicken soUte. Die Halbwiichsi- 
gen, stumme Kiebitze, sehen in dem Croupier das vollendete Resultat 
einer bereits angefangenen Karriere, einen Meister. Ein Neger, von Be- 
ruf Nachtportier, verbringt hier seine schlafheischenden Tage mit sei- 
ner Braut, die fiir ihn setzt, indes er auf einem Stuhl in der Ecke, mit 
halb herabgelassenen Liderjalousien, schlummert, in seinem halben 
Schlaf erinnert er merkwurdig an durchwachte Nachte in Hotelvesti- 
biilen oder an Zimmer im ersten Morgengrau. Das Weif^e seines halben 
Augapfels schimmert bedrohlich, keiner der anwesenden Taschen- 
diebe wurde es wagen, in seine Nahe zu kommen, das halbe schlafende 
Aug' schreckt ihn wie ein ganzes, lauerndes. Zwei junge Burschen ha- 
ben zweihundert Mark gewonnen, sie machen Schluf^ und gehen fort, 
mit wippenden Schultern, aufgestemmten Ellenbogen, als galte es, un- 
sichtbare Hindernisse aus dem Weg zu raumen, als stellte sich ihnen 
harte Luft entgegen. Sie gehen in die Lindenpassage, wo allerhand Ge- 
schafte zu machen sind, Lustgeschafte und reelle mit gestohlenen 
Hunden zum Beispiel. 

Prager Tagblatt, 6. 5. 1922 



RUMMEL BIS ZEHN 



Eine jiingst verlautbarte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts 
beschreibt mit naturalistischer Treue die akustischen Auswirkunger 
eines Rummelplatzes : »Maschinenstampfen, mehrere gleichzeitig er- 
tonende Musikstiicke, Hupen- und Pfelfensignale, Larmen, Lachen, 
Kreischen der angesammelten Menschenmassen.« 
Das Oberverwaltungsgericht bezeichnet diese Gerausche als fiir die 
Nerven des Grofistadtmenschen schadliche. Fast gleichzeitig ergeht 
ein Erlafi des Ministers fiir Inneres, der den Betrieb der Rummel- 
platze nach zehn Uhr abends verbietet. 

Nach zehn Uhr abends? - Hier solke ein Rummel erst einsetzen. 
Ihm ist nichts so schadHch wie das Tageshcht. Ihm ist nichts so 
niitzhch wie die Nacht: An der Ecke einer stillen StrafSe eroffnete 
sich unerwartet ein Platz, von Bogenlampen grell ubermah, von Ge- 
\ heul erflillt, wie ein patziger lauter Olfleck, von Bubenhand hinge- 
pinselt an den Rand einer Federzeichnung. 

Der sentimentalen Erinnerung mag eine Betrachtung gestattet sein, 
die dem sozialen Sinn mit Recht verwehrt ist. Der Romantiker der 
grofien Stadt zerdriickt eine Trane, derer sich seine Biirgerlichkeit 
schamt. Er beklagt den Untergang einer wilden Institution und be- 
griifit ihre Abschaffung mit einem wehleidigen Riickblick. Denn ein 
Rummel bis zehn ist keiner. Sein Tod ist nahe. 

»Rummel« ist die Form gewordene Betatigung des Wunsches nach 
»Verjniejen«. Es ist eine Angelegenheit des Dialekts, nicht der hoch- 
deutschen Sprache. Seine Heimat ist der Wedding, sein Ursprung 
die Seele des auf^erhalb der Gesetze Stehenden, sein Zweck ist der 
Rausch, sein WesentUches ein Resultat aus Barbarei und ZiviUsation, 
Majestat und Technik: die Degradierung der Maschine zum Spiel- 
zeug. 

Sein grofier Vorzug ist die Bihigkeit. Auf den Rummelplatz gelangt 
der Mensch umsonst, frei und gasthch, und wie aus eigenem Willen 
unterbricht sich ein Bretterzaun und eroffnet eine breite Liicke. Eine 
Liicke, kein Tor! Ein Tor schon ware Beschrankung, brachte den 
Gedanken auf die Moghchkeit eines Geschlossenseins. Nein! Kein 
Tor! Niedergelegt haben sich freundHche Bretter, und der Zaun hat 
gasthch seine Pfortenlosigkeit geoffnet. Kein Hindernis ist, und 



1922 8o9 

nicht einmal die Moglichkeit eines Hindernisses. Ehe man sich's ver- 
sieht, ist man eingetreten. Der willige Fuf5 weist dem Wunsche Rich- 
tung und Ziel. 

Der Mensch kann Geld ausgeben, aber er mufi es nicht. Diese Selig- 
keit, den Willen frei schalten zu lassen, und diese Ahnungslosigkeit im 
Hereinfall! Der Buden armseliger Zauber verdankt sein Dasein nur der 
Wirkung des Lampenlichts. Sanft verhiillt es Bitterkeiten, lachelnd 
strahlt es iiber Ritze und Loch, herrUch wandelt es Mangel in Vorzug, 
Gebrechen in Tugend, Armut in Glorie. Zwei Bogenlampen hangen an 
horizontal gespanntem Stiel, schaukeln im Winde, schimmernde Glas- 
kugeln unter der Nacht des Himmels. Schreiendes Licht bricht aus 
ihnen, sie leuchten Jubel, aus tausend Hurramolekiilen setzt sich ihr 
Licht zusammen. 

Abseits und im Schatten wartet der Waggon, der Wohnung und Reise- 
gefahrte, Heimat und Landstrafie ist. Der triefaugige Pudel, der bewe- 
gungslos vor der Eingangstiir hockt, erfiillt eine symbolische Mission. 
Sinnbild ist er dieses Lebens, wie steinerne Lowen Sinnbilder des 
Reichtums und der Macht jener Palaste sind, vor deren Portalen sie 
wachen. Ein Kind schreit manchmal aus dem Innern des Waggons im 
Traum, und keiner hort es. Durch seinen Schlaf zuckt greulich der 
Melodientaumel des Musikkastens, in dessen Innern eine Miinze, die 
ein Musikliisterner hineinsteckt, ein Chaos wahnsinniger Akkorde 
entfesselt. 

»Nacktkultur« verspricht ein gelbes Schild mit roten Lettern. Einge- 
hiillt in ihren dunkelroten Schal steht die Frau, die »Bauchtanzerin«, 
vor dem Zelt, und ein Mann neben ihr riihrt die Glocke. Es ist eine 
unglaubhch schrille Glocke, ihr Kloppel mufi aus besonders unver- 
schamtem Metall hergestellt sein, eine Glocke, die nicht lauten, son- 
dern Brand verhindert, Umsturz und Ende aller Tage. Bei Weltunter- 
gangen miissen solche Glocken gezogen werden, sie wecken Neugier 
und Schrecken, sie toten jedes andere Gerausch, sie verschlucken das 
diistere GroUen des polternden Stadtbahnzuges, wie ein Tropfen Grau 
untergehen wurde in einem schreienden Meer von Gelb und Rot. 
Nacktkultur fiir eine Mark! Den Halbwuchsigen, denen allein der Ein- 
tritt verboten wird - wer ist hier nicht halbwiichsig?-, zittern die Pa- 
pierscheine in krampfigen Fausten, totes Geld ist lebendig geworden 
und quillt aus willig nachgebenden Taschen und Handen, Pfennige ste- 
hen auf und sammeln sich, Miinzen erwachen klirrend. 



8lO DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Drinnen sitzt man auf umgestiilpten Kasten und Fassern, und wer kei- 
nen Platz findet, steht. Alle Seelen stehn und recken sich, die Neugier 
hebt sich auf die Zehenspitzen, und auf zerschlissenem Pliischvorhang 
sammeln sich die Blicke, stumpf und vergeblich an dem Gewebe boh- 
rend, um es zu durchlochern. 

Eine Faust zieht den Vorhang zur Seite, und jene verschleierte Frau 
tanzt den Bauchtanz, windet sich auf dem Boden, abwesenden BUcks, 
tausendmal im Tage hat sic sich so gewunden, immer neue Serien stiir- 
men unerbarmlich in das 2elt, immer wiederholt sie den Bauchtanz, 
die Nacktkultur, und die Spannung des Zuschauers lost sich immer 
wieder in einem Fluch der Unzufriedenheit. 

Auf griinem Tisch jagen die Rennpferdchen, Pferde aus Blech, un- 
heimhch, tiickisch, schadenfroh, kommen nie ans Ziel, wenn man aui 
sie gesetzt hat, kommen stets an Ziel, wenn man sie aufier acht gelas- 
sen. Die Madchen leidwandeln, bleich und mit verwaschenem blon- 
dem Haar, ihre Moglichkeiten lassen nicht einmal den Verdienst aui 
der StraCe zu, das Licht des Rummelplatzes soil ihnen Schminke erspa- 
ren und offenbart herzlos ihre blassen Mangel. 

Bis zehn ist kein Rummel. Nach zehn ist er verboten. Der Rummel der 
grofien Stadt stirbt, wenn er in zivilisierte Rahmen gelenkt wird. Der 
Uberschufi an Temperament und Nacktkultur, fiir die fortan Eintritts- 
geld erhoben wird. Der Mensch schamt sich seiner Wildheit vor dem 
freien Himmel, unter dem er sie toben Hefi, und er setzt zwischen sie 
und ihn eine Decke mit rotlichen Lampen. 

Berliner Bors en -Courier, 7. 5. 1922 



SOMMERSPIELZEIT IM OSTEN 



Der Friihling bricht im Theater des Ostens mit einem sozialen Volks- 
stiick »Brot und Arbeit« an (von Rudolf Schwarz-Reitlingen). Darin 
fordert das Proletariat seine Rechte, darin gibt es einen Ausbund von 
Unternehmern, eine wirklichkeitsgetreue Gerichtsszene und im 
letzten Akt einen Saugling in der Wiege, der schreiend in eine gliick- 
liche Zukunft weist. Die Bosen kommen nicht um die wohlverdiente 
Strafe - das haben sie davon. 



1922 8n 

Der Beifall ist groC, iiberwaltigend. Schein der Biihne setzt sich im 
Bewufitsein des Zuschauers in Wirklichkeit um. Gespielte Gemeinheit 
weckt ehrliche Entriistung. Wer im Dialog vom Witz des Mitspielers 
getroffen, braucht um den Spott nicht zu screen. Hohnischer Zuruf 
Qattert vom Parkett auf, den Schubiak auf der Biihne umkreisend. 
Nach jedem Akt breitet sich wohlig eine Pause aus. In ihrer sanften 
Stille verlieren sich abebbende Wellen klatschender Begeisterung. Im 
Hof des Restaurants wartet ein mondbeschienener Garten mit Laube. 
Hier durchraucht der Mensch die Pause. 

Verstohlen zupft ein blondes Madchen Brotstiicke aus dem Stullenpa- 
pier. Sie ifit Brot wie Theaterpralines mit Daumen- und Zeigefinger- 
spitzen, sorgfaltig das Papier behandelnd, dafi es nicht raschle und die 
Andacht ihrer eigenen Seele unterbreche. Was geschieht unterdes mit 
Giinther, den der AktschluC in den fatalen Verdacht eines Diebstahls 
gebracht hat? Ach! Uber seine Zukunft senkte sich der alles verber- 
gende Vorhang, und dessen Malerei verrat nichts von der Fortsetzung 
angebrochener Schicksale. Fremde Blumen bliihen auf ihm und Sinn- 
bilder uninteressanter Vorgange. 

Wie verheil^ungsvoU schrillt ein Glockchen durch die Luft! Papiere 
verrascheln, Zigaretten verglimmen im Garten. Als verloschte die Er- 
wartung die Lichter, wird es dunkel im Raum. Verloren und ohne Zu- 
sammenhang mit dem Nachbarn, dessen Ellenbogen man fiihlt, sitzt 
der Mensch im Dunkel, eingesperrt jeder in seiner eigenen Dunkelheit, 
Zelle aus Finsternis, Rest des Parketts vergessend, Gefiihl und Seele 
der Biihne dargeboten, dafi ihr Licht und ihre Klange beides iiberstro- 
men. 

Hier sitzt keiner, der es wagen wiirde, sein Gemiit mit personlichen 
Angelegenheiten zu belastigen und sein Ohr zu hindern, dafS es dank- 
bar jede Silbe trinke. Hier dringt des Empfangers geweckter Sinn in die 
schalen Gesten auf den Brettern, und seine Phantasie bereichert entge- 
genkommend die gebotenen Armsehgkeiten. 

Hier kommt es gar nicht an auf das Was und das Wie. Hier gehort das 
Publikum zum Ensemble, und wahrend es ruhig lauscht, agiert es mit. 
Seine Kunst iibertrifft die der Schauspieler; seine Begeisterung jene des 
Autors. Ein elendes Fiinkchen, in seine Seele geworfen, entfacht sich 
selbst zur Flamme. Den Dilettantismus verarbeitet es geniefiend in 
Kunst. 
Spielleitung? Fritz Ebers zeichnet auf dem Programm fiir die Regie. Ist 



8l2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

er verantwortlich dafiir, dafi sie sein Publikum zu einer ausgezeichneten 
emporklatschte? Gestaltete Y^zAStephan den Fabrikbesitzer Brlnkmann 
so trefflich, oder geniigte dem Zuschauer die Andeutung eines Fabrikan- 
ten, damit er ihn sich selbst, aus Erinnerung erganzend, gestalte? Alle 
spielten beifallverdienend: Wolfgang Miiller z. B., Hans Rose, Lotte von 
Syrow. Das Publikum lebte in ihrem Spiel - was soil da Kritik? 

Berliner Borsen-Courier, 9. 5. 1922 



DERFALSCHER 



Ein Dreiundzwanzigjahriger hatte es sich in den Kopf gesetzt, machtig zu 
werden. Er lieferte konstruierte Geheimberichte an die Entente. Seine 
Tatigkeit brachte ihm gar kein Geld ein. Er war mittellos, dafi er von 
Fiinf- und Zehnmarkanleihen bei Freunden im Kaffeehaus lebte. 
Er war stolz darauf, der erste Falscher des Jahrhunderts zu sein. Seine 
Wut gegen das Bestehende, gegen die Autoritat als Begriff - ihm war der 
jeweilig Autoritare gleichgiiltig - machte geistige Krafte frei, die in den 
niichternen Bahnen solider Tatigkeit bis zur Verkiimmerung gebunden 
geblieben waren. Anspach - so heifit der Falscher - freute sich seiner 
Anonymitat so sehr, dafi er sie gelegentlich aufgab, um sich zu verraten. 
Er Jubelte, dafi er unsichtbar und gewaltig hinter den Kuhssen stand, so 
dafi er sich einigen offenbaren mufite. Er woUte geheimnisvoll sein und 
gleichzeitig wissen machen, wie geheimnisvoll er sei. 
Ein eitler Schicksalszoll : Wahrend er im Dunkel Faden kniipfte, sehnte er 
sich nach offentlichem Lichte. Wahrend er Gift mischte, liefi er eine 
Retorte sehen. Er wollte vernichten, um bewundert zu werden. Mit aller 
verfiigbaren Klugheit erf and er komplizierte HoUenmaschinen, mit aller 
verfiigbaren Naivitat schwatzte er sie im Kaffeehaus aus, 
Er machte sich einen Jux aus der Diplomatic Europas und aus dem 
Ungliick der Welt. Er spielte mit Geheimberichten wie ein Knabe mit 
Briefmarken. Er parodierte die Weltgeschichte, indem er sich vornahm, 
einige ihrer Kapitel zu redigieren. 
Und Diplomaten und Minister Frankreichs bedienten sich seiner. Sie 
glaubten ihm nicht immer, aber sie wollten und brauchten ja gar nicht zu 
glauben. Sie wollten etwas Geschriebenes. 



1922 8i3 

Und Anspach lieferte ihnen Geschriebenes. 

Er sieht aus wie ein von Gott in diese wahnsinnige Welt der Politik 
gestellter, menschgewordener Hohn auf Politik. Als hatte sich irgend- 
eine hohere Macht einen guten Witz leisten woUen, steht er da, leben- 
dige Satire gegen eine Menschheit, die nicht verblendet ist, sondern mit 
offenen Augen sich der Verblendung ergibt. Eine Welt, die der Liige 
nicht glaubt, sie aber liebt. Die nicht getauscht wird, aber der es gleich- 
giiltig ist, ob sie die Wahrheit hort. Sie ist nicht ein Opfer der Liige. Sie 
ist der Gonner des Getauschtwerdens. 

Und dafi dieser grofienwahnsinnige und kindische Jiingling nicht nur 
eine eingebildete Macht besafi, sondern fast eine wirkliche; dafi die 
Intelligenz eines Pathologischen fiir eine Welle Drohnoten und Parla- 
mentsdebatten hervorrufen kann; dafi jeden Tag ein Verriickter gera- 
dezu einen Weltkrieg hervorzurufen imstande sein konnte, lafit das 
nicht alle - unmoglichen Schliisse zu auf die Wesenheit jener Dinge, 
die das Schicksal eines Volkes bestimmen? 

Fast mochte man meinen, dafi, wenn keine Drohnote erfolgt und die 
Politik ihren geruhigen Gang nimmt, dieser Umstand nur dem Ein- 
greifen eines gutartig veranlagten Kranken zu verdanken ist. 

Berliner Borsen-Courier, 13. 5. 1922 



DER AFFE 



Eine Tierhandlung in der Potsdamer StraEe hat einen kleinen Affen 
msgestellt. Das Tier befindet sich in einem Kafig in der Nachbarschaft 
ran Papageien und winzigen Kolibrivogeln. Seine Nahrung hat er in 
^inem kleinen Behalter aus Porzellan. 

Der Affe ist sehr niedlich. Er hockt auf einer Stange und krault sich das 
Fell. Seine Ohrmuscheln sind ganz diinn und fein, seine Hande mit 
^eschickten Fingern versehen und Menschenhanden ahnlich. Die Pas- 
;anten der Potsdamer Stral^e bleiben vor dem Schaufenster stehen, in 
lem der Affe lebt. 

3ie Menschen haben eine grofie Liebe zu dem kleinen Affen. Wahrend 
lie ihn betrachten, erfullt ihre Augen jener unerklarliche Schimmer, 
ler jedes Menschenauge verschont, wenn es Kinder liebevoll betrach- 



8l4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tet. Es ist eine Art Liebe, die man sich selbst zoUt, indes man sie einem 
andern Wesen entgegenbringt. Sieh, so klein war ich auch, sagte der 
Erwachsene, der einem Kind zusieht, und dieses wird bald erwachsen 
sein wie ich. Jede Bewegung des Kindes hat schon Anlagen, reife Be- 
wegung eines Erwachsenen zu warden. 

Die Menschen kiimmern sich gar nicht um die reizenden bunten Vo- 
gel, die so klein wie Schmetterlinge sind und riihrend in ihrer winzigen 
VoUkommenheit. Es sind sozusagen die Liliputaner der gefliigelten 
Welt. Sie konnen zwitschern, flattern, fliegen genauso wie die grofien 
Vogel. Aber sie werden immer klein bleiben. 

Aber die Zuschauer interessieren sich nicht fiir das bereits Fertige, 
auch wenn es noch so merkwiirdig klein ist. Die kleinen Vogel haben 
nicht die geringste Ahnlichkeit mit Menschen. Ihre Auglein sind so 
von Betrachtung frei und nur Zweckhaftigkeit. Unschuldiger als dieses 
Aug' ist nichts mehr in der Welt. Dieses Aug* will nichts erspahen und 
nichts erfahren. Es lafit Gesehenes sich nur widerspiegeln. Es sammelt 
keine Eindriicke. Es lafit Eindriicke vorbeiziehen. Unberiihrt von 
Sonne, Licht, Strafie, Himmel, grau ist dieses kleine Auge. Es ist ein- 
fach nur der VoUkommenheit wegen da und als Beweis fiir die auf- 
merksame gottliche Sorgfalt. 

Der Affe, Menschen in seiner Nahe fiihlend, begreift, dafi er sich den 
Menschen erkenntlich zeigen mufi. Und der Passanten Ausdauer be- 
lohnend, greift er mit unnachahmlich diebischem Fratzenausdruck in 
den nachbarlichen Vogelkafig und stiehlt Vogelfutter. Seine eigene 
Nahrung laKt er unberiicksichtigt. Das Vogelfutter schmeckt ihm, 
Und wahrend sich die kleinen Liliputaner scheu auf der Stange zusam- 
mendriicken, zwanzig Stiick auf einer Stange, greift der Affe immer 
kiihner durch die Stangen des Kafigs und nahrt sich von fremdem 
Brot. 

Da erreicht die Riihrung der Zuschauer den Hohepunkt. Ihre Augen 
werden feucht, und ihre Seelen weinen. 

Berliner Borsen-Courier, i8. 5. 1922 



H-MOLL-SYMPHONIE 



Aus Budapest berichtet eine Korrespondenz, dafi der Kinomusiker Ist- 
van Nagy an plotzKchem Wahnsinnn erkrankt ist, nachdem er an fiinf- 
zig Nachmittagen hintereinander die Schubertsche h-moU-Symphonie 
auf dem Klavier gespielt hatte. Beim einundfunfzigsten Mai brach in 
dem Klavierspieler Istvan berechtigter Wahnsinn aus. Das Gehirn re- 
voltierte gegen den Mifibrauch bewuCtloser Finger, nachgiebiger Ta- 
sten und ewiger Melodien. Das auf dem Klavier totgehammerte Ge- 
wissen auf erst and und wehrte sich. Zwischen den zwei Auswegen - 
h-moll-Symphonie oder Hunger - wahlte Istvan Nagy den dritten; 
Wahnsinn. 

Die Korrespondenz erwahnt jenes Filmdrama nicht, zu dessen Vor- 
gangen der wehrlose Schubert zwecks musikahscher Illustration her- 
angezogen werden mufite, ohne von einem andern unsterblichen 
Komponisten abgelost werden zu konnen. Aber das ist gleichgiiltig. In 
jedem Filmdrama kommt einmal der Zeitpunkt fiir die h-moll-Sym- 
phonie. An einer ganz bestimmten Stelle, an der dramatische Hoch- 
spannung in lyrischer Weichheit dahinschmilzt und der angehaltene 
Atem des Zuschauers Befreiung findet in begliickendem Schmerz, 
setzt die h-moll-Symphonie ein. 

Diesen Zeitpunkt merkt der Kinomusiker an einer aufieren Kleinig- 
keit: Wenn z.B. einer der Schatten auf der Leinwand die Hand hebt 
oder ein Knie vorstreckt, eine Frau die Rechte gegen die Frisur fiihrtj 
schwere Besorgnis andeutend, oder gegen ein Wandbild die Bhcke er- 
hebt, damit die Leute im Parkett wissen, dafi Sehnsucht nach dem Ori- 
ginal des hangenden Portrats die Frau ergriffen hat. Manchmal ist es 
auch eine sichtbar platschernde Strandwelle, die eine bestimmte Melo- 
die hervorruft, oder ein errotender Abend in gebirgigen Gletschern. 
Tausende solcher Istvans leben in der Welt, spielen vor der Leinwand, 
sitzen im Dunkel, halb von einem Orchesterdach verhiillt, und beglei- 
ten Schattenbewegungen mit Melodie. Safi jemand schon in einem mu- 
siklosen Kino? Dann weifi er, wie schrecklich hohl das Geschehen auf 
der weifien Flache ist, wie die Unerbittlichkeit ewiger Stummheit la- 
stet, dafi dagegen eine Versammlung von Taubstummen Vorstellung 
ran Lautheit weckt. Der geschaute Vorgang sieht aus wie das Schema 
sines ebensolchen Vorgangs, die Handlung etwa wie ein Grundri£ 



8l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

einer ebensolchen Handlung. Die h-moll-Symphonie und die Barka- 
role, der Trauermarsch und der Sphinxwalzer erst machen aus Hand- 
lungsandeutungen Handlungen, aus dramatischen Silhouetten Gestal- 
ten. Der Musiker Istvan wattiert sozusagen Schatten mit Melodie, wei- 
tet Flache zum Raum, schafft Hintergrund und Tiefe und dritte Di- 
mension. 

Und weifi selbst fast sowenig von seiner schopferischen Tatigkeit wie 
die Leinwand von ihrer geheimnisvoilen Belebtheit und der Apparat 
von den Wirkungen seines Mechanismus. Sein Auge, schief aufblik- 
kend zum Schattenhuschen, gibt der Hand das Zeichen zum Umblat- 
tern, und der Eindruck der Noten geht kaum durchs Bewufitsein, darf 
sich diese Partie der Personlichkeit schenken, er iiberspringt gewisser- 
mafien das Gehirn, gleitet vom Sehnerv zum motorischen. Diktiert 
dem Handriicken, weckt gleichsam im Gedachtnis der Finger schlum- 
mernde Erinnerung an die Reihenfolge der Tasten, bis nach fiinf Minu- 
ten neues Bild neuen Klang fordert und den Mechanismus des Korpers 
wieder in Bewegung setzt. 

Dazwischen ist Pause. Ungeleitet von Melodie, musikverlassen, miis- 
sen Reklamebilder vorbeiziehen, Frackverleihinstitute und Quellen 
eleganter Damenschuhe. Wahrenddessen packt Istvan im Vorraum 
sein Butterbrot aus sorglicher Hiille, sein sozusagen mit der h-moU- 
Symphonie erkauftes Butterbrot. Istvan hat Brillenglaser, gegen die er 
haucht, um sie mit einem Taschentuchzipfel blank zu scheuern, ver- 
gramte Brillenglaser, aller hauslicher Kummer spiegelt sich in ihnen, 
ihre durchsichtige Materie halt alle Trostlosigkeit der Erde gefangen, 
Gram der Frau und Elend der Wohnung. 

Nach der Reklame kommt unerbittlich das Lustspiel, fiir das ein 
Tango geniigt, um es zu verlebendigen, eine heitere Melodie, marsch- 
mafiig, die Ereignisse hopsen und poltern, Takte gibt's, die verzweifel- 
tes Hinunterrollen von Stiegen illustrieren, purzelnde Polkas, tor- 
kelnde Kontrabasse, in Musik gesetzte Clownerien. 
Wahrend man es spielt, ahnt man deutlich, was auf der Leinwand zu- 
geht, ohne sie zu sehen. Der hilflose und verliebte Oberlehrer verstreui 
Schuihefte, vergifit einen Regenschirm, sturzt ins Wasser - es ist ein 
Jammer. Bis schhefilich der Kapellmeister dreimal an das Pult klopft. 
drei akustische Punkte in das Schweigen tupfend. 
Hier fangt das Drama an. Und Istvan weifi im voraus, dafi am Ende des 
dritten Aktes der Held nach anderthalbaktiger Abwesenheit wiedei 



1922 8i7 

auftaucht, Nachmittag um Nachmittag, jeden Tag genauso, den linken 
Fufi vorstreckend, den rechten seitwarts gestellt, einmal in dieser Nu- 
ance von der Linse aufgefangen und fiir alle Ewigkeit zu dieser Nuance 
verurteilt. In Istvan regt sich langsam der Wahn, und er fangt an zu 
hoffen, dafi einmal, ein einziges Mai in diesen dreiEig Tagen, der Held 
vielleicht mit dem rechten auftritt und den linken Fufi seitwarts 
schiebt, und dann konnte man vielleicht, wer weifi, den Sphinxwalzer 
von Straufi spielen. 
Vergebliche Hoffnung! 

Der Sphinxwalzer von Straufi setzt erst am Anfang des vierten ein, in 
jenem Augenblick, wo ein symbolisch bewolkter Nachthimmel den 
Gang der Schicksale unterbricht und kennzeichnet. Ach! und dann 
folgt der Chopinsche Marsch, und dann ein Fetzen Barkarole, ein er- 
giebiges Mittelstiick von Wallace, ein Zipfelchen Carmen, und alles 
genauso wie gestern, vorgestern und vor drei Wochen. 
Es war ein sehr eintraglicher Film, er konnte gar nicht abgesetzt wer- 
den, fiinfzigmal hintereinander wattierte ihn Istvan mit den gleichen 
Melodien. VerhangnisvoUe Stupiditat eines Apparats, der bestimmte 
Bewegungen und Ereignisse auswendig gelernt hatte (memorierend 
photographiert) und sie so und nicht anders wiedergcbcn konnte und 
Istvan, den Menschen, zwang, mechanisch zu sein bis zum Irrsinn. 

Berliner Borsen-Courier, 21. 5. 1922 



FLUG UM DIE WELT 



Morgen beginnt am Flugplatz Croydon eine neue Epoche: Der engli- 
sche Major W.T. Blake steigt dort auf, von zwei Kameraden begleitet, 
und beginnt seinen Flug um die Welt. 30000 engHsche Meilen will der 
Major fliegen. Ein reicher ungenannter Mann hat die Kosten der Expe- 
dition beigesteuert. 

Die poHtisierende Menschheit, so durchtrankt von dem Bewufitsein, 
daE an Konferenztischen die Weltgeschichte in Kapitel geteilt wird, 
kann schwerlich ermessen, daE jener reiche ungenannte Mann mehr 
Fiir das Vorwartskommen der Welt getan hat, als wenn er fiinf neue 
Friedenspalaste im Haag hatte errichten lassen. Und er selbst weifi 



8l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

vielleicht nicht, dafi seine Tat und der Flug des englischen Majors aus 
einer »Unternehmung« sich zum symbolhaften Geschehnis wandeln. 
Denn hier erhebt sich ein einzelner Mensch (oder drei), Vertreter der 
ganzen Menschheit, Sinnbild menschlicher Kiihnheit, und voUfiihrt, 
prachtiges Werkzeug der Weltgeschichte, ihren Willen. In jenem engli- 
schen Major hat sich der Begriff »Mensch« aufgeschwungen iiber die 
Miihsamkeit irdischen Konferenztums. 

In 30000 enghschen Seemeilen komprimiert sich gewissermafien der 
ganze Umfang der Weh fiir den Piloten, der iiber ihr schwebt. Er 
blickt aus der Luft hernieder und sieht, wie Ausdehnungen zusam- 
menschrumpfen, Landstrafien sich in Bander verengen und kiirzen, 
Palaste sich in Ziindholzschachteln verwandeln und Tiirme in eine Art 
grofier Reklamestreichholzer. Das Getose der Welt schwacht sich zu 
fernem Gesumm, und das Gepolter eines Schlachtfeldes, das er zufallig 
iiberfliegen konnte, kame als umfangreiches Gerausch an sein Ohr. 
Wenn ein Palast so klein, ein Turm so eng, eine Landstrafie so kurz, 
ein Getose so schwach werden - wie verschwinden da erst einzelne in 
diesem grofien allgemeinen Dimensionenuntergang? Aus der physi- 
schen und symboUschen Hohe eines Weltiiberfliegers kann ein Konfe- 
renztisch nicht mehr gesehn werden. 

Der Zufall hat einen so tiefen Sinn, wie man ihn nur willensbewufitem 
Schicksal zuschreibt. Dafi gerade jetzt ein Mensch, Vertreter der 
Menschheit und Vollender ihres kaum bewufiten Vorwartswillens, 
aufsteigt, um diese torichte, eingebildete Welt zu iiberzeugen, da{5 man 
sie in 30000 englischen Seemeilen absolvieren kann, konnte ein guter 
Witz einer ironischen Schicksalsmacht sein. 

Denn am Ende ist an allem Ubel, das die Menschen einander antun, 
nur ihre mafilose Uberschatzung irdischer Distanzen schuld. Wenn sie 
wiiEten, wie gedrangt sie aneinanderleben, wUrden sie Nachbarschaft 
heilighalten. 

Berliner Borsen-Courier, 24. 5. 1922 



FRAU PROMPTEUX 



Der Name ist wie Signal und Motto: »Prompteux«. Wer an die Schick- 
salsmafiigkeit von Namen glaubt und an ihre innere Beziehung zum 
Trager, fande in der Erscheinung der Frau Prompteux Bestatigung. 
Der Schriftsteller, der Wirkung und Leben dieser Frau zum Roman 
gestalten wollte, konnte sein Buch nicht zugkraftiger betiteln. Der 
Name hat Vehemenz, ist gewissermafSen klangliche Offensive. So 
trefflich benennt das Leben seine Helden. 

Frau Prompteux - es ist der Name ihres Mannes, eines Belgiers, sie 
selbst heifSt; Hickethier - ist in dieser Woche von dem Weimarer 
Schwurgericht zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden und mit 
ihr zwei mitschuldige Manner, der eine zu drei Jahren, der andere zu 
einundzwanzig Monaten. Der Schauplatz der Ereignisse ist nicht etwa 
Berhn, sondern Saalfeld, und Frau Prompteux keine Lebe- oder Halb- 
weltdame aus Paris oder Briissel, sondern Kaufmannsgattin aus der 
Provinz und sechsunddreifiig Jahre ak. Kein Romandichter wiirde eine 
Frau Prompteux in Saalfeld agieren lassen. Die Wirklichkeit aber gab 
ihr keinen grofSstadtischen Rahmen und schuf eine Romanfigur ohne 
passende Folic. Wie aus einem vornehmen Nachtlokal des Berhner 
Westens erscheint sie mit plotzUcher Willkiir in die Provinz versetzt. 
Auch die kleineren Stadte brauchen ihre Sensationen. 
Frau Prompteux ist Mutter von vier Kindern, und ihre alteste Tochter 
ist siebzehn Jahre alt. Ein Saalfelder Kaufmann namens KoUeck, Haus- 
herr der Frau Prompteux, verlobte sich mit der Siebzehnjahrigen und 
verliebte sich in seine zukiinftige Schwiegermutter. Der Kaufmannn 
KoUeck ist zehn Jahre jiinger als Frau Prompteux, also sechsundzwan- 
zig Jahre alt, und aus der Tatsache, dafi er selbstandiger Kaufmann, 
friiherer Bankbeamter und sogar Hausbesitzer in der stillen Stadt Saal- 
feld war, kann man schliefSen, da{S er von Natur ein sachlicher Mensch 
ist, ehrgeizig mit MalS, und biirgerlichen Idealen zustrebte. Durch 
Frau Prompteux wurde er Verbrecher. So griindlich hat selten jemand 
die Liebe gewandelt. 

KoUeck uberliefi der Schwiegermutter die Fiihrung seiner Geschafte. 
Es er^aben sich finanzieUe Schwierigkeiten, und beide beschlossen, ihr 
Haus zu versichern, in Brand zu stecken und auszuwandern. Zwei- 
undvierzig Menschen wohnten in diesem Haus, unbemittelte Arbeiter 



820 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

mit vielen Kindern. Frau Prompteux, die Mutter von vier Kindern, 
hatte den Plan ersonnen. 2u ihrem Schwiegersohn und Liebhaber hatte 
sie nicht viel Vertrauen. Er erschien ihr zu unschliissig und zage. Des- 
halb gewann sie ein zweites Werkzeug, den Arbeiter Seidel. 
Der Arbeiter Seidel war wegen Diebstahls und unzuchtiger Handlun- 
gen vorbestraft, seit 19 12 in einer Irrenanstalt untergebracht, aus der 
ihn Krieg und Frontdienst befreit batten. Seine Unglaubwiirdigkeit als 
Zeuge schien Frau Prompteux sehr giinstig. Sie kaufte sich ihn durch 
Geld und ihren Korper. Und Seidel ziindete das Haus an, wahrend 
Frau Prompteux mit KoUeck und ihren zwei alteren Tochtern einen 
Ausflug unternahm. 

Zufallig weist dieser Prozefi einen jener typischen medizinischen Irrtii- 
mer auf, die wahrend des Krieges zu beobachten verboten waren: Aus 
dem Vorleben des Angeklagten KoUeck ist bekannt, dafi er wegen 
Nervenleidens vom Militardienst befreit war. Der Angeklagte Seidel, 
der nicht nur schwache Nerven hatte, wurde sogar aus dem Irrenhaus 
an die Front geschickt. Frau Prompteux konnte, griindlicher als der 
Staat, beide nervenschwachen Manner brauchen, 
Frau Prompteux war iiberhaupt ein Mobilisierungsgenie. In den Mit- 
teln nicht wahlerisch und in den Werkzeugen ebensowenig. Ratselhaft 
ihre Griinde: Sie tat Boses ohne Zweck, es war eine ihrer Lebensfunk- 
tionen, das Bose tun, Liebte sie ihren Schwiegersohn? Und achtete ihn 
gleichzeitig gering? WoUte sie seinetwegen Verbrecherin werden, 
Haus und Kinder verlassen und in ein neues Land wandern? Und 
traute ihm nicht einmal die Fahigkeit zu, Vollender eines Entschlusses 
zu sein? Schalt ihn zage und setzte sich seinetwegen der Gefahr aus? 
Wufite um seine Nervenschwache und stellte sie sogar als Aktivposten 
in ihre Rechnung und konnte zugleich sich selbst fiir ihn mifibrau- 
chen? 

Aus der Verhandlung ergab sich, daf5 Frau Prompteux auch mehrere 
andere Manner zum Anziinden des Hauses gegen einen Lohn von 
50 000 M. verleiten wollte. Dem Arbeiter Seidel ergab sie sich. Ihrem 
Gelde konnten mehrere, wahrscheinlich bediirftige Manner wider- 
stehn. Ihrer Liebe nicht. Der Liebe einer sechsunddreifiigjahrigen 
Mutter. 

Das Widerspruchsvolle ihres Tuns macht Frau Prompteux unerklar- 
lich und weckt die Vermutung, daft ubersinnliche Zusammenhange 
moglich sind. Liebt sie den Schwiegersohn und heuchelt seinetwegen 



1922 821 

Liebe zum Arbeiter Seidel? Die Manner sind verstandlich: Opfer ihrer 
Leidenschaft. Die Frau mit der stets paraten Leidenschaft, die aus 
Liebe die Liebe verrat, sich selbst schenkt, um zu kaufen, mit Uberle- 
gung vor einem Minderwertigen Komodiantin ist, um den anderen 
Minderwertigen zu behalten - wer ist diese Frau Prompteux? 
Sechsunddreifiig Jahre lebte sie, Gattin und Mutter, in der Provinz, 
und niemand ahnte ihre seltsamen Fahigkeiten und Instinkte? Wie 
viele Menschen leben noch in der Provinz, dreifiigjahrig oder alter, in 
Saalfeld oder in Bitterfeld, in Berlin, in der oder jenen StraKe, wir spre- 
chen mit ihnen, essen mit ihnen, haben gemeinsame Freunde, und sie 
wissen selbst nicht, wie tief in ihnen die Mordlust brennt und eine 
Brunst zu verderben? Unsere Gesichter sind harmlos und unser Le- 
benslauf maskierende Geste, und wir wissen nichts von uns. Unsere 
Eigenschaften sind vielleicht gar nicht Folgeerscheinungen unseres 
Wesens, und sie und unser tagHches Tun verbergen nur und farben 
triigerisch. 

Berliner Borsen-Courier, 28. 5. 1921 



DER SOUFFLEUR 



Hans Guttmann, Souffleur in der Bukowina, in einem deutschen 
Theater des gegenwartigen Rumaniens, hat, wie vor einer Woche be- 
richtet wurde, bei den Proben zu einem Schillerschen Drama plotzlich 
den Souffleurkasten verlassen, den Regisseur beiseite geschoben und 
mgefangen, Regieanweisungen zu geben. Er konnte - so erzahlte er - 
licht mehr an sich halten. Zweiundzwanzig Jahre hatte er souffliert, 
itets mit dem Gefiihl des Unbefriedigtseins und bereit, in einem be- 
Jtimmten Augenblick die Ziigel der Regie an sich zu reifien. Zweiund- 
zwanzig Jahre hatte er hilflos zusehen miissen, wie grobe Hirne edle 
ECunst mifiverstanden, unwissend-tappende Hande Situationen verdar- 
5en, taube Ohren an klangvollen Hohepunkten (oratorischen Gipfeln) 
^oriiberhorten, kurzsichtige Augen visionare Wirkungen vernachlas- 
ligten. 

^ahrend dieser zweiundzwanzig Jahre hockte der Souffleur in seiner 
"iohle und las den stockenden Schauspielern aus einem blau und rot 



822 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

angestrichenen Exemplar Stichwort und Vers vor, achtete peinlich auf 
ihre Bewegungen und dirigierte iiberhaupt mehr, als alle im Theater 
ahnten. Hatte sich jemand auf der Buhne versprochen, so wufite Gutt- 
mann ein belangloses Wort zu finden, das den rhetorischen Seitenpfad 
des Sprechers beendete und zugleich in die breite HauptstraEe des 
Textes miindete, Entfernte sich ein Unvorbereiteter dem Hnken Hin- 
tergrund zu, so mufite ein Wink geniigen, die leise Ahnung eines Win- 
kes, sozusagen ein Wink im ersten Entstehungsstadium, um den 
Schauspieler vorschriftsmafiig nach rechts zu kommandieren. 
Und zu all dem mufite man fliistern. Es war kein gewohnliches Flii- 
stern, sondern ein lautes Fliistern. Es geschah nicht durch eine Sen- 
kung der Stimme und durch den Gebrauch der Lippen, sondern durch 
eine Kraftleistung der Brust. Sechs und acht Stunden am Tag flusterte 
man so, laut und unhorbar, angestrengt und gewohnheitsmafiig, als 
ware man heiser von Beruf, ein Heiserkeitskiinstler, der von seiner 
Stimmbandlosigkeit lebt. Alle Organe, die dem Wort Klang und Schall 
verleihen, mufite man ausschalten, man mufite der Sprache ihren Laut 
nehmen, gleichsam akustische Schatten der Worte geben. Man mufite 
verstanden werden auf der Biihne und im Parkett ungehort sein, ein- 
fach so, als sprache man iiberhaupt nichts: stumm nach riickwarts, be- 
redet nach vorn. 

So hockte Guttmann heinzelmannisch und unbemerkt, ein Apparat 
auf der Biihne wie Kulissen und VorhangroUe. Als ware er ein Gram- 
mophon und sein Kasten mit der Schalloffnung ein Trichter. Er mufite 
sich argern und tun, was ihm befohlen war. Seine Pflicht, leise zu sein, 
wirkte auf sein Wesen, und er wurde bescheiden. Er fiihrte eine flii- 
sternde Existenz, ein halblautes Leben. Er trug gleichsam wie eine 
Schnecke ihr Haus seinen Souffleurkasten immer mit sich herum, auch 
wenn er ihm entstiegen war. 

Zweiundzwanzig Jahre war Hans Guttmann Souffleur, bis er Regis - 
seur wurde. Der Bericht weifi zu vermelden, dafi die Regieeinfalle des 
Souffleurs ausgezeichnet waren und den Regisseur beschamten. Wer 
dann die Aufgabe des Souffleurs iibernahm, als die Auffiihrung statt- 
fand - das erzahlt der Bericht nicht mehr. 

Es ist moglich, dafi Hans Guttmann aus Gewohnheit, aus unbedingtei 
innerer Notwendigkeit beim Glockenzeichen wieder in seinen Raster 
kroch und seine alte Tatigkeit aufnahm. Es war ihm - moglich ist es - 
nur um die Sache zu tun, nicht um seinen Ehrgeiz. Und er wurde 



1922 823 

wieder aus einem Machtigen sein eigenes Werkzeug, aus einem Herr- 
scher ein Behelf, und er soufflierte mit grofierer Leidenschaft und Teil- 
nahme, als seine Schauspieler spielten. 

Berliner Borsen-Courier, i. 6. 1922 



DER GEFESSELTE DICHTER 



Seit gestern erregt der Fall des Dichters Reinhard Goering Presse und 
Publikum, Es heifit, dafi Goering unberechtigt fremde Bilder verkauft 
habe. Noch ist der Sachverhalt nicht in alien Einzelheiten bekannt, und 
die Bemiihungen, den angeblichen Diebstahl des Dichters psycholo- 
gisch zu erklaren, in seinem Vorgehen eine Analogie zu jenem Unfall 
eines anderen Dichters zu finden, sind verfriiht. 
Zumindest verfriiht. Denn selbst, wenn alle naheren Umstande be- 
kannt sein werden, das Geriicht von dem Diebstahl sich bestatigt ha- 
ben wird, mulS es sehr schwierig sein, fruchtbare Erorterungen iiber 
den »Fall« anzustellen. Alle geistreichen und geschliffenen Untersu- 
chungen wiirden aber zu dem Ereignis fiihren, dafi es auch schopferi- 
schen Menschen moglich ist, aus moralischen, korperlichen oder seeli- 
schen Krankheitsgriinden iiber die biii^erlichen Gesetze zu straucheln. 
Dagegen scheint es nicht Uberfliissig, iiber die Art zu sprechen, in der 
im Falle Goering die Vertreter des Gesetzes, Berichten aus Braun- 
schweig zufolge, den Dichter verhafteten. Goering wurde, in dem Au- 
genblick, als er einen Freund besuchen wollte, »von zwei Polizeibeam- 
ten ergriffen«. Der »Ergriffene« wehrte sich. Da ein Dichter, selbst 
wenn er fremde Bilder verkauft hat, nicht auf eine Arretierung durch 
»Ergrif fen werden « gefaEt ist, konnte er wohl annehmen, da£ es sich 
um einen MiEgriff handle - zumal, wenn er sich in einem durch 
Psychiater beglaubigten pathologischen Zustand befindet. Infolgedes- 
sen muEten die PoUzeibeamten, von Passanten unterstiitzt, den Dich- 
ter fesseln. 

Man erinnert sich, dafi Max Klante viel unauffalliger verhaftet wurde: 
Ln seinem Hause. Man sagt, da£ er in geschlossenem Auto nach dem 
Gefangnis gefahren wurde. Eine solche unauffalHge Verhaftungsme- 
thode wird bei alien angewendet, wenn sie nicht gerade Raubmorder 



824 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sind, die der Beamte dank einem gliicklichen Zufall irgendwo trifft und 
bei denen ein rasches, gewaltsames Zugreifen notwendig ist. Jeder 
treulose Bankkassierer wird unauffalHg verhaftet. Jeder Kaufmann, der 
zahlungsunfahig geworden ist und den Verdacht, dafi er fliichten wird, 
erweckt. Ein Dichter aber mufi auf offener Strafie »ergriffen« werden. 
Nicht das Problem soil hier erortert werden, ob der Kiinstler in dem- 
selben Grade wie jeder andere den Gesetzen unterworfen ist. Nicht die 
Frage, ob der Richter dem Schaffenden gegeniiber eine prinzipiell an- 
dere Haltung einnehmen soil. Aber man mufi das Recht des geistig 
Arbeitenden wahren, genauso behandelt zu werden wie jeder andere in 
einem biirgerlichen Beruf Stehende, der zufallig oder absichtlich das 
Gesetz verletzt. 

Der Dichter Reinhard Goering kann fiir sich dieselbe Verhaftungsme- 
thode fordern wie der Herr Kohn und der Herr Klante. Keine bessere, 
keine schlimmere. Wenn zum Beispiel ein Turnlehrer die Bilder seines 
Freundes verkauft hatte - ein Detektiv in Zivil hatte den Schuldigen 
aus der Wohnung geholt. 

Noch immer aber scheint das biirgerliche Vorurteil gegen den Dichter 
als ein »zigeunerhaftes Wesen« das Vorgehen dieser und jener Behorde 
zu beeinflussen. Es kann diese SelbstverstandUchkeit nicht oft genug 
wiederholt werden: dafi auch der Dichter katastriert ist, registriert, 
Steuern zahlt, gemustert wird, in den Krieg geht. Ja, er wird sogai 
haufiger als jeder andere gepfandet. Er ist ein biirgerliches Wesen. 

Berliner Borsen-Courier, 14. 6. 1922 



DIREKTOR BERNOTAT 



Der fleiEige Chroniker kriminalistischer Ereignisse uberzeugt sich im- 
mer wieder, dafi die zufalUgen Namen merkwiirdiger Menschen wit 
sorgfaltig von einem Autor gewahlte klingen. »Bernotat« ist solch eir 
Name. Er ist fremd, ergibt keine sinngemafie Bedeutung und hai 
Selbstbewufitsein. Ein Mann dieses Namens mufi gewissermafien der 
Direktortitel fiihren. Dieser Titel ist klangliche Vorbereitung diese; 
Namens. Die akustische Suggestionskraft dieser Lautverbindunger 
spriiht geradezu aus der Visitenkarte eines »Direktor Bernotat«. Es isi 



1922 825 

ein Name, dessen Trager empfangen werden mufi, wenn er sich anmel- 
den laftt. Er pradestiniert einen Trager zu romantischen Eriebnissen. 
Direktor Bernotat wohnte sehr prachtig in der Johann-Georg-Stral^e 
in Halensee, hatte ein Auto, mehrere Reitpferde und war kein seitener 
Gast in der vornehmen Gesellschaft Berlins. Soli man sich auf den Ge- 
schmack und die Bildung der Polizei verlassen, so hatte Bernotat eine 
prachtvoUe BibUothek und viele wertvolle Kunstgegenstande. Weder 
seine Frau noch seine Freunde wufiten von Bernotats Diebstahlen. 
Niemand wufite von seiner Vergangenheit. Im Verbrecheralbum war 
sein Bild mit dem Vermerk »Verstorben« iiberklebt, seine Gerichts- 
und Polizeiakten hatte er soi^fahig vernichten lassen. 
In der Wohnung Bernotats drangen sich seit vorgestern die Bestohle- 
nen. Man erkennt Kleidungsstiicke wieder und Statuen. AUe Gegen- 
stande stammen aus den Pensionen des Westens und des Kurfursten- 
damms. Bernotat versucht zu leugnen. 

Und damit, damit allein bereitet er der Welt sozusagen hterarisch eine 
Enttauschung. Der Mann hatte alle Voraussetzungen zu einem Krimi- 
nalromanhelden, und die kombinierende Phantasie der emsigen Kino- 
besucher und der Zeitungsreporter sah in ihm bereits eine lebende 
Ausgabe des Filmhelden Doktor Mabuse. Da beginnt Bernotat plotz- 
hch zu leugnen, SchwachHch, armseUg, phantasielos zu leugnen wie 
ein erwischter kleiner Taschendieb aus einer ungarischen Provinz, 
Hier bekommt die Romantik einen Knacks, und librig bleibt ein 
schwacher Mensch mit lacherlichen Eigenschaften, falsch angewende- 
ten Begabungen und mangelhafter Umsicht. 

Ein Mann bleibt iibrig namens Karl Friedrich Bernotat, ein Zugewan- 
derter aus OstpreuiSen, ehemaHger Direktor eines Swinemiinder Spiel- 
clubs. Sicherlich ein Mensch mit kulturellen Bediirfnissen und gesell- 
schaftlichem Ehrgeiz. Seine Frau lafit er jeden Morgen vornehm den 
Kurfiirstendamm hinauf- und zuriickreiten. Luxusausgaben sammelt 
er in der Bibliothek. 

Man wird ihm gewif^ keinen maniakalischen Sammlerwahnsinn zugute 
halten konnen. Weil er nicht nur Antinousstatuetten stahl, sondern 
auch Jumper und Pelze. Die Erfahrung erfordert von einem »maniaka- 
lischen« Sammler, da£ er bescheiden und diirftig sogar in einer Dach- 
stube oder in einem Keller hause und mit gierigen Fingern jeden 
Abend, wenn die Dammerung hereinbricht, iiber seine geliebten Ge- 
genstande streicht. 



826 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Man versteht nicht, dafi sich eine Sammlerleidenschaft auch auf Jum- 
per, Pelze, Rennpferde und Automobile erstrecken kann. Dafi eifriger 
Kunstgeschmack seine Befriedigung an jenen Gegenstanden finden 
kann, die man aus dem Gebiete der Kunst eliminiert und in den 
Rayon des Luxus einreiht. Als ob ein schones Rennpferd keinen 
Kunstgenufi verschaffen konnte! Als ob die Moglichkeit, in einem 
sorgsam gepolsterten Auto eine breite Chaussee mit livrierten Kasta- 
nien entlangzugleiten, nicht eine kiinstlerisch anspruchsvolle Seele ge- 
nauso (oder noch mehr) befriedigen konnte wie der Anblick und der 
Besitz einer wertvollen Gemaidegalerie. 

Oh, es ist schon, in einer grofien Wohnung zu leben und sich im 
Besitz der Seltenheit zu fiihlen. Eine wundervoUe Sicherheit umgibt, 
erfiillt den Mann, der aus seinem reichen Hause tritt. Den teuren Ge- 
genstanden entstromt eine Atmosphare von stolzer Warme, sieges- 
gewisser Kraft - geht man in die fremde Strafie. Es ist ahnlich, wie 
wenn man aus einem gutgeheizten Hause in die kalte Luft des Win- 
ters tritt und der Frost sich vergeblich bemiiht, zu dem von Warme- 
schichten umgebenen Korper zu dringen. Teppiche zu Hause machen 
den Schritt elastisch und vornehm, Spiegel verleihen durch stete uner- 
bittliche Kontrolle Haltung und Stil. Grofie Fensterscheiben und rei- 
che Lampen entziinden im Aug' einen herrschaftlichen Widerschein 
von Sonne und Licht. Ein Mann im Reiterdrefi in der kiesknirschen- 
den Mitte des Kurfiirstendamms ist erhaben iiber das Gesetz, das die 
Fufiganger beherrscht, und dem Bannkreis eines spahenden Spitzelau- 
ges entriickt. Vor dem eleganten Rhythmus trabenden Rossehufs er- 
stirbt jeder Verdacht, wirbelt die Kleinigkeit des normalen Lebens, in 
zehntausend Atome zerstaubt, in sanfter Wolke auf und verschwin- 
det. 

Es ist schon, die Vergangenheit ausgeloscht zu wissen, im Verbre- 
cheralbum gestorben zu sein, seinem eigenen Leben entgangen, einer 
alten Haut entschliipft, nicht mehr das alte beladene Ich zu sein. In 
dammriger Feme verschwand ein Einbruchsdiebstahl, vollbeschrie- 
bene Akten losten sich in Asche auf. Das Bewufitsein, einen Dieb- 
stahl begangen zu haben, erlischt im Auto, in dem man die Beute 
heimfahrt. Beute? Nein - Gewinn! Ursach* und Folge werden gleich- 
sam automatisch vertauscht - wie kann man Dieb sein, wenn man ge- 
achtet und von dem und jenem gar vielleicht noch gegriifit, seiner 
eigenen schonen Wohnung entgegenfahrt? Dieb? Schleicht ein Dieb 



1922 82/ 

nicht, scheu an die Wande gedriickt, dunkle StraEen entlang, dem 
schmutzigen Hehlernest zu? Wer sich sicher fiihlt, ist kein Dieb. 
Direktor Bernotat stand nicht iiber der Situation. Er hatte das Bewufit- 
sein haben miissen, daE er stahl, und daraus Vorsicht herleiten. 
Die nachsten Erhebungen werden Bernotats Vergangenheit enthiillen, 
seine Jugend vielleicht, seine Sehnsucht nach Reichtum und Schonheit. 
Man wird vielleicht finden, daf5 ein Mann, der aus Hunger nach Luxus 
stiehlt, nicht barter zu behandeln ist als jener, der aus Hunger nach 
fremdem Brot greift. Brot und Luxus konnen beide Lebensnotwendig- 
keit sein. 

Berliner Borsen-Courier, 18. 6. 1922 



HOTHAM BROWN AUS WORKINGTON 



Herr Hotham Brown aus Workington in der englischen Grafs chaft 
Cumberland hat - wie die englischen Zeitungen melden - ein ganzes 
Theater ohne fremde Hilfe erbaut. Mit seinen eigenen Handen schich- 
tete er Ziegelstein auf Ziegelstein, siebenhunderttausend Ziegel schich- 
tete Herr Hotham Brown in zwei Jahren. Sein Theater enthalt Biihne, 
Zuschauerraum, Empfangshalle, Biiroraume, Restaurant und vier- 
zehnhundert SItzplatze. 

Es ist anzunehmen, dal^ Herr Brown nicht aus bitterer Notwendigkeit 
sein Theater gebaut hat, sondern zu seinem Vergniigen. Nicht etwa, 
um in dem fertigen Theater sein Vergniigen an den dort aufgefiihrten 
Stiicken zu finden, sondern um sich an dem Bau zu freuen. Dem Herrn 
Brown war es gewifi sehr langweilig in dieser Welt. Wahrscheinlich 
ging es ihm gut, war er Jungeselle oder kinderlos, jedenfalls aber hatte 
er Geduld und keine Beschaftigung auf Erden. 

Man kann das Werk des Herrn Hotham Brown aus Workington be- 
wundern und belacheln, und beides mit Recht. Man darf sogar be- 
haupten, da£ der Herr Brown sehr unsozial gehandelt hat, als er sein 
Theater erbaute. Denn die Welt hat seit dem Kriege sehr viele Arbeits- 
lose, die an Herrn Browns Theater gerne gearbeitet batten. Das Thea- 
ter ware in drei Monaten fertig gewesen, und viele Menschen hatten in 
dieser Zeit zu essen gehabt. 



828 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Herr Brown aber wollte vielleicht beweisen, daf5 man mit Talent und 
Liebe eine so mechanische Angelegenheit erledigen kann, wie es das 
Ziegellegen ist. So hat er zwar eine Arbeit geleistet, ja sogar ein Werk 
zustande gebracht, aber er hat sinnlos Zeit verschwendet, und seine 
Tat ist nichts mehr als ein exzentrisches Ereignis. Das fertige Gebaude 
ist, gewifi, ein Verdienst. Sein Fertigwerden war eine launische Angele- 
genheit. 

Herrn Browns Tat hat eine tiefere Bedeutung: Sie entstammt aus der in 
dieser Zeit herrschenden Uberzeugung von dem Uberwert der »Be- 
schaftigung« und dem Mifiverstehen der »Arbeit«. Herr Brown wollte 
vielleicht zeigen, dafi auch ein einzelner alles zu schaffen vermag, aber 
sein Ergebnis bringt uns nicht vorwarts. Wenn dem Herrn Brown die 
Gewifiheit, dafi er tausend Jahre leben konne, gegeben ware - er wiirde 
sich vielleicht an den Bau einer Pyramide machen. Der Spieltrieb der 
Kleinen, denen man zu Weihnachten Baukasten schenkt, hat hier beim 
Erwachsenen seine Fortsetzung gefunden. Der erwachsene Knabe 
baute mit einem grofien Baukasten. Er verschaffte seiner Lust zum 
Spiel ein Ventil, und das Resultat- ein wirkliches, »gebrauchsfahiges« 
Haus - tauscht uns iiber den wirklichen Grad des Brownschen Ver- 
dienstes. 

Dostojewski erzahlt in seinen Aufzeichnungen iiber Sibirien, dafi die 
Gefangenen mit grofier Freude an ihren eigenen Zuchthausern bauten. 
Sie batten Lust an einer Arbeit, die zu einem - wenn auch verhafiten - 
Ergebnis fiihren mufite. Nur die Sisyphusarbeiten brachten die Gefan- 
genen aus der Fassung. 

Herr Brown aus der Grafschaft Cumberland aber lebte nicht in Sibi- 
rien. Fiir trostlose Gefangene ist Arbeit an einem Gefangnis eine 
Wonne. Fiir spielfreudige Menschen in Freiheit ist Arbeit an einem 
Theater nichts mehr als exzentrische Laune. Sie sind Gefangene des 
Wahns von ihrer schopferischen Tatigkeit. Der produktive Mensch 
schichtet keine Ziegel, wenn er nicht mufi - und waren es auch sieben- 
hunderttausend. 

Berliner Borsen-Courier, 20. 6. 1922 



SOMMERLICHE WANDLUNG 



Die Menschen reisen gern in den Abends tunden. Ich weil5, wie seltsam 
5ch6n es ist, das Heute mit dem Morgen durch eine nachtliche Fahrt zu 
^erbinden und, ohne die Scheide zwischen Tag und Tag zu merken, 
^eographische Veranderungen in einem komprimierten Zeitraum zu 
srleben. 

[eden Abend flitzt also ein Auto durch die stille Stra£e und bleibt vor 
^inem Nachbarhause stehen. Dem Auto entsteigt weifS geschiirzt ein 
Dienstmadchen. Dann ergiefien sich die Stiegen hinunter Koffer, 
Plaids, Kinder, Hutschachteln, und alles verschwindet im Innern des 
W^agens. 

Der Portier bleibt zuriick, die Miitze in der Hand, als ware er ein 
Fiirpfosten, von dem iiberhaupt nicht im Leben angenommen werden 
iann, dafi eine Reise fiir ihn in Betracht kame. Er bleibt zuriick und 
las Tor, der Kramladen mit den Gewiirzen und der Hund und die 
OC^asch- und Plattanstalt mit den weif^en fremden Familienintimitaten 
m Schaufenster. 

io gibt es gewisse lebendige Dinge und Menschen und Anstalten in 
lieser StraEe, die ewig sind und niemals ihren Aufenthalt verandern. 
eden Abend kommt ein Auto vorbeigeflitzt, verschluckt einen Teil 
les lebenden und beweglichen StraEeninhalts, und immer wird es we- 
liger. Aber das unbewegliche Vermogen der Stral^e bleibt, menschii- 
;hes Mobiliar, Und es konnten eines Tages die Pflastersteine sich aus 
juadratischem Gefiige losen und in die unersattlichen Automobile 
^oUern, aber diese bestimmten Menschen miifiten bleiben. 
Mle nachbarlichen Melodien sterben. Die Musikstiicke reisen in die 
Jommerfrische, sie liegen vielleicht in den Hutschachteln, zusammen- 
jerollt, die Klange bergen sich in den Plaids, in den Falten eines zu- 
ammengerollten Regenschirms schweigt eine reisende Sonate. Jeden 
viorgen um zehn Uhr kam, verschlafen und gleichsam noch nicht bei 
^oUem BewuEtsein, die Melodic: Nur eine Nacht . . . und seit zwei Ta- 
;en warte ich vergeblich. Sie ist vor zwei Tagen abgefahren und plat- 
chert jetzt zur Erholung aus den offenen Fenstern eines Strandhotels 
liniiber, iiber die Weilen der See. 

Kn trauten Abenden punkt um dieselbe Stunde begann der Sanger, 
lunkle Wogen aus dem tiefen Grund seiner Kehle hinauszuwalzen, 



830 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

dafi sie ja den Keim einer nachbarlichen Energle und eines Tatwillens 
uberschwemmten. Man schaukelte sich sacht auf diesen Klangen, Em- 
porung war zur lieben Gewohnheit geworden, es war geradezu ein 
beangstigender Arger, ein heilsamer Seelenschnupfen, man liebte den 
Gesang, wie man treue Feinde liebt. 

Wo ist der Sanger jetzt? Gestern sah ich ihn mit einem grofikarierten 
Schontuch um den Hals das Gold seiner Kehle in Jenes geheimnisvoUe 
Auto verfrachten, heute haben seine Fenster ihre Jalousielider ge- 
schlossen, und am Nachmittag, just um dieselbe Stunde, bricht eine 
Leere in mein Zimmer, eine todliche Melodielosigkeit, ein Argerman- 
gel, eine trostlose Aushorlosigkeit. Die Luft ist still, noch klafft zwi- 
schen ihren Atomen die Liicke, sozusagen die Ehrenlucke, durch die 
des Sangers Lied hindurchzuschweben pflegte. 

Wo ist der Sanger jetzt? Schmettert er sein Lied iiber die ungeriihrten 
Gipfel ewiger Berge? Haust er in Talern? Rudert er jetzt auf schwane- 
besiedeltem Teich? 

Auch die Frau vom Fenster ist verschwunden. Die Fensterscheibe sieht 
aus, als hatte man ihr ihre einzige Lebensbedingung genommen. Sie 
macht ungefahr den Eindruck einer Turmuhr ohne Zeiger, einer Tiir 
ohne SchlofS. Ihr Gestell ist nicht mehr vorhanden. 
An welchen fernen Fenstern steht jetzt die Frau? Worauf ruht ihr 
Bhck, ihr zielloser Blick, der sich niemals verankern konnte an einem 
Gegenstand? Ihre Pupille, die niemals ein bestimmtes Bild fassen 
konnte? Ist sie jetzt am Ziel ihrer Sehnsucht, und ihr Wanderauge ver- 
senkt sich in heimatlichem Punkt, endlich zu Hause, ohne Lust nach 
Feme? 

Was macht er jetzt, der Herr mit der Aktentasche? Viele Manner 
kannte ich schon, Manner von Wiirde und Rang, es war Macht in ih- 
rem festen Schritt, sie benahmen sich auf dem Pflaster wie auf heimatli- 
chem Teppich. Aber jener Mann mit der Aktentasche trug Wiirde in 
den Zehenspitzen, und seinen Stock setzte er mit solcher Wucht auf 
das Trottoir, da£ die Quadern borsten wie Zuckerwiirfel. 
Wo wandelt er jetzt? Wie sieht er aus ohne die komplementare Akten- 
tasche seines Lebens? 
Niemand gibt Antwort. Immer noch kommt das unerbittliche Auto- 
mobil, jeden Abend, und rafft Koffer und Menschen weg, fort aus den 
trauten Gebieten meines Auges. Selbstverstandlich nur bleiben der 
Kramladen mit Gewiirzen und Streichholzern, die Wascherin, der 



1922 831 

Portier und der Hund. Sie sehen aus wie unbarmherzig zuriickgelas- 
iene Uberreste aus bliihendem Lebenskomplex, Fiir wen wascht man 
loch Hemden, bietet Gewurze fell, putzt das Treppengelander, bellt 
and macht Spriinge? Das Leben ist zwecklos wie der Stadtsommer, 
wie eine Sonne, die ewig unfruchtbare Steine bestrahlt, aus denen nie- 
nals ein kargliches Griin spriefien wird. 

Berliner Borsen-Courier, 25. 6, 1922 



DER PRIN2 



Der Prinz lebt in stiller Abgeschlossenheit, der Arme. 
LTraite Kastanienbaume umrauschen seine Villa. Auf acht geraumige 
Zimmer ist seine Abgeschiedenheit beschrankt. Nur ein Reitpferd 
5teht ihm zur Verfiigung. Und ein einziges Auto. Das Auto ist grau 
iackiert und weich gepolstert. Auf schweilenden Pneumatiks federt es 
durch das Land, das den Prinzen entbehrt. Ganse fegen kreischend 
iiber den Weg. Hunde bellen, respektlos und ohne Sinn fiir Vergan- 
genheit. Auf hohen Baugeriisten arbeiten Maurer und Poliere, benei- 
denswerte Menschen. Im Schweifie ihrer Angesichter hacken Manner 
Kieselsteine fiir Schotterungen, so sehr mit den elenden Steinen be- 
schaftigt, dafi sie nicht einmal griifien. Armer Prinz! 
[m Sommer steht der Prinz um acht Uhr auf, im Winter schon um 
neun. Im Sommer friihstiickt er auf der Veranda und des Winters im 
Bett. Goldgelbe Butter streicht er mit behutsamen hochsteigenen Han- 
den auf bliihweifSe Brotchen. Der schweigsame Lakai, ein personifi- 
ziertes Stiick Stille, sozusagen eine befrackte Abgeschiedenheit, giel^t 
Kaffee aus silbernen Kannchen in Rosenthaler Tassen. Der geniigsame 
Prinz greift die Tassen nur mit vier Fingern und spreizt den fiinften, 
kleinen ganz weit und vornehm weg. 

Vielgezackte Geweihe starren von den Wanden des Jagdzimmers. Von 
alien fiir den Prinzen gefallenen Lebewesen befinden sich in seiner 
Wohnung nur die Haupter der Hirsche und Rehe. In ihre kiinstlichen 
Glasaugen legte der verstandige Optiker einen frommen Ausdruck von 
Untertanendemut. Die Tiere erinnern in ihrem seelenvollen Bhck an 
ausgemusterte und von einer Hoheit angesprochene Kadetten. 



832 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Nach dem Friihstiick reitet der Prinz. Er reitet immer denselben Weg 

und immer zum Zwecke der Verdauung und der Appetitanregung. 

Zwanzig Meter in der Runde setzt bei des Prinzen bekanntem Trabge- 

rausch den Forstern und Oberforstern der Herzschlag aus. Bin giitiges 

Geschick treibt manchmal einen von ihnen vor die Pferdehufe. Danr] 

schiagen sie die redlichen Jageraugen auf und griifien. Es geht nichts 

iiber Waidmannstreue. 

Zu Mittag ifit der Prinz im Speisesaal ein bescheidenes Menii, nur aus 

vier Gangen. Was ihm nicht schmeckt, mu8 er stehenlassen, der Arme. 

Dem Prinzen schmeckt manchmal etwas nicht. 

Am Nachmittag schlaft er auf einem ganz gewohnHchen Pliischsofa. 

Dann kommt, zweimal in der Woche, ein General aus Berlin mit Va- 

sallensporen hereingeklirrt, Auf dem Schadel des Generals stehen alk 

kurzgeschorenen Haare aufrecht vor dem Prinzen. Jedes einzelne Haar 

nimmt Stellung. 

Der Prinz und der General plaudern von Vergangenheit und Zukunft. 

Der Prinz leutselig, der General respektvoll. Er kommandiert Satze 

zur Parade, er prasentiert Meinungen. 

Der Prinz hat loyale Briefe zu beantworten und Bittschreiben. Diese 

Sendungen kommen immer aus »Gauen«. Noch nie hat jemand aus 

einer gewohnlichen Stadt dem Prinzen geschrieben. 

Manchmal liest der Prinz die neueste Scherl-Woche und einen Roman 

von Rudolf Stratz, auf dafi er nicht hinter der Gegenwart zuriick- 

bleibe. An den fortschreitenden Daten des taghchen Lokalanzeigers 

merkt der Prinz, wie die Zeit vorwarts geht. 

Die Frauen im Lande heben den Prinzen, keusch und feme. Ihr BHck 

verweilt auf seinem Portrat in der lUustrierten Zeitung langer als aul 

den Schnitten der Modebeilage. Sie finden ihn sogar interessanter als 

die Plauderei liber die letzte Pariser Schuhform (obwohl diese spitz 

zulaufend und ohne jeden Besatz ist). 

An Tagen, wie es zum Beispiel der Johannitertag ist, teilt der Prinz 

Ritterschlage aus, ganz umsonst, ohne andere entgegenzunehmen. 

Er hat ein groEes und gutes Herz, der arme Prinz, 

Vorwarts, 8.7. 1922 



DER MENSCH IM GLASKAFIG 



Das ist die Zeit, in der ein Drang ins Freie den von Intimitaten ver- 

schalten Menschen in die glaserne Unverfrorenheit der Veranda grau- 

sam hinausstofit. 

Des Morgens platschert ein Sonnenstrahl oder eine Regenstrahne in 

seiner Kaffeetasse. Und am Abend verblutet weihevoll eine Ampel. 

Auswarts gekehrt und alien sichtbar hangt der Schofi der Familie und 

illes, was er den Winter iiber geborgen hatte. Im Angesicht der nach- 

barlichen Welt vollzieht sich die Traulichkeit behiiteter Gebarde. 

[n der Dammerung erknattern, Strafien entlang, im Kufi explodierende 

Lippen, und zartlich zerschmetterte Gabeln sterben von der Hand un- 

^ebandigter Familienvater mit leise weinendem Geklirr. 

Wande haben Augen. Der Mensch im Glaskafig, preisgegeben in Ohn- 

macht, Zorn und Hemdsarmeln, von Blumentopfen sparlich beschat- 

tet, hangt, als ware er sein eigener Kanarienvogel, zum Biirgersteig 

tiinaus. 

Der Tau netzt sein nach Wolken auslugendes Nasenbein, und der 

A.bendwind streicht kiihl iiber die behaarte Brust, das Touristenhemd 

wie ein Segel blahend. 

Ein lauer Dunst von geliifteten Betten und privaten Angelegenheiten 

kampft siegreich gegen den schiichternen Duft eines etwa erbliihenden 

Fliederstrauches, der im Hinterhof, von Windeln beschwert, ein niitz- 

iiches Dasein flihrt. - 

Das Blaue Heft, 8. 7. 1922 



AUF BRUNNERS WEGEN 



Ein Roman des ungarischen Schriftstellers Zsigmond Moricz, bei Ernst 
Rowohlt erschienen, heil^t »Gold im Kote«, wurde im Buchhandler- 
Dorsenblatt angefiihrt und in unserem Blatte besprochen. 
Die Besprechung des »Borsen-Couriers« und jene der Prager »Bohe- 
mia« erschienen ebenfalls (im Auszug) im Buchhandlerborsenblatt. In 
Jiesen Referaten wurde das erotische Element des Buches gestreift. 



834 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

In Heidelberg, der feinen Stadt, lebt ein Buchhandler namens Kieser 
Es ist leider so in Heidelberg und anderwarts, dafi fromme Manner, di( 
von Geburt dazu berufen waren, mit Feigenblattern zu handeln, Bii- 
cher im Laden fiihren. Der Buchhandler Kieser las den Auszug aus der 
Referaten, errotete sittlich und schickte - nicht etwa durch die Post- 
sondern auf dem Buchhandlerwege an den Rowohltverlag den Bestell- 
zettel zuriick - mit der Querschrift: »Schw€inerei«. - Womit er nicht 
etwa dieses sein Vorgehen gekennzeichnet haben woUte. 
Am /.Juli wurde der Buchhandler Kieser von einem Berliner Schof- 
fengericht zu - 300 M. Geldstrafe verurteilt. Das Gesetz bot leidei 
keine Handhabe zu einem andern Urteil. Wenn man ihn selbst verur- 
teilt hatte, zeit seines Lebens Herrn Brunners Zeitschrift und Sachver- 
standigenurteile zu memorieren - den Buchhandler Kieser hatte diese; 
Urteil lediglich gefreut. Er studiert sowieso mit Eifer seinen Brunner. 
Womit kann der Mann noch gestraft werden? 

Berliner Borsen-Courier, 12. 7. 192; 



E.T.A. HOFFMANN IN DER 
STAATSBIBLIOTHEK 



Die gerechte Nachwelt hat dem toten Ernst Theodor Amadeus Hoff- 
mann durch ihre autoritativen Vertreter der Wissenschaft eine Rehabi- 
litierung zukommen lassen: ein ganzer, wenn auch an Umfang gerin- 
ger Raum in der Staatsbibliothek umfafSt eine »E.-T.-A.-Hoffmann- 
Ausstellung«. 

Das ist die literaturhistorische Pointe eines skurrilen und respektloser 
Poetenlebens. Hoffmann hatte seine Nachwelt erleben miissen. Wenr 
es ihm gelungen ist, im Jenseits als Beweis fiir seine im korperUcher 
Leben erwiesene Wunderglaubigkeit bewuf^t weiterzuleben und ir 
einen Kontakt mit der Preuf^ischen Staatsbibliothek zu gelangen - der 
er leider nicht mehr beschreiben darf-, so sieht er wohl mit jenem 
satirischen Behagen, das ihn auf Erden gekennzeichnet hat, auf die of- 
fiziellen Vertreter der Presse, die zu einem Rundgang durch die Aus- 
stellung von Doktor Uhlendahl eingeladen sind. 
Es entsprache dem Wesen des Gefeierten wenig, wenn man durcb 



1922 835 

seine Ausstellung mit der ganzen Seelenriistung eines Jubilaumspathe- 

tikers rasselte. Durch die Glasscheiben der Kasten, in denen seine 

Briefe und Noten, seine Biicher und Kritiken liegen, darf man mit je- 

aem gelinden Schauder blicken, der seiner selbst spotter; mit jenem 

Ernst, der die Lacherlichkeit in seinen Bereich einbezieht; mit Jener 

Dankbarkeit, die Schwachen anerkennt. 

Man verweilt deshalb nicht langer bei Ausgaben, Ubersetzungen, hin- 

terlassenen Opern und Referaten in Zeitschriften, als zur Vollendung 

eines Ausstellungsbesuches notwendig ist; und scheidet ungern von 

den menschlichen Zeugnissen einer wunderhaften, einmaligen Person- 

iichkeit. 

So gehort zu den wertvollsten Objekten dieser Ausstellung - vielleicht 

licht im wissenschaftlichen, im philosophischen Sinn jedenfalls - jenes 

Billet mit der Anzeige vom Tode des Katers Murr. Jenen, die es nicht 

wissen, sei erzahlt, dafi Kater Murr ein dressiertes Tier war, ein Tier 

mit einer Seele, das dem Dichter die jeweils notigen Schubfacher off- 

len konnte. Als Kater Murr starb, schickte Hoffmann alien seinen 

Freunden in Berlin die folgende Todesanzeige: 

•>In der Nacht vom 29. bis 30. November d. J. entschlief, um zu einem 

3essern Dasein zu erwachen, mein geliebter Zogling, der Kater Murr, 

m vierten Jahre seines hoffnungsvollen Lebens. Wer des Verewigten 

Wandelgang auf der Bahn der Tugend und des Rechtes gekannt hat, 

nifit meinen Schmerz und ehrt ihn durch Schweigen.« 

Man sieht auch einen von den vielen Pumpbriefen, die Hoffmann zeit 

ieines Lebens mit wechselndem Erfolg geschrieben hat. Man sieht 

ieine Zeichnungen, in denen Selbstironie mit genialer Spottsucht gegen 

lie Umgebung wetteifert. Es sind Bilder eines Literaten, gewifi. Aber 

nnes zum Zeichnen ebenso wie zum Schreiben berechtigten. Es sind 

^leichsam die fremden Gebiete einer expansionswiitigen Feder, der ihr 

;igenes Gebiet nicht geniigte. 

Jnd man sieht jenes absprechende Urteil Walter Scotts, das Goethe 

3ekannt war und das' ihn in seiner ungerechten Geringschatzung Hoff- 

nanns sehr wohl beeinfluEt haben mochte. (Goethe hielt die Kritik 

kotts, weil sie anonym war, fiir ein Urteil - Carlyles.) 

Man sieht eine Zeichnung jenes trostlosen Plozk in Polen, in dem 

rioffmann strafweise Regierungsrat war. Er hatte in Polen die ganze 

Ijeneralitat karikiert und muEte seine Spottsucht biif^en. 

^r war ein Gespensterhoffmann. Aber in seinen kiihnsten Traumen - 



S}6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wer hatte paradoxer getraumt - ware ihm nie der Gedanke gekommen, 
daK ihn die offizielle Nachwelt in der Preufiischen Staatsbibliothek eh- 
ren wurde. Sie versetzte ihn gewissermafien vom Blocksberg direkt aul 
den Olymp. 

Berliner Borsen-Courier, 14. 7. 1922 



DER HERR OFFIZIER 



Der Herr Offizier ohne Kaiser kommt sich iiberfliissig vor wie ein 
Zeiger ohne Zifferblatt; wie ein Magnet, der weit und breit keine Ei- 
sensplitter findet; wie eine Magnetnadel, die ihren Kurs vergessen. Ihm 
ist fast so traurig zumute, wie wenn man das Kasino demoUert oder die 
Kranzler-Ecke nach dem Wedding verschoben hatte. Wahrend er so 
dasteht, gleitet unter seinen Fiifien der Boden mitsamt den gegebenen 
Tatsachen wie eine Jazztreppe im Lunapark. Wahrend er schreitet, 
lauft ihm die Strafie zuvor. Er bleibt gleichsam immer hinter dem Pfla- 
ster zuriick, das er tritt. VergebUch lauft er seinen eigenen Wegen nach. 
Die ganze Umwelt hat langere Beine. 

Hat doch die Geschichte selbst keine Anhaltspunkte mehr, seitdem sie 
nicht von Thronbesteigung zu Thronbesteigung geht. Ohne die Mark- 
steine der Regierungsjubilaen vollziehen sich die Ereignisse. Da sie nir- 
gends eine Grenze finden - was Wunder, dafi sie da iibers Ziel schie- 
fien? 

Der Offizier sieht, blickt er nach oben, einen Vorgesetzten, Er blickt 
hoher und augt den Regimentskommandanten, Uber diesem enthuUt 
sich in achtungsvollem Blick der Herr Minister. Aber just iiber dem 
Minister fehlt etwas ! 

Just iiber dem Herrn Minister sieht der Herr Offizier eine Zivilperson. 
Ihm ist, als ware er eines Tages erwacht und es hatte jemand iiber 
Nacht den Himmel von der Erde abgenommen, wie man etwa eine 
Kirchenkuppel abnimmt. Und statt des Himmels wolbte sich nun ein 
gewohnlicher irdener Topfdeckel iiber dem Deutschen Reich. 
So sieht eine Republik aus, denkt der Herr Offizier. Der Allerhochste 
Kriegsherr hackt Holz in den Waldern Hollands, dem Kronprinzen 
diktiert ein Jud* Erinnerungen, und vor der Gedachtniskirche demon- 



1922 837 

striert Kanonenfutten Rekruten, die nicht einriickten - hat kein Stel- 
lUngsbefehl sie erreicht? Versagte die Polizei? Wie ging die Ordnung 
Jieses Staates in Scherben! 

Der Offizier tragt einen schonen Anzug aus hellgrauem Tuch, und es 
ist doch nicht der Rock des Kaisers. Wie kann diese Uniform nicht 
R.ock des Kaisers sein? Ist sie aber Rock des Prasidenten - weshalb hat 
jie dann nicht den Schnitt eines Cutaways? 

^ur Linken hangt ein langUches Eisen mit Portepee versehcn, einer 
;ilbernen Quaste, baumelnd wie eine reife Frucht. Auf den Schuhern, 
inks und rechts, wo andere die Verantwortung tragen, ruhen biitzende 
\bzeichen des Ranges. Leise klingen die Sporen, heiser gelaufen auf 
lem repubhkanischen Pflaster. 

Der Herr Offizier geht iiber die Straf5e. Zages Metallgerausch kiindigt 
hn an. Er fiihlt sich fremd in der Welt. Er glaubt, vorwarts zu gehen. 
/erriickt gewordene Uhren zeigen vorgeschobene Stunden. Terrori- 
iten sitzen hinter den Zifferblattern, die Zeiger kiinstUch vorwarts trei- 
>end. 

M^ur im Kasino tickt unbeirrt eine Normaluhr mitteleuropaischer Kai- 
lerzeit. Der Bursche bedient. Das Gerausch seiner zusammenschlagen- 
len Hacken korrigiert das Bewufitsein, das bereits-bei der RepubHk 
ingelangt war. Noch stehen Joseph von Lauffs gesammelte Werke in 
ler BibUothek. Die »Woche« liegt im Lesezimmer. Ein Kaiser aus 
jips steht ungestiirzt auf dem Sockel. Die Kasinowande, akustische 
soHerplatten, bewahren jeden Besucher vor den Schallwellen der Ge- 
;enwart. Pietatswatte steckt der Herr Offizier in die Ohren. Und sein 
•lonokel vermittelt beharrlich schwarzweifSroten Sehstoff der Vergan- 
;enheit dem zufriedenen Auge. 

Vorwarts, 15.7. 1922 



PROSA DER VERSCHWORUNG 

Eine unpolitische Betrachtung 

An alien Litfafisaulen befinden sich die Gesichter gefliichteter Morder, 
Gesichter der Verschworer, geheimnisvoller Verschworer. Niemals 
waren in Deutschland Verschworer so haufig zu sehen wie jetzt. 
Machte sie die Haufigkeit gewohnlich - oder waren sie's von Geburt 
und Natur? 

Hier ein Herr Ankermann, dort ein Herr Fischer, Mit Ausnahme eines 
Privatdetektivs namens Niedrig, der in Sachsen verhaftet wurde, hat 
kein einziger Name der vielen Verschworer irgendeine Beziehung zum 
Verschworer-Hzndwerk. Die Photographien geben gewohnUche An- 
gesichter wieder - keine noch so verbohrte Voreingenommenheit ver- 
mag in der spiefibiirgerlichen Harmlosigkeit dieser AntUtze Kunde 
von verbrecherischer oder nur geheimer Neigung zu lesen. Junge 
Kerls, mit jener billigen Siegessicherheit im BUcke, die ein gutgeschnit- 
tener Anzug, eine sorgfaltig gekniipfte Krawatte, ein gelungenes 
Abenteuer mit einer Frau, eine frisch reparierte Schuhsohle zu verlei- 
hen imstande sind. Solche Bilder, wie sie jetzt in den Steckbriefen zu 
sehen sind, schickt man seinem kleinen Madchen und befestigt durch 
dauernd gemachte Gegenwart des Konterfeis den Sieg des Originals. 
Aber Verschworer? Verschworer stellten wir uns anders vor. Ir- 
gendwo miifite doch die geheime Tatigkeit im Angesicht verhiillt lau- 
ern und durch die Verborgenheit auffallen. Eine Physiognomic hatte 
man zumindest erwartet - und stofit auf einen Typus. Im Auge liest 
man die Entschlossenheit, an der Bildung des Kinns zweifellos Ener- 
gie. Aber es ist die Entschlossenheit des zum Gehorchen Bereiten, 
nicht des initiativ Greifenden. Es ist die Energie des Befohlenen, nicht 
des Befehlshabers. Es ist Tapferkeit in den Gesichtern - die Tapferkeii 
eines klar, aber eng Sehenden. Eine einzige Idee ist imstande, seiner 
Horizont auszufiillen. Auf ihre Richtigkeit kann er sie nicht priifen 
denn er ist autoritatsglaubig. Er hat alle Eigenschaften des »guten Ma- 
ter ials«. 

Er ist also von seiner Idee iiberzeugt und kennt nicht ihre Dimensio- 
nen. Er weifi nicht, ob sie grofi oder klein ist - sie kann nicht kleir 
genug sein, um seinen Gesichtskreis nicht auszufiillen. Er kennt der 
Befehl und dessen Ziel. Die Zusammenhange erkennt er nicht. Er is 



1922 839 

ler Typus des Menschen, der in Kadettenanstalten und Sportvereinen 
jeziichtet wird: brauchbar, lenksam, und wenn man ihm eine be- 
^renzte Selbstandigkeit zugesteht, verantwortungsvoll auf beschrankte 
Dauer, zuverlassig, wenn seinem einfachen Gehirn die Knappheit des 
\uftrages entgegenkommt, umsichtig fiir einen Augenblick der Tat. In 
;einem Unterbewufitsein schlummert vielleicht die Ahnung, dafi ihm 
^ersonlichkeitswert mangelt - deshalb erscheint ihm jede Idee kostba- 
er als sein Leben. Die Individualitat macht sich eine Idee zunutze oder 
^erbiindet sich mit ihr - der Durchschnittsmensch ordnet sich sogar 
ier Phrase unter und geht in ihr auf. Die Personhchkeit schhefit immer 
:inen Kompromif^, wenn sie nicht gerade fiir eine eigene Idee eintritt, 
lie sich dann mit dem Menschen selbst identifiziert - der Durch- 
chnittsmensch erkennt willig der Idee gegeniiber seine Bedeutungslo- 
igkeit an. Deshalb fallt es diesem leicht, sein Leben in die Schanze zu 
chlagen. Aber sein Korper ist jung, und der animaUsche Trieb starker 
lis die Wirkung der Phrase. Deshalb erwacht sogenannte »Feigheit« 
ofort nach dem Ungliick. Nur der Fanatiker hat mit dem korperlichen 
^eben abgeschlossen. Aber auch fiir die Ekstase bedarf es mehr, als ein 
;ew6hnlicher Kadett auf den Weg mitgenommen hat. Ekstatiker sind 
liese Verschworer nicht. 

IS ist iiberhaupt furchtbar viel Prosa in diesen Verschworungen. Kauf- 
eute sind dabei, Fabrikanten, Menschen, die im taglichen Leben ihre 
nateriellen Vorteile wohl zu wahren wissen. Menschen mit zumindest 
ener trockenen Schlauheit, die zum Abschlufi auch des geringsten er- 
olgreichen Geschafts notig ist. Es sind Menschen der Spekulation dar- 
inter, Menschen, die den Wert des »Profits« kennen, Biirger, wahr- 
cheinlich redlich im Erwerb, aber doch immerhin Erwerbende, Ver- 
[ienende, Verheiratete, Familiengrunder, Familienerhalter. 
^an vergleiche diese Tatsache mit unseren gewohnlichen Vorstellun- 
;en von Verschworern: Da sind Zigeunernaturen, vom Elternhaus 
^erbannte, Fluch der LandstrafSe Schleppende, jeder ein Konig im 
leich der Illusion, jeder vom Gedanken zermiirbt, mit Augen, die die 
chlaflosigkeit kennen. 

iier aber ist Prosa, gesunder Schlaf im linnenweif^en Ehebett, geregel- 
ss, vielleicht auch karges, aber immerhin geregeltes Einkommen und - 
ogar der Hunger ist geregelt - Bediirfnisse, die mit den Einnahmen 
teigen und fallen, ohne materielle Differenz, ohne seelische Diskre- 
anz. 



840 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wo ist die Romantik der Verschworung geblieben? Ihre Waffe ist dk 
Eierhandgranate - gefahrlich, aber prosaisch. Ihr Handwerk das Autc 
- sicher und modern. Das Mysteriose der Verschworung ist von dei 
Technik verdrangt, wie die Romantik des Krieges verdrangt war durct 
modernes Kampfwesen. In dieser Zeit ist noch ein »Totschlager« ge- 
heimnisvoli, ein Kniippel aus Gummi und Blei - und auch von den: 
hort man, dafi er bei uns ein »glan2endes Geschaft« sei. 

Berliner Borsen-Courier, 16. 7. 192: 



UKRAJINKUSTARSPILKA 

Ausstellung im Kunstgewerbemuseum 

Dieses komplizierte Wort bedeutet: Verband ukrainischer Heimge 
nossenschaften, und es steht liber der folgenden Betrachtung, wei 
man, das Werk durch die Nennung des Meisters ehrend, dem Werl 
und seinem Schopfer gerecht wird. In der Zeit vom i/.Juli bis zun 
I. August sind die Heimarbeiten der ukrainischen Bauern im Kunstge 
werbemuseum ausgestellt. Einer jener Zufalle, die wie hohere Absich 
anmuten, fiigt es, dal5 fast gleichzeitig an anderm Ort die Ausstellunj 
der russischen Hungerhilfe eroffnet wurde. Das Brot aus Lehm unc 
Erde, das in den Raumen des Russischen Konsulats Unter den Lindei 
zu sehen ist, und die im Kunstgewerbemuseum ausgestellten Erzeug 
nisse einer ebenso naiven wie seelenvoUen Volkskunst stammen au 
den gleichen Gebieten, wenn auch vermutUch nicht aus derselben Zeit 
Der fleil5ige Besucher kann hier lernen, wie ein Volk schafft, dort, wi' 
es hungert. Fiir die traurigen Zustande in der Sowjetukraine spricht di 
Tatsache, daft die »Hungerausstellung« quantitativ grower ist. 
Die Kunstausstellung umfaftte nur wenige Raume. Sie beschrankt sicl 
auf das Charakteristische russischen Kunstgewerbes und auf das in 
Westen etwa zum Verkauf Geeignete. AUe ausgestellten Gegenstand 
wurden von der Zentrale Kleinrussischer Heimarbeitergenossenschaf 
ten in Cherkow ausgewahlt und nach Berlin geschickt. Und es ist zwa 
nicht fiir den kiinstlerischen Wert der Arbeiten bezeichnend, woh 
aber fiir den ethischen, werbenden des Organisationsgedankens, daft ii 
jenem Kleinruftland, dessen landHche Bewohner fast durchweg Anal 



1922 841 

Dhabeten sind, alle Heimarbeiter ihre Erzeugnisse der Zentrale ablie- 
:ern. 

LJnter diesen Erzeugnissen befinden sich tagliche Gebrauchsgegen- 
Jtande primitiver und in Europa an Urzeit gemahnender Form: Spa- 
:en, Wetzsteine, Dreschflegel - sie sind leider in dieser Ausstellung nur 
n Photographien zu sehen. Leider, denn sie sind kulturhistorisch in- 
;eressanter und hierzulande viel weniger bekannt als die in natura her- 
ibergekommenen handverfertigten Hemden mit kostbaren ukraini- 
;chen Stickereien. 

X^eniger bekannt sind Tischgerate wie Messer, Loffel und dergleichen 
lus Holz. Der Griff ist sorgfaltig und liebevoll geschnitzt. Er hat ge- 
vohnlich die Gestalt eines Fisches oder Vogels. Und man lernt an der 
ietrachtung dieser Kleinigkeiten, wie groE der Unterschied zwischen 
vesteuropaischem naturfremdem Kunstgewerbe und jenem naturna- 
len des Ostens ist. Auch in Rufiland ist die Form iiberliefert und allge- 
nein. Aber was bei uns »Klischee«, ist dort Tradition. Dort ist das 
/orbild uberliefertes Urbild. Bei uns erzeugt ein Original tausendfa- 
;he Nachahmung. Dort arbeiten Generationen liebevoll an Formen, 
ieren Ursprung im Wesen der Volksgemeinschaft, nicht in der Phanta- 
ie des einzelnen zu suchen ist. 

!o verrat der geschnitzte Fisch nicht das Talent eines Kiinstlers, son- 
lern eines Volks von Kiinstlern. Und es liegt eine Lebendigkeit in dem 
Vuge solch eines holzernen Tieres. Alle diese Fische blicken ein wenig 
acherlich und komisch und mit stummer Unbeholfenheit. Aus der un- 
)ewuEten Ironie des Kiinstlers gelang diese vollendete Wiedergabe 
liner sozusagen echt fischhaften Stummheit in der riihrenden Trauer 
;efesselten Blicks. 

Wdx mehr als die Holzschnitzereien offenbaren die aus formungsfahi- 
;erem Material hergestellten Ziergegenstande die Verlebendigungsfa- 
dgkeit des Volkes. Da sind Puppen aus Stoff und Wolle: ein Mann in 
Jniform, eine Matrone mit Haubchen und Pelerine, ein Stutzer in vor- 
ergangener Modekleidung, zwei einander begegnende und sich grii- 
iende Personen. Der festgehaltene Ausdruck eines Augenblicks behalt 
elbst noch in der Starrheit Wandlungsmoglichkeiten. Denn er ist mit 
ler Ironie des Schopfers dargestellt, die in der Liebe lachelt und auch 
n Spott liebt. 

/Ian bedenke, daE in der Ukraine ganze Dorfer seit Generationen 
iese Arbeiten herstellen: in den langen Winternachten, wenn das Feld 



842 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

keine Arbeit erfordert. Frauen, Manner, Greise und Kinder schaffen. 
Die Ausstellung ist im Verhaltnis etwas eng geraten - es heifit, dafi der 
Transport schwierig ist-, sie mag also als ein vielfach gelungener Ver- 
such gelten. 

Berliner Borsen-Courier, 18.7. 1922 



KAISERBILDER 



Gesetzt den Fall, es ware den geplagten Agyptern gelungen, die Pha- 

raonen nach Amerongen zu schicken - sie hatten sich nicht einen Au- 

genblick besonnen, die Pyramiden abzutragen. Wenn der Tyrann fort 

ist, wozu das architektonische Andenken an den Tyrannen? Geniigt 

das historische nicht? 

Der deutsche Republikaner ist das Original des Monarchen los, aber 

die Kopie behalt er. Es ist, wie wenn jemand die Frau hinauswiirfe, die 

ihn schmahlich betrogen. Aber ihre Photographie steht auf seinem 

Schreibtisch. 

»Wegen der Erinnerung« entschuldigt sich der Republikaner. Aber 

wenn er erst die abgebildete Schnurrbartspitze des Kaisers sehn mufi, 

um sich an den Weltkrieg zu erinnern - wozu hat er dann die wirkliche 

nach Amerongen geschickt? 

Wenn er das Bild eines Zepters sehen mufi, um die Vorstellung von 

einer Schlachterkeule zu gewinnen, so hatte er das Zepter behalten 

konnen. 

Weshalb hiitet jemand in pietatvoUer Treue die Photographien der 

Skorpione, mit denen er geziichtigt ward? 

Ist das »historischer Sinn«? 

Oh, einseitiger historischer Sinn! Denn der pietatvoUe Republikaner 

hat nicht etwa das Bild des Schlachtbeils, sondern jenes von einem 

verlogen-giitigen Henker. Von der ganzen Hinrichtung bewahrt er nu. 

den herrlichen Scharlachmantel des Scharfrichters und die Marschmu 

sik, die ihn auf dem letzten Weg begleitet. Er sieht nur Pracht de; 

Opferfestes, nicht Opferung. Nur bekranzten Altar, nicht desse: 

Zweck. Hort nur des Priesters Gebet, nicht sein Messerwetzen. Behal 

von seinem Leichenbegangnis nur die Parade im Gedachtnis. 



1922 843 

j'ibe es aber einen gerechten historischen Sinn in den Monumenten, 
;o miifiten die Gipsbiisten der Hohenzollern nicht auf Sockeln stehn, 
;ondern in roter Farbe schwimmen. Solche Darstellungen konnten in 
5chulen, Amtern, Parlamenten aufbewahrt werden. 
xh hebe einen Granatsplitter auf, der aus meinem Oberschenkel ent- 
ernt wurde, in jener Zeit, deren Abfalle Granatsplitter waren. Allein, 
;s wird mir nie einfallen, ein Bild zu behalten, das die festliche Einwei- 
lung jenes Geschiitzes darstellt, dem ich fast zum Opfer gefallen 
vare . . . 

Die Siegesallee aber wird ewig stehen. Und nach 2000 Jahren werden 
^arawanen durch die markische SandwUste ziehen, um der deutschen 
^haraonen Siegessaule zu besteigen ... 

Josephus 
Vorwarts, 18.7. 1922 



DER MANN AUS DEM ALTERSHEIM 



Km Rande der Hauptstrafie in Rummelsburg, wo das Griin einer fa- 
)riklosen Welt bereits heruberzuschimmern beginnt, steht das Alters- 
leim der Stadt Berlin. Es leben dort alte Menschen, wie man weif^. Die 
Vlten haben ihre Vergangenheiten abgelegt wie eine schwere Last, die 
nan bis zum Ziel der Wanderung geschleppt hat, um sie endlich loszu- 
v^erden^ Zwischen dem Altersheim und dem Grabe gibt es kaum noch 
ine Etappe. 

/iele dieser Alten kehren eigentlich zuriick in ihre Versorgungsanstait, 
►ie waren schon als junge Korrigenden dort, wurden entlassen, gingen 
n die Welt, wurden aufgegriffen und heimgeschickt und kamen wieder 
lorthin, woher sie ausgezogen waren. An schonen Abenden sitzen die 
Uten auf den Banken im grofien Park und erzahlen von fremden Wel- 
en, von Mexiko, Spanien und von den vielen Kaps der Guten Hoff- 
lungen, die es in der Welt gibt, den ungeographischen, denen man 
ntgegensegelt und an denen man zerschelk. Das Altersheim ist 
►chicksal. Der Mensch kann noch so weit herumgewandert sein, am 
Lnde landet er in Rummelsbui^. Es Uegt am Ziele jedes Abenteurerle- 
tens. Dem Schicksals-Rummelsburg entrinnt man nicht. 



844 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ein Mann aber lebt im Rummelsburger Altersheim, der hat fiinfzig 
Jahre Tod hinter sich. Was fiir andere das Ende, ist hier der Anfang, 
Das Altersheim ist sozusagen sein Jugendheim. Nach fiinfzig Jahren 
steht er, ein Siebzigjahriger, vor einer neuen Weh. 
Der Mann heifit Georg Burckhard und ist vor einundfiinfzig Jahren 
wegen Beihilfe zum Raubmord zu lebenslanglichem Zuchthaus verur- 
teih worden, Vor kurzer Zeit gelangte er, dank einer guten Laune einer 
hoheren Macht, begnadigt in die Rummelsburger Freiheit. Und vor 
etwa drei Wochen kam er zum erstenmal nach einundfiinfzig Jahren 
wieder in die Weltstadt BerHn. 

Die Schilderung dieses auferstandenen Lebens mag hier stehen, weil 
die Seltenheit des »Falles« die anstofiige Vergangenheit des Mannes 
zwar nicht aufwiegt, aber in den Hintergrund riickt, Seine Missetat ist 
nach gesetzlichen Begriffen gesuhnt; und das Interessante seines 
Schicksals ware ohne Sunde und ohne Siihne nicht gut moglich. 
Georg Burckhard kannte die Stadt Berlin, wie sie vor fiinfzig Jahren 
ausgesehen hatte. Gedachte er wahrend seines langen dunklen Lebens 
dieser Stadt, so sah er eine von Fuhrwerken befahrene Strafie, sah er 
das Ende der Stadt am Potsdamer Platz, erschien ihm Wagenrasseln 
wie grofistadtisches Getose. Fiinfzig Jahre trug Burckhard das Bild, 
das ganz bestimmte Bild dieser Stadt im Bewufitsein. Verstieg er sich 
manchmal, an Fortschritt zu denken, las er in irgendeiner aufgegriffe- 
nen und zufallig in die Abgeschlossenheit hereingeflatterten Zeitung 
von technischen Erfindungen, so zauberte ihm die Phantasie ein vier- 
stockiges statt eines dreistockigen Hauses vor, und sein Auge blickte 
ohne die Hilfe wachsender Wirklichkeiten ein Vehikel vielleicht, das 
sich selbst fortbewegte, Ein Vehikel, dessen SchneUigkeit der eines von 
vier, hochstens sechs Pferden gezogenen Wagens entsprach. Denn 
woran soUte sich sein Bewufitsein klammern als an den ihm vertrauter 
Mafistab? Ein Zugtier bedeutete ihm SchneUigkeit - nie hatte er gese- 
hen, dafi Menschen behender sein konnen als Hasen, Hirsche und Ga- 
zellen. 

Plotzlich entstieg Burckhard der Stadtbahn und stand mitten im zwan- 
zigsten Jahrhundert. Im zwanzigsten? Es miif^te das vierzigste sein 
Mindestens das vierzigste. Wie pfeilschnell, als waren sie abgeschosser 
worden, lebendige Geschosse, flitzten junge Menschen mit Zeitunger 
auf seltsam befliigelten Radern aus blinkendem Stahl die StraEen kreu2 
und quer. Schwarze und braune, gro£e und ganz winzige Wagen glit 



1922 845 

ten kudos iiber das Pflaster. Ein Mann safi im Fond und lenkte ein 
Steuer, als befande er sich im Wannseeboot. Und drohende, tiefe und 
helle, klagende und warnende, quietschende, groUende, heisere, hafi- 
voUe Stimmen drangen aus den Kehlen dieser Wagen. Was riefen sie? 
Mit ihren fremden Stimmen? Was befahlen sie den Fufigangern? Alie 
verstanden es, nur Burckhard nicht. Eine ganz neue Sprache war auf 
der Welt, ein Verstandigungsmittel, so selbstverstandlich, als ware es 
Deutsch - und es waren doch qualende, erschiitternde Urlaute wie aus 
den Anfangen der Menschheit stammende, aus entschlafenen Urwal- 
dern einer Tertiarzeit. Der blieb stehen, und jener rannte rasch, sein 
Leben gleichsam an der Brust bergend, mit eingeklammerten Armen 
quer iiber den Damm. Am Potsdamer Platz war nicht Ende mehr, son- 
dern Mitte. Ein klagender Ton, der Trompete eines Schutzmanns ent- 
stromt, befahl Halt und Vorwarts, eine Volksversammlung von Stra- 
fienbahnen, Wagen, die gewissermafien einander die Brustkorbe platt 
driicken, ein Geflimmer von Tonen, eine gerausch voile, rauschende, 
brausende Buntheit, rote und gelbe und violette Schreie. 
Und wie ein Netz von Drahten iiber den Hauptern aller ein kreuz und 
quer bestrichener Himmel, als hatte ein Ingenieur seine verriickten 
Plane auf einen Bogen Ather gezeichnet. Legte man das Ohr an eine 
Stange, summten fremde Stimmen darin, Gespensterstimmen, als 
schrien irgendwo in Afrika ganz wilde Volkerstamme im Taumel eines 
Blutrausches oder eines gottlichen Festes, und hier in Berlin horte man 
sie. 

Georg Burckhard bekam von mir eine Unter^rundbahnfahrkarte, 
stand ratios auf dem Perron, lieE sich hineinschieben in einen Zug und 
glaubte, die Unterwelt ware verriickt geworden, Schliefen die Toten 
noch ruhig? Schepperten nicht tote Knochen in den Grabern? Teilte 
sich das Getose eines Zuges ihrer Stummheit mit? Wie kam es, da{S die 
Oberwelt nicht einstiirzte? Mufite nicht jedesmal der Asphalt zersplit- 
tern und Tausende Menschen, Wagen, Pferde, Drahte und alle Selt- 
samkeiten hinabstiirzen lassen? 

Georg Burckhard, der Siebzigjahrige, geht wie ein Jiingling durch die 
Welt. Er will arbeiten, Energie, die fiinfzig Jahre schlafen muEte, 
drangt aus dem Korper. Wer wird's ihm glauben? Mitten in der Rast- 
losigkeit darf man nicht stillestehen. Stirbt er? Steht er vor dem Grabe? 
Das Erlebnis des Jahrhunderts spottet menschlicher Gesetze. Das Er- 
lebnis besiegt den Tod. Der Eroberung der Stadt folgt Eroberung der 



846 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Arbeit. Der Mensch, zwischen Maschinen gestellt, mufi Maschine war- 
den. Die galvanisierten siebzig Jahre zappeln, trommeln, schiitteln. 
Burckhard mufi arbeiten. 

Berliner Borsen-Courier, 20. 7. 1922 



»FEDORA« 

Re sidenz theater 

Wegen Mangels zugkraftiger Theaterstiicke fiir die Sommersaison 
»lauft« »Fedora« jetzt auf der Biihne des Residenztheaters, mit Tilla 
Durieux in der Hauptrolie. Ihr liegt es ob, die Auffiihrung des Stiickes zu 
entschuldigen - und indem die Direktion auf dem Theaterzettel ankiin- 
digt: »Tilla Durieux in >Fedora<«, will sie zum Ausdruck bringen, dafi sie 
ohne diese Schaupsielerin niemals auf den Sardou gekommen ware. 
Somit ist des Zuschauers Aufmerksamkeit von vornherein auf das Spiel 
der Durieux beschrankt- und Sardou wird zur Kenntnis genommen wie 
eine bittere Notwendigkeit. 

Die Frage ist nun die, ob es der Durieux gelingt, den Autor und seinen 
Reifier halb vergessen zu machen; der Gestalt der Fedora jene kiinstleri- 
sche Bedeutsamkeit zu verleihen, die Sardou nicht geahnt hat; das Stiick 
zum Vorwand fiir eine Rolie, ihre Rolie, zu machen und seinen Wert 
herabzumindern, um sein Dasein zu retten. 

Das gelang der Durieux nur in dem Mafie, in dem sich iiberhaupt kiinstle- 
rische Wirkung von dem Anlafi zu trennen vermag, der sie ausloste. Das 
ist bei einem Techniker wie Sardou, bei dem Leidenschaften errechnete 
Pointen sind, sehr schwierig. Gelegentlich vergafi man, wenn die Du- 
rieux weinte, dafi des Autors kliigelndes Raffinement diesen Ausbruch 
verlangt. Es weinte ein Mensch, ein Weib. Aber oft und oft behinderten 
die Gesetze dieser Welt Sardous Welt, in der die Konvenienz die gleiche 
Rolie spielt wie das Gefiihl, des letzteren voUkommen freie Entfaltung. 
Die technische Einstellung des Autors rief mehr technische als rein 
kiinstlerische Einstellung des Schauspielers hervor, und man merkte 
Absicht, wo sie storte; wie zum Beispiel in der letzten Szene, in der 
Sterbeszene, in der Tilla Durieux einen meisterhaften Vergiftungstod 
vorspielte - naturalistische Nuancen nicht verschmahend. 



1922 847 

Waldemar Staegemann, seit Jahren zum ersten Mai wieder auf der 
Schauspiel-Biihne - eine Art Sensation in der Sensation-, gab einen 
rundlichen, wohl- und selbstgefalligen Grafen Ipanoff, einen leise 
lachselnden, dem man auf keinen Fall auch nur eine Spur von Russen- 
tum ansehen konnte. Else Wasa vermochte aus der graflichen Witwe 
Soukareff ein leise ironisiertes, kokettes, naiv-raffiniertes enfant terri- 
ble zu machen. 

Die Kammerdiener (Regie Karl Kahlmann) standen Kammerdiener aus 
dem Panoptikum gleich, starr, stumm, und die Wiirde war gewisser- 
mafien aus Pappe. (Georg Wiczorek machte einen echten russischen 
Kutscher.) 

Berliner Borsen-Courier, 22. 7, 1922 



VOLKISCHE STUDENTEN UND 
VOLKISCHES DEUTSCH 



Den Studenten ist es verboten, in Marburg zu »tagen«. Sie »tagten« 
also in Wiirzburg. Sie behaupteten in WuUes »Deutschem Abend- 
blatt«, dafi »die Mehrzahl der Einberufer zwar das volkische Problem 
hochhalten« - eine akrobatische Leistung-, dafi aber auch »die An- 
dersdenkenden Sitz und Stimme haben«5 was allerdings leichter ist als 
das Hochhalten eines Problems. Es berlihrt die Studenten »seltsam«, 
dafi die Studentenschaften, die »vom Kultusminister offentlich aner- 
kannt sind« (auf Grund einer Verordnung des Ministers Haenisch), 
plotzlich nicht mehr »tagen« diirfen - und sie haben iiberdies »keine 
Veranlassung«, den Minister Haenisch »Antisemit zu nennen«. Und 
der Zweck des Studententages ist kein anderer, »als einen neuen Ver- 
such zu machen, die Einigkeit wiederherzustellen^. Die akrobatischen 
Leistungen steigern sich: Denn ist es schon sehr umstandlich, ein Pro- 
blem hochzuhaiten, so iibertrifft die Fahigkeit, gleichzeitig auch die 
Einigkeit wiederherzustellen, alles bisher im Variete Dagewesene. 
Ich habe nie begriffen, wozu deutsche Studenten auch noch »tagen«, 
da sie doch ohnehin miide sein miifiten von den vielen durchwachten 
Nachten. Jetzt aber wissen wir es: Sie wollen die Einigkeit wiederher- 
stellen, und sie haben eine »Mehrzahl, die das volkische Problem 



848 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hochhalten«. Vom Standpunkt der deutschen Grammatik ist die 
»Mehr2ahl« (auch eine volkische) zwar eine Einzahl, die also ein Pro- 
blem (und ware es noch so schwer) nicht »hochhalten«y sondern hoch- 
hdlt. Da aber die Kenntnis der deutschen Sprache gewohnlich jenen 
»Andersdenkenden« eigen ist, die nur »Sitz und Stimme« haben, und 
ferner all jenen Unterrichtsministern, die die Studenten »Antisemit zu 
nennen keine Veranlassung haben«, wollen wir diesmal die korperliche 
Geschicklichkeit, die sich im Hochhalten des Problems kundgibt, statt 
jeder sprachlichen Genauigkeit gelten lassen - vorausgesetzt, dafi die 
Studenten von ihren Versuchen, »die Einigkeit wiederherzustellen«, 
schleunigst ablassen. Allein, sie werden nicht! Sie verwahren sich dage- 
gen, daf5 ihnen »zerstorende Gedanken untergeschoben werden«. Wie 
soli man da noch ein Problem hochhalten, wenn einem fortwahrend 
ein zerstorender Gedanke nach dem andern untergeschoben wird? Die 
Mehrzahl, um im Stil des Volkischen zu bleiben, »halten« das nicht 
aus. 

Die Mehrzahl »tagen« also und machen redUch den Versuch, die Ei- 
nigkeit wiederherzustellen. Welche Einigkeit? Mit den »Andersden- 
kenden«? Mit der deutschen Spache? Mit den »alten Herren«? Etwa 
Einigkeit zwischen dem Rektor der Berliner Universitat und der Re- 
publik? Zwischen den akademischen Behorden und den wegen einer 
Feier fiir die Republik relegierten Studenten? Zwischen Diihringer und 
Wulle? Zwischen Biertimpf, dem Defraudanten - der alle seine Kame- 
raden iibertraf, indem er, volkisches Problem und Kasse hochhaltend, 
den Rektor fast genau so emport hat wie eine republikanische Demon- 
stration-, und den Hohenzollern? Einigkeit zwischen Rossner und 
den Antisemiten? 

Welche Einigkeit woUten die Studenten in Wiirzburg wiederherstel- 
len? Waren wir schlecht informiert? Gab es denn iiberhaupt eine Unei- 
nigkeit zwischen Ankermann und dem deutschnationalen Parteibiiro? 
Irgendeine Uneinigkeit muf^ da gewesen sein, denn die Studenten 
schreien: »Im Interesse des Staatskommissars fiir offentliche Ordnung 
miissen wir annehmen, dafi seinen Schritten voUig falsche Informatio- 
nen dutch eine Seite zugrunde liegen, die daran interessiert ist, die Zer- 
rissenheit andauern zu lassen. « Den Schritten des Kommissars liegen 
also durch eine Seite Informationen zugrunde? Wie konnen Sie da 
noch schreiten, Herr Weismann? . . . 

Vorwarts, 25.7. 1922 



PERSONLICHKEITSRECHT 

Bemerkungen zum Froze jl With elm II. gegen Ludwig 

Der Prozefi Kaiser Wilhelms gegen den Verfasser Ats Bismarckdramas, 
Emil Ludwig, lieK eine Frage zuriick, deren Bedeutung grofi, aber an- 
scheinend unerkannt, weil unerortert ist. Eine Frage, die ihre eigene 
Bejahung schon in ihrer Existenz enthalt und die taglich praktisch ent- 
schieden wird, ohne dafi ihrer Entscheidung theoretisch zugestimmt 
wiirde. Es ist die Frage: Hat eine Personlichkeit, die der Offentlichkeit 
angehort, das Recht, eine offentliche Behandlung ihrer selbst »in Wort, 
Schrift und Bild« zu verbieten, oder nicht? 

Das ist sozusagen die passive Form dieser Frage. In dieser Fassung 
bleibt sie eine mehr juridische als philosophische. Allgemeine Bedeu- 
tung erhalt sie erst in der aktiven Form: Hat ein Schriftsteller (ein Ma- 
ler, ein Photograph) das Recht, lebende PersonHchkeiten, die der Of- 
fenthchkeit angehoren, offentlich zu behandeln, oder nicht? 
Ein Gericht, das iiber diese Frage zu entscheiden hatte, setzte aller- 
dings ebenso Hterarische Einstellung wie juridische Vorbildung vor- 
aus. Dann miifSte cs sich/«> das Recht des Schriftstellers (Malers, Red- 
ners, Photograhen) entscheiden, den formenden »Stoff« nicht nach 
dessen zufaliigem Zusammenhang mit einer personlichen Gegenwar- 
tigkeit zu wahlen, sondern nach seinen sachhchen MogHchkeiten. Es 
miifite entscheiden, dafS die kiinstlerische (wis sens chaftliche) Behand- 
lung eines Lebenden von historischer Position nicht nur erlaubt, son- 
dern sogar geboten ist. Denn nur das materielle Leben des Bedeu- 
tungslosen genieEt - es ist eine Ironie - von Rechts wegen den Schutz 
des Gesetzes. Seine GewohnUchkeit (mit Namen und Stand) in das 
offentHche Leben zu zerren ware nutzlos und grausam. Des Histori- 
schen reale Lebendigkeit aber ist dem Wirkungsgebiet der Gesetze ent- 
riickt, weil seine geistige Existenz sich iiber Gesetz und geltenden 
Brauch erhob. (Ob es wissentHch oder ungewoUt geschah, ist neben- 
sachhch. Ob ihn Verdienst oder blinder Zufall an erhabenen Platz ge- 
stellt hat - er biifSt immer nur fiir die erlittene Erhabenheit.) 
Ausnahmen verpflichten - in grofSerem Mafie jene, die sie begehen, als 
die Umwelt. Wollte ein Kiinstler dieses oder jenes bekannte Waren- 
haus Berlins behandeln - es ware lacherUch, wenn der Besitzer den 
Verfasser wegen »Geschaftsschadigung« verklagte, weil hier und dort 



850 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

eine Stelle im Werk als abfallige Bemerkung ausgelegt werden konnte. 
Das Typische sowohl wie das Einzigartige haben allgemeine Bedeu- 
tung gewonnen, Haben auf ihr privates Dasein verzichtet und sind 
Bestandteile des offentlichen Lebens geworden. Wir diirfen den be- 
riihmten Dichter, den Politiker photographieren wie den Kirchturm. 
Das Ragende ist Objekt fiir den Kiinstler: Erscheinung. 
Tragik der Beriihmtheit: Die Personlichkeit hat die Freude ihrer Tage, 
den Frieden ihrer Nachte verkauft und ihr primitives »Pers6nUchkeits- 
recht«. Sie lebt im Ruhm wie in einem Glaskasten: allezeit und alien 
sichtbar, ohne Zuflucht und Versteck. Flucht ist ihr verboten - nur 
Einsamkeit ohne Alleinsein gestattet. Die nebensachliche Bewegung 
wie die bedeutungsvoUe Geste unterliegen standiger Kontrolle. 

Empfindlichkeit straubt sich gegen das Wissen um Intimitat und Ver- 
borgenheit historisch Bedeutsamer. Kleinlicher Eifer kiimmerlichen 
Forschertums enthiillt Nebensachliches mit iiberfliissigem Pathos. 
Nicht jeder geliiftete Vorgang offenbart eine wertvolle Gewifiheit. 
Ginge es den beruflichen Winkelspahern mehr um die Bedeutung des 
Fundes als um einen Fund iiberhaupt - die »Stoffhuber« der Wissen- 
schaft hatten den Spott nicht zu furchten. AUein, die Technik ihres 
Handwerks verfiihrt zu inhaltslosem Tun. Und wenn sie lange mit 
gieriger Hand nach Schatzen gegraben haben, sind sie froh, Regenwiir- 
mer zu finden. Sie desavouieren ihr Gewerbe in dem Mafie, dafi der 
dem Menschen angeborene Hang, Intimes zu erfahren, einer sehr be- 
greiflichen Teilnahmslosigkeit gewichen ist. 

Wir haben eine solche Menge emsig nach Kleinigkeiten forschender 
Biographen, dafi sie das Interesse fiir Biographien fast ertoten. Sie tra- 
gen die Schuld an einer Menschheit, die unbeteiligt am rein Personli- 
chen der Geschichte vorbeigeht und die Beziehungen zwischen 
MenschUchkeiten und die Haupt- und Staatsaktionen iibersieht. 
Allerdings tragen auch die Bedeutenden einen Teil der Schuld an dieser 
ihrer beziehungslosen Fremdheit zur lebenden Gegenwart. Sie leiden 
unter einer naiven (und versohnenden) »Scheu vor der Offentlichkeit«. 
Sie sehen nicht, daf5 das Fehlen korperlicher Wechselwirkung dem 
Werk schadet, an dem sie arbeiten. Man mu£, im niichtern-wirkhchen 
Sinn: dasein, in der Mitte sein, um den Hauch lebender Krafte zu fiih- 
len und befruchtet zu werden. Wir haben viele sozusagen abseitsste- 
hende Mittelpunkte. 



1922 851 

Nicht zuletzt ist deshalb die oft zitierte »Kluft« zwischen Geistigen 
und Volk vorhanden. Eine unverstandene Literatur - und eine popu- 
lare Reiselekture. Eine Politik - und eine Bierbankpolitik. Ein Theater 
- und ein Dilettantentheater. Eine darstellende Kunst - und eine An- 
sichtskartenkunst: von alien Kulturerscheinungen zwei verschiedene 
Ausgaben. 

Deshalb ist jeder Versuch, das historisch Gewordene menschlich zu 
beleben, dankbar anzuerkennen. Nicht zu oft ist es versucht worden, 
sondern zu wenig. Auch der- vielleicht schmerzhch - Beteiligte miifite 
wissen, dafi es sich um Volkserziehung handelt - sogar durch das Mit- 
tel der - ach! wie verponten - »Sensation«. In Paris hatte der ProzeK 
eines friiheren Kaisers die halbe Bevolkerung herbeigelockt. In Berlin 
geniigten ein kleiner Gerichtssaal und eine einzige Zuhorerbank. Neu- 
gier ist nicht immer schimpflich. Das »Interessante« kann auch lehr- 
reich sein. 

Der BeteiUgte aber mufi sich zu trosten wissen. Ihm hat das Schicksal 
Unsterblichkeit verliehen, oft sogar unverdiente. Er ist »Stoff« ge wor- 
den, Erscheinung, Material. Ob er Werkzeug der Geschichte war oder 
ihr Meister, Objekt oder Subjekt, negativ oder positiv, schadUch oder 
segensreich ~ er gehort der Offentlichkeit. 

Tragik der Beriihmtheit, aber auch ihr Vorteil. Denn wer nun einmal 
2ur Kenntnis genonamen hat, daj8 er beachtet wird, richtet sich sein 
Betragen danach ein. Schlummert das eigene Gewissen, so wacht das 
der andern. 

Ehrgeiz eines Gipfels: auf unerreichbarer Hoh' zu bleiben - weil er 
weithin sichtbar ist. 

Berliner Borsen-Courier, 30. 7. 1922 



RICHARD-OSWALD-LICHTSPIELE 



»Wem nie durch Liebe Leid geschah« ist der Film eines ungenannten 
Verfassers. In diesem Falle ware es gut, ihn zu kennen, nicht nur, weil 
er wahrscheinlich in der Hauptsache fiir den unmoglichen Titel verant- 
wortlich ist, sondern weil sein Manuskript (ausnahmsweise) in einem 



852 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hohen Grade Voraussetzung fiir die Mangel des Films ist. Hier hatte 
kein Regisseur mildern, ausgleichen, besser machen konnen, weil der 
Inhalt nicht nebensachlich ist, sondern die Regie von vornherein. 
Es ist ein Zirkusfilm, wir haben mehrere dieser Art - der voUkommen- 
ste diirfte der schon zwei Jahre alte nach dem Baugschen Roman her- 
gestellte (»Die vier Teufel«) sein. Das Milieu ist immer wieder interes- 
sant, und es ware moglich, originelle Wirkungen aus ihm zu holen - 
auch wenn man nicht, mit uberfliissiger Haufung von Uberraschun- 
gen, aus dem Helden, dem Artisten Alfredo, einen im ersten Moment 
iiber die Entdeckung eines ungeahnten Adels verbliifften, spater nach 
traditioneller Manier edelmiitig auf Rang und Geld verzichtenden 
Grafen gemacht hatte. 

Die Tendenz des Verfassers, es bei dem an sich sensationellen Stoff 
(Zirkus) nicht bewenden zu lassen, sondern auch noch eine hochst ge- 
heimnisvolle Abstammungsaffare offenbar nur deshalb in den Film zu 
mischen, weil - »2irkus allein schon oft dagewesen ist«, mufite die 
Regie von vornherein schwer belasten. Es gait, das Schwei^ewicht des 
Geschehens zu verteilen, da es nicht um einen Mittelpunkt rotierte. 
Nach der Hauptsensation (ein Schufi soil losgehen, der den Artisten 
toten konnte, Rettung im letzten Moment) hinkte die armliche Enthiil- 
lung von der graflichen Abstammung klaglich nach. Der Held war 
nicht »Artist« allein - er war auch »Graf«. Da beide bestimmte Filmty- 
pen sind, deren obligatorische Umrisse fiir den Schauspieler Johannes 
Riemann feststehende Ausdrucksformen sind, gelang es ihm nicht, 
einen graflichen Artisten zu spielen. Er spielte einen Artisten, der 
gliicklich ist, ein Graf zu sein, der sich besinnt, dafi es nun zu spat ist, 
die iiberlieferte Grafengestalt zu spielen, und der gewissermafien in- 
folge schauspielerischer Unmoglichkeit auf Adel und Besitz zugunsten 
seines Sohnes verzichtet. (Den wird Herr Riemann wieder spielen 
konnen - der wird nun nichts mehr als Graf sein.) Regie fiihrte Heinz 
ScholU die Photo graphie Fritz Arno Wagners ist gut. 

Berliner Borsen-Courier, 1.8. 1922 



SONNTAGSREITER 



Die Reiter reiten, trab, trab, den Kurfurstendamm entlang. 
Sie kommen am Sonntagmorgen aus dem Tattersall, wo sie herden- 
weise geziichtet werden, und reiten in der Mitte des Kurfurstendamms 
auf knirschendem Kies, erhobenen Hauptes, ragend bis an das Verdeck 
der Autobusse und die gestutzten Kronen ausgerichteter Baume. 
Die Hausarzte lehren, das Reiten sei gesund, und nach den wochentag- 
lichen Turniibungen auf der Dollarkursschaukel eine wohltatige gym- 
nastische Abwechslung. Korperliches Fett, das sich unheimlich verzin- 
ste, nimmt ab wie der Markwert. Der Mensch reitet sich sozusagen alle 
Zuckerprozente herunter. 

Uniibertrefflichen Glanzes, spiegeln die lackierten Stiefel staunende 
Angesichter der Fufiganger wider und die ganze, bis zur Kniehohe 
reichende Umgebung. Kiihl und hart schmiegt sich Lack an die Wei- 
chen des Rosses - symbohsches Gleichnis Uebevoller Unterdriickung. 
Der Reiter, erhaben iiber die Umweh, von vier fremden Fiifien getra- 
gen, plaudert mit dem Herrn zur Rechten. Unmoghch, ein Wort zu 
verstehen. Die Leute spazieren geradeaus in die Luft hoherer Regio- 
nen. Wovon mogen sie wohl reden? Von Rollmopsen, freibleibenden, 
lagernd im Danziger Hafen? Von Zoll und Fracht und Dividenden und 
mattem Verlauf der New Yorker Borse? Von Gesetzen zum Schutz 
der Repubhk, der Hoffnungen berittener Untertanen zerstort? Von 
der grofien Zeit der Lieferanten, die Heu Ueferten und Pferde, Kano- 
nen und Menschenzubehor? Vom Konkurs in Amsterdam, vom Kaiser 
in Doom? Von ihren eigenen Erinnerungen an den Kronprinzen oder 
von denen Rosners? 

Es mufi ganz wunderbar sein, aus der Hohe ritterlicher Sicherheit un- 
gehort sprechen zu konnen und im Rhythmus sanfter Rossehufe Fett 
und Arger vom Herzen zu schiitten. Die Pferde bemiihen sich, leise 
aufzutreten, als hatten sic sich Gummiabsatze an die Hufe genagelt. Sie 
bleiben im Schritt und achten gegenseitig streng darauf. Wenn eines 
aus dem Schritt faUt, ist es unsterbUch blamiert. Sie nicken alle mit den 
Kopfen, es ist, als wollten sie unaufhorlich »]a« sagen. Ich glaube, sie 
sind gliicklich, von Herrschaften geritten zu werden und Scheuklap- 
pen zu tragen. Auf keinem Proleten der Welt lafSt sich so trefflich rei- 
ten. 



854 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Herrschaften reiten, gemachlichen Trabes, in den Tiergarten. Fri- 
sche Morgenkiihle, die den Schlafer auf der Bank weckte, umfachelt 
ihre Haupter. Freeh und ahnungslos lafit ein Spatz auf die muskelge- 
polsterte Herrenschulter wohlverdaute Regenwiirmer fallen. Die 
Hand, im hohen Lederhandschuh steckend, strafft die Ziigel. Ge- 
kriimmte Schenkel nahern die blanken Sporen bedenklich dem brau- 
nen Pferdeleib. Trab wandelt sich in Galopp. 

Da, hart am Rande der Allee, steht ein Zeitungshandler. Die Herr- 
schaften reiten im Schritt. Fine Hand aus gelbem Wildleder streckt 
sich dem Moi^enblatt entgegen, entfaltet es, und der Blick sucht zwi- 
schen Spalten in Petit die Obligationen der Bagdadbahn. Aus wochen- 
taglicher Niederung ist das Geschaft emporgehoben in ritterliche 
Hohe. 

Zwischen dunklem Griin, von feme her, griifit der weifie Marmorsom- 
merhut der Kaiserin Auguste Viktoria. 

Vorwarts, 2. 8. 1922 



NACHRUF AUF DEN LIEBEN LESER 



Eine Kunde, bei der niemand zu erschrecken braucht: 
Der liebe Leser ist gestorben, Es leben nur noch Leser schlechthin. 
Die Autoren, die ihn einst geschaffen, haben ihn riicksichtslos ver- 
schwinden lassen. Er lebte Jahrhundertelang. Ein Sammelbegriff, 
unsichtbar, unhorbar, mit keineni Sinn zu erfassen und dennoch ge- 
genwartig. Bestandteil einer Vorstellungswelt, dennoch wirklich und 
leibhaftig. Tausendgestaltig, veranderlich und trotzdem konstant. Li- 
terarische Entwicklungen uberlebte er hartnackig. Generationen von 
Schriftstellern starben dahin in Vergessenheit, ewige Werke zerfielen 
in Staub - der Uebe Leser lebte. 

Er lebte als Objekt einer standigen Apostrophierung, dienstbereit in 
der Einsamkeit des Schaffenden nahm er Korper an und vermittelte 
Aufienwelt, stellte lauschende Zuhorerschaft dar und fiillte mit nahezu 
leibHcher Warme die kiihl isolierte Welt des Dichters aus. 
Jetzt ist er tot, und die Dichter schreien ihre Verse in eine taubstumme 
Leere. Sie rufen wie in einen verhexten Wald, aus dem kein Echo kom- 



1922 855 

men kann, und ihre Worte erstarren oder zerstauben in viele Millionen 
Atome und gehen in die Bestandteile der Luft ein und wandeln sich in 
Elektrizitat, Wolken, Wasser, Atmosphare. 

Der Leser schlechthin, der Leser ohne Attribut, nimmt das Wort nur in 
der gedruckten Gestalt auf, Produkt aus Papier und Druckerschwarze, 
und fiigt es seinem Bewufitsein ein oder vergifit es im Drange der Ge- 
schafte. Um den Spender des Worts tragi er keine Sorge. Er kennt den 
Erzeuger der geistigen Ware nicht, die er im Laden gekauft hat, Er kennt 
doch auch den Namen des Fabrikanten nicht, dessen Seife er erstanden 
hat. Der Leser ohne Attribut kauft Worte, wenn er Bedarf hat. 
Der Hebe Leser aber war anders. Uber zehntausend Meilen hinweg 
korrespondierte seine treue Seele mit dem Dichter. Der safi in benei- 
denswerter Dachkammerabgeschiedenheit und wufite, dafi sein Einfall, 
kaum geboren, schon bereitwilligen Empfang erwarten darf, herzliches 
Gehor und Uebende Umarmung. FHnk schrieb er ihn nieder. Und in 
diesem Augenblick erzitterte ahnungsvoU das Herz des lieben Lesers 
und bereitete sich vor auf das Wort, in Sehnsucht und Ergebenheit. 
VerschiedentUch konnte er aussehen, der Hebe Leser: Er konnte jiinger 
sein oder alter, bartig und bartlos, mannUchen oder weibHchen Ge- 
schlechts sein, sanftmiitig, zornig, gelassen oder hastig. Irgendwo war er 
nur Leser, nichts als Heber Leser. Man schrieb fiir ihn und kannte ihn. 
Fiir ihn produzierte man wie auf Bestellung. Er war »Kundschaft«, treu 
oder treulos, aber immmer lieb. 

Die Apostrophierung iiberlebte allerdings noch lange Jahre ihr Objekt. 
Der Hebe Leser war schon langere Zeit verschoUen, und man rief ihn 
immer noch an. Er stand in der Zeile wie ein ausgewanderter Abonnent 
im ahen Telephonbuch, Man rief ihn an, und nichts meldete sich. 
Eine Floskel war er geworden, eine Redewendung, eine Formel, eine 
Apostrophierungshiilse ohne Inhah. Eine rhetorische Uberfliissigkeit. 
Ein rhythmischer Luxus. 

Als die SchriftsteHer die VergebHchkeit ihrer Anschlufibemiihungen, 
spat genug, feststeHten, horten sie auf, verschoUene Namen zu rufen, 
und wurden zuriickhahend, kiihl und sachHch. 

Manchmal ruft hier und dort einer noch den Heben Leser an, aber es ist 
nur Ironie, Folge verdrangter und durch Scham gehemmter HerzHch- 
keit. Eine Anrufung des Heben Lesers bedeutet gerade das Gegenteil, 
etwa: Du bist mir ein Heber Leser!!! 
Es gibt nur noch Leser. 



856 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Seitdem er sein schones Attribut abgelegt hat, ist der Leser Empfanger 
ohne WiderhalL Fertiges Wort mifit er kiihl und wagend, und ent- 
scheidend ist sein Bedarf (an Gedanken, Warme, Gefiihl, Psychologic) 
fiir den Ankauf. 

Er Hebt den Autor nicht und nicht dessen Erzeugnis. Er braucht es 
oder braucht es nicht. (Meist braucht er es nicht,) Infolgedessen ist das 
Personliche iiberfliissig. Eine private Wendung wirkt wie eine verlet- 
zende Intimitat. Kleine MenschUchkeit, die sich verrat, nimmt Dimen- 
sionen einer unpassenden Beichte an. Ein nebensachliches Gestandnis 
ist wie eine plump herausgeschriene Verschwiegenheit. 
Der Tod des »lieben Lesers« bedeutet Stilwandlung von Grund aus. 
Ein Emblem ist verschwunden - aber es bedeutet Anderung des Sy- 
stems. Es bedeutet Bruch mit der »romantischen Ironie«, die den Er- 
zeuger hoher werten liefi als das Werk. Drangte sich iiberall zwischen 
den Zeilen das Angesicht des Dichters auf wie diesem in seinem Ma- 
nuskript jenes liebe des Lesers, so verfallt heute nichts so sehr der La- 
cherlichkeit wie das Verraten seines Gesichtszuges. Statt des menschli- 
chen Merkmals wiinschen wir Merkmale der Personlichkeit. Das Bio- 
graphische des Schopfers, von ihm getrennt und unabhangig, aus sei- 
nem Werk verschwunden (und iiberfliissig, insofern es vorhanden), 
verfiel dem besonderen Gebiet forschender Wissenschaft oder illu- 
strierter Zeitschrift. 

Dem lieben Leser durfte ein Interesse fiir den Rock des Dichters und 
seine familiaren Verhaltnisse noch zugemutet werden. Dem Leser 
ohne Attribut nicht. Jener konnte sich noch »seinen Dichter« vorstel- 
len, wie er lebt, ifit und trinkt. Diesen kiimmert hochstens das Portrat 
des Dichters in der Wochenschrift. 

Hat sich so der Leser gewandelt - der Schriftsteller hielt nicht mit ihm 
Schritt. Wahrend er noch fiir den lieben Leser schreibt - auch, wenn er 
ihn nicht apostrophiert- wird er von der neuen Generation mifiver- 
standen. Erntet er Undank, so kann er sich nicht mit vollem Recht 
beklagen. 

»Stil« wird bestimmt durch das Verhaltnis des Schaffenden zur Um- 
welt. Anderung des Stils bedeutet Anderung dieses Verhaltnisses. 
In der Literatur wird vergeblich um passenden Ausdruck gerungen 
werden - so lange, als man nicht erkannt haben wird, dafS die Welt 
andere Stimmen zu vernehmen geboren ist, als die zu ihr dringen. 
Spricht etwa der Erfinder eines modernen Apparates durch sein Werk 



1922 857 

Menschliches? Erkennt man das Angesicht des Ingenieurs aus der Ma- 
schine, die er erbaut hat? Wo verrat sich sein Privates? Wo offenbart er 
Geheimes? Kennt sein technisches Erzeugnis den Schnorkel? Hat er 
den Ehrgeiz, personHch zu wirken? 

Dem Dichter aber haftet die »romantische Ironie« ewig an. Das Wort, 
blutvoUer, menschlicher als Eisen, Stahl und Rad, verrat immer die 
Menschlichkeit seiner Entstehungsstatte. 

Der neue Stil wird aus der gewaltsamen Verdrangung der privaten 
Menschlichkeit aus dem Werk erstehen. In hundert Jahren wird man 
vielleicht der Sitte spotten, die einem Dichter befahl, sich auf die 
Buhne fiihren zu lassen zum Zweck einer Verbeugung und personli- 
chen Reverenz vor gesammeltem Premierenpublikum. Beklatschte es 
seine zufallige und nebensachliche menschliche Erscheinung? Es lobte 
nur sein Werk. Seine Neugier, den Schopfer zu sehen, war nur mo- 
mentan und irrtiimliches Hangen an alter Tradition. 
Die Offentlichkeit mufi diese ihre Neugier dampfen, um den Schaffen- 
den nicht zu irritieren, der bereits im Begriff ist, ganz hinter seinem 
Werk zu verschwinden. Der »liebe Leser« muf^ gewissermafien seine 
eigene Richtexistenz bescheinigen. 

Berliner Borsen-Courier, 6. 8. 1922 



PARADOXIE 



Entlehntes Motto: »Das Lamm spricht: Wer dieses Buch ernst 
nimmty der willj dafi ich mich Uher ihn lustig mache.« 

Dieser Satz steht in dem Buch, das Veranlassung nachfolgender Be- 
merkungen ist, nicht etwa am Anfang, sondern am Ende. Ein Buch, 
dessen Zweck Paradoxie um jeden Preis, dessen Spott nicht kiihn ge- 
nug ist, um auf eine Entschuldigung in Form eines Mottos zu verzich- 
ten, tragt dieses natiiriich nicht am Anfang, sondern am SchluE. Trotz- 
dem bleibt ein Motto auch auf der allerletzten Seite ein Motto, und 
eine Entschuldigung, die sich die Ausdrucksform eines kraftvoUen 
Ubermuts geliehen hat, verrat, dafi sie einer Unsicherheit entstammt. 
Es besteht nicht die Gefahr, dafi jemand »dieses Buch ernst nimmt«, es 



858 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

besteht nur die sehr geringe Gefahr, dafi der Verfasser sich iiber je- 
manden »lustig machen« konnte. Diese Gefahr ist schon deshalb ge- 
ring, weil es kaum jemanden gibt, iiber den sich der Verfasser nicht 
bereits lustig gemacht hatte - wie eben das Buch beweist. (Ewald 
Gerhard Seeliger ist der Verfasser, das Buch heifit »Handbuch des 
Schwindels« und ist im Miinchner Weltbiicherverlag erschienen.) 
Aber das Buch beweist auch, wie wenig gefahrUch dieses Sich-lustig- 
Machen des Autors sein kann. Denn der Spotter von Beruf unter- 
scheidet sich vom pastoralen Philister nur in der Ausdrucksweise. 
Der blind Glaubige und der wahllos Hohnische sind einander naher 
verwandt, als sie beide zugeben wollen. Der eine ist ebensowenig kri- 
tisch wie der andere, Ob man einen ZyHnder tragt oder eine Narren- 
kappe ist eigentlich nur Sache des personHchen Geschmacks. Zwi- 
schen jenem, der jede Erscheinung mit frommen Spriichlein, und dem 
andern, der sie mit SchellenkHngeln begleitet, ist ein geringer Unter- 
schied: ein akustischer. 

Es gibt ein PhiHsterium der Boheme. Wenn der Bohemien tradition- 
gewordene Laune zum Lebensgesetz erhebt, gleicht er dem Spiefier, 
der innerhalb der Schranken seiner gesellschaftHchen Welt zu bleiben 
angstlich bemiiht ist, Ein Mensch, der nur aus Opposition Schnaps 
trinkt und Arbeit meidet, ist ein »umgekehrter« Spiefien Wenn der 
Herr SeeUger hohnt, hort man fast einen autoritatsglaubigen Toren 
predigen. Wie der Bohemien ein Philister wird, wenn er Gesetzlosig- 
keit in starres Gesetz wandet, so wird der Satiriker ein Pathetiker, 
wenn er den Spott zum Prinzip erhebt. 

Der Verfasser gibt in seinem »Handbuch des Schwindels« eine Art 
Lexikon, ein alphabetisch geordnetes. Es beginnt mit dem Wort 
»Adam«: »Adam nicht der erste Mensch, sondern der erste Sklave.« 
Es schliefSt mit der Erlauterung des Wortes: »Zwist«: »Zwist, Unei- 
nigkeit, Streit. Da die freie Menschheit die Zerdenkung jeder Streit- 
moglichkeit ist..,« Die Erklarung fur das Wort »Zerdenkung« aber 
fehlt in diesem Lexikon. 

Es ist, als ware das Alphabet dazu da, Satire zu veranlassen. Als wa- 
ren die Begriffe dazu da, die Namen, die Worte und die Dinge: Facile 
est, satiram scribere (»Es ist leicht, eine Satire zu schreiben«) ware ein 
passendes Motto fiir Seeligers »Handbuch«. Nichts leichter, als zum 
Beispiel »Zeremonie« so zu erlautern: »FeierUcher Volksbeschumm- 
lungstrimm, hoch kirchlich-staatliche Faxenmacherei.« Wem erzahlt 



1922 859 

es der Seeliger? Um wieviel mehr Verdienst erwurbe er sich, wenn er 
uns sagen wiirde, was das ist, ein »BesclimummelungstnVnw«? 
»Philosophie« ist »Wortglauberei, Denkzauberei, Danebendenkerei, 
Wahrheitsverbauerei. Alle Philosopher! von Plato bis Nietzsche waren 
Verzapfer von Falschgedanken.« - »Pogrom« ist »westostHche und 
nordsudliche Menschenmetzelei, staatliches Judenschlachtfest«. Von 
den zwei hier zitierten Erlauterungen ist die erste kiihn, die zweite 
billig. Wenn der Verfasser glaubt, dafi seine Drohung mit dem Spott 
Jemanden hindern konnten, das Buch (nicht »ernst«, sondern) lacher- 
lich 2u nehmen, so irrt er. Das »Pogrom« kann er zwar biUig erklaren, 
aber richtig. Die »Philosophie« kiihn, aber falsch. Wenn er zum Schlufi 
wiinschte, man mochte beides nicht »ernst nehmen«, so bittet er nicht 
nur die Philosophen um Verzeihung, sondern auch die Pogromi- 
sten . . , 

Mag man aber immer noch glauben, dem Autor sei schUefilich »alles 
egal« und alles nur geschaffen, um in seinem »Handbuch« Aufnahme 
zu finden, so wird man doch schwerUch annehmen diirfen, dafi ihm 
auch - Ewald Gerhard Seeliger gleichgiiltig ist. Denn noch vor Shake- 
speare, der vom gerechten Alphabet auf Seite 171 versetzt wurde, liest 
man auf Seite 170 folgendes iiber den Verfasser: »Seeliger, Ewald Ger- 
hard (abgekiirzt Ewiger), der allergewohnlichste Mensch, der denkbar 
gemeinste, lacherlichste, lustigste Kerl, der richtig verriickte Dichter, 
der allervergniigteste Wahrheitssucher, -zusammenerfinder, -auf- 
schreiber und -sprecher. . . der Zweihander ohne Widerspruch.« Und 
das soil ihm einer nicht glauben! . . . 

Man entgeht der Lacherlichkeit nicht, wenn man sich selbst lacherlich 
macht. Selbstironie ist noch kein Schutz vor fremder. Wer hohnend 
iiber sich selbst spricht, beweist noch lange nicht, dafi er klug ist. 
Es ist ein Zeichen der kiinstlerisch impotenten Zeit, dafi ihre Kiinstler 
Werke schaffen, um diese scheinbar zu negieren. Wenn sie nach einer 
hemmungslos hervorgestrudelten Arbeit durch einen (noch so guten) 
Witz ausdriicken woUen, da£ die Arbeit lacherlich, vergeblich oder gar 
nichtexistent ist, so gleichen sie einem, der mit einem Kieselstein iiber 
ein beschriebenes Blatt Papier streicht und dann behauptet, er hatte 
alles wegradiert. Auch die witzkraftige Impotenz ist aufdringlich. 
Auch jene, die unaufhoHich versichert, sie stunde selbst weit iiber dem 
Zeug, das sie hervorgebracht hat. Sie versichert es so lange, dafi sie in 
den Verdacht gerat, sie hatte sich auf alle Falle gegen jeden Angriff 



86o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

versichern woUen. Und auch, wenn man seine elgene Schwache ironi- 
siert, hat man sie noch nicht aus der Welt geschafft . , . 

Berliner Borsen-Courier, 13.8. 1922 



DAS GEHEIMNIS VON SPANDAU 



Spandau ist eine Festung. Wer es noch nicht gewuf5t hat, erfahrt es auf 

der Fahrt dorthin. Er sieht durch die triiben Scheiben der Strafien- 

bahnwagen Reste einer alten Festungsmauer und fiihlt, wenn er ein 

Patriot ist, heiiige Schauer der Vergangenheit durch jene Schiefiluken 

und -scharten wehen, durch die einstmals spahender Blick und ver- 

nichtendes GeschoE flogen. 

Schliefit der Betrachter aus solchen morderischen Zeichen verschwun- 

dener Zeit, dafi Spandau eine Festung gewesen ist, so ist sein Schlufi 

falsch. Spandau ist immer noch eine Festung. Spandau hat eine eigene 

»Festungsverwaltung« und eigene Pionieroffiziere, Stabsoffiziere von 

Rang, getreue und bezahlte Hiiter einer toten Sache. Die Festung ist 

heute nutzlos, war es schon im Kriege, was macht man auch mit einer 

Festung in Spandau? Ist sie ein Schutz gegen die Einwanderung uner- 

wiinschter Elemente aus dem Osten? Will man etwa aus den Span- 

dauer Schiefischarten mit Haubitzen auf jiidische Hausierer aus Lublin 

schiefien? 

Vielleicht hatte die Festung noch einen kiimmerlichen Sinn, als der 

franzosische Goldschatz im Juliusturm lag. Heute ist der Juliusturm 

leer; mit dem Goldschatz hat man einst den Krieg verlangert. 

Das Geheimnis von Spandau^ mufi man wissen, ist aber noch heute der 

Juliusturm. 

Er sieht bescheiden und unscheinbar aus, fallt hochstens dank seiner 

Plumpheit auf und erinnert im Aussehen an ein steil aufgerichtetes 

iiber^rofies Schiefirohr einer steinalten Kanone. 

Man geht durch zwei, drei Strafien, um in seine Nahe zu gelangen. Die 

Strafien sind weit, aber grau, es sind Strafien einer modernen Fabrik- 

stadt, in der die Baumeister auf Hygiene achten und der Betrieb ihre 

Bemiihungen zuschanden macht. Diese Strafien, in denen die Sauber- 

keit nichts hilft, weil sie die Folgen der Arbeit nicht aufheben kann. 



1922 86i 

Die Strafien mit viel Luft, aber mit viel rufiiger, rauchgeschwangerter 
Luft. Mit viel Licht, aber mit viel verschleiertem Licht. Mit einem hier 
und dort auftauchenden Griin, das blaC und grau wird von den Mil- 
liarden Staubmolekiilen, mit denen die grofien Schornsteine Spandauer 
Lungen fiittern. Und mitten zwischen ganz gewohnlichen Hausern, an 
deren Fenstern intime Bettwasche veroffentlich wird und Familien- 
reste sich liiften, mitten zwischen einer sehr armen AUtaglichkeit steht 
breit und plebejisch das Geheimnis von Spandau: der J ulmstHrm, 
Er ist ungefahr drei Stockwerke hoch und so dick, dafi ihn eine aus 
zwanzig Mannern gebildete Kette umfassen konnte. Aus einfachen 
Quadersteinen ist er errichtet, kunstlos und zweckmafiig. 
Lange Jahre lag drinnen der neuzeitliche Nibelungenschatz des deutschen 
Volkes. Dreifiig goldene Millionen barren sich im Innern des Juliustur- 
mes. Von seinem Anblick ging jener geheimnisvoUe Schauer aus, der alles 
umweht, was Geld besitzt. Er war gewissermaEen der Stolz der Nation. 
Ich sah mir lange diesen Juliusturm an. Er lebt von seiner goldenen Ver- 
gangenheit. Zeichen einer glorarmen Gegenwart, wird er immer noch von 
der Festungskommandantur gehiitet, als hatte er noch was in seinem 
Bauch, symbolisch fiir die Als-ob-Weltanschauung einer Menschheit, die 
Gefafie ohne Inhalt bewacht, ausgehohlte Schalen, in ihrer stummen 
Ergebenheit riihrend, traurig auch in ihrer Gedankenlosigkeit. Der 
Juliusturm ist sozusagen der Klageturm von Spandau. 
Sein Eingeweide besteht aus einer Wendeltreppe. MogHch, dafi noch 
ein paar Pulverfasser einer Zeit barren, in der sie explodieren diirfen. 
Was ist Gefahrliches an einer Wendeltreppe? An Pulverfassern, denen 
es verboten ist zu explodieren? 

Manchmal bekommt man eine unbezwingUche Neugier, einen hohlen 
Turm zu beschauen. Man konnte dann vielleicht aufklaren, von 
Nachteulen erzahlen, schlafenden Fledermausen, verschwundenem 
Abglanz goldener Milhonen. 
Die Festungsbauverwaltung Spandau aber schreibt; 

Auf Ihre Eingabe vom . . . teilt Ihnen die Festungsbauverwaltung 
mit, daft eine Besichtigung des Julmsturms aus militdrischen 
Grunden nicht gestattet ist. 

(Unleserliche Unterschrift) 
Oberstleutnant 

Pionieroffizier der Festung 



S6l DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Befiirchtet man eine Belagerung Spandaus, der koniglichen Festung? 
Glaubt man etwa, dafi die deutsche Republik Anstalten macht, sie zu 
erobern? 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 19. 9. 1922 



DER GUT ANGEZOGENE HERR 



Der gut angezogene Herr kommt bereits in den Zonen der gemafiigten 
Bourgeoisie vor. In zahlreichen Exemplaren und verschiedenen Schat- 
tierungen ist er in den Strafien Berlins zu sehen und in den Modejour- 
nalen, in denen geistige Arbeiter sozusagen aus der Not der deutschen 
Presse die Tugenden des gut angezogenen Herrn herauszuschlagen be- 
miiht sind. 

Der gut angezogene Herr unseres Jahrhunderts schont seine Schultern 
gegen Druck einer eventuellen Verantwortung durch die soi^liche 
Schicht an entsprechender Stelle eingenahter Watteiine, Dadurch er- 
weckt sein Oberkorper den Eindruck einer knockout-trotzenden 
Mannlichkeit, 

Der kurze Halskragen, den fiirchterlich auf- und abroUenden Adams - 
apfel freilassend, weist mit zwei scharfen Spitzen in das Innere der 
Waste. 

Der »Selbstbinder« hat haufig die auffallende Farbung eines kiinstlich 
mit Lineal und Zirkel gezeichneten Feuersalamanders. 
Auf dem Kopf tragt der gut angezogene Herr einen breitrandigen Filz- 
hut, dessen Mitte von einer im inneren Hohlraum sitzenden Schnalle 
zusammengehalten wird. 

Ein seidenes Taschentuch lugt mit vioietter Leiste aus der linken obe- 
ren Rocktasche. 

Ab warts verjiingt sich der gut angezogene Herr. Seine Hose, um die 
Oberschenkel noch schlotternd, wird schmal in der Nahe des vio- 
lett bekleideten und iiber dem Halbschuh sich erhebenden Fufikno- 
chels. 

Die Kiirze der Hose mildert den gewaittatigen Eindruck des oberen 
Menschen und reduziert gerechterweise die Personlichkeit zum Jung- 
ling, der den Kinderhosen kaum entwachsen ist. 



1922 86} 

Die Halbstiefel sind gelb und braun und haben flache Absatze, die den 
gut angezogenen Herrn zwingen, sein Schwergewicht der Ferse anzu- 
vertrauen. Das Ubt er mit Eleganz und Ausdauer in vielen abendlichen 
Foxtrottstunden. Denn das Natiirliche verschmaht er gewifi, wiirde es 
ihm nicht auf dem Umweg iiber die Mode beigebracht. 
So schiebt der gut angezogene Herr iiber die StraEe mit rudernden 
Armen, die die Ahnlichkeit seiner spitzen Schnabelschuhe mit Kahnen 
bedeutend verstarken. Rehlederne Fiandschuhe von kanariengelber, 
geradezu zwitschernder Farbe verbergen die polierte Manikiirtheit sei- 
ner restlos untatigen Hande. Von seiner Handschuh-Arbeit lebt der 
gut angezogene Herr. 

Mit Vorliebe lafit er sich auf aussichtsreichen Cafeterrassen nieder und, 
wenn es kalter wird, in der Fensterecke hinter einer glatten Spiegel- 
scheibe, durch die er gern die Welt betrachtet. Da sieht er einen hum- 
pelnden Kriippel, dort einen blinden Bettler, driiben eine hastende Na- 
herin. Diese konnte man ansprechen, jene beschenken. Ein Blick auf 
die Warmeskala der Devisen im eben erschienenen Abendblatt iiber- 
zeugt ihn von der Sicherheit seines Wohlergehens. In zeitlicher Paral- 
lele zum Dollar macht er Karriere. Die Straflichkeit seines Lebens ist 
niemals strafbar. 

Skeptisch blattert er in den Journalen der eleganten Welt, deren Ge- 
genstand er selbst ist. Was soil er ihnen fiir die Wintermode vorschrei- 
ben, auf dafi sie es ihm wieder vorschreiben? Sollen die Kragenspitzen 
noch mehr auseinanderstehen? Soil ein buntes oder einf aches Band den 
Hut zieren? Zwischen einer perl- und einer dunkelgrauen Hose 
schwankt er unentschieden, bis ihn der Klang seines Leibtwosteps aus 
fruchtlosem Sinnen rei£t. 

Seine Gedanken wandern Marys seidenen Striimpfen entgegen, die er 
in dieser Saison zu lieben gedenkt. 

Vorwarts, 20. 9. 1922 



DIE GRAUE KARTE 

Ein Wohnungsamti von dem wenige wissen-Aus- und Inlander 
Wo man noch ansteht 

Niemand weifi, woher sie kam, die graue Kane. Niemand weifi, wann 
sie kam. Plotzlich war sie da. In dem entlegensten Winkel eines ver- 
staubten Biirokratenhirns oder in der ehrgeizigen Brust eines, der sich 
hervortun wollte, entstand der Gedanke, an irgendeinem griinen Tisch 
wuchs die Karte und ward grofi. 

Die graue Karte ist sozusagen - hier sei eine poetische Farbenblindheit 
gestattet - der gelbe Fleck der Auslander. Niemand weifi, wozu sie gut 
ist. Denn die Auslander erkennt man erstens an der Valuta - wenn 
schon an nichts anderem-, und zweitens hegen nur wenige Auslander 
den Ehrgeiz, sich ausgerechnet durch jene graue Karte kenntlich zu 
machen. 

Aber selbst wenn sie den Ehrgeiz hatten, so verspurten sie doch bei der 
niedrigen Temperatur und der Trostlosigkeit eines Berliner Innere- 
Stadt-Morgens wenig Lust, in den Besitz einer so hohen Auszeich- 
nung, wie es die graue Karte ist, zu gelangen. Sie ziehen es vor, entwe- 
der einen Rechtsvertreter oder eine Vermieterin oder einen anderen 
Inlander, der fur gutes, fremdes Geld seine eigene Nachtruhe opfert, in 
die Neue Friedrichstrafie 80 zu schicken. Am liebsten kiimmern sie 
sich gar nicht um die graue Karte. Denn es steht sonderbar um die 
Erlasse und Verfiigungen der Berliner Behorden: Wenn man sie igno- 
riert, schaden sie nichts. (Das wissen nur die Berliner noch nicht) 
Sagte ich »Nachtruhe«? 

Jawohl. Denn das Wohnungsamt in der Neuen Friedrichstrafie hat 
seine Amtsstunden nur von acht bis elf Uhr morgens bzw. vormittags. 
Und man mufi um halb sieben Uhrfriih vor den verschlossenen Toren 
des Wohnungsamtes stehen, um gegen neun Uhr »abgefertigt« werden 
zu konnen. 

Nur wer aus Interesse an den Leiden der europaischen Menschheit und 
ohne private AnHegen zu haben sich um halb sieben Uhr friih vor ein 
verschlossenes Wohnungsamt begibt, vermag die traurige Poesie eines 
Berliner Morgens zu verspiiren. In der Luft schweben noch Stimmen 
von gestern, der Klang eines betrunken torkelnden Schritts, das fast 
menschliche Achzen eines schweren Lastfuhrwerks, an dessen riick- 



1922 865 

wartiger Seite ein trauriges Nachtlampchen baumelt wie ein armes halb- 
ausgeronnenes Aug'. Ein ubernachtigter Schutzmann frostelt und ver- 
sucht vergeblich, sich im aufgeschlagenen Mantelkragen zu verbergen. 
Arbeiter schreiten mit schweren Fiifien zur Fabrik. Strafienmadchen 
lugen mit der Kraft letzter Hoffnung nach zahlungsfahigen Passanten. 
Um diese Zeit schlurfen die ersten Petenten vor das Wohnungsamt. Es 
gehort zu den ungeschriebenen Gesetzen jeder »Ansteherei«, dafi ihre 
Opfer nicht Wohlhabende sind, sondern durchwegs Mittellose. Ob du 
nun Menschen vor einem Milchladen siehst oder vor einem Pafibiiro - es 
sind immer Schlechtgekleidete, Verhungerte, Abgeharmte. Geheimnis- 
voll bleibt es immer, woher die Gutangezogenen ihre Pafivisa und ihre 
graue Karten und ihre Milch hernehmen. Vor dem Wohnungsamt in der 
Neuen Friedrichstrafie 80 sehe ich von acht wartenden Personen eine 
asthmatische Frau, ein altes verhutzeltes Weiblein, einen blassen Studen- 
ten in abgeschabter Pelerine und nur einen gutgekleideten und wohlge- 
nahrten jungen Auslander. Die andern vier waren Arbeitslose, die 
schweigsam Pfeife rauchen. 

Erst gegen siehen Uhr fordert ein Portier freundlich auf, in Paaren 
anzHstehen. (Man entsinnt sich jener triibseUgen Morgenstunden in 
Kasernenhofen, in denen man zahne- und menageschiisselklappernd auf 
ein vaterlandisches Friihstiick wartete.) Gegen halb acht kommt ein 
Biirodiener und mustert die Wartenden. Er kann nichts dafiir, der Arme, 
dafi er an einen Feldwebel gemahnt, der seine Rekruten beaugt. Zehn 
Minuten spater tritt ein alterer Herr mit Wiirde an den Portier und fragt 
nach dem SchlmseL Der altere Herr hat bereits auf der Treppe ein 
trauriges KanzHstenantlitz angeschnallt. Diese Miene ist flir jeden Beam- 
ten ungefahr das, was die Dienstpistole fiir den Schutzmann, der seine 
Runde antritt. Dann hat der Dienst begonnen. 

Jener zu strengem Musterblick verdammte Biirodiener fangt an, die 
Wartenden zu sondern in In- und Auslander. Dann begibt er sich zum 
ersten Menschenpaar, das die Reihe der Wartenden anfiihrt, und sagt zu 
den beiden mit einer Stimme, die Auszeichnung und Anerkennung ver- 
rat: »So, jetzt gehn Sie die Treppe hinauf !« Und es ist, als hatte er gesagt: 
»So, jetzt holen Sie sich Ihren Hosenbandorden!« 
Die Menschen setzen sich in Bewegung : Die Alte humpelt, die Asthmati- 
sche keucht, der Student hustet, und die Arbeitslosen dampfen scheu ihre 
Pfeif en. Und dann steht man vor einem Tisch, kramt Papiere aus, antwor- 
tet, wird belehrt. Es ist wie bei einem Examen. 



866 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Rechts von mir antwortet ein Auslander auf die Frage »WIeviel zahlen 
Sie?« mit der Auskunft »i^o Mark ta,glich«. Und links von mir der 
Student: »6oo Mark monatlich.« Eine Vermieterin meldet stolz ihren 
Amerikaner an. Der Beamte wird feierlich. »Wieviel Zimmer?« »Drei, 
bitte!« »Wieviei zahlt er?« »Das weifi ich noch nicht.« (Die Alte hat 
Angst.) Der Beamte malt ein Fragezeichen. In dem Augenblick, da die 
Reihe an mich kommt, ziehe ich mich unauffalUg zuriick. 
Jeder auslandische Aftermieter erhalt eine graue Karte. Auf der steht es 
schwarz auf grau, dafi er zwei oder drei Zimmer bewohnen darf, so- 
lange es ihm die - Polizei gestattet. Mit dieser Karte muK er sich in das 
Wohnungsamt seines Bezirks begeben. Dort wird ihm diese Erlaubnis 
bestatigt. 

1st diese graue Karte eine KontroUe? Kann nicht ein Mieter etwa nur 
ein Zimmer anmelden und zwei bewohnen? 1st das Bezirkswohnungs- 
amt nicht eher imstande, die KontroUe im beschrankteren Kreise aus- 
zuiiben? Und kann die Zentralstelle, wenn sit schon ein paar iiberzah- 
Uge Beamte ernahren soil, nicht acht Stunden taglich arbeiten wie jeder 
Mensch in Deutschland? Und wozu miissen die Inlander um fiinf Uhr 
morgens in ihrem Schlaf gestort werden - dem einzigen Genufi, den 
sich ein Deutscher noch leisten kann? Und weshalb wurde die Einfiih- 
rung dieser grauen Karte nicht so veroffentlicht, dafi alle Polizeiamter 
davon erfuhren? Weshalb schicken die Polizeireviere alle, die sich an- 
melden, ins Bezirkswohnungsamt, damit sie von dort aus erst - zu spat 
- in die Neue Friedrichstrafie geschickt werden? Und weshalb das alles 
zu so mitternach tiger Zeit? Haben die Beamten noch eine Nebenbe- 
schaftigung? 
Das Publikum auch! 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 21. 9. 1922 



KUNST DES IRRSINNS 

Die Leipziger Ausstellung - Sexual-Pathologie - Kdlte-Fetischismus 
Geisteskranke Indianer 

Leipzig 
[n diesen Tagen ist im Anschlufi an den Naturforscherkongrefi in 
Leipzig eine nur von Fachleuten besuchte, von der Offentlichkeit we- 
tiig wahrgenommene Ausstellung zu sehen. Ihretwegen fuhr ich nach 
Leipzig. 

Wer nicht gewufit hat, daf5 Etappen und Ergebnisse kiihl forschender 
Wissenschaft auch den wissenschaftlich Unbeteiligten erschiittern 
konnen, der erfuhr es in dieser Ausstellung: Sie enthalt Bilder von Gei- 
iteskranken, in verschiedenen Irrenanstalten der Welt verfertigte. Un- 
mittelbare Beichten ahnungslos Gewordener und also der Genialitat 
mgenaherter Seelen; Gestandnisse, bis zur Schamlosigkeit nackte; 
K-undgebungen hilflos und genialisch entblofiter Wesen; Urschreie 
^iner Menschheit, die vielleicht - wer kennt die Irrgesetze geistiger 
Entwicklung - den Kreis vermeintlichen Wachstums vollendet haben 
and zum Ursprung zurlickgekehrt sind. 

Die Bilder und Zeichnungen dieser Wahnsinnigen sind manchmal 
:echnisch unbeholfen und oft wieder von unglaublicher FormvoUen- 
iung. 

^ber in den kindlichen wie in den sicheren Darbietungen kiindet sich 
ias Geheimnis kiinstlerischen Schaffens so unmittelbar an, daE die bil- 
ig gewordene Wendung: Genie und Irrsinn sich mit unabweislicher 
Motwendigkeit dem BewuEtsein aufdrangt. Vor diesen Bildern sucht 
nan nach Bezeichnungen - vergebUch-, um zu erkennen, daE Sprach- 
losigkeit hier das Angemessene ist. 

Den interessantesten Teil der Ausstellung bildet das sexual-pathologi- 
\che Kahinett. Hier befinden sich Zeichnungen geisteskranker Perver- 
jer. Ein 66jahriger Weber zeichnet phallische Grotesken; nackte Man- 
ler mit iibergroEen Geschlechtsteilen; ein Bild, betitelt: »Aus dem 
khlafzimmer eines Sadisten«, zeigt den fiirchterlichen, etwa nach des 
Frauenmorders GroEmann Art zerstiickelten Frauenkorper. Die 
^eichnung eines an Haftpsy chose erkrankten Invertierten stellt einen 
risch dar, an dem ein Mann sitzt und mit Augen, in denen nicht einmal 
nehr eine Leere ist, auf abgeschlagene und in Schiisseln steckende 



868 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Mannerhaupter starrt. Und wie manchmal der Hohn als letzter Uber- 
rest der Vernunft in einem verwiisteten Gehirn lebendig und zeugend 
bleibt, ist an einem Bild zu sehen, das »Der Offizier<( heifit. Da steht 
ein nackter Mann mit Offizierskappe und Monokel und einem um den 
nackten Leib geschlungenen SabeL In seinem Antlitz ist eine fast tra- 
gisch geistlose Strenge, ein erschiitternd forsches Draufgangertum, 
und seines Leibes wie seines Wesens Mittelpunkt und alleiniger Zweck 
ist - das Geschlecht. 

An Schizophrenie Erkrankte malten moglichst bunte Bilder in violet- 
ten, melancholischen Farben. Ein Kdltefetischist malt zwei nackte Ge- 
stalten in einem Baderaum: Der Mann lafSt iiber das gebiickte Weib 
eine Dusche niedergehen. 

Ein Bild dessen »Inhalt« - um einen rationellen Begriff anzuwenden - 
nicht deutbar ist, tragt den peinlichen Titel: »Das Schweiflwunder in 
der Einlagesohle«. Es zeigt die Form einer iiblichen Schuhsohle, auf 
der sich unzusammenhangende, aber im einzelnen iiberwaltigend gro- 
teske Zeichnungen befinden. Darunter die Anmerkung: 
»Wenn man das obere Bild umkehrt, erhalt man das untere.« 
Ein Leipziger Dienstmann namens Oskar Herzberg war 65 Jahre alt 
und an Schizophrenie erkrankt. Er make Illustrationen zu Grimm- 
schen Marchen, das heifit, er dichtete die Marchen um. Indem er ah- 
nungslos das Gesetz der zeitlichen Folge ignorierte und alle Begeben- 
heiten auf einmal darzustellen versuchte, wuchs in ihm ein eigener 
Schopfergeist, und er dichtete mit Pinsel und Stift. Dichtete einen 
wunderbaren Marchenwald voller Kerzentannen, eine Sonne, deren 
Glanz kein Schatten was anhaben kann und die, unbekiimmert um 
physikalische Gesetze, ihre Strahlen schnurstracks gewissermafien 
dem Wald durch den Bauch rennt. Und ein Rotkappchen und einen 
Wolf, der kein Wolf ist, von dem doch jeder weifi, dafi er das Unge- 
heuer ist, der Inbegriff des Ungeheuers. 

Federzeichnungen geisteskranker Indianer; Bilder eines Verriickten, 
der die schadlichen Foigen des Ritualmords zu erlautern versucht; Vi- 
sionen Ehrgeiziger; die mit Urin und Exkrementen und Olfarben her- 
gestellten Bilder eines an dementia prae cox erkrankten Tapezierers, der 
die Lauterung der Menschheit durch Behandlung mit Absonderungen 
menschlicher Korper herbeifiihren will; hebraische Schriften aus der 
Irrenanstalt Ezret Nashim in Jerusalem; alles das verschwindet fast ne- 
ben den Federzeichnungen eines Paralytikers. Sein Zyklus heifit: »Der 



1922 869 

Kriegy wie ich ihn sah« - und erschutternder hat niemals jemand den 
Krieg gesehen. Der Kiinstler heifit Arnold Schiitze, war von Beruf Ma- 
schinensteiger in einem Saarbergwerk und niemals selbst im Krieg. 
Aber wie jener Leidensgenosse und Kollege, der den Offizier in seiner 
geschlechtlich brutalen Nacktheit erkannt hatte, so erkannte dieser 
Maschinensteiger den Krieg: Da jagt der berittene Tod eine Herde stu- 
pider, briichiger Greise und Kinder, da steht machtig vor kolossalen 
Maschinen der Kapitalismus mit dem Antlitz einer Maschine, mit 
Kinnladen aus Eisen, mit Augen aus gefrorenem Blei und einer Nase, 
die wie ein eiserner Hebel aussieht, und halt in eisernen Fausten - es ist 
der Griff der Maschine - zwei Kinder, Die Bilder dieses Paralytikers 
sind die »vernunftigsten«, das heifit die im AUtagssinn verstandlichen. 
Dieser Paralytiker war keiner. Wir waren die Paralytiker. 
Ich komme aus dieser Ausstellung in die Leipziger Strafien, die zum 
Teil alt und eng sind und in denen sich die Menschen mit neuzeitUcher 
GroCstadteile fortbewegen, Ihre Bewegungen sind in kein Verhaltnis 
zu den Strafien zu bringen. Und ich sehe Strafien, Menschen, Hauser, 
fiihle ihre Schnellwut, ihren Verfolgungswahn und diesen Strudel, der 
sich berlinisch gebardet. Es bleibt nur noch die banale, oft getane 
Frage: Wo sind die Verriickten? 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 23. 9. 1922 



WIE ICH LEIPZIG SAH 



Leipzig ist eine altere Stadt mit literarischer Vergangenheit, vielen 
Denkmalern, bejahrten Hausern und jenen Winkeln, in deren histori- 
schem Spinngewebe deutsche Feuilletonisten sich haufig fangen. 
(Dann sagen sie »lauschig«.) 

Die Stadt befindet sich, wie angedeutet, auf einem ansehnHchen Ni- 
veau, ein paar erhebliche Meilen liber dem Kulturmeeresspiegel BerUn, 
wenn man von Adolph Bartels, dem Briihl und der Universitat absieht. 
Einige Mefipalaste, kommerzielle Tempel, deren allergrofiter der 
Hauptbahnhof ist, der zoologische Garten, der Kakadu und das Pano- 
rama, das fast mit einem Kaffeehaus zu verwechseln ist, durfte ich be- 
sichtigen. Ich konnte feststellen, daE Leipzig wirklich zu jenen Zen- 



8/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tren wirtschaftlichen Lebens gehort, die man mit Recht Brennpunkte 
nennt. 

Was den Zeitpunkt meiner Reise betrifft, so hatte ich entschieden 
Gliick. Ich geriet zwischen den Naturforscherkongreft und das Neu- 
jahrsfest der Juden. Beide Ereignisse hingen durch die Erorterung der 
Relativitatstheorie zusammen. Die Feiertage machten sich durch ein 
Abflauen auf dem Devisenmarkt bemerkbar. An die Naturforscher 
wurde ich erinnert, als ich nachts »Deutschland iiber alles« singen 
horte, die Sven-Hedin-Hymne der deutschen RepubUk. 

Dem Reisenden, der durch das Coupefenster blickt, kiindigt sich 
Leipzig schon von weitem durch das Volkerschlachtdenkmal an. An 
ihm gemessen, erscheinen sogar die vertikal gesammehen Werke des 
oben erwahnten Adolph Bartels klein. 

Beim Anblick des Volkerschlachtdenkmals falh mir ein, dafi Leipzig 
die literarische Kornkammer der deutschen Lander ist. Von dieser 
Stadt aus gehen Lekture und Lexikon in die Welt. Sie eigentUch 
machte das deutsche Reich zum Land der meisten Alphabeten, Aus 
ihren Briisten traufelt Druckerschwarze, von der wir leben. Hier 
bliiht die fruchtbare PhiHpp-Reclam-Ziichterei - und die Briihlmot- 
ten, aus heimatlichem Pelzfutter von fiirsorghchen Kaufleuten ver- 
trieben, nahren sich von papiernen Brockhausern, die dem Antiqua- 
riat anheimf alien. 

So sieht man denn in den Leipziger Schaufenstern Fiichse, Kanin- 
chen, Kierkegaard, Aage Madelung und Maulwiirfe. 
Ganze StraEenziige sind wie Inseratenspalten, und die Stadt macht 
den Eindruck einer Sonntagsnummer der Leipziger Neuesten. 

Der Briihl scheint mir das zu sein, was man die Pulsader der Stadt 

nennt, und die Rauchwaren sind sozusagen die Pulswarmer. 

Semiten und Arier bringen hier ihre Kaninchen ins Trockene und 

weiden friedlich nebeneinander mit Wolfs- und Lammfellen. 

Gerauschvoll werden Pfunde in Dollars umgerechnet und umgekehrt 

- und die StraEe ist erfiillt vom Echo der Handbewegungen. 

Es gibt in Leipzig eine alte Briihl-Generation und eine junge. Die alte 

ist abonniert auf das Israelitische Wochenblatt, die junge liest den 

Drachen und als Pendant den J unggese lien. 

Die junge Briihl-Generation hat bei der alten den Achtstundentag 



1922 871 

durchgesetzt und bewegt sich flanierend in den Strafien Leipzigs, so- 
bald die Bogenlampen erglommen sind. 

Auch sitzen sie in den Auslagefenstern von Fleische - so heifit eine 
Konditorei, die ich beinahe mit einem Damen- und Herrenmodesalon 

verwechselt hatte. 

Den Charakter und die Gesinnung einer deutschen Stadt lernt man in 

der Nacht kennen. Und auch die Polizei. 

In der Nacht besteht Leipzig aus Rathenaumordern und solchen, die es 

werden wollen. Drei Nachte hintereinander horte ich Studententrupps 

durch die Strafien ziehen. Sie kamen aus dem Goldhahngafichen, wo 

sich der »Taubenschlag« befindet. Die germanische Jugend schrie: 

Nieder mit der JudenrepubHk. Ebert ist ein Schwein. 

An die hundert Leipziger gingen vorbei und UeEen sich's gefallen. Ein 

Schutzmann pendelte auf und ab, konighche Gesinnungswatte in den 

Ohren. 

Ein Arbeiter erklarte mir, die Studenten vom »Taubenschlag« seien die 

nachtlichen Beherrscher Leipzigs. 

Ich bewundere heute noch den Freimut, mit dem sich der Leipziger 

Nationahsmus zur Prostitution bekennt. Das GoldhahngaKchen ist die 

bekannte Bordellgasse Leipzigs. 

Von den modernen Leipziger Denkmalern, die noch nicht im Reise- 
fiihrer stehen, erwahne ich Hans Reimann, der augenbhckUch im Ka- 
barett einer fernen Provinz aufgestellt ist. 

Ferner Hans Bauer, der sonntags im Cafe Bittner ohne Entree vom 
Kellner gezeigt wird. 

Das Schillerdenkmal dagegen ist von kitschfeindUchen Bubenhanden 
verunziert worden. Gott spricht in Leipzig durch die Hande der Kin- 
der. 

Leipziger Mittag, 2. 10. 1922 



Leipziger Prozess gegen die 
Rathenau-Morder 



DIE DREIZEHN 

Leipzig 
Um /z8Uhr morgens schon eine recht ansehnliche Kette im Korridor 
des Reichsgerichts Wartender; um 8 Uhr lebhaftes Gewimmel auf dem 
herrschaftlich breiten Platz vor dem Reichsgericht; hastende Bericht- 
erstatter mit Brieftaschen; schrille Radfahrer; feierliche Polizisten mit 
Pickelhauben; zur Verstarkung heranziehende Schutzpolizei; Rechts- 
anwalte in Automobilen und Richter zu Fufi. 

Gegen /i^Uhr fahrt, unbeachtet von Passanten, der ^agen mit den 
Gefangenen vor. Durch die Gitter des Wagens blinkt die Helmspitze 
eines Justizsoldaten. Man erhascht wie im Flug ein bleiches Jungenge- 
sicht. Der Wagen roUt durch ein Seitentor ins Gebaude des Reichsge- 
richts. 

Der Saal, in dem die Verhandlung stattfindet, ist iiberfliissig mit Kai- 
serbildern tapeziert. Olgemalte Zeugen der vergangenen Epoche, spre- 
chen sie vielleicht fiir die Angeklagten, indem sie sie entschuldi- 
gen. 

Der gemalte Purpur und die zerfetzten Kleidungsstiicke Rathenaus - 
ein Kontrast und ein Kausalzusammenhang zugleich. 
Die Angeklagten sitzen, von PoUzei flankiert, von den Rechtsanwahen 
sozusagen geschiitzt, gegen den Staatsanwah. Der sitzt hager und et- 
was vorgeneigt, in strenges Richterrot eingefafit, und wenn er sich er- 
hebt und spricht, hat seine Stimme einen scharfen Akzent, einen 
schneidenden Ernst, eine Wiirde, hinter der die Drohung immer nur 
auf den geeigneten Moment wartet. 

Leise, glattend, sozusagen MenschUchkeit und Verstandnis in die gela- 
dene Atmosphare des Saales streuend, sitzt der Vorsitzende in der 
Mitte. Seine Stimme rechnet nicht mit den sechshundert Zuhorern, 
nicht mit dem Umfang des Raumes. Sie ist nur fiir die Richter be- 
stimmt, eine private Stimme, ein Organ fiir Unterredungen im gelehr- 
ten Zirkel. 



1922 8/3 

Zahlreich sind die Verteidiger. Sie sitzen in schwarzen Talaren und 
ersetzen, was ihnen an dem feierlichen Rot der Richter abgeht, durch 
eine ausgiebigere Rhetorik. Ihre Stimmen wollen gehort werden. Ihre 
Handbewegungen haben geradezu akustische Wirkungen. 
Preisgegeben den Blicken der sechshundert, auf erhohtem Podium, 
freies Wild der Zeichner und Photographen, sitzen die dreizehn Ange- 
klagten. Ihre Gesichter bartlos und ohne Geist, Nasen, die unreif in 
die Hohe zielen, typische Primanernasen, mit Ausnahme jener des Til- 
lessen und des Studenten Giinther. Tillessen, Kapitanleutnant, Held 
eines Seekampfes, Retter zweier Menschenleben, wie er selbstbewufSt 
erzahlt, hat einen brutalen Zug um den Mund und eine leise Schlauheit 
im Auge. Giinther, der Typus des armen Studenten aus der Provinz, 
bebriilt, zur Fettleibigkeit neigend, der Inteilektuelle unter den Mor- 
dern. Armselige Morder, deren Intellektualitat so geistesabwesend 
aussieht! 

Den Briidern Techow wendet sich die ailgemeine Aufmerksamkeit zu. 
Der Lenker des Autos hat breite Schultern, einen kleinen Kopf, was 
seine Gestalt noch kraftiger erscheinen lafit, ein leeres Gesicht, eine 
stramme Haltung, Der Mann, wie ihn der selige Kapp brauchen 
konnte. Ein volkischer Knappe, halbgebildet, mit auswendig gelern- 
tem Lebenslauf, ihn wie in der Offiziersschule leiernd. 
5ein jiingerer Bruder, weicher im Gesichtsausdruck, von einer fast 
lerzbeklemmenden Unfertigkeit, mit runden Bewegungen, wie er sich 
in der Anklagebank Notizen auf ein Blatt Papier kritzelt; es ist, als 
safie er in der Schulbank und zeichnete verbotene Dinge, die der Herr 
K.lassenlehrer nicht sehen darf. 

N'ur Schiitt und Diestel, Kaufleute mit Schmissen auf den Backen, sind 
anbegreiflicherweise in diese Gesellschaft geraten. Junge Naseweise 
ionnten sie dazu bringen, Kappen zu verbrennen, gefahrUchen Unsinn 
nitzumachen, verfiihrte Senioren, die sie sind, Abonnenten der Deut- 
;chen Tageszeitung. 

Jm 4Uhr ist die Sitzung zu Ende. Als der letzte der Angeklagten geht 
Wiedrig aus dem Saal, der »Detektiv«, der wegen schweren Diebstahis 
^esessen hat. Ein hohnischer Zufall bezeichnete ihn mit diesem Na- 
nen. Niedrig schleicht aus dem Gerichtssaal und sieht sich angsthch 
im, als ware er selbst seine eigene personifizierte Reminiszenz. 
3er erste Tag des Prozesses bringt iibrigens eine tragikomische Epi- 
ode. Ein offenbar verriickter Mann will der Presse eine Sensation of- 



8/4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

fenbaren. Mit redseligen Armen flattert er auf einen Berichterstatter zu 
und erklart ihm, dafi Rathenau nur ermordet wurde, damit eine wlch- 
tige Griindung in England nicht bekannt wiirde. Der Berichterstatter 
schickt den Mann zum Verteidiger Techows. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 4. 10. 1922 



DIE PISTOLE 



Leipzig 
Der ortliche und sachliche Mittelpunkt des zweiten Prozefitages war 
die Mordwaffe, mit der Rathenau erschossen wurde. Jene Maschinen- 
pistole, fiirchterliche Erfindung unseres Jahrhunderts, die genauso 
schnell schiefit wie ein Maschinengewehr und die jetzt, in ein Corpus 
delicti verwandelt, geradezu harmlos auf dem Tisch vor den Richtern 
liegt. Sie hat die Grofie eines iiblichen Karabiners, ihr Lauf bezie- 
hungsweise Laufschutz ist mit Lochern versehen und macht den Ein- 
druck eines zylinderformigen Siebes. Mit gleichgiiltiger Miene blicken 
die Angeklagten auf die Waffe, als ware sie ein nebensachliches Kii- 
chengerat und nicht jenes Instrument, mit dem sie angeblich die Be- 
freiung der Nation voUfiihren wollten. Gleichgiiltig erortert Techow 
die Schnelligkeit dieser Waffe wie ein Sachverstandiger im Schiefifach, 
und um den Mund des Herrn Kapitanleutnants Tillessen liegt ein La- 
cheln der Verachtung fiir alle jene friedlichen Menschen im Saal, die so 
gar keine Ahnung haben von Waffen und Heldentaten. 
Diese Waffe auf dem Richtertisch macht sichtlich auf alle Zuhorer und 
Richter und Verteidiger einen tiefen Eindruck. Die Unruhe im Saal 
verstarkt sich, das Publikum drangt vor. Ein Stuhlriicken fangt an, und 
die Aussagen des Angeklagten und die Fragen des Vorsitzenden ertrin- 
ken in der allgemeinen Aufregung. Die Berichterstatter riicken vor. 
erheben sich von den Stiihlen und stehen in einer dichten Gruppe. 
moglichst nahe den Richtern. Das Mordinstrument ruht in schreckli- 
cher Schweigsamkeit und legt Zeugenschaft ab fiir den Ermordeten. 
dessen tathche Ursache es selbst war. 

Merkwiirdig, dafi die Sachverstandigkeit des Morders sofort aufhort. 
wenn das Thema politisch wird. Da vernimmt man, dafi er iiberzeugt 



1922 875 

war von Rathenaus Zugehorigkeit zu den 300 Weisen von Zion, von 
der Verlobung seiner Schwester mit Radek, vom »schleichenden Bol- 
schewismus« und von der Schadlichkeit des Judentums. Von den zahl- 
reichen Schriften Rathenaus hat er zwar nichts gelesen, well ihn die 
Schiefiwissenschaft mehr interessierte, aber nicht einmal seine totale 
Unwissenheit zuzugeben ist er mutig genug. Einen einzigen Aufsatz 
von Rathenau will er gelesen haben, und zwar in Hardens »Zukunft«, 
dereh Mitarbeiter Rathenau seit mehr als zehn Jahren nicht mehr war. 
Wozu lesen? Wozu sich iiberzeugen? Lieber gleich morden, was leich- 
ter ist. 

Die librigen Angeklagten sitzen ruhig da, wahrend Techow erzahlt. 
Von Zeit zu Zeit tauschen sie Bemerkungen aus, der jiingere Techow 
mit Niedrig, dem Dieb und »Detektiv«. Plotzlich gebeut es diese Ka- 
dettenehre, sich mit vorbestraften Menschen zu unterhalten, wenn sie 
nur bereit waren zu morden. Wo ist die Standesehre hin? Wo die Sat- 
zungen des Deutschen Offizierbundes? Wo die Gesetze der Organisa- 
tion Consul? Nationale Feiern sind jene Gelegenheiten, bei denen die 
Mordbuben miteinander bekannt werden. Der Student Giinther und 
der junge Techow waren Schiller desselben Gymnasiums, aber Giin- 
ther war Primaner, Techow kam in die Anfangsklasse. Da kam die 
Bismarck-Feier im Jahre 1919. Bei dieser Gelegenheit erinnern sich 
beide der gemeinsamen Schule. Der Altere und das Kind. Sie kennen 
keine Altersunterschiede. Sie kennen nur Morder, 
Dieser kindische junge Techow ist iibrigens in arztlicher Beziehung ein 
interessantes Problem. Der Sachverstandige, Hausarzt der Techows, 
folgert aus dem Umstand, daf5 der junge Hans Gerd eine von Geburt 
verkriippelte Hand hat, auf eine allgemeine Schwache, die sich in mo- 
ralischer Hemmungslosigkeit kundgibt. Seine Rolle war die eines Bo- 
ten, der den erwachsenen Spiefigesellen gerade gut genug diinkte fiir 
kleinere Gange, Bestellungen und so weiter. Zum Morderhelfer taugte 
er gerade. Und in seinen Aussagen klingt heute noch eine leise Erbitte- 
rung durch, und ein wenig racht er sich auch, wenn er mehr zugibt, als 
sr diirfte, und den Verteidigern Striche durch die noch unbeglichene 
Rechnung macht. Es ist nicht so dumm, wie es aussieht, das Hanschen. 
Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 5. 10. 1922 



»JAWOLL, HERR PRASIDENT! 



Leipzig 
Die Geistigkeit des volkischen Nationalismus wird verkorpert in dem 
Studenten Gunther, Horer der Rechte, 26 Jahre alt, bebrillt, Typus des 
schlechtbezahlten Hauslehrers. Sein Verteidiger weif5 von ihm so lacher- 
liche Dinge zu berichten, und der junge Mann selbst spricht so geistes- 
schwach, da£ man dem Sachverstandigen gern glauben wiirde, wenn er 
die halbe Unzurechnungsfahigkeit Giinthers bescheinigt. 
Er ist ein nationaiistischer Schwachkopf mit akademischem Staatsbiir- 
gerrecht. Ware nicht diese Rathenaugeschichte dazwischengekommen, 
oder am besten gar nicht die Revolution, so ware dieser Mann ein wohlbe- 
stallter Assessor. Viele seinesgleichen schleichen im Lande umher und 
nahren sich von den Brocken, die der Vater Staat ihnen zuwirft. 
Aber so trostlos auch die Geistesverfassung Giinthers war, so hatte er 
doch einen ausgesprochenen Sinn fiir Eierhandgranaten, deren Wirklich- 
keit er heute leugnet. Die Rechtsanwalte bemiihen sich, den Juristen 
Giinther noch diimmer zu machen, als er schon ohnehin ist. Es gelingt 
ihnen. AUes kann man mit Giinther machen, 

Nach Giinther folgt der Bankbeamte v. Salomon, Er liigt mit einer 
gewissen Sicherheit und Anmut sogar. Er befleifiigt sich einer solchen 
Prazision, dafi die Aussagen unmoglich wahr sein konnen. 
Rathenau hat er zwar nicht geha£t, aber die »Judenregierung« liebte er 
gerade nicht. Es ist iiberhaupt ein ganz eigenes Vergniigen, zu sehen, wie 
hier ein Gernegrofi, ein Kapitanleutnantchen im besten Fall, ein Fahn- 
rich, der doppelte Buchhalter einer Bank, vor dem zeremoniellen Forum 
des Staatsgerichtshofs schwere Worte aus der Brust schleudert wie zum 
Beispiel: »Ich bin ein Gegner der Regierung. . .« oder »Meine Stellung 
zum Kapp-Putsch . . .« 

Das Deutsch dieser Leute ist papieren, bald und bald sentimental, und der 
Stil des ehemaligen Kaisers und jener des Kronprinzen-Rosner mischt 
sich ausgezeichnet in diesen Aussagen. Diese Menschen lieben das »Na- 
tionale« und meinen das Schief^gewehr; sie arbeiten fiir die »nationale 
Sache« und meinen die Vorbereitung zum Mord . . . 
Warnecke und Ilsemann: Zwei Jiingelchen, aufierlich einander ahnlichj 
aber im Wesen verschieden. Warneckes ganze Aussage besteht in einem 
fortwahrend hervorgespritzen »Jawoll, Herr Prasident!« 



1922 8/7 

Ilsemann betrachtet den Gerichtshof nicht als einen militarischen Ap- 
pell, im Gegenteil; Er bereut sogar, soweit er seine Schuld zugibt. 
Manchmal verteidigt er sich und sagt: »Jawoll!« Mit zwei 1. Dann ent- 
kleidet er die Worte alien militarischen Prunkes und kehrt in die zivile 
Gesinnung zuriick. 

Der Staatsanwalt war gestern schweigsamer denn je. Aber in den Fal- 
len seiner Toga schlummerte der gefahrliche Vorsatz: Heute ist ein 
grower Tag. Die Vernehmung der von ihm geladenen Zeugen iiber die 
Geheimnisse der Organisation C. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 6. 10. 1922 



DER PROZESS DER GEHEIMNISSE 

Mit dem Hakenkreuz im Zuschauerraum - Das PublikHm 
Der Belastungszeuge 

Leipzig 
Das ist ein Prozef^ mit dauernder Sensationsentfaltung. Unaufhorlich 
ist die Atmosphare geladen, die Geheimnisse schweben scheinbar zum 
Greifen iiber dem Haupte wie die Friichte des Tantalus. Alles schwin- 
det und verwandelt sich in hohle Spukgestalt, wenn man die Hand 
danach ausstreckt. 

Die Sensationen sind nur aufierlich. Plotzlich ertont die Stimme eines 
^ewohnlich schweigsamen Laienrichters, und alles riickt mit den Stiih- 
ien, um besser zu horen. Gestern wurde im Zuschauerraum ein Jiing- 
ling entdeckt, der im Knopfloch ein Hakenkreuz trug - offenbar aus 
v^olkischer Hochachtung vor dem Staatsgerichtshof zum Schutze der 
Kepublik. Es war, wie man voraussehen konnte, der Sprofiling eines 
Beamten, des Reichsgerichtsrats Dr, Vogt. 

[mmer noch liegt die Maschinenpistole vor den Richtern. Sie wird je- 
den Morgen fein sauberlich vom Gerichtssaalaufseher herein gebracht 
and mit einer respektvoUen Handbewegung hingelegt und jeden 
/Vbend nach Schlufi der Verhandlung von ebenso ehrfiirchtigen Han- 
ien aufbewahrt. 
Das Publikum wechselt nicht. Es ist immer das gleiche. Jeden Tag sehe 



8/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ich dieselbe ansehnliche blonde Frau in breiter Gemiitsruhe ihre Stul- 
len verzehren. Jeden Tag um die Mittagszeit knistert dasselbe Papier, 
und ein paar schmatzende Laute folgen mit unerbittlicher Notwendig- 
keit, wahrend vorn grauenhafte Dinge kaltbliitig vorgetragen werden. 
Nur bei der Vernehmung des Garagenbesitzers Schiitt kommt eine 
leise Heiterkeit auf. Schiitt, ein ziemlich gedankenloser Westfale, grofi, 
blond, mit Schmissen und einer Leutnantsvergangenheit versehen, 
pflegte viel in Likorstuben zu verkehren und alle Leute, mit denen er 
trank, nach Hause einzuladen. Seine Garage stand leer, und er trank. 
Er hat sich sozusagen in die Rathenauaffare hineingetrunken. 
Der Angeklagte Vq/?, ein ehemaliges Mitglied der Unabhangigen Par- 
tei, wie er sagt, hat einen sonderbaren Lebenslauf. Irgendwo wurde er 
verdachtigt, in einem Hotel einen weiblichen Unterrock gestohlen zu 
haben. Briefpapier und Kuverts tragt er immer in der Tasche, weil er - 
so viele Liebesbriefe schreibt. Alle Menschen kennen ihn, iiberall ist er 
gesehen worden, seine Personlichkeit zieht gleichsam die kuriosesten 
Dinge an wie ein Magnet Eisensplitter. 

Ein Zeuge wird mit grower Ungeduld erwartet. Es ist der vom Ober- 
reichsanwalt angekiindigte Belastungszeuge der Organisation C. Ihre 
Mystik, diese Kabbala nationaUstischer Mordlust, ihre geheimen Wege 
und Zeichen enthiillt zu sehen, harrt der Saal in stetiger Spannung. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 7. 10. 1922 



STAATSGERICHTSHOFLUFT 



Leipzig 
Die angebliche Vergiftungsaffare wird wahrscheinlich heute ihre Auf- 
klarung und, sollte sie wirklich einen poHtischen Hintergrund haben, 
auch ein Nachspiel im Gerichtssaal finden. Sie bedeutet jedenfalls eine 
Atempause im aufregenden Verlauf dieses Prozesses und gibt Gelegen- 
heit zu einer geruhigen Ubersicht uber die den Proze{^ umrahmenden 
Einzelheiten. 



1922 8/9 

Die Wachtsoldaten 

Die Wachter der Angeklagten teilen sich der Farbe ihrer Uniformen 
nach in Griine und Schwarze. Sie sitzen je vier zu beiden Seiten der 
Anklagebank und haben ihre Helme iiber das linke oder rechte Knie 
gestiilpt. Sie sitzen also sozusagen mit fiirchterlich bewehrten Knien. 
Ihre Gesichter sind gutmiitig und nur ihre schwarzen oder blonden 
Schnurrbarte gesetzlich gestraubt. Ihre Schnurrbarte sind gleich 
reichsgerichtlichen Unterbrechungen in diesen verbindHchen Gesich- 
tern. 

Ich betrachte sie gelegentlich und bewundere diesen Gleichmut, mit 
dem sie Sensationen an sich vorbeiregnen lassen. Sie sitzen da wie Sau- 
len der Gerechtigkeit. 

Sehr oft wechseln sie ab. Jede Stunde ungefahr kommen neue Kollegen 
zur Tiir herein, und die alten gehen hinaus. Sie sind imstande, bei den 
wichtigsten Stellen hinauszugehen. Sogar mitten in einer Frage des 
ehemahgen Reichskanzlers Fehrenbach. Ich bin zu der Uberzeugung 
gekommen, da£ die Justizsoldaten die schlechtesten Berichterstatter 
waren. 

Nur beim Schluf^ der Verhandlung, wenn die Angeklagten den Saal 
verlassen sollen, richten sie sich mit plotzlich erwachtem Diensteifer 
auf und umringen in liickenloser Kette die Anklagebank, ein lebendes 
Drahtgitter, bis der letzte der dreizehn zur Tiir hinaus ist. 

Das Publikum 

Das Publikum ist lange nicht so unerschiitteHich wie die Wachter. Es 
teilt sich in das des oberen Stockwerks und in jene glucklichere 
Schicht, die in gleicher Hohe mit den Richtern sitzen darf. 
Wendet man den BHck nach riickwarts, so sieht man fern, in uner- 
reichbarer Hohe fast, ein Gewirr von Kopfen. Mindestens dreihundert 
Mienschen haben dort oben Platz gefunden. Das Gesetz von der Un- 
durchdringlichkeit scheint aufgehoben. Die Halse gierig gereckt, die 
Miinder offen, als konnte man Worte essen, hockt oben eine Menge 
Feindseliger zusammen, von denen immer jeder seinen Nachsten auf 
die Anklagebank oder gleich aufs Schafott wiinscht. Man sieht kein 
Ende. Dort oben wogt ein Meer menschlicher Sensationsbegier. 



88o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Eine Treppe tiefer ist das Horchen bequemer. Jede Frage des Vorsit- 
zenden wird von einem Stuhlriicken begleitet, denn die Akustik des 
Saales ist schlecht, und der Baldachin, der zum Zwecke purpurner Fei- 
erlichkeit schwer und gefahrlich iiber den Hauptern des Gerichts 
hangt - ein Damoklesbaldachin-, fangt Gerausche auf. Es ist, als hatte 
jemand eigens ein Sensationssaugerpatent erfunden. Ein »Vakuum« fiir 
Aussagen, 

Ich staune iiber sechshundert Menschen taglich, die sieben bis acht 
Stunden lang nichts zu tun haben und vom Zuhoren leben. Ihr Beruf 
ist »Offentiichkeit« sein. Sie leben anscheinend sehr gut, denn sie essen 
ausgiebig und gerauschvoU. Ihr Appetit wachst mit ihrer Neugier. 
Unter den Zuhorern ist meist die iibUche sohde Leserwelt zu sehen. 
Aber hier und dort erblickt man ein Gesicht, das gewissermafien Ha- 
kenkreuzzUge aufweist. Den Kapitanleutnant Hoffmann schaut man, 
wie er mit groEem Interesse seinen Freund Tillessen beobachtet und 
seine iibrigen Gesinnungsgenossen. Er studiert Staatsgerichtshof, 
konnte man sagen. An den Mienen seiner Freunde lernt er, wie man's 
macht. 



Die Verteidiger 

Die Verteidiger miissen es sich gefallen lassen, hier portratiert zu wer- 
den, da es in ihrem eigenen Interesse liegt, in einer Art juridischem 
Rampenhcht gesehen zu werden. Sie sind durchweg kerzengerade, 
forsch und tragen eine unsichtbare Couleur. Nur Herr Dr. Sack hat ein 
goidgefafites Monokel eingeklemmt - und einer der Berichterstatter 
hat ihm einen bitteren Vorwurf gemacht, einen Vorwurf, der einen zur 
Eleganz verpflichteten Monokeltrager sehr schmerzen mu£te. Mein 
Kollege warf ihm eine unangemessene Sportkrawatte vor, offentlich, 
schwarz auf weifS, in einem Leipziger Abendblatt. 
Der Rechtsanwalt Dn Block tragt - man gestatte mir dieses aufSerst 
kiihne Bild - ein Monokel im Kehlkopf. Seine Stimme ertont immer 
von oben herab. Wenn er »Meine Herren Richter« sagt, glaubt man, er 
hatte eigentlich »Kommilitonen« sagen wollen. Ich wiifite gern, wie 
der Herr Dr. Bloch zu seiner Stimme kommt. Es ist die Stimme des 
Offizierskorps und der Reaktion. 
Von den Verteidigern der Reaktion ist noch der Rechtsanwalt Liitge- 



1922 iJ8l 

brune zu erwahnen. Er ist kurzsichtig und macht infolgedessen einen 
konzilianten Eindruck. Er beugt sich immer vor, um besser sehen zu 
konnen, und das macht stets den Eindruck eines Entgegenkommens. 
Herr Justizrat Dr. Hahn aber ist temperamentvoll, scharf und leicht 
erregbar. Wenn er mit aufgeregter Plotzlichkeit aufsteht, ist es so, als 
stiege er aus einer Versenkung und als ware seine Absicht die Uberra- 
schung. 



Die BesHcher 

Manchmal geht die Tiir auf, und mitten im Saal steht plotzlich ein 
fremder Richter in roter Robe, soeben aus dem nachbarlichen Ver- 
handlungssaal getreten. Manchmal ist's ein alterer Herr mit dem wei- 
fien Richterlatzchen auf der Brust. Eine Fliisterdiskussion entspinnt 
sich unter den Besuchern. Ergraute und blonde Kopfe und Glatzen 
wiegen sich im Winde gelehrter Meinungsverschiedenheiten. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 9. 10. 1922 



DIE 2EUGEN 



Leipzig 
Gestern war der Tag der Zeugen. Diese standen seit dem friihen Mor- 
gen vor dem Reichsgericht, etwa ein Dutzend an der Zahl, und begehr- 
ten Einlal^. Die Vergiftungsaffare hatte inzwischen strenge Kontroll- 
mafiregeln hervorgerufen. Die ganze Welt bemiihte sich um Lichtbil- 
der. Die Wache hatte ein paar strenge Ziige in die Gesichter getan. 
Die Kriminalkommissare kommen. Es ist interessant zu sehen, wie 
Kriminalkommissare privat aussehen, wenn sie vor dem Staatsgerichts- 
hof aussagen. Auch sie miissen vereidigt werden. Auch sie miissen 
zwei Finger in die Hohe heben, als waren sie schlichte Biirger ohne die 
Wiirde des Amtes. 

Aber die Kriminalkommissare haben wenig auszusagen. Kaum sechs 
Minuten durften sie das Gliick genief^en, im Mittelpunkt des Interesses 
zu stehen. Man miiEte die tragische Geschichte eines Kommissars aus 



882 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

der Provinz schreiben, der lange darauf gewartet hat, vor dem Staats- 
gerichtshof zu erscheinen, und nun ganz geknickt den Saal verlafit, 
nachdem er kaum seine Personalien abgegeben. 
Der Entlastungszeuge der Verteidigung, Studienrat Retsch, erscheint. 
Eine hohe Gestalt, etwas kommentmafiig, sehr selbstbewufit, mit den 
Alliiren eines sogenannten »alten Herrn«, der gewohnt ist, gewichtig 
in den Burschenschaften zu sprechen. Wenn er »Geist von Potsdam« 
sagt, so ist es, als zitierte er den schlecht verstandenen Friedrich den 
Grofien. Wenn er das Wort »Pflicht« ausspricht, so liegt darin die 
ganze Harte dieses unerbittlichen Wortes, dem Preufien seine Grofie 
und seine Niederlage verdankt. 

Noch einmal geht die Bewegung durch den Saal, als von den dreizehn- 
jdhrigen Mitgliedern des Nationalen Jugendbundes die Rede ist und 
von den Nestabenden in der Privatwohnung des Studienrates, eine Art 
von Kursen in Antisemitismus, 

Und noch einmal, als Tillessen, dieser schlaueste aller Kapitanleut- 
nants, den man fiir den hartesten aller dreizehn hielt, plotzlich um- 
kippt und schweigsam wird, well ihn etwas in der Stimme wiirgt, wenn 
von seinem Bruder gesprochen wird. Auch in der Familie Tillessen 
gibt es Schwestern und Braute und Mutter, und die tragischen Ereig- 
nisse sind im hauslichen Kreise aller politischen Bedeutung entkleidet 
und bekommen ein rein menschliches Gesicht. 

Die Angeklagten fallen immer noch in ein Unwohlsein, und die Sit- 
zung mufi zuletzt unterbrochen werden. Sie ist gestern friiher als sonst 
geschlossen worden. Der Angeklagte Vb/?, der angebliche Sozialist un- 
ter den dreizehn, wird, wie er in der Pause den Berichterstattern ver- 
spricht, erst heute oder morgen einige Mitteilungen iiber die Organisa- 
tion C. machen. 

Draufien steht der griine, vergitterte Wagen, und die halbe Jugend 
Leipzigs harrt der Angeklagten. Wenn sich der Wagen in der Richtung 
des nahegelegenen Untersuchungsgefangnisses bewegt, kommt Leben 
in die jugendliche Gruppe, die laufend und auf Fahrradern folgt und 
wie ein Fliegenschwarm von den Polizisten verscheucht wird. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 10. 10. 1922 



DIE FRAU UND DER KOFFER 



Leipzig 
Der sensationellste Tag des Prozesses. Nun scheint der Hohepunkt 
dazusein. Der Hohepunkt nimmt die korperliche Gestalt eines Koffers 
an. 

Das ist der iibliche Kinokoffer, das Filmmotiv, ohne das kein Prozefi 
von grofierer Bedeutung auskommen kann. 

Der Koffer wird zwar auf den Richtertisch gestellt, es ist ein iiblicher, 
mittelgrofier brauner Reisekoffer, aber er wird nicht als der bestimmte 
geheimnisvolle wiedererkannt. Ilsemanriy der am wenigsten beteiligte 
Angeklagte, schweigt, aus Ritterlichkeit wahrscheinlich. Wenn es in 
diesem Gerichtssaal bessere Psychologen gabe, miifiten sie wissen, daE 
es sich um eine Fran handelt. Die Angeklagten sprechen namlich von 
einer »Person«. Das ist ein Ausdruck, hinter dem man gewohnlich eine 
Frau verbirgt. Wenn von einem Mann gesprochen wiirde, so klange die 
Bezeichnung »irgendwer« oder anders. In dem Augenblick, in dem der 
angeklagte Unterrock auftaucht, kommt ein leiser romantischer Glanz 
iiber die Angelegenheit. 

Das Schweigen der Jungen wird geradezu erbittert. Ihre Weigerung 
auszusagen halt vaterlichen und drohenden Ermahnungen stand. Zum 
ersten Mai wird der Prasident Hagens personlich und warm, 
Auch der Koffer verschwindet, ohne Aufklarung zu hinterlassen. 
Wenn er auch unbekannt blieb, so lernte man doch zwei Prachtexem- 
plare der Verschworungsgilde kennen. Den jungen Gymnasiasten Stu- 
benrauch und den zweiunddreifiigjahrigen Spitzel Briidigam. 
Stubenrauch, Sohn eines Generals und als solcher schon an dem Vor- 
namen »Heinz« zu erkennen, ist achtzehnjahrig, mit rundem Gesicht- 
chen, sauber gescheiteltem Haar, gut genahtem Anzug, mit einem 
wichtigtuerischen Sauglingsausdruck in den Augen. Der Wunsch sei- 
ner jungen Jahre ist ein Revolver, und er bleibt beharrlich bei diesem 
Wunsch, als war's eine SaugUngsflasche. Seine Seele lechzt nach Blut, 
und er bedarf, der arme Kleine, noch der Muttermilch. Er ist ein Geg- 
ner des Rapallovertrages. Das verkiindet er mit prachtvollem Kadet- 
tenelan. Nicht etwa ein Gegner seines Mathematiklehrers, sondern des 
Ministers Rathenau. Er verwirft das Wiesbadener Abkommen. Er, der 
Junge aus dem Bund der Aufrechten, Eine leise Kreuzfrage, und 



884 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Angstschweifi befallt ihn wie beim Examen. Die Festigkeit beginnt zu 
schlottern. Wenn er abknickst und brav In die Zeugenbank zuriick- 
kehrt, sieht er aus wie ein hergenommenes Bundel Aufrechter. Ein 
Ungluckshaufchen Aufrechter sozusagen. Mit dem beleidigten Stolz 
des Priiflings, dem bitteres Unrecht geschehen, blickt er zu seinen Pu- 
bertatsgenossen. Man hat den Eindruck, dafi er jetzt, wenn der Herr 
Lehrer der Klasse den Riicken dreht, die Zunge herausstreckt. 
Der andere ist Bmdigam. Briidigam im dunkelgriinen Pliischanzug, 
mit aufwartsgekammtem Haar, hellblond, mit einem kleinen Schnurr- 
bartchen, einem mageren Gesicht von gesunder Rotung. Sein Schritt 
ist breit und von einer fast pathologischen GemachHchkeit. Es dauert 
etwa zwei Minuten, ehe er vor dem Richtertisch erscheint. Da steht ein 
leerer Stuhl - Herr Briidigam will sich sofort setzen, Er ist gar nicht 
aufgeregt, er unterhalt sich gemiitHch. Er leugnet nicht, dafi er spio- 
niert hat. Er hat ein privates Interesse an den Vorgangen hinter den 
Kulissen der PoHtik. Niemand hat ihn geschickt. Er geht selbst zu Til- 
lessen, selbst zu sozialistischen Blattern, zu Polizeiprasidenten. Er ist 
ein Spion von Geburt, ein Spitzel mit Lust und Liebe. 
Plotzlich steht der Rechtsanwalt des Kapitanleutnants Tillessen mit 
einem Ruck auf. Tillessen, so erzahlt er, konne gar nicht erwarten, dem 
Zeugen gegeniibergestellt zu werden, um zu dementieren. 
Und das mufi man gesehen haben, wie klar Briidigam sich wehrt. Mit 
einem Pathos, dessen sich kein Feldgeistlicher zu schamen hatte, wen- 
det er sein Antlitz dem Zuschauerraum zu. Seine Stimme ist laut, die 
Silben lafit er aufmarschieren, die Worte nehmen sozusagen den Para- 
deschritt an, festgefiigt wie eine Friedenskompanie steht jeder Satz, das 
Pradikat am Schlufi: »Alles ist wahr, was ich hier gesagt habe.« »Hier«, 
sagt Briidigam mit Betonung. Sonst hat er wohl schon manchmal gelo- 
gen. 

Der Angeklagte Wamecke wankt plotzlich auf seinem Sitz. Er wird 
hinausgefiihrt und stiirzt zusammen. 

Am Schlufi der gestrigen Sitzung gab der Vorsitzende des Staatsge- 
richtshofs bekannt, dafi der Gerichtshof noch dariiber BeschlufS fassen 
werde, ob die Sache Warnecke abzutrennen sei, da zu befiirchten ware, 
dafi die Verhandlung infolge der Gesundheitsstorungen des Angeklag- 
ten Warnecke nicht weiterkomme. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, n. 10. 1922 



DER OBERREICHSANWALT SPRICHT 



Leipzig 
Das war der letzte feierliche Tag dieses Prozesses. Der letzte Tag des 
formalen Pathos, der Tag weihevoller Gebarde. Um i Uhr nachmittags 
steht der Oberreichsanwalt auf. Das dunkle Rot seines Mantels er- 
scheint fast um einen Grund roter. Sein Haupt bedeckt das rote Barett. 
Sein Gesicht ist unerbittlich, seine Augen sehen geradeaus, seine Bewe- 
gungen sind knapp. 

Im Saal herrscht horbares Schweigen. Stille, die man greifen konnte, 
Des Oberreichsanwalts Stimme schneidet sie fast. 
Die Angeklagten lauschen mit vorgeneigtem Oberkorper ihrem mach- 
tigen Ankiager. Die Verteidiger blattern in den Akten und schreiben 
fleiEig, Sie lauern auf giinstige Offensivgelegenheiten, sammeln An- 
griffsflachen fur morgen, strategische Pladoyerpositionen. Sie graben 
Schiitzengraben der Jurisprudenz. Sie bauen Drahtzaune aus Paragra- 
phengeflecht. 

Der Prasident putzt seine Brille, steckt sie ein und zieht eine andere 
hervor. Es ist, als verberge er die Verhandlungsbrilie und lege die Zu- 
horerbrille an. Seine Aktivitat ist diesmal beendet. 
Der Oberreichsanwalt spricht. Die Atemziige der Zuhorer schleichen 
gleichsam auf Sohlen. Die Wachtsoldaten vergessen, dafi sie abgelost 
werden. Der Saaldiener steht traumverloren in einer Ecke. Er vergifit 
seine iiblichen Kontrollblicke. Er hat seine Pflicht eingestellt. 
Der Oberreichsanwalt spricht. So spricht kein deutscher Staatsanwalt. 
So spricht ein klassischer Romer. »Wie lange noch, o Catilina? . . .« 
Das ist Jurisprudenz in literarischem Gewand. Das ist der Stil eines 
Schriftstellers von Qualitat, Da ist Entriistung, durch Weisheit ge- 
hemmt und durch Vorsicht in kiinstlerische Form gezwungen. Da ist 
Begriff genau abgewogen gegen Begriff. Verwandte Begriffe, verwech- 
selbare, scheiden sich. Da sieht man gleichsam Walle um jedes Wort 
gelegt. Nichts ist schwankend. Grenzen erheben sich zwischen Satz 
und Satz. 

Die Stimme hebt und senkt sich. Diese Stimme mit dem bajuwarischen 
Tonfall, den viele im Saal nicht verstehen konnen. Es ist die Stimme 
eines osterreichischen Strafrechtslehrers ungefahr. Die Stimme eines 
siiddeutsch-dialektischen, aber gewissenhaften Juristen. 



886 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die ersten Satze handelten von den Organisationen, von der politi- 

schen Bedeutung des Prozesses, Rathenau wurde zitiert (er charakteri- 

sierte einmal die Morder Erzbergers in einem Interview mit einem hol- 

landischen Journalisten), und in diesem Augenblick steigt noch einmal 

die lebendige Wirkung des Ermordeten auf, seine prophetische Gabe. 

Es ist schwer, ungeriihrt zu bleiben, wenn der Oberreichsanwalt von 

dem »Mord an einem der besten deutschen Manner« spricht. 

Nach den ersten Satzen legt der Oberreichsanwalt sein Barett ab. Die 

Feierlichkeit seiner Rede mildert sich leise, als er auf den sachlichen 

Teil eingeht. Da werden schwierige juristische Begriffe mit ein paar 

einfachen Worten verstandlich, so einfach, dafi sie sogar ein Mitglied 

des Bundes der Aufrechten verstehen kann. 

Wenn der Oberreichsanwalt gegen Techow die Todesstrafe beantragt, 

senkt sich seine Stimme. Wenn er gegen Giinther loszieht, bekommt 

sie eine laugige Scharfe. Mit ein paar Strichen charakterisiert er Ver- 

worfenheit und Prahlsucht, Lug und niedrige Gesinnung. 

Diese Scharfe hat die Stimme nur noch bei dem Satz iiber die Presse, 

die taglich den unreifen Kopfen ihren verderblichen Unsinn vorkaue. 

Man sieht die wiederkauende nationale Presse. 

Nur einer wird frei davonkommen, Vofl, der Problematische. Die 

ganze Zeit iiber saf5 er gespannt, jetzt losen sich seine Ziige. Die Ankla- 

gerede ist zu Ende, Langsamer als sonst leert sich der Saal. Es ist, als 

laste die Wucht des Gehorten noch auf alien. 

Die Rechtsanwalte gehen mit schweren Mappen heim. Biicher aus der 

Bibliothek des Reichsgerichts beschweren sie. Die Frau dieses und je- 

nes Verteidigers ist nach Leipzig gekommen, um den grofien Tag ihres 

Mannes mitzuerleben. 

Nur ein einziger verlafit heute fast als erster das Gericht. Mit langen 

Schritten eilt er - der nachsten Likorstube wahrscheinUch - entgegen: 

Vofi, der Problematische. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 12. 10. 1922 



PLADOYERS IN LEIPZIG 



Leipzig 
Techow weint, Der blonde Jiingling mit dem leicht geroteten Gesicht 
weint im Anblick des Todes. Menschiich ein mitleiderregendes Moment. 
Sachlich andert es nichts an der Uberzeugung, daf^ Techow schuldig ist. 
Die Verteidiger erheben sich. Sie reden mit Eifer und Flei£ und ein wenig 
Selbstgefalligkeit, Sie lauschen dem schonen runden Klang jedes Wortes, 
warten das Echo einer gelungenen Gesetzesauslegung ab, nehmen mit 
feierlicher Gebarde ein Heft in die Hand und lesen daraus vor. Noch 
einmal wird Rathenau gewiirdigt - ailerdings zu spat-, es ist, als wolhe 
man den Toten versohnen und seine Verzeihung als Zeugenschaft fiir die 
Angeklagten anrufen. 

Der Dr, Sack ist verbindUch, Dr. Bloch ebenfalls. Die Hoflichkeit der 
Verteidigung ist grenzenlos, ihre Verehrung fiir den oft angerufenen 
»Hohen Gerichtshof« ist grofi. Der Prasident blickt den Verteidigern 
interessiert ins Angesicht. Kein Blatterrascheln stort sie, kein Stuhlriik- 
ken, niemand unterbricht, programmgemafS verlaufen ihre Reden, 
Der friihere KGichska,nz\cr Fehrenbach, von alien Exzellenz genannt und 
als solche empfunden, macht gelegentUch Notizen. Eifrig ist der Ober- 
reichsanwalt liber seine Papiere gebiickt. Der Eindruck seiner machtigen 
Anklage ist noch nicht verwischt. Vergebens kampfen die Rechtsanwalte 
gegen die steinernen Argumente und gegen den Klang dieser Stimme, die 
man noch tagelang im Ohr haben wird. 

Die Angeklagten sind aufgeregter denn je - sie schreiben, offenbar An- 
merkungen fiir ihre Schluf^worte. Je naher der Tag der Entscheidung 
riickt, desto nervoser ihre Bewegungen, desto blasser ihre Gesichter. 
Ruhig blickt eigentUch nur der Angeklagte Ilsemann^ von dem allgemein 
der Eindruck vorherrscht, dalJ er ein reines Gewissen hat. 
Von den Verteidigungsreden zeichnet sich diese und jene durch ge- 
wandte Dialektik, manchmal sachhche Prazision, juristische Griind- 
Hchkeit aus - keine einzige reicht an die Rede des Oberreichsanwalts 
heran. 

Heute kommen noch die Verteidiger Schiitts und Diestels zu Wort. Ihre 
Reden werden kaum zwei Stunden in Anspruch nehmen. Dann folgt eine 
kurze Repiik des Oberreichsanwalts. Das Schlul^wort haben die Ange- 
klagten, von denen Ernst Werner Techow der erste ist. 



888 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wird so der Vormittag den Pladoyers der noch nicht gehorten zwei 

Verteidiger gehoren, so bleibt der Nachmittag fiir die Angeklagten. 

Morten, spatestens Montag, wird dann das Urteil verkiindet, Moglich 

ist allerdings noch, dafi ein nochmaliges letztes Verhor mit Techow 

geplant ist. Es ist hier allgemein der Eindruck vorherrschend, dafi man 

Techows Kopf retten konntej wenn er sich lu einem umfassenden Ge- 

stdndnis bereitfdnde, 

Auch von Ilsemann erwarten noch einige eine Aussage iiber den Kof- 

fer. 

Der heutige Tag ist nicht nur der letzte, sondern auch der psycholo- 

gisch interessanteste. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 13. 10. 1922 



DIE WELT MIT DEN ZWEI SEITEN 



Der Kapitanleutnant Tillessen, MitgHed der Orgesch und der Organi- 
sation C, des Deutschnationalen Schutz- und Trutzbundes und ande- 
rer Vereine, deren Zweck der phrasenumsponnene Mord ist, hat im 
Rathenau-Prozefi erzahlt, dafi er einmal in einem Seekampf zwei Men- 
schen das Leben gerettet hat. Ich sah mir das Angesicht des Kapitan- 
leutnants an und glaubte ihm sowohl die Menschenrettung wie den 
Mord. 

Weshalb aber rettete der Kapitanleutnant, dessen Ziel es ist, moglichst 
viele Menschen umzubringen, just jene zwei? Geschah es aus eruptiver 
Liebe zur Welt? Aus plotzlich uniiberwindlich gewordener Christlich- 
keit? Soil ich die Nachstenhebe fiir jene zwei begreifen, so bleibt mir 
der Nachstenhafi gegen die tausend anderen ein Ratsel. 
Ein Kamerad im Felde, der eine Kote (Hohe) erstiirmen half, bekam 
eine Auszeichnung und ein anderer, der seinem Leutnant das Leben 
rettete, ebenfalls. Man schatzt also das To ten und die Rettung, den 
Gewehrkolben und die Tragbahre, das Giftgas und die Verbandwatte. 

Allerdings - man schatzte alle diese widerspruchsvollen Dinge nur, 
wenn sie zusammen gebraucht wurden. Ja, die Tragbahre verdankte 
ihren Wert dem Karabiner, die Verbandwatte wurde nur dank der Exi- 



1922 889 

stenz des Bajonetts anerkannt. Ohne Generale ware das Rote Kreuz 

nicht vorhanden, und wenn die Gemeinheit nicht da ware, konnten 

wir der Barmherzigkeit entbehren. 

Wenn die Konige keinen Krieg machten, brauchten die Prinzessinnen 

nicht Pflegeschwestern zu werden, und der rettende Ansichtskarten- 

engel, der seine Gloriole wie einen Regenschirm iiber den verwunde- 

ten Krieger halt, ist der Bruder jenes Teufels, der die 42-Zentimeter- 

Kanonen erfindet. 

Denn so ist es in dieser Welt, dafi der Kaiser die Manner totet, um die 

Witwen und Waisen zu unterstiitzen. Neben den grofSen Fabriken ste- 

hen die Versorgungshauser, und die wohltatige Linke weil5 nicht, was 

die verbrecherische Rechte tut. 

Ich glaube also jedem, dai5 er zwei Menschen das Leben gerettet hat 

und mehreren zu rauben es imstande ist. 

Die Welt um uns hat namlich zwei Kehrseiten, von denen eine Bestiah- 

tat heifSt, die andere Wohltatigkeitskomitee. 

Vorwarts, 14. 10. 1922 



DIE BAYRISCHE RICHTERSEELE 



Die bayrische Richterseele, juristische Abart der bayrischen Volks- 
seele, unbewuEtes Exekutivorgan des gesetzgebenden »Miesbacher 
Anzeigers«, stammt noch aus dem Mittelalter und gelangte als Beweis 
fiir die Theorie der Seelenwanderung in das fiir ihre Entwicklung am 
giinstigsten gelegene Gebiet Bayerns. 

Unbekiimmert um die Neuzeit, die sich rings um die Grenzen dieses 
Landes ausbreitet, lebt die bayrische Richterseele in den Korpern aka- 
demisch geschulter Untertanen und spricht Recht im Sinne koniglicher 
Majestaten, wenn auch noch nicht in deren Namen. 
Den Applaus Europas vernimmt sie nicht - wegen der grol^en Entfer- 
nung der bayrischen Ordnungszelle, die irgendwo verloren, in kultu- 
reller Nahe der Kannibalen, losgelost vom Festland umherschwimmt. 
Nur des eigenen Volkes Beifall dringt zur bayrischen Richterseele aus 
den Spalten jener »Munchner Neuesten Nachrichten«, in denen das 
Bockbier der frommen Denkungsart gebraut wird . . . 



890 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Also kommt es, dafi Milde sich der bayrischen Richterseele nur in je- 
nen Fallen bemachtigt, in denen der Delinquent ein Graf ist und durch 
einen kleinen Meuchelmord seine jiidische Grofimutter in Vergessen- 
heit bringt; dafi aber Strenge der Richterseele oberstes Gebot wird, 
wenn sie einen Republikaner vor die Gerichtsschranken zitiert, die ih- 
ren Horizont abgrenzen . . . 

Und trotzdem ist ihre Objektivitat eine Tatsache und gegen jeden 
Zweifel gesetzlich geschiitzt. J a, man mochte sagen: iiber jeden Zweifel 
gesetzlich erhaben . . . 

Auch ihre Unabhangigkeit - von der offentlichen Meinung ist niemals 
bestritten worden. 

Seltsam nur ist ihr Hang zur Paradoxie: 

In dankbarer Erinnerung an die Revolution erwahlte sie das Volksge- 
richt zu ihrem Siedepunkt, sie sammelt sozusagen Meilensteine der Re- 
volution - und schichtet sie zu Zuchthausern fiir Revolutionare . . . 

Vorwarts, 24. 10. 1922 



KULTUR-HERBST 



Morgenstunden, von Triibsalglasur sanft iiberhaucht, schaukeln, friih- 
windgeschwellt, pausbackig, durch die Stadt. Von Pflichtweckerge- 
klingel aus weicher Bettheimlichkeit geschrillt, kletten der Mensch, 
Herr der Schopfung, verspatet an frommen Morgenspriichleinsprossen 
empor zu Wachheit und Waschbecken. 

Hausverwalterbesen wischen Gewesenes und Gestern und welkes 
Laub aus der Pflastersteine Angesicht. 

Strafienbahnen schlottern, von der Insassen Tatendrang getrieben, 
stromsparend Schienen entlang dem Segen der Arbeit zu. Und Kinder, 
mit Bravheit und Schulmappen versehen, Moi^enkakaogeschmack in 
den MUndern, wiederkauen eiligst deutsche Dichter. Andre wirbeln 
aus nachtlicher Lauheit, blattergleich, vom Hunger wild geschiittelt, in 
den Maschinenbehalter Welt. Indes, kaum gesehen, eine Sonne iiber 
marineblaue Himmel schlendert, sorglos, als waren Biirostiihle, Treib- 
riemen und Kultur unbekannt auf Erden. 



1922 891 

Bei Herbstmittagssonnenstrahl hauten sich die Litfafisaulen neu und 
Offenbarungen profitsuchender Lebensfreude, die verfiihrerisch noch 
nach frischdunstendem Klebekleister duften, Aus den Dielen der Erde 
spriefit die Ernte der Saison. Damenhiite erbliihen auf Kleiderstengeln 
in den Schauscheibengarten von Wertheim und Tietz, 
Sonnensatte kehren heim zu Perserteppich und Premiere. Und schon 
klimmt der Spielplan aus sommerlichen Possenniederungen olympi- 
sche Hohen hinan. Grofie Filmereignisse werfen ihre Schatten auf die 
Leinwand. 

Nachte sind passantenbelebt und von frisch errungener Amlisierfreude 
durchpulst. In den grofien Schauspielhausern der Welt gibt man das 
Spiel vom Leben des reichen Mannes. 

Aber im Tiergarten ist Herbst. AUeen w^andeln trauerbunt durch die 
Welt. Herbst ist im Tiergarten. 

Vorwarts, 29. 10. 1922 



DIE BANK DER KLEINEN LEUTE 



Am Eingang der grofSen Bahnhofshalle steht die Wechselstube. Aus 
Brettern und Glasscheiben ist sie erbaut. Niedliche Dollar- und Fran- 
kenscheine sehen zu den Fenstern hinaus. In der Ecke ein eisernes 
Ofenrohr spendet Warme. Freundliches Messinggeflecht am Schalter 
wehrt, lachelnd fast, unbefugtem Eingriff. 

Ein holdes Madchen im Innern huscht mit hurtigen Fingern iiber froh- 
bunte Scheine. Es sieht aus wie aus dem Rahmen einer fremden Bank- 
note gestiegen. Jenes Portrat auf dem ausgestellten Lireschein ist ihr 
eigenes. Blonde Priesterin der Valuta, die ihren Gottesdienst im Wech- 
seltempel veriibt. 

Die grofie Bahnhofshalle konserviert die Gerausche der Welt. Vom 
kalten Atem der Fremdheit ist sie durchweht. Das Licht ihrer Bogen- 
lampen leuchtet nur und warmt nicht. Ihre geraumigen Wartesale 
klappern frostelnd mit den Tiiren. 

Die Wechselstube allein haucht Warme und Behagen. Innerhalb der 
Bannmeile des Dollars steht sie, und nichts kann ihr geschehen. Ihre 



S^Z DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Tiir schliefit gerausch- und fugenlos. Sle ist die Oase sefihaften Beha- 
gens in dieser Wimmelwiiste - in der Vielode sozusagen. 
Ich lobe mir diese Wechselstube vor alien ihren grofien Koliegen, den 
Bankpalasten mit den fleckenlosen Strafienschildern und unzahligen 
Schaltern, vor denen man andachtig verharren mufi wie in einem Got- 
teshaus. Mogen die grofimachtigen Herren mit ihren Devisen hierher- 
kommen. - In unsere Wechselstube am Bahnhof kommen die Zufalls- 
besitzer, die eine fremde Valuta getroffen hat wie ein heiterer Blitz 
vom bewolkten Himmel. Die Neffen und Nichten des Onkels aus 
Amerika. Diejenigen, derentwegen der Dens aus der Machina steigt. 
Die Sonntagskinder, die ein Wunder gestreift. 

Ein Strafienmadchen also mit einem Fiinffrankenstiick, das ihr ein 
Schweizer gestern abend in den Schofi fallen liefi und das in den 
Strumpf gerutscht ist; ein Literat mit einem hollandischen Honorar, 
fUr das er in Amsterdam gerade noch ein Belegexemplar kaufen 
konnte; der Maler, der seine Skizze an einem mit Englandern garnier- 
ten Cafetisch verkauft hat; der Student aus Prag, dem die Mutter einen 
Zwanzigkronenschein in den Briefumschlag gesteckt hat (Mutter 
schicken nicht mit Postanweisungen) ; ein Wiener, der sehr erstaunt ist, 
dafi er uberhaupt noch Geld fiir Kronen bekommt; ein Koffertrager, 
dem ein fremder Fahrgast eine seltsame Miinze geschenkt hat mit dem 
Scheinheihgkeitsbild eines Konigs drauf ; und ein Bettler mit fremdlan- 
dischem Nickelstiick. 

Der japanische Student wechselt ein heimatliches Trinkgeld gegen eine 
Charlottenburger Dreizimmermiete. Er ist sparsam und sah vorher 
den Kurs in der Zeitung nach. Er zahlt mit angstlichen Handen, faltet 
Tausender vierfach, Hunderter zweifach in einer roten Saffianlederta- 
sche mit goldenem Monogramm. Es ist alles mit geradezu schmerzH- 
cher Peinlichkeit in seiner Brusttasche geordnet. Eine Fiillfeder hangt 
an ihr mit gekriimmtem Zeigefinger aus Metall. Eine Photographie 
schlummert in geplattetem Seidenpapier. - Es ist das Muster einer 
europaischen Brusttasche. 

Zwei Knaben in Matrosenblau haben Scheidemiinzen gebracht in einer 
braunen Holzdose. Generationen haben diese Miinzen gesammelt, 
und ein paar moderne Pesetas klaubt ein kundiger Zeigefinger aus dem 
Massengrab der Nickelstiicke. 

Der Besitzer der Wechselstube, freundlichen Angesichts, als ware er 
der Erfinder des DoUarkurses, trostet Wartende mit verheifiendem Zu- 



1922 893 

ruf: »Heute bekommen Sie viel, Ihr Kurs ist gut,« Und nur jene Kell- 
ner, die eben mit geblahten Frackschofien aus den Cafes der Umge- 
bung herangesegelt kamen, Zehntausender zu wechseln, diirfen zuerst 
am Schalter anlegen. 

Unter den Gliicklichen war ein Invalide, aus Hamburg, wie sich spater 
herausstellte. Der zog aus vergessenen Abgriinden einer Hosentasche 
wie aus einem tiefen Brunnen ein verrunzeltes, vom abgelagerten Fett 
der Zeit schwarzlich gewordenes Portemonnaie. Das Portemonnaie 
hatte vier Facher. Vier iibereinandergeschichtete Facherschalen, und 
drei waren leer. Im vierten und innersten kam ein Fetzen Zeitungspa- 
pier zum Vorschein. Im Zeitungspapier lag der Zipfel eines blauen Ku- 
verts, darin ein Seidenpapierknauel, und diese Hiille erst offenbarte 
einen Nickel. Es war ein Fiinfpennystiick. Was macht cine Wechsel- 
stube mit einem einzelnen Fiinfpennystiick? Der Invalide kleidete es 
wieder in die drei papierenen Mantel, verwahrte es im innersten Fach 
seines Beutels und versenkte diesen in seiner Brunnentasche. 
Er tut recht daran, der Invalide, es so zu verwahren. Wenn er wieder- 
kommt, wird er, almosenspendend, ein fiirstlicher Trinkgeldver- 
schwender, nach Hamburg im Schlafwagen heimkehren. Und neben 
ihm wird sein englischer Wohltater schnarchen. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, i, 11. 1922 



WOHLAUF, KAMERADEN, AUFS PFERD . 



Der Rektor der Berliner Universitat hat anlafilich des Maskenfestes, 

das hierzulande »Rektoratsiibergabe« genannt wird, die Studenten auf- 

gefordert, das Lied »Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd . . .« zu singen. 

Rektor Nernst, beriihmter Gelehrter und Trager des Nobelpreises, 

friedlicher Mann und der Wissenschaft ergebener Diener, behauptete, 

dieses Lied wiirde die Studenten zu »intensiver Lebensbetatigung« er- 

muntern. 

Wer unsere Studenten kennt, die Chargierten und Korporierten, die 

Monokeltrager und die Bierkrugschwinger, weifi, worin ihre »inten- 

sive Lebensbetatigung« besteht. 

Man hatte also aus Anlafi des Semesterbeginns vom Rektor das Zei- 



894 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

chen zu einem Lied erwartet, in dem nicht die Aufforderung zu 

frohlichem Reiten ausgesprochen ist, sondern eine zu geistiger Ver- 

innerlichung. 

Ich stelle mir vor, dafi der Direktor eines Tattersalls bei der Eroff- 

nung eines Reitkurses die Teilnehmer bittet: »Wohlauf, Kameraden, 

aufs Pferd« zu singen, 

Der Rektor Nernst aber eroffnete eine hohe Schule, die gerade nicht 

geritten wird. 

Man kann sich schliefilich mit mittelalterlichen Panzern, Rapieren, 

wehenden Federbiischen bei einem Rektoratswechsel zufriedenge- 

ben. 

Auf berittene Korpsstudenten konnen wir verzichten . . . 

Josephus 
Vorwarts, 3. 11. 1922 



BRUNNER BLEIBT 

Ein Dementi 

Der popuiarste Zensor der deutschen Republik soil in Bayern - wo 
denn sonst? - seinen Lebensabend verbringen. Er ware wohl geartet, 
in der schonen Natur, am Chiemsee, offentliches Argernis zu erre- 
gen. Die Landschaft wiirde an ihm Anstofi nehmen, ohne ihn ver- 
bieten zu konnen. Die geduldige Erde wiirde ihn tragen miissen, wie 
sie Prinzen, Betschwestern und andere Auswiichse des Menschenge- 
schlechts ertragt. Er wiirde zusehen, wie Kalber gezeugt und gebo- 
ren werden, und seine Gegenwart wird des Zeugungsaktes Heilig- 
keit beleidigen. Von alien landwirtschaftiichen Tatigkeiten ware ihm 
die Kastration neugeborener Hengste am ehesten genehm - die Zen- 
sierung der geschlechtlichen Fahigkeiten. 

Da er nicht einmalige Wesenheit ist, da sein Name Gattung bezeich- 
net und Programm bedeutet, gilt fiir ihn nicht die versohnliche Iro- 
nic, mit der man von einer scheidenden Widernatiirlichkeit Abschied 
nimmt, Nicht dem Professor Brunner personlich, den in die uner- 
reichbare Sphare des »Miesbacher Anzeigers« Entriickten, gilt eine 
Auseinandersetzung. Wohl aber jenem Brunner der deutschen Er- 



1922 895 

scheinung, die sich gemafi ihren Anschauungen nicht durch Fortpflan- 
zung, sondern durch Ansteckung vermehrt. 

Diese Brunner-Gattung, sozusagen der Plural von Brunner, hat kein 
Urlaubsgesuch eingereicht, geht nicht in Pension, sondern bleibt in 
Deutschland. Brunner ist der Oberlehrer aus StegUtz, der in der 
Kunstausstellung Anstofi nimmt und zum Gliick seinen Regenschirm 
- die Waffe seines Geistes - in der Garderobe abgegeben hat; Brunner 
ist der Staatsanwalt, der Einstein verurteih; Brunner ist der Abonnent 
des »Lokal-Anzeigers« ; der Leser der »Scherl-Woche«, der geistige 
Kastrat. 

Einmal horte ich einen Vortrag Brunners - er sprach (natiirHch) in der 
Universitat. Es war ein kleiner Horsaal mit einem Dutzend Banken 
etwa. Da sa£ Brunner neben Brunner, in Manner- und Frauenklei- 
dung, um einen Unterschied der Geschlechter zu markieren. Auf dem 
Katheder stand Brunner im Bratenrock - und hielt seiner eigenen 
Mehrzahl einen Vortrag. Es war ein gespenstisches Erlebnis. 
Brunner trug ein kleines Schnurrbartchen, einen hohen Schadel - 
gleichsam zu Propagandazwecken - hatte schwarze flackernde kleine 
Augen, eine behabige Gestah: eine Oberlehrererscheinung. Wenn er 
was Besonderes gehabt hatte - er ware weit weniger gefahrlich. Aber er 
hatte nichts Besonderes. Nur AUgemeines. Er war die Einzahl von 
Brunner. Und das macht Brunner gefahrhch. 

Sogar sein Fanatismus war keine Besonderheit. AlleZuhorer waren 
fanatisch. Alle Brunner in Deutschland sind fanatisch. Fanatische Mit- 
telmafiige. Das Mafi, mit dem sie messen, ist ihr eigenes Mittelmafi. Sie 
sind weder verworfen noch erhaben, sie stehen zwischen dem Idealen 
und dem Verworfenen und sind beider Gegensatz. 
Ihr Schmerz beim AnbHck einer Nacktheit mag vielleicht ehrlich sein. 
Vielleicht schreien sie, weil ihnen Schonheit wehe tut. Aber ihr beam- 
teter Bruder hort den Schrei und handelt so wie jeder, dem Gott den 
Verstand genommen hat, um ihm dafiir ein Amt zu geben: Er konfis- 
ziert . . . 
Ich dementiere also Brunners Abschied. Brunner hleibt . . . 

Vorwarts, 5. 11. 1922 



KLEIDERHANDEL 



Der Rock war alt und sein Verkauf im stillen langst beschlossene Sa- 

che. Oltropfen vom Flugrad der Zeit hatten Fettflecke hinterlassen. 

Runzelfalten auf Klappen und Armeln wolbten sich dem gliihenden 

Liebesdruck des Platteisens entgegen. Aber das Entscheidende war das 

Loch. 

Das Loch auf der linken Schulter. 

Es bhnkte weifihch wie ein Auge durch die karierte Brille der vertu- 

schenden StopfwoUe. Es zog, Brennpunkt meiner Scham, alle BHcke 

der Tischgenossen auf sich. BHcke drangen wie Stecknadeln durch das 

Loch in die Hnke Schulter und verursachten Schmerz. 

LacherHche Notwendigkeit des Alltags brachte mir drei Manner ins 

Haus. Sic lebten vom Kieiderhandel. Auf ihren Armen hauften sich 

abgezogene Menschenhaute in alien Farben und Stoffen. 

Es waren Konkurrenten. Dafi ich sie alle drei gleichzeitig geladen, 

schien mir aufierste Schlauheit. Ich erwartete Katarakte von Angebo- 

ten. Buntrauschendes Schauspiel sich iiberstiirzender Preisfontanen, 

Taumelreigen von Zahlen. 

Aber das Gegenteil geschah. Genossenschaft eines edlen Berufs 

schweifite sie zu einem Drillings treubund zusammen. Sie waren 

eigentUch eine dreifache Ausgabe von einem. Drei Exemplare der 

Schopfung: Kleiderhandler, in Bosheit gebunden. Schulter an Schulter 

feilschten sie. 

Der Rock wandelte hin und zuriick durch drei Handepaare. Und jede 

neue Hand bot weniger. Ein Hausierer sagte - und seine Stimme ging 

heiser sagend wie ein Ril^ durch steife Leinwand: Das Unterfuttter ist 

zerfetzt! 

Es ist ein bifichen repariert, erwiderte ich. 

Repariert heifit auf deutsch zerfetzt, sagte der zweite Handler. Seine 

Hande iiberlieferten, um Deutsch sprechen zu konnen, den Rock dem 

dritten. 

Und er hat ein Loch, triumphierte der. 

Das ist kein Loch! Es ist eine kunstvoll bis zur Unkenntlichkeit zuge- 

stopfte Offnung. 

Eine zugestopfte Offnung ist eine Offnung. Und eine Offnung ist ein 

Loch, sagte der erste und flatterte mit den Armen. 



1922 897 

Der zweite bohrte mit einem Zeigefinger und beiden Augen in dem 

Loch herum: Es ist sogar ein grof5es Loch! 

Ein riesengrofies Loch! sagte der dritte und gab seinen Zeigefinger 

dazu. 

Das Loch wuchs zusehends. Armel, Kragen, Klappen und Riicken ver- 

schwanden darin. 

Dieser Rock ist iiberhaupt ein Loch! konstatierte der erste. 

Aber ein Loch ist auch was wert. Hundert Mark. 

80 Mark! larmte ein Fingerbiindel des zweiten. 

50 Mark, sagte der dritte. 

Wir einigten uns auf 70 Mark 57. Der erste bekam den Rock. 

Ich zog meinen besseren schwarzen Anzug an. Und schritt so, ahhcher 

Konfirmand, ewiges Glockenlauten in der Seele, ohne Hundemarke 

sozialer Minderwertigkeit durch Alhag und Arbeitslosigkeit. 

Dann, eines Tages, saf5 ich in der Straf^enbahn. Und sah meinen Rock. 

Ein Mann stand auf der Plattform in meinem Rock. 

Die Fatten und die Olflecke waren weg. Aber das Loch! Das Loch auf 

der Hnken Schuker! 

Mir war wie dem Geist eines verstorbenen Lowen, der, aus dem Jen- 

seits zu Besuch in seine irdische Wirkungsstatte zuriickgekehrt, sein 

eigenes Fell liber dem Korper eines Lowe spielenden Menageriepor- 

tiers erblickt. 

Ich stiirzte auf die Plattform. Aber die StrafSenbahn hielt gerade, und 

der Mann sprang ab. 

Mein Rock verlor sich im Gewimmel. - 

Nun sehne ich mich nach der dunkelblauen Stoffschale meines Ichs, 

die in der Gezeiten Wechsel, der Geschehnisse Fulle zu einer Art Haut 

sich herangedient. 

Und ich sehne mich nach dem kleinen, winzigen Loch auf der linken 

Schulter. Und ich weift plotzlich, wie es entstanden ist. Claire hielt die 

Zigarette iiber meiner linken Schulter. So entstand das Loch. 

Am nachsten Morgen aber ging ich zu Gretl Reich, die blond war und 

stopfen konnte. Und seit jener Zeit herrschten zwei Frauen in meiner 

Welt: eine, die zigarettenrauchend nachtliche Locher in die Schulter 

brennt. Und die andere, die sie am nachsten Morgen mit Kunst und 

Ergebenheit stopft. 

Und beides war Liebe . . . 

Vorwarts, 14. 11. 1922 



BERLINER SAISONBERICHT 



»Saison« ist nicht lediglich eine beliebige Jahreszeit, sondern eine, in 
der sich etwas Gesellschaftliches ereignet. »Saison« heifit eine be- 
stimmte Jahreszeit im Gesellschaftskulturkalender. 
Da hauten sich die Litfafisaulen nun mit ernsten und bunten Plakaten, 
und in den Schaufenstern der Modewarenhauser erbliihen Damenhiite 
auf braunlackierten Stengeln. Die Preise spriefien auf Tafelchen aus 
Pergamentpapier, und in dramatischen Gesangsunterrichtsstunden 
zwitschern junge und sogar altere Madchen. 

Rezitatoren und Musikinstrumente ergreift ein uniiberwindliches Mit- 
teilungsbediirfnis; Vereinigungen beweisen ihr Dasein durch Veran- 
staltung von Festen; die Kritiker konnen vor lauter Premieren den An- 
forderungen der Schauspieler nicht gerecht werden. 
Die Tage werden kiirzer und die Nachtvorstellungen langer. Ausstel- 
lungen eroffnen sich. Alle Prasidenten der Welt ziehen die Fracke aus 
dem Schrank, und andere losen die ihrigen vom Pfandleiher zuriick, 
Tarife aller Art nehmen Prozente zu, und manche Menschen verlieren 
an Gewicht. 

Indessen schwillt der Bildungsdrang der Unproduktiven und der 
Geistkonsumenten. Sie fiillen die offentUchen Sale, und wahrend sie 
den Atem anhalten, verrat ein Papierknistern ihren korperlichen Hun- 
ger. 

Es gibt sehr viele offentliche Sale, und sie heifien entweder nach grofien 
Meistern der Musik oder auch nach ihren Erbauern oder anders. 
Auf den Podien dieser Sale stehen die Kunst- und Geistproduzenten 
und iiberlegen, wieviel ihnen von den Einnahmen der Konzertagentu- 
ren verbleibt. Dann stiirzen sie sich toUkiihn in die eigene Produktion 
und schwimmen rastlos, bis zur Pause, in Poesie und Gesang. 
Junge Madchen rezitieren gerne Christian Mor^enstern. Im Sommer 
noch spielten sie Tennis, und wer sie sah, konnte nicht ahnen, wie 
furchtbar ihnen die Saison werden soUte. 

Sie waren weiE gekleidet und harmlos wie beim Empfang von Landes- 
eltern. Nun sind sie ernst gepudert und dunkel gekleidet und werfen 
Versetennisballe ins Parkett. Die Referenten sitzen zunachst der Tiir, 
um nicht getroffen zu werden. 



1922 899 

An den Wanden und Decken der Sale ist sehr viel Zierat aus Gold und 

Stuckwerk. Unterschiedliche klassische und altgermanische Helden- 

und Sagenwesen sind zeit ihres Lebens hier festgehalten und miissen 

gegen ihren Willen symbolisch sein. 

Sehr beliebt ist Atlas, der die Weltkugel auf seinen Schultern tragt, Er 

bricht schier zusammen unter der Last der zahlreichen Rezitatoren, die 

auf seiner Welt herumrezitieren. 

Auch Venus ist eine beliebte Gottin, und ihr Korperumfang schwillt 

gelegentlich ins MafSlose. Auf ihren marmornen Briisten konnten sich 

erwerbslose Auswanderer ansiedeln. Auf ihrer ausgestreckten Hand- 

flache fande ein Schrebergarten Platz. 

Manchmal lehnt Neptun an einer Saule und wei£ nicht, was er auf dem 

Trockenen mit seinem Dreizack machen soil. 

Sehr schon sind die Gedichte junger Autoren. Diese konnen sich das 

Schreiben in Zyklen nicht abgewohnen und das Vorlesen auch nicht, 

Der Gegenstand ihrer Poesie ist Rilke, manchmal Hofmannsthal und 

manchmal sogar Dehmel. 

Man stellt mit Genugtuung fest, dafi Heine in dieser Saison nicht mehr 

so haufig abgeschrieben wird. 

Der VoUstandigkeit halber sei erwahnt, dafi die meisten jungen Dich- 

ter aus dem Westen Berlins kommen, wo sie tagsiiber vom Vater eine 

Rente beziehen. In ihren Mufiestunden besuchen sie das Realgymna- 

sium. 

In den Konzerten wird Chopin bevorzugt. Man hammert ihn auf 

schwarzen Flugeln, die in der Mitte so aufgestellt sind, da£ die Firma 

zu sehen ist. Sie befindet sich aufierdem noch auf den Programmzet- 

teln. 

Die Virtuosen sind gewohnlich jung und schwarzhaarig. Die Fortestel- 

len und ihre innere Erregung erkennt man am besten an den Bewegun- 

gen der Frackschol^e. 

Sooft sie aufstehen und sich verneigen, ist ein Stuck zu Ende, und es ist 

erlaubt zu klatschen. Wenn sie dagegen sitzen bleiben, ohne die Finger 

zu bewegen, ist das Klatschen nicht ratsam. Es stellt sich dann regel- 

maEig heraus, da£ es nur eine »volle Pause« war. 

Die Beheizung des Konzertsaals richtet sich nach dem Grad der Be- 

riihmtheit des Virtuosen. In dieser Saison sind die Konzertsale nicht 

sehr gut geheizt. 



900 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Dennoch mufi man die Uberkleider ablegen, aus Achtung vor der 

Kunst. 

Die Schuhe darf man anbehalten. 

Wenn das Publikum am SchlufS der Vorstellung sehr begeistert ist, 

spendet ihm der Virtuose noch ein »Ave Maria«. Dieses Lied ist in der 

Welt beriihmt als aufierprogrammliche Zugabe. Deshalb ist es so selten 

angekiindigt und wird doch immer gespielt. 

Jeder Konzertsaal hat ein »Kunstler2immer«, das ein beliebter Aufent- 

haltsraum der Familie ist. Dort wird der Virtuose in der Pause gelabt 

wie ein Boxer vor der Runde. 

An einem der nachsten Morgen liest er seinen Namen in gesperrtem 

Druck mitten unter zahlreichen Kollegen, und er hat die seksame 

Empfindung eines Lebenden, der sich in einer Verlustliste befindet. 

Der Rote 
Vorwarts, i8. ii. 1922 



NATIONALISMUS IM ABORT 



Im ProzefS gegen die Scheidemann-Attentater horte man von den Mor- 
dern selbst, dafi sie ihren Plan in der »Toilette« eines Weinrestaurants 
reifen liefien. Man kann Grund haben, alle Aussagen der Attentater zu 
bezweifein - nur diese eine nicht. Deutschnationale Schutz- und 
Trutzbiindler, selbst wenn sie in einem HeiHgtum ihre Plane schmie- 
deten, konnten es zum Lokus degradieren. Sie fassen aber ihre Ent- 
schliisse nicht in HeiUgtumern, sondern in den Aborten der Weinhau- 
ser. 

Ironie des Zufalls fiigte es einmal, dafi ein deutschnationaler Student 
und Defraudant nicht anders hiefS als - »Biertimpfl«. Ein zweites Mai, 
dzH einer der Rathenau-Morder den Namen »Niedrig« trug. Und der- 
selbe ironische Zufall la£t einen nationalen Mordplan im Klosett reif 
warden. 

Nicht nur Siegesalleen - auch Bediirfnisanstalten konnen die Gesin- 
nung eines Volkes charakterisieren. Ich kenne mehrere Lander Euro- 
pas und ihre Bediirfnisanstalten. Aber nur in Ungarn und in Deutsch- 
land fand ich so viel nationalistische Exkremente an Klosettwanden. In 



1922 ^01 

alien anderen Landern sah ich nur sexuelle Schweinereien. In Deutsch- 
land auch politische. 

Ein echter Nationaler kann keine Rotunde verlassen, ehe er nicht sei- 
nem Drange, ein Hakenkreuz hinter sich zu lassen, Geniige getan. Er 
weifi es selbst, wohin seine Gesinnung gehort und dokumentiert sie an 
passendem Orte. Dafiir miifite man Ihm eigentlich dankbar sein. Von 
den Argumenten (»Belangen«, sagt ein Volkischer), die in den Klosetts 
geaufiert werden, lassen sich nur verwandte Naturen iiberzeugen. Der 
Nationalist hat sich selbst sein einzig mogHches Propagandasystem ge- 
schaffen. Allein, weil er in der Bediirfnisanstalt Politik zu machen ge- 
wohnt ist, betrachtet er jeden Ort, in dem er Politik macht, als Bediirf- 
nisanstalt. Und benimmt sich danach. 

Der Plan, Rathenau zu ermorden, ward in der Mensa der Technischen 
Hochschule geschmiedet. Damals glaubte ich, dafi kein Ort mehr ge- 
eignet ware fiir reaktionare Meuchelmorder als eben cine reaktionare 
Hochschule. Aber siehe da: Die Scheidemann-Attentater hatten noch 
ein besseres Stelldichein gefunden: die »Toilette«. Sie selbst (nicht ich) 
riicken somit diese Ortlichkeit in die bedrohliche Nahe unserer Hoch- 
schulen, 

Vielleicht - wenn jener oben angefiihrte ironische Zufall es will - wird 
es sich in der nachsten Verhandlung ergeben, da£ die Harden- Attenta- 
ter ihren Mordplan in der - Bediirfnisanstalt einer deutschen Hoch- 
schule ersonnen haben. Nach den politischen Grundsatzen, die unsere 
Biertimpfls in jenen Raumen von sich geben, konnte man wohl auf 
Meuchelmorder schliefien. 

Wer es gut meint mit den Hakenkreuzlern - die »Deutsche Tageszei- 
tung« zum Beispiel-, tate gut daran, seine Gesinnungsgenossen vor so 
haufigen Zeichnungen und Inschriften zu warnen. Ein Fremder, der, 
ohne Maurenbrechers Aufsatze gelesen zu haben, nach Deutschland 
kommt, konnte leicht glauben, das Hakenkreuz bedeute hierzulande 
dasselbe, was in anderen Landern durch die Bezeichnungen »Hier«, 
»Fiir Manner « usw. ausgedriickt wird. 

Vorwarts, 9. 12. 1922 



DIE FREUDEN DES WINTERS 

Furs deutsche Lesebuch bearbeitet 

Der Winter ist eine lustige Jahreszeit. 

Er ist die Saison der Feste und Freuden, des Hungers und der Kalte, 
der Bestialitat und der Barmherzigkeit. Diese Jahreszeit hat alle Eigen- 
tiimlichkeiten einer kapitalistischen Institution. 
Die Tage werden kiirzer, das Elend wird grofier. Die Erde hiillt sich in 
Reif und Schnee, und der Mensch in Skunks und Zobel. Nach Sankt 
Moriz und Garmisch-Partenkirchen wallrodelt die vornehme Welt. 
Von der Gottheit des Sports mit gesundem Appetit begnadet, kehrt sie 
heim zu Kranzchen und Karneval. Ein gerechter Himmel streut Kaviar 
auf ihren Weg, das Manna der Reichen. Die Horse bleibt »fest und 
sicher«. Montanwerte steigen. Dank dieser gliicklichen Umstande 
wird im Winter der Anfang des neuen Jahres gefeiert. Das geschieht in 
einer Nacht, die man mit Recht »Silvesternacht« nennt und fiir die 
beim Geschaftsfiihrer Tische »vorausbestellt« werden miissen. In fro- 
her Zuversicht sieht man den kommenden Dingen entgegen. Aus Sekt- 
flaschen erknallt das Trommelfeuer des Friedens und der Eintracht. In 
der Feuerlinie des Silvesters fehlt keiner von jenen, die man in einer 
anderen vergeblich gesucht hatte. 

Mit Wohlgefallen betrachtet man hinter glanzenden Spiegelscheiben 
frierende Bettler, Objekte der Wohltatigkeit und der duldsamen Poli- 
zei. Der Mensch ist gut, wenn er getrunken hat, und spendet Hundert- 
markscheine aus Irrtum, der eine Giite des Unterbewufitseins ist. Gott 
Dollar lohnt dem Spender und steigt urns Zehnfache. 
Des Morgens wandelt eine triibe Sonne iiber graue Himmel, arm und 
miide, als hatte sie im Asyl fiir Obdachlose genachtigt. Der Mensch hat 
seinen Rausch ausgeschlafen und kehrt zuriick zu Niichternheit und 
Spekulation. LJber seinem neuen Jahre glanzt das Motto: Gewinnen ist 
seliger denn gebenf 

Eingewickelt in Schal und Pelz, abgeschlossen gegen Grippe und den 
Bazillus des Mitleids, wohldurchheizt von Eigenwarme, sich selbst lie- 
bend - ist jeder Mensch im Winter sein eigener Nachster. Erst auf dem 
Umweg iiber Maskenballe wird er barmherzig. Unmaskiert bleibt er 
bestiahsch. 
So hat auch der Winter seine Schonheit: Blumen bliihen an Fenster- 



1922 9^3 

scheiben, und die Sterblichkeitsziffer steigt, als stiinde sie im Kurs- 
blatt. Die den Friihling am heifiesten ersehnen, diirfen ihn nicht erle- 
ben. Dem Karneval folgt die Grippe auf dem FuC - und wer jenen 
nicht mitgemacht hat, braucht diese nicht zu iiberstehen . . . 
Unabanderhch wie der Wechsel der Jahreszeiten sind die Gesetze der 
Weltordnung - sagt das Lesebuch ... 

Vorwarts, 30. 12, 1922 



1923 



DIE ABSEITS-MENSCHEN 



Eine Droschke wartet, im Regen, vor der Diele. 
Die Diele hat alle ihre Lichter rotlich besanftigt, und aus ihren Fen- 
stern bricht gespenstisch ein Widerschein wie bei einem Zirkusbrand 
im Film. Hinter den safrangelben Vorhangen sieht man die Silhouetten 
angeschmiegt kreisender Paare. 

Die Droschke, die im Regen wartet, besteht aus einem Gefahrt, einem 
Kutscher und einem Pferd. 

Der Kutscher sitzt auf dem Bock, in einem Kittel, mit einer Kapuze, 
wie ein Mann ohne Unterleib. Die Beine hat er hochgezogen, und er 
sitzt vielleicht auf ihnen. Oder er halt sie unter der Decke, Oder er hat 
gar keine. 

Der Peitschenstiel schwankt gertenhaft im Regen und wedelt mit dem 
Lederriemen. Der Kutscher niest manchmal, und es kUngt, als ob er 
wieherte. Das Pferd streichelt mit dem rechten Vorderhuf das Pflaster. 
Vor der Drehtiir der Diele wacht, goldbetrefit und imposant, ein Por- 
tier. Sein Schnurrbart mitten im Gesicht ist ein blonder Draht und 
lauft in zwei feine, aufwartsgerechte Spiefihaken aus, an denen man, 
wenn alle Kleiderrechen schon beniitzt sind, je einen Stadtpelz aufhan- 
gen konnte. 

Die Drehtiir kreist ewiglich um ihre Achse, und aus ihren Fachern 
fallen Menschen heraus wie Kohlenstiicke aus einem Kran. Die einen 
fallen in die Strafie, andere in die Diele, Die Drehtiir ist eine philoso- 
phische Einrichtung, und manche erblicken in ihr ein Symbol des Le- 
bens. 

Der Portier greift immer mit der Rechten an die goldene Kappentresse 
wie einer, der griifien will, aber es doch lieber unterlaf^t. Wenn er wirk- 
Hch einmal: Guten Abend! sagt, antwortet ihm keiner, als ware er ein 
Automat oder ein Grammophon. 

Der griine Schutzmann entsprieEt einer Mauernische und wandert ge- 
messen der Diele entgegen. Der Portier hebt mechanisch die Hand an 
den Tressenrand und spricht. Man kann deutlich horen, dafi er kein 
Grammophon ist oder daE seine Platte viel mehr Worte hat als nur: 
Guten Abend! 

Der Kutscher vernimmt durch den Halbschlaf verwehte Laute und 
schwenkt seine Beine vom Bock wie ein Paar hohier Hosen. Dann 



908 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

steht er unten und beweist, dafi ein Kutscher einen Unterleib hat 

und nicht ein Bestandteil der Droschke ist. 

Der Dienstmann hockt auf einem Schemel, an die Wand geriickt, 

eine rot- und dunkelangestrichene Verzierung; eine verkleidete 

Freske mit einer Pfeife im Mund. Plotzlich blast er eine Rauch- 

wolke als Lebensbeweis in die Luft und brockelt von der Mauer 

ab. Er schlurft zur Droschke und klatscht auf den Riicken des 

Pferdes. Dieser Laut gibt ihm den fehlenden Rest des Mutes, und 

er schleicht in die Gruppe des Portiers, des Schutzmanns und des 

Kutschers. 

Alle drei merken den Standesunterschied und bestatigen ihn durch 

Schweigen. 

Der CeUist tritt aus der Diele, um sich abzukiihlen. Er ist ein 

schwarzhaariger Mensch, und seine Augen sind klein und glanzend 

wie eingesetzte Gluhwurmchen, Sein Scheitel ist glatt und sicher, 

als waren die einzelnen Haare an den Enden kiinstlich wieder in 

die Kopfhaut eingefiigt. Der Scheitel verbreitet Sicherheit und er- 

weckt das Bewufitsein, dafi iiber ihm die fiirchterUchsten Stiirme 

fruchtlos verbrausen. 

Der CelHst tragt einen Frack, aus der Weste schiefit die Hemdbrust 

weifie Strahlenbiindel in das Dunkel. Der Schutzmann griifit, und 

der Portier steckt die Hande in die Taschen, um ein koUegiales 

Verhaltnis anzudeuten. 

Eine feme Glocke spuckt zwei erzene Schlage in die Strafie. Um 

sie zu bestatigen, ziehen alle die Taschenuhren. (Nur der CeUist 

tragt eine Armbanduhr am Lederriemen.) 

Um diese Zeit tritt ein grauhaariger Mann aus der Toilette und 

sieht geblendet in die tonende Helle, deren Widerhall in seine Stille 

gedrungen ist. 

Er lafit Seife, Nagelfeilen, Biirsten, Ziindholzerpyramiden, die qua- 

dratischen Handtucher sorglos liegen. 

Er kennt einzelne Herren, und er fiihlt sich etwas heimischer in 

fremdem Glanz, als hatte er in dieser Gesellschaft zahlreiche gute 

Freunde. Er lehnt wie ein zufriedener Besen an seiner Ttir und la- 

chelt. 

Die Klange des Shimmys kamen zu ihm immer leise und wie in 

Watte gewickelt; es waren isolierte Klange. Von der schmetternden 

Pracht ihrer Nacktheit ist er nun ein wenig verwirrt. 



1923 9^9 

Der Herr Direktor wandelt zwischen den Tischen umher und umse- 

gelt mit den Fracksch6f5en die Menschengruppen in der Mitte. 

Drau{5en bekommt der Kutscher einen Betrunkenen vom giitigen 

Schicksal zugeschaukelt. 

Der Schutzmann nimmt eine solche Gesetzesiibertorkelung nicht zur 

Kenntnis. 

Der Portier lachelt gonnerhaft und mit Kennermiene. Er sagt: Guten 

Abend! und der Betrunkene antwortet, weil er die Menschen nicht 

mehr einschdtzen kann. 

Der Dienstmann schlurft zur gegeniiberliegenden Ecke und fiigt sich 

wieder in die Mauer ein. 

Nur der Portier bleibt, strahlend und golden, an seinem Platz neben 

der kreisenden Drehtiir. 

Vorwarts, 7. i. 1923 



RICHARD OHNE KONIGREICH 



Richard der Rote sieht aus wie ein vertriebener Konig. Ihm fehlt nur 
noch ein Shakespeare, damit seine Tragik sichtbare kiinstlerische Glil- 
tigkeit erlange. So wandelt er umher, ein Dramenstoff ohne Dramati- 
ker. In fremden Cafes sitzt er und lafit sich - o Jammer! - Zeitungen 
reichen. Richard, dereinst unbeschrankter Beherrscher des gesamten 
in- und auslandischen Lesestoffs, lafit sich von anderen Zeitungskell- 
nern Blatter geben. Er, der sozusagen das ius primae noctis, das Ent- 
jungferungsrecht iiber die frischesten Nummern hatte, empfangt Zei- 
tungen aus zweiter Hand! . . . 

Was?! Die Welt weif^ am Ende gar nicht mehr, wer Richard ist? Ri- 
chard, der Zeitungskellner aus dem »Cafe des Westens«? Richard, der 
seinen Buckel trug als korperliches Abzeichen geistiger Wiirde; den 
Buckel als das Signalement der Weisheit und Romantik. Sein korperli- 
ches Mif5ratensein glich Rangunterschiede aus und stellte den Zei- 
tungstrager mindestens in die Reihe der gradegewachsenen Zeitungs- 
schreiber. Im Romanischen Cafe, der neuen Wahlheimat der BerUner 
Boheme, bedient ein schlank zu nennender Zeitungskellner. Er hat alle 
Blatter, das Wiener Journal, das Prager Tagblatt und sogar die La- 



910 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Plata-Zeitung. Aber mir fehlt sein Buckel! Mein Blick rutscht auf sei- 
nem langweilig abschiissigen Riicken herunter und hat keinen Halt. 
Seine Blatter sind irgendwo unvoUstandig. Seine Existenz als Litera- 
turtrager ist nicht in alien Punkten gerechtfertigt. 
Da war der rote Richard ein anderer! Er war rothaarig. Er war eigens 
erfunden vom literarischen Beirat des lieben Gottes und vom Presse- 
chef des Himmels zum Zeitungskellner ausersehen. Er sah Generatio- 
nen von Literaten kommen und gehen. Sie verschwanden in Gefang- 
nissen und Ministerstiihlen. Sie wurden Revolutionare und Attaches. 
Und sie bheben ihm alle Geld schuldig. Er wufite den Weg, den sie 
machen wurden, kannte den Stil, den sie schrieben. Wufite, wo sie 
nachgedruckt worden waren, und erzahlte es ihnen. Er reichte ihnen 
die Zeitung mit der Nachricht, gewissermafien die Botschaft mit der 
Schale. Und wenn sie unbekannt waren - er forderte sie. Im Glas- 
schrank des » Cafes des Westens« hingen, wie Praparate in einer Ver- 
suchsanstalt, die Erzeugnisse unbekannter Lebender: ein Portrat, ein 
Plakat, das zum Besuch eines literarischen Abends aufforderte, eine 
neue Zeitschrift, die Richard den Gasten anbot. Richard war ein Md- 
zen. 

Am Nachmittag, wenn es still war, schrieb Richard an seinen Memoi- 
ren. Diese Memoiren sind nie fertig geworden. Es scheint, dafi Ri- 
chard, der stets einen guten Geschmack bewiesen hat, es endgiiltig fiir 
unniitz halt, Memoiren zu schreiben, nachdem so viele Unbefugte sich 
darin versucht haben: Ihn diirstet es nicht nach dem Ruhm, mit Lu- 
dendorff und Wilhelm genannt zu werden. 

Ailerdings: Mit alien Memoirenschreibern der Nachkriegszeit hatte 
Richard doch etwas gemein: Auch er kann nie in den Krieg, in den 
Schiitzengraben. Man musterte erst die Schwindsuchtigen aus - die 
BuckHgen waren noch nicht dran. Wenn man aber Richard mit erkiin- 
stelter Verwunderung fragte, weshalb er noch nicht eingezogen ware, 
neigte er sich iiber den Tisch des Fragers und fliisterte ihm ein Ge- 
heimnis ins Ohr: »Wissen Sie - sagen Sie's nicht waiter—, ich habe 
namlich - Plattfiifie . . .« 

Ich entsinne mich jener schmerzlichen Nacht, in der das alte Cafe des 
Westens fiir immer geschlossen wurde und Richard unsere Unter- 
schriften sammelte. Dieses Einfangen der UnsterbUchkeit in ein 
Stammbuch war seine letzte Handlung im Dienste der Literatur. Dann 
verschwand Richard, und es dauerte eine Weile, ehe er im Romani- 



1923 9" 

schen Cafe auftauchte. Wer weifi, wieviel Schmerz er da empfunden 
hat, als er in seine Heimat kam als Cast und Fremdling! Zeitungen 
fordernd, statt sie zu vergeben?! . . . 

Eine Zeitlang hiefi es, Richard wiirde ein neues Cafe des Westens 
eroffnen. Nichts ware natiirUcher gewesen. Seine korperliche Eigen- 
heit, seine Tradition, seine Gesinnung befahigten ihn zu einem Gast- 
geber der modernen Literatur. Aber nichts dergleichen geschah. Ri- 
chard eroffnete kein Cafe. Er war nach einem halben Jahr vergessen. 
Nicht nur, weil man ihm Geld schuldete. Er war aus historischen 
Griinden vergessen wie ein Schriftsteller, der sich iiberlebt. In einem 
Film, der das Milieu des Berliner Westens behandelte, war Richard 
einmal eine RoUe zugewiesen worden. Der Film roUt jetzt weifi 
Gott in welcher Provinz. - Zweimal hing Richards Portrat, von be- 
riihmten Kiinstlern gemalt - einmal vom Maler Konig-, in der Se- 
zession. Die Kunst gab ihm, was dem Mazen gebiihrt. Heute hangen 
die Portrats in irgendwelchen kalten Salons, in denen man keine Ah- 
nung von Richards PersonUchkeit hat . . . Und schon ist eine neue 
Literatengeneration im Heranwachsen, an deren Wiege nicht mehr 
der rote Richard steht. Sie werden ihn nicht kennen, den roten Ri- 
chard. 

Fines Tages zeigte er mir eine Schachtel mit Schmetterlingen. Es wa- 
ren wunderbare Schmetterlinge, Falter, samtene, bunte, rote und 
schwarzrote und gelbe. Irgend jemand hatte ein Verfahren erfunden, 
durch das toter Schmetterlinge feiner Schmelz ewiglich e^fialten blei- 
ben konnte. Richard verkaufte solche Schmetterlinge, gewissermafien 
balsamierte Schmetterlinge, als Broschen. Es gibt Frauen, die Insekt- 
arten auf der Brust tragen, dachte ich. Richard ist gesichert. 
Ein paar Monate spater sah ich bei Richard eine Karte von Leopold 
Wolfling, dem bekannten Erzherzog aus dem Hause Habsburg. 
»Lieber Richard«, fing die Karte an. Die Ahnlichkeit ihrer histori- 
schen Schicksale hatte sie zusammengebracht, Richard der Rote, der 
Exkonig, und Leopold Wolfling, der Exprinz, waren Freunde. Leo- 
pold Wolfling soUte in Wien eine Schmetterlingsexpositur eroffnen. 
Aber die Damen machten sich nichts aus Schmetterlingen. Man tragt 
Broschen an heiklen und gefahrdeten Stellen - und so gesichert war 
der Schmelz der Falterfliigel doch nicht, dafi er der energischen Of- 
fensive eines Mannes standgehalten hatte! Ja, wenn Richard einen 
originellen ^hxsQnausschnitt erfunden hatte! - Er ware gerettet. Er 



912 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aber hatte einen Verschlufi in Mode bringen woUen. Die Zeit ist nicht 
mehr fiir Verschliisse. 

Das Geschaft ging nicht, und Richard geht es nicht gut. Sein Schicksal, 
das ihn, scheint es, trotz allem immer wieder auf den Weg der AktuaH- 
tat stofit, hat ihn, just ihn, den Rathenau-Mord entdecken lassen. Ri- 
chard kam gerade die Konigsallee entlang, zehn Minuten nach dem 
Attentat. Er wufite, was man in solchen Fallen tut. Richard telepho- 
nierte an die Zeitungen. Wenn er nicht gewesen ware, die Extrablatter 
hatten eine Stunde langer auf sich warten lassen. 
Noch einmal ist Richard nicht in Verbindung mit der Geschichte ge- 
treten. Er sitzt Jeden Abend in einem kleinen Cafe am Kurfiirsten- 
damm und liest Zeitungen; Zeitungen aus zweiter Hand. Er soil ein 
paar Papiere an der Borse haben, heifit es, Vielleicht lebt er davon. 
Seine Seele lustwandelt in den Gefilden der Vergangenheit. Die Weh- 
mut, die mich bei seinem Anbhck erfiillt, gleicht jener, mit der ich eine 
alte Zeitungsnummer betrachte oder ein altes Feuilleton von mir 
selbst. 
So teuer ist mir Richard . . . 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 9. i. 1923 



UNSER LIEBLING IM SCHNEE 



Das ist die Zeit, in der unsere Lieblinge aus der Kinobranche die hehre 
Welt des Winters aussuchen, um sich zusammen mit dem Schnee pho- 
tographieren zu lassen. Alljahrlich tun sie es, unsere Lieblinge, unter 
der Uberschrift: »Der Wintersport der Filmstars«. 
Wie die Winterzeit den Stars der Biihne und des Films behagt, kann 
man in den illustrierten Blattern der mondanen Gesellschaft sehen. In 
diesen Zeitungen ist meistens das lachelnde Antlitz des Lebens zu fin- 
den und selten das bittere. Der Photograph der Illustrierten erwischt 
die Welt just in ihrer rosigsten Laune. Oder er sagt zum Ernst des 
Lebens: »Bitte recht freundUch«, und der Ernst des Lebens lachelt. 
Wenn ich der Photograph einer illustrierten Zeitung ware - ich be- 
miihte mich, das Leben just in dem Augenblick zu knipsen, in dem es 
am traurigsten ist. Ich ware ein Photograph mit der standigen Devise: 



1923 9^3 

»Bitte recht ernst! Geben Sie sich nur, wie Sie sind, verehrtes Leben!« 
Und auf meine Platte kame nicht die Dame Fern Andra auf schneeigem 
Hintergrund, sondern ein Nichtliebling des Lebens und der Gesell- 
schaft mit zerrissenen Stiefelsohlen: ein geistiger Arbeiter; ich selbst. 
Die Kiinstlerin Henny Porten habe ich in vielen Filmen schatzen ge- 
lernt, Weshalb aber sinkt sie freiwiliig auf das Niveau einer Prinzessin, 
deren Beruf es ist, den Photographen der »Scheri-Woche« zum Ritter 
zwischen sich und dem Volk zu wahlen? Sie tragt den Lorbeer des 
Ruhms und benimmt sich wie die Trager des Hosenbandordens: Sie 
soil nach den ewigen Gesetzen der Kunst handeln, und sie erscheint als 
»Bild vom Tage«: Hiitet sie sich vor Geschmacklosigkeit einer RoUe, 
so miiEte sie jene des Lebens meiden; ist sie popular geworden durch 
Talent, so braucht sie von der lUustrierten nicht mehr gefordert zu 
werden. 

Ich gonne der Frau Henny Porten ein Pony, einen Rodelschlitten, 
Wald, Schnee und Gebirge. Aber die Achtung, die sie selbst vor der 
Natur empfindet, beleidigt der Photograph, dessen Platte auf »unser 
Liebling« eingestellt ist und dessen Tatigkeit den Zweck hat, den Star 
als den Mittelpunkt gottUcher Schopfung zu erfassen. Die Photogra- 
phic ist fiir die Betrachterin aus der geistigen Bourgeoisie bestimmt 
und hat den Zweck, ihr den alten Abonnentenausruf zu entlocken: 
Ach Jott, wie niedhch! Henny mit dem Pony! 

Und daf^ es auch alljahrlich wiederkehren muE! Um dieselbe Zeit! Ich 
begreife den Abonnenten: Dem ist jeder Bhck hinter die Privatkulisse 
biirgerliches Bediirfnis. Ich verstehe den Photographen: Der lebt da- 
von. Der Verleger: Er verdient dabei. Ich verstehe sogar die Photogra- 
phic: Die Eitelkeit ist mit ihr durchgegangen. Ich verstehe nur das 
arme Pony nicht! Und dal^ der Herrgott der lUustrierten zuhebe 
Schnee fallen lafit. 

Der rote Joseph 
Vorwarts, 12. i. 1923 



DIE TOTEN OHNE NAMEN 



Die namenlosen Toten der grofien Stadt hangen, ordentlich in Reih 
und Glied, in den Ph olograph enschaukasten des Polizeiprdsidiums, im 
Parterre. Das ist die grausame Ausstellung der grausamen Stadt, in de- 
ren asphaltierten Strafien, graubeschatteten Parks und blauen Kanalen 
der Tod lauert, mit Revolver, Knebel und betaubendem Chloroform. 
Das ist sozusagen die anonyme Seite der Grofistadt, ihr Elend, das 
keinen Namen hat. Das sind ihre unbekannten Kinder, deren Leben 
Unrast, Kneipe und Verborgenheit heifit, deren Ende blutig ist und 
gewaltsam, ein morderisches Finale. Sie stolpern besinnungslos in 
eines der zahllosen Graber, die eigens fiir sie an alien ihren Wegen 
bereitstehen, und das einzige Andenken, das sie der Nachwelt hinter- 
lassen, ist ihr Portrat, aufgenommen am sogenannten »Tatort« vom 
Apparat der Polizeikommission. 

Sooft ich das Schaufenster eines Photographen sehe, die Bilder der Le- 
benden, der Brautleute, der Konfirmationskinder, die lachelnden Ge- 
sichter, die weifien Schleier, den papierenen Blumenschmuck, die Or- 
den eines Exzellenzportrats, deren Anblick allein schon Gerausche des 
Klimpers hervorruft - denke ich an Jenen Kasten der Toten in der 
Polizei. Er soUte nicht im Korridor des PoUzeiprasidiums hangen, son- 
dern ii^endwo, an weit sichtbarem Platz, in der Mitte der Stadt, deren 
Sinnbild er ist. Die Schaufenster mit den Portrats der Lebendigen, der 
Feierlichen, der festlich Gesinnten geben eine falsche Vorstellung vom 
Leben. Es geschehen nicht lauter Trauungen, schone Frauen mit run- 
den Schultern, und Konfirmationen - auch Morde, plotzUche Schlag- 
anfalle und Ertrinkungstode werden in dieser Welt gefeiert. 
In der Mefiterwoche miifiten diese belehrenden Photographien gezeigt 
werden, nicht nur die ewigen Paraden, Fronleichnamsziige des Patrio- 
tismus, die Badeorte mit den Springbrunnen, den Sonnenschirmen, 
den magenbitteren Sprudeln, den Terrassen mit Wagnermarchen. So 
schon ist das Leben nicht, wie man infolge der Mefiterwoche glauben 
konnte. 

Durch den Korridor des Polizeiprasidiums gehen taglich, stiindlich 
sehr viele, Hunderte Menschen, und niemand bleibt vor den Schauka- 
sten stehen, um sich die Toten anzusehen. Man geht ins Fremdenamt, 
ins Pafiamt, um ein Visum zu holen, ins Fundbiiro einen Regenschirm 



1923 915 

suchen, in die Kriminalabteilung, einen Diebstahl anzuzeigen. Ins 
Polizeiprasidium kommen lauter Menschen, die mit den Dingen des 
Lebens zu tun haben, und, abgesehen von mir: kein einziger Philo- 
soph. Wer soUte sich um die Toten kiimmern? 

Diese Toten sind hafilich und vorwurfsvoll und hangen da wie Gewis- 
sensbisse. Sie sind so aufgenommen, wie sic gefunden wurden, ein 
unendlicher Schrecken lagert auf ihren Gesichtern, der Schrecken des 
Sterbens. Mit offenen Mundern stehen sie, ihr letzter Schrei liegt 
gleichsam noch in der Luft, man hort ihn, wenn man sie ansieht. Der 
Kampf des Todes halt ihre Augen halb of fen, das Weifie schimmert 
unter dem Augenlid. Da sind Bartige und Bartlose, Frauen und Man- 
ner, Jiinglinge und Greise. Sie wurden auf der Strafie gefunden, im 
Tiergarten, in Spreekandlen. Oft ist sogar der Fundort unbekannt oder 
nicht genau bekannt. Die Wasserleichen sind aufgedunsen, von 
Schlammkrusten bedeckt, sie sehen aus wie schlecht mumifizierte 
agyptische Konige. Die Kruste auf ihren Gesichtern hat Risse und 
Spriinge wie eine schlecht verwahrte Gipsmaske. Die Briiste der 
Frauen sind schauderhaft geschwollen, die Ziige verzerrt, die Haare 
wie ein Haufchen Kehricht auf gedunsenem Kopf. 
Wenn diese Toten Namen batten, sie waren nicht so vorwurfsvoll. 
Nach den Gesichtern und Kleidungsstucken sind sie im Leben nicht 
»wohlhabend« gewesen. Sie gehoren jenen Schichten an, die man »die 
Hnteren^ nennt, weil sie zufallig unten sind. Es sind Tagelohner, 
Dienstmadchen, die Menschen, die nur schwere Arbeit verrichten 
miissen oder verbrecherische, wenn sie leben wo lien. Selten nur wachst 
so ein Totenkopf aus einem Stehkragen, dem europaischen Abzeichen 
des Biirgertums. Fast immer aus offenen, dunkelfarbigen Hemden. 
Und der Ort, an dem sie der grausige Tod erreicht, kennzeichnet ihr 
ganzes Leben. Finer wurde am 2. Dezember 1921 im Abort des Potsda- 
mer Bahnhofs gefunden. Am ij.Juni 1920 wurde jene Frau unbe- 
stimmten Alters aus dem Reich stags ufer der Spree gezogen. Am 25. Ja- 
nuar 19 18 starb jener bartige, zahnlose Kopf am Alexanderplatz, Am 
S.Mai des Jahres 1922 starb dieser, ein junger Mann mit feierlichen 
Ziigen, auf einer Bank am Arminiusplatz , Die friedlichen Ziige hat er 
der wunderbaren Mainacht auf dem Arminiusplatz zu verdanken, die 
Nachtigall sang wahrscheinhch, als er starb, der Flieder duftete, und 
die Sterne glanzten. 
Am 16. Oktober 192 1 wurde jemand, ein etwa fiinfunddreifiigjahriger 



9l6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Mann, in der Spandauer Strafie in Zehlendorf auf einem unbekannten 
Grundstiick erschlagen. Eine diinne Blutspur fiihrt von der Schlafe zur 
Lippe, diinn und rot fliefit es, das langst versiegte Blut des Begrabenen, 
auf dem Portrat fliefit es in alle Ewigkeit. Vergeblich, auf Kraniche zu 
warten, die einst die Morder des Ibykus verrieten. Uber den Grund- 
stucken der Spandauer Strafie schwarmen keine Kraniche - man hatte 
sie langst abgeschossen und gebraten. Gott aber sieht hinter den Wol- 
ken, ungeriihrt, einen Weltkrieg lodern - wie sollte er sich da um einen 
einzeinen kiimmern? 

Es sind etwa hundert Photographien in den Kasten, und sie werden 
immer wieder erneuert. Tausende sterben ungekannt in der grofien 
Stadt. Sie haben keine Eltern, keine Freunde, sie haben einsam gelebt, 
sie sind vergessen gestorben. Sie safien nicht fest im Gefiige einer Ge- 
meinschaft - so viele Einsame gibt es in der grofien Stadt. Wenn hun- 
dert erschlagen werden, leben noch Tausende waiter, ohne Namen, 
ohne Dach, Menschen wie Steine. Einer gleicht dem andern, alle kom- 
men einmal gewaltsam um - und ihr Tod hat nicht so schreckliche 
Folgen und kommt nicht in die Zeitung wie der Tod eines Talaat Pa- 
scha zum Beispiel. 

Nur eine namenlose Photographic fordert teilnahmslose Menschen im 
Korridor der PoHzei vergebUch zu einer Agnoszierung auf. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 17. i. 1923 



DER MANN IN DER TOILETTE 



Der Mann in der »Herrentoilette« ist uralt und graubartig. Moos 
wachst in seinen Ohrmuscheln, und in seinem Bart konnte ein Schwal- 
benpaar nisten und Junge bekommen und einen ansehnUchen Haus- 
stand griinden . . . 

Die »Toilette« befindet sich »eine halbe Treppe tiefer«, hinter der Gar- 
derobe und dem Buffet mit der blonden Bardame aus Blut und Wachs. 
Die Klange der Jazzbands miissen sich durch die gutgenahrten Her- 
renpelze zwangen, ehe sie die Treppe hinunterrollen konnen. Unten 
kommen sie diinn und ein bifichen ramponiert an und bergen sich in 
den moosigen Ohren des uralten Mannes. 



1923 ^\7 

Die Wande der »Toilette« sind weifilackiert und ewig berieselt von 
Wasser und Hygiene. Plink, plink, tropft es aus der Wasserleitung. 
Der alte Mann wacht iiber einem pseudomarmornen Waschbecken 
und reinigt es mit einem grofien gelben Schwamm. Er hat die sorgsa- 
men Bewegungen eines Krankenwarters, er ist sozusagen ein Toilette- 
Pfleger. 

Ziindholzschachteln und Seifenwiirfel schichtet er zu Pyramiden; Kra- 
genknopfe und Gummiartikel, die ihnn »in Kommission gegeben«, hii- 
tet er wie Augapfel; Nagelfeilen und Zigarrenschneider hangen, mit 
umgeschnallten Gummibandchen, auf blaulichem Karton; Handtii- 
cher in Quartformat glattet er auf einem Stuhl und reicht sie mit wei- 
hevoller Gebarde - ein Priester der Reinlichkeit - dem Gast, der sie 
achtlos schwarz macht und zerkniillt. 

Der Mann in der Toilette hat einen gebeugten Rlicken und zitternde 
Knie. Die Gaste aber, die ihn besuchen, sind tannenschlank, mit einer 
Taille begabt und mit wattierten Schultern. Sie tragen den modernen 
Rock auf einem Knopf in der Mitte - und ein seidenes Spitzentuch lugt 
aus schief geschHtzter Tasche mit einem Zipfel in die Welt. Sie schrei- 
ten auf elastischen Halbstiefeln aus Chevreau durchs Leben und er- 
freuen sich einer guten Verdauung. Sie besitzen Ringe und blitzende 
Krawattennadeln, und ihre Karriere wie ihre Aktien haben eine stei- 
gende Tendenz. Mit eleganter Gebarde kammen sie sich die Scheitel 
glatt, poheren mit Wildleder ihre Nagel blank und lassen sich in hero- 
ischer Positur den Rock biirsten. Der alte Mann streicht mit behutsa- 
mer Burste an den Jiinglingen herum, wie man Staub wischt von kost- 
barem Porzellan. Sie setzen einen Chevreaustiefel, und der Alte gleitet 
mit liebendem Staubfetzen dariiber. Dann entfernen sich die Jiinglinge 
mit wippenden Hiiften, den Rhythmus des kommenden Tanzes schon 
im prophetischen Blut. Sieghaft strahlend, aufgefrischte Salonlowen, 
steigen sie aus der Tiefe empor zu Shimmy und Priinell. 
Der alte Mann bleibt unten, eine halbe Treppe tiefer als die anderen, im 
Reich des Wassers, des Unterleibs und der Manikiire. Er hat Biirsten 
ohne Zahl, aber er biirstet andere. Er hat glanzende Nagelfeilen, Seifen 
und Handbiirstchen, aber seine Hande sind rauh, runzhg und die Na- 
gel matt und ohne die elegant geschliffene Kralle des modernen Lebe- 
mannchens. Er hat Wasser, Seife, Kachelwande, Kabinen, Hygiene fiir 
andere. Er hat alles »in Kommission« . . . 
Was in der Welt vorgeht, erfahrt er spat - wenn die Zeitung ihre Ak- 



9l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

tualitat verliert und in jenen Zustand iibei^eht, in dem ihr nur mehr 
der Weg alles Irdischen iibrigbleibt. Der alte Mann in der Toilette weifi 
immer die altbackenen Neuigkeiten. Eine halbe Treppe hinter dem 
Lauf der Zeit bleibt er. Er kennt den jeweils gestrigen Dollarkurs, und 
er wundert sich nur, dafi die Trinkgelder der einknopfigen Herren 
nicht steigen, 

Es ist eine grofie Einsamkeit um ihn. Aus der Lichterwelt - eine halbe 
Treppe hoher - erreicht ihn ein Klangfetzen, und nur dank der gebiir- 
steten Herren, die ihm ein natiirliches Bediirfnis zusendet, ahnt er die 
Gliickseligkeit der oberen Schicht. Sein Ohr zahlt die gleitenden Trop- 
fen der Wasserleitung, die beharrlich Sekunden totschlagen. An ihnen 
mifit er die verrinnende Zeit. 

Einmal, nach dem zehntausendmillionsten Wassertropfen, wird er ein- 
schlafen und noch einmal begraben werden. 

Gute anderthalb Treppen tiefer wird er liegen, und die Herren mit 
einem Knopf werden auch einmal heimkommen, und er wird sie nicht 
einmal zu biirsten brauchen . . . 

Vorwarts, 20. i. 1923 



DER TEMPEL DER SEIDE 



Der Palast der Seide steht In der Mitte der Stadt und ist den meisten 
unbekannt. »Die meisten«, das sind jene, die schon lange keine Seide 
gekauft haben, Keinen » Crepe de Chine « und keinen »Charmeuse«, 
keinen » Crepe Geoi^ette« und keinen »PopelIne«. Nicht wahr? Die 
Namen klingen wie kostbare Exotica, wunderbar dem Ohr des Ar- 
men. 

Aber es gibt so was, mitten in Berlin, so schone Seidenstoffe mit leuch- 
tenden Namen, aristokratischen Namen, und sie wohnen alle im Palast 
der Seiden, einen Saal aus Lichtern und Spiegeln. Beides, die Lichter 
und die Spiegel, leben voneinander, es ist eine Wechselwirkung von 
Strahl und Widerstrahl, Glanz und Abglanz; ein Trick der Zivilisation. 
Die Spiegel und die Lichter sind fiir die Seide da. Sie haben den Zweck, 
Ballsaalbeleuchtung herzustellen und das Licht, das in der Seide 
wohnt, zu lebendiger Wirkung zu wecken, die Sonnen zu entziinden, 



1923 9^9 

die in den zarten Geweben schlummern. Ein geheimnisvoller Vorgang, 
er streift an das Gebiet iibersinnlicher Phanomene, Licht weckt Lichty 
Reflex der Spiegel zu Reflex der Seide, dieses wunderbaren Stoffes, von 
dem man - wiifite man nicht, dafi er von Millionen Industrieraupen 
fabriziert wurde - annehmen miifite, dafi er aus materialisierten Licht- 
und Spiegelreflexen besteht. 

Man verlangt von der Seide, daK sie »Wellen schlage« - wie vom lieben 
Gott, dafi er helfe, vom Dollar, dafi er steige. Die herrlichsten Licht- 
wellen »schlagt« Seide inmitten jenes Glanzes von Osramlampen und 
Spiegeln. Ja den zart graugetonten Seidenstoffen entstehen hundertmal 
gebrochene Regenbogenfarben wie in Brillanten, die man gegen die 
Sonne halt. Es besteht offenbar eine nahe Wesensverwandtheit zwi- 
schen alien sehr kostbaren, sehr unerreichbaren Dingen dieser Welt. 
Verschwistert sind Kristall, Seide und Brillant. Und es sind leider im- 
mer dieselben Menschen, die sich alle drei kaufen konnen. 
Ich gehe in das grofie, weltberiihmte Seidenhaus und verlange »Atlas«, 
»Brokat« und das sehr moderne Crepe Jersey zu sehen. Ich weifi, dafi 
ein Faden einer dieser Stoffe teurer bezahlt wird als hundert Zeilen, die 
ich iiber ihn schreibe. Ein Meter kostet fiinfzig- bis hunderttausend 
Mark. Der Verkaufer aber weifi es nicht. Der Verkaufer ist so hoflich, 
als ware ich kein Schriftsteller. Er greift mit prachtvoUer Gebarde nach 
dem Each, in dem »Charmeuse« lagert, fiinfzigfach geroUt um einen 
Pappendeckel und schlummernd. Der Verkaufer entrollt den Stoff, 
macht einen fabelhaften Bogen mit der Hand in der Luft, und die Seide 
bauscht sich, als lebte sie. Sie Uegt ruhig da, aber es scheint dennoch, 
dafi sie sich bewegt. 

Damit ich sehe, wie sie sich »ausnimmt«, gehen wir in den Prohiersaal. 
Hier stehen blonde, oxydierte Damen und duften wundervoll wie aus- 
landische Drogerien. Sie sind gut gewachsen und geschniirt, und es 
scheint, dafi es die Aufgabe ihres Lebens ist, Moiree, China Crepe und 
Taft malerisch um Schultern und Briiste zu werfen und sich langsam 
zu drehen, so als wUrden sie einem Mechanismus gehorchen. Das 
Tempo ihrer Halbkreisbewegung diktiert nur die Wirkung des reflek- 
tierten Lichts. Je langsamer sie sich bewegen, desto harmonischer, 
sanfter, prachtiger der Flufi der Regenbogenfarben. Die Frauen sind 
gewissermafien lebendige Pfauenrader. 

Die Lampen tragen bunte kristallene Vorhange, die kleinen geschliffe- 
nen Glaser klirren silbern und kostbar bei jedem festern Schritt. Hier 



920 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wird eine Lampe ausgeknipst, in jener Ecke leuchtet eine auf. Ein 
schlankes Pfauenrad-Madchen wandelt langsam in die beieuchtete 
Ecke. Fiinf Spiegel haben das erwachte Licht aufgefangen und bemii- 
hen sich um die Wette, es verstarkt wiederzugeben. Das grofSe 
schlanke Madchen hat die Bewegungen einer Priesterin. Sie ist eine 
Priesterin der Seide. Der grofie Saal, weihevoll in seiner merkantilen 
Pracht, ist wie ein Tempel des Luxus. Tag fiir Tag brennen hier die 
ewigen Lampen des Reichtums. 

Man mufi die Seidenstoffe gewissermaf^en auswendig lernen: Sie bilden 
den Adei aller Bekleidungsgewebe, und ihre Namen klingen halb wie 
die Namen alter franzosischer Adelsgeschlechter - und halb wie die 
Bezeichnungen teurer Likore: »Charmeuse«, »Pongis«j »Velour« . . . 
Der »Taft« ist steif und stoiz und sprode; ein grlines »Crepe de 
Chine«, dunkelgriin wie ein Kastanienbaum an Hochsommertagen, 
schmiegt sich eng und treu an den Korper, eine zweite Haut der blon- 
den Priesterin; Brokat, silbergrau, mit dunkleren Blumen- und Blatter- 
schatten geziert, entfaltet rotlichen, violetten, dunkelblauen Wellen- 
schlag: »Pongis« ist weich und glatt, man kann drei Meter davon in die 
Westentasche stecken; der Verlourchiffon fiihlt sich sammetartig, zy- 
linderhaft an; und einen rotlich getonten Chiffon sehe ich - er ist wie 
ein Schleier jener wunderbaren Fische im Aquarium, die man mit Un- 
recht »Schleierschwanze« nennt. Sie mlifiten eigentlich »2auber- 
schleier« heifien. 

Genug davon! Im Tempel der Seide stehen geschminkte, gepuderte, 
parfiimierte Russinnen, mit allem Hausrat an Brillanten und Perlen di- 
rekt der Sowjetregierung entflohen, die armen reichen Fliichtlinge, die 
Emigranten, die iiberall ihre Heimat aufschlagen diirfen. Den Deut- 
schen ist der Tempel der Seide unbekannt, Ich bore diejenigen, die 
diese Zeilen lesen, seufzen. 

Ich habe keine Seide gekauft. Ich ging aus dem Warenhaus, wie ein 
Ungiaubiger aus einem prachtigen Gottesdienst geht: Er fiihlt sich aus- 
gestof^en. Zur Gemeinde der Seidenkaufer gehoren nur Scheckhuchhe- 
sitzer. Nicht Buchverfasser. Nicht geistige Arbeiter. Nicht Einheimi- 
sche. 
Und der Tempel der Fremden steht in der Mitte Berlins . . . 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 29. i. 1923 



REHABILITIERUNG »RAFFKES« 



Der Sohn dieser 2eit ist Raffke, der Grofie, der Ahnherr kommender 
Adelsgeschlechter, kein Raubritter wie sein Vorganger in den Jahrhun- 
derten des Schwerts, sondern ein Raff-Ritter in dem Jahrhundert des 
Merkantilismus. 

Er kommt aus kleinen Verhaltnissen in grofie Palaste, er vernichtet die 
Degenerierten, gibt Todeskandidaten den Gnadenstof^, zertritt die Ar- 
men und Schwachen, die auf dem Weg seines Triumphes liegen. Er 
besitzt keine geistigen Talente, aber den klugen Instinkt der Raubtiere, 
und was bei ihm »Schlauheit« scheint, ist das Diktat des Bluts, nicht 
Funktion des Gehirns. Seine Erfolge verdankt er seinen unverbrauch- 
ten Sinnen, seinem Hunger nach Macht, der starken, primitiven Unbe- 
denklichkeit, die Hindernisse im Taumel nimmt, die jeder Widerstand 
berauscht, der das AusmaE einer feindlichen Gegenstromung unbe- 
kannt bleibt. Raffke, der GrofSe, hat nicht die Fahigkeit, seinen Wider- 
part abzuschatzen, und infolgedessen keine Furcht, den Kampf aufzu- 
nehmen. Er lebt wie das wilde Tier in einem steten unaufhorlichen 
Rausch, den das eigene Blut verursacht. Seine grof^e Kraft macht ihn 
bHnd, wie uns andere eine grofie Leidenschaft. Raffke kennt zu sehr 
seine eigene Starke, er iiberschatzt sie so, dafi er eine fremde nicht 
anerkennt. 

Er besitzt nicht die Eigenschaft der »Objektivitat«, die Tugend der 
geistigen Menschen. Der verfeinerte Organismus schatzt ab, versetzt 
sich sogar in die Lage des Gegners, ehe er in den Kampf tritt. Raffke, 
der Robuste, kann nicht abschatzen, noch weniger sich in fremde We- 
senheit hineindenken. Die BlofSe des Gegners weist ihm der Instinkt, 
die Vorteile der feindUchen Gewalt iiberwindet er aus Ignoranz. Die 
hervorragende Eigenschaft des verfeinerten Menschen ist seine Fahig- 
keit zu zweifein - das ist die Voraussetzung seiner Furcht, seiner Unsi- 
cherheit, zugleich auch seiner Uberlegenheit. Raffke, der GrofSe, aber 
zweifelt nicht. Seine Furcht stammt nicht wie die unsere aus einer be- 
wuEten Einschatzung der feindUchen Gewalt, sondern sie ist eine 
Furcht des Blutes wie jene, die den Leoparden erfaf^t, wenn er eine 
Flamme erblickt. Es ist mogUch, daf^ Raffke, der Grof^e, sich vor ganz 
lacherUchen Dingen furchtet, die ein Zwei^ verspottet. Seine Furcht ist 
ein chronisches Erschrecken sozusagen. 



922 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Die Endsilbe seines Namens, den ein Journalist erfunden hat, deutet 
auf jene Bezirke hin, aus denen Raffke stammt. Es ist die Endsilbe 
kleinbiirgerlicher Namen, aber sie tnfft Raffke, den Grofien, nicht: Er 
verleugnet namlich nicht seine heimatUche Region, er ist kein »Snob« 
und kein »Parvenu«, er verbirgt sich nicht in erkauften Ahnengalerien, 
sondern er besitzt sie als Trophden seines Sieges liber die schwachli- 
chen Nachkommen. Er bewegt sich im Salon wie ein »Elefant im Por- 
2ellanladen« - das Bild ist richtig. Aber die Witzler und Humoristen, 
die seinen Namen und seine Popularitat machen, schildern Raffke so, 
als ware er ein - Esel im Porzellanladen. Das ist er nicht. Die Gerech- 
tigkeit gebeut seine RehabiHtierung. 

Man legt Raffke jene Ausspriiche in den Mund, die von den Lippen der 
beriihmten »Frau Pollak« fliefien. Das ist eine verlogene Charakterisie- 
rung und eine Verwischung der Grenze, die Raffke vom »Parvenu« 
trennt. Raffke ist nicht halbgebildet, infolgedessen nicht toricht. Wenn 
er ein Fremdwort verwechselt, so macht er damit die sogenannte »Bil- 
dung« lacherlich - nicht sich selbst. Er gesteht namUch, dafi er ungebil- 
det ist (der Parvenu gibt es nicht zu). In Raffke, dem Unhold, schlum- 
mert eine geistige Kraft, die nur deshalb noch nicht geweckt ist, weil 
ihr Besitzer ausruhen mufS und von seinen Erfolgen stofflicher Natur. 
Noch bedarf Raffke, der Hochbegabte, nicht des geistigen Luxus. Sein 
machtiger Korper hat noch nicht entschieden, welche Art von Kissen 
und Sofas die grofite BequemUchkeit bietet. Der materielle GenuK ist 
primares Bediirfnis. In dem Stadium des materiellen Bedarfs findet sich 
heute Raffke, und es fallt ihm nicht ein, Wissen vorzutauschen - schon 
deshalb, weil er die Bedeutung des Geistes nicht kennengelernt hat. 
Rings um sich sieht er die Opfer der Zeit, die seine Zeit ist, es sind 
»Geistige«. Raffke beneidet keinen Verhungernden. Raffke imitiert 
keinen Bettler. Raffke halt sich und seine Art fiir die kliigste, weil sie 
die siegreiche ist. Dem Primitiven ist der Erfolg nur mafigebend. 
Raffke schatzt die Erfoiglosigkeit nicht so, daft er den Ehrgeiz hatte, 
ein geistig Bedeutender zu sein. 

Es ist aber anzunehmen, da£ Raffke schweigt, wenn man von belang- 
losen Dingen spricht. Die Musik ist ihm gleichgiiltig, er wird also nicht 
fragen, wann die sieben ersten Symphonien gespielt worden seien, 
wenn er zur achten gekommen ist. Er protzt nicht mit seinen weifien 
Handschuhen, weil sie das gesellschaftliche Abzeichen des Kultivier- 
ten sind, sondern weil ihm sein Instinkt sagt, da{^ man die gefahrUche 



1923 9^3 

Pranke im weifien Hands chuh fiirchtet. Keine Karikatur kann ihn um- 
bringen. 

Wir Armen, vom Dollar am Wege Gelassenen sollten uns mit Raffke 
»gutstellen«. Wenn er einmal erwacht, wird sein unverbrauchtes Hirn 
geistige Geniisse suchen und Erziehung dankbar annehmen. Er wird 
kein herablassender Mazen sein, sondern ein ehrlicher Konsument un- 
serer Produktion. Er wird nicht auf halbem Wege stehenbleiben, wie 
er sich mit halben Gewinsten nicht zufriedengab. Er wird Bildung und 
Werk annektieren, eine unerhorte geistige Expansionskraft entfalten. 
Dumpf ahnt er wahrscheinlich heute schon die Gottlichkeit seelischer 
Dinge. Seine Ellenbogen werden ruhen, er hat Raum geschaffen fiir die 
Bediirfnisse seiner kolossalen Korperlichkeit - nun wird seine Seele 
erwachen und Nahrung verlangen. Er wird ein sehr anspruchsvoUes 
Publikum sein. Die Humoristen, die ihn heute bespotteln, werden 
ihm, fiirchte ich, nicht geniigen. 

Berliner Borsen-Courier, 4. 2. 1923 



PREIS-RATTENWURGEN 



Schadliche Tiere sind Ratten, beriichtigt als Trager der Beulenpest, den 
Vorraten der Land- und Hauswirte gefahrlich und den Frauen ein 
Graus. Man vernichtet die Ratten durch Gift, Katze und Hund und 
kunstreiche Fallen. 

Ein- oder zweimal im Jahre veranstalten die Hausherrn ein Preis-Rat- 
tenwiirgen, gewisserma£en als Abschreckung fiir alle kommenden 
Rattengeschlechter. Zehn Wolfshunde versammeln sich mit ihren Her- 
ren auf einem abgezaunten Platz (in der Jungfernheide). Drei Herren 
bilden ein Preiswiirger-Komitee, indem sie sich weifirote Ratten- 
schwanzchen aus Seide und Stoff in die Knopflocher stecken. Dann 
stellen sich ein paar Jungen aus der Nachbarschaft vor die Rattenfallen 
und warten auf den schrillen Pfiff eines Komiteemitglieds. Das ist zu- 
gleich das Zeichen fiir die Hunde, ihre Herren vom Leinenzwang zu 
befreien. Die Jungen offnen die Fallen, und die Ratten springen mit 
einem Riesensatz in die Freiheit, die ihr Verderben ist. 
Sie schnupperten die lauernde Gefahr, ehe noch die Klappen offen wa- 



924 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ren. Sie witterten den gierigen Bluthunger der Morder, eine grausige 
Ahnung uberflog sie leise, und ihre kleinen Herzchen schlugen hart 
und in sekundenlangen Absatzen, die Lungen atmeten stofiweifie, 
schnell und schwer. Die weichen Pelzharchen straubten sich borstig, 
ein Schauer strich wie ein korperliches Etwas die Wirbelsaule entlang - 
vom Genick pflanzte es sich fort bis zum jiingsten und zartesten Wir- 
bel des langen Schwanzes. Es war wie ein gehassiges Streicheln. 
Die Ratten sind dick und behabig, zwei Wochen oder langer hat man 
sie gefllttert, mit Speck und fettbestrichenen Brotrinden, man hat sie 
zu anstandigen Opfern erzogen - ein Wunder, dafi ihnen die braven 
Hausherren keine rotweifien Schleifen um die Ohren gewickeh haben 
zwecks Verschonerung ihres Todes. Dennoch fiihlen sie sich fremd in 
den sonderbaren Gehausen, sooft sie an das Drahtgitter riihrten, 
summte es drohend und leise wie im Tod, der sich telephonisch mel- 
det, und das Fell empfand die Beriihrung hochst peinlich. Vierzehn 
Tage lang liefen die gefangenen Ratten rundherum im Kreis von rechts 
nach links und von links nach rechts, mit den kleinen Pfoten die kom- 
plizierten Riegel beriihrend, ohne die Konstruktion zu verstehen. 
Plotzlich - siehe da - ist die Tiir offen, das Ende des qualenden irrigen 
Kreisens ist gekommen - offen steht der Weg in die Freiheit. 
Die Hunde benehmen sich wie gelernte Spitzel. Sie halten den Atem 
an, kein knurrender Laut entfahrt ihnen, sie treten so leise auf den 
Sand, als batten sie die Stiefel ausgezogen, sie spitzen die Ohren und 
strecken sie wie Zeigefinger in die Luft und klemmen die Schwanze 
ein. Die Ratten hocken immer noch, etwa zehn Schritte, von ihren 
Gefangnissen entfernt, hocken still und lauschend, gebannt von der 
leise geahnten Gefahr, erschrocken durch die plotzliche Weiche des 
Horizonts, Unbehagen fafit sie in der kalten Luft. Pldtzlich tut Lux, 
ein vornehmer Hund, sauber gebiirstet, mit glanzendem, pomadisier- 
tem Fell und einem geradezu glattrasierten modernen Hundegesicht, 
einen machtigen Satz, ein leises Knurren entfahrt ihm, eine kleine 
Donnerimitation, und ehe man sich's versieht, halt er mit den Vorder- 
beinen und mit den weiEen Zahnen eine Ratte am Genick, betaubt sie 
durch seinen scharfen Atem, freut sich noch ein bifichen an dem ver- 
zweifelten und ganz mechanischen unbewufiten Zappeln ihrer Glied- 
mafien und beifit zu. 

Rote Blutstropfen fallen auf den Sand, als weinte ein toter Korper, und 
der Blutdunst dringt den Tieren ins Gehirn, die Ratten huschen ver- 



1923 9^5 

stort und hilfesuchend durcheinander, sie sind ein verzweifelter 
Knauel, wie Menschen in einer Theatergarderobe, wenn das Gebaude 
brennt, und die Hunde umkreisen sie witternd und bose und bilden 
einen gefahrlichen Kordon, als hatten sie's bei einer Razzia gelernt. 
Gedampftes Fauchen und Schnauben erfiillt die Luft, ein unerhortes 
Morden spielt sich ab, grausamer als ein Weltkrieg; der letzte Todes- 
pfiff eines verendenden Tiers, der verzweifelte nutzlose Kampf des 
schwacheren Gegners, der seine Krallen einschlagt in das Angesicht 
des starken Morders, instinktiv nach dem Auge zielend, das Wutge- 
heul eines gekratzten Hundes, ailerletzter erbarmlicher Versuch da- 
vonzuhuschen, innigster Wunsch, sich eingraben zu konnen in den 
Sand. Suchen nach einem schiitzenden Loch, briinstiges, heiEes Ver- 
langen, verschwinden zu konnen von dieser gefahrlichen, todlichen 
Erdoberflache. 

Gespannt blicken die Hauswirte auf den morderischen Kampf, sie se- 
hen aus wie Feldherren, sie strecken witternd ihre Schnauzen in die 
Luft, wohUges Knurren entstromt ihren Bauchen; es sind friedliche 
Burger, der Polizei ein Wohlgefallen und in Ehrfurcht vor dem Straf- 
gesetzbuch herangewachsen, sie Heben nur so ein bifichen Rattenblut 
und halten im iibrigen die Menschenfresser fiir eine schwarze 
Schmach. Die Hunde bringen ihnen die Beute und melden mit den 
Schwanzen wie mit Taschentiichern. Drei oder fiinf Minuten hat der 
ganze Krieg gedauert, die Herren ziehen grof^e dicke rote Wiirste aus 
den Rocktaschen und servieren sie den Hunden auf ausgestreckten 
Handtabletten. 

Eine unheimliche Stille wird horbar auf dem Felde der Ehre. Die Ruhe 
des Todes schreit, aber die Hausherren haben gute Gesinnungswatte in 
die Ohren gesteckt, ihr Gewissen ist rein, denn die Ratten sind be- 
kanntlich schadliche Tiere, beriichtigt als Trager der Beulenpest, den 
Vorraten gefahrlich und den Frauen ein Graus. Sympathisch werden 
sie nur, wenn man die befriedigten Hausherren, von den Wolfshunden 
an die Leine genommen, in die nachste Schankwirtschaft paradieren 
sieht, wo sie Bier trinken und von Politik sprechen. Ein Grammophon 

grohlt: Wer wird denn weinen und ich denke mit Wehmut daran, 

daf5 die Ratten nichts von Politik verstehen und keine Grammophone 

besitzen. 

Dieses Rattenwiirgen - lie£ ich mir sagen - war nur ein privates, ein 

kleines FamiHenfest, eine Probe fiir das grofie Rattenwurgen, das oft 



926 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

unter freundlicher Mitwirkung der Polizeihunde an grofien offentli- 
chen Orten stattfindet. 

Ich dachte an das Sechstagerennen, an Schlachtfelder, Stahlbader, Frei- 

willigenkorps Rofibach, Kapp-Putsche und was dergleichen menschli- 

cher Vergniigungen mehr ist. Es war ein schoner, erbaulicher Sonntag. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 9. 2. 1923 



VERKEHRTE WELT 



Der Mechanismus europaischen Lebens war vollkommen. Man durfte 
auf die Zuverlassigkeit der Maschine rechnen wie auf jene der regelma- 
fiigen Naturereignisse, wie auf Sonne, Nacht und Wechsel der Jahres- 
zeiten. Der Fahrplan, das Betriebsreglement, der Steuerkataster, das 
Sterberegister, die Statistik der Geburten: sie schienen den Lauf des 
Lebens zu regeln, sie fasten die kleinen und grofien Veranderungen 
und Erscheinungen des lebendigen Tags in die alles berechnende, 
Plotzlichkeiten ausschliefiende Tabelle: sie wollten die Ubermacht des 
Zufalls aus dem Getriebe der Welt ausschalten. 

Blitzschlag, Erdbeben, Uberschwemmung und Feuerbrunst galten als 
»hohere Machte«. Der Begriff der vis major war vorhanden, in Wirk- 
lichkeit war es eine vis minor^ eine Fatalitat, mit der man nicht unbe- 
dingt rechnen mufite, weil sie selten auftrat - so wie man Gott vergifit, 
wenn man von Katastrophen verschont bleibt, Und als hatte man die 
unberechenbaren Machte hohnen wollen - durch hohere Mathema- 
tik-, gestaltete man jede Berechnung im wirklichen Sinn des Wortes: 
»Minutios« - »sekundios« mochte man sagen: Gewissermafien alien 
Zufallsmoglichkeiten zum Trotz ging der 2ug um 11 Uhr 23 Minuten 
ab; betrug die Sterblickeit in dem und jenem Monat oder Jahr 430067; 
konnte die Briicke 6000 Zentner und noch einige Gramm tragen. 
Die Tabelle - sie drohte, Sinnbild des Lebens zu werden - ist nur noch 
eine Gewohnheit. Unzuverlassig sind Fahrplan, Betriebsreglement, 
Steuerkataster, Sterberegister. Dem Zufall ist die Bahn freigegeben. Er 
hohnt der hoheren Mathematik. Allen sorgfaltigen Berechnungen, 
autoritaren Unterschriften, bahnamtlichen Siegeln zum Trotz kommt 
der Zug nicht um 4 Uhr 24 Minuten an, sondern um 8 Uhr 11 und eine 



1923 9V 

halbe Minute, Der Mensch hat die Gewalt liber die Materie verloren. 
Werkzeuge, die er selbst geschaffen - sie sollten Genossen, Waffenge- 
fahrten im Kampf gegen noch nicht bezwungene Elemente sein-, ge- 
horchen ihrem Schopfer nicht mehr. Es kommt vor, daf^ ein griines 
Signal versagt oder ein rotes; dafi eine Weiche wider Erwarten auf ih- 
rem falschen Platz bleibt; dafi ein Hebel wie ein Arm erlahmt. 
Die Unsicherheit bereitet das Abenteuer vor - es soli die Herrschaft 
der Tabelle ablosen. Ungewifi ist die nachste Stunde, der Tag von 
Dammerungen bedroht, die Nacht von plotzlichen Lichtern. Schlupf- 
winkel, die sich bergen sollten, geben sich preis, Geheimnisse, die du 
birgst, sind aller Welt offenbar. Unsicher wie ein Sumpf, todliche Tie- 
fen maskierend, der Asphalt der Strafie. Chauffeure, von ihren Moto- 
ren gelenkt, fahren dich tot. Vertraue dem oft erprobten, alten blauen 
Briefkasten dringende Botschaft an - sie verschwindet ohne Spur, der 
Kasten, dessen eisernen Boden du greifen kannst, tauscht dich: Er ist 
bodenlos. Richte deinen Tag nach der Normaluhr, die, von Witterun- 
gen unberiihrt, einem Kontakt gehorcht, keiner launischen Stahlfeder 
- und sie geht falsch. Die Strafie, an der du wohnst, zu Hause bist, 
birgt Morder hinter der, hinter jener Ecke - im Dunkel deines Zim- 
mers, das dich vertraut umfangt, lauern sie mit chloroformierten Ta- 
schentiichern. Haufe Geld in deinen Eisenschrank, und wahne dich 
reich und reicher, sammle blaue und bunte Bilderscheine, fiir die du 
heute eine Welt kaufen konntest - und in vierzehn Tagen reicht's fiir 
einen Pfeifenknaster. 

An der Strafienecke bietet man einen Kurszettel feil, ein geheimnisvol- 
les Papier. Es enthalt in tausend kleingedruckten Zeilen ungezahlte 
Abenteuer, Marchenhaftes in Ziffern und Zeichen, kaufe eine Aktie 
legendarischen Namens (Phonix, Agrippina oder Ikaros), sie steht und 
steigt in ungeahnte H5hen. Dieweil du schlummerst, die Mahnung des 
Lesebuches vom Gold der Morgenstunde vergessend, recken sich fiir 
dich 10 000 fieifiige Arme - seit dem grauen Tagesanbruch steigt der 
Dollar fiir dich, fiir dich. Auf einen Wunsch-Scheck schreibst du eine 
Zahl und deinen Namen, und der Herr hinter dem Bankschalter, auf 
dessen Tisch die Millionen kreuz und quer Hegen, als waren sie Manu- 
skripte, greift ein Packchen und zwei und breitet Tausende vor dir aus, 
du brauchst sie nur in die Tasche zu schaufeln. Steigst du nun, sicher 
deines Besitzes, auf das Verdeck des Autobusses zu lustiger Wolken- 
fahrt, zaubert ein bepelzter Nachbar dir deine Scheine weg. Er sah so 



928 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

vertrauensvoU aus, er schien ein gutgenahrter Burger, mit Giitern, 
Kindern und Frau gesegnet, sein Antlitz, sein Bauch waren bieder, 
seine Hande diebisch. 

Des Nachts, geheimnisvoll winkt ein Mann hinter der Laterne, er han- 
delt mit durchwachten Nachten, Liisten und Leidenschaften, er ver- 
kauft Nacktheiten und Sensationen, unter den Augen des griingeklei- 
deten, auf und ab wandelnden Gesetzes. Eine Turmuhr zahlt dir die 
Schlage der Polizeistunde vor, erlaubt ist dir, was sie verbietet. Aufier- 
haib deines Lebens werden Gesetze erdacht und ausgefiihrt. Auf den 
verbotenen Wegen darfst du nicht gehen, nur fahren. 
Vieltausend Drahte sind iiber die Welt gespannt, sie tragen die flinken 
Worte von Ohr zu Ohr, kiirzer als ein Blitz kann die Meilenreise eines 
Wortes wahren. Trau den Drahten nicht! Geh bin an den Schalter, 
bezahle Gebiihren, und begib dich deines Wegs, vertrauend auf die 
genaue Schnelligkeit der Elektrizitat. Dein Telegramm liegt irgendwo 
zerkniillt und vergessen im Papierkorb oder hangt, verungllickt unter- 
wegs, zwischen zwei feiernden Telegraphenstangen, die sich iiber das 
Gesetz erheben, das sie geschaffen. 

In der kleinen Telephonzelle liegt ein dickes Buch an einer Kette wie 
ein Hund. Die tollwiitigen Tiere laufen draufien herum und beifien. 
Die zahmen Telephonblicher sind angekettet. Aber die Nummern, die 
du brauchst, sind fort, verschwunden, sie waren nicht angekettet, sie 
liefen aus den Tastern und Drahten weg, und andere kamen an ihre 
Stelle, die noch nicht eingefangen sind in neue Biicher und die du nicht 
kennenlernst. 

Jeder achtet auf seine Garderobe, und sie wird ihm dennoch gestohlen. 
Jeder rennt, und niemand kommt ans Ziel. Jeder rechnet ohne Resul- 
tat. Alle leben und wissen es nicht, AUe genieEen und freuen sich nicht. 
Alle sind unschuldig und von Siinden belastet. Ein Volk geht zu- 
grunde, und die einzelnen, aus denen es besteht, leben. Geht die Sonne 
noch im Osten auf? Dreht die Erde sich um ihre Achse? . . . 

Berliner Borsen-Courier, 11. 2, 1923 



DAS HAUS DER loo VERNUNFTIGEN 



Im Sanatorium fiir Nervenkranke, das mein Freund Dr. H. leitet, ein 
bekannter Irrenarzt, lebten meines Erachtens immer Verniinftige. Die 
Patienten waren ja gar nicht »nervenkrank« - diese Bezeichnung gait 
fiir die Verwandtschaft - sie waren nur irrsinnig. Sie zogen sich von 
der Welt zuriick, angewidert von dem gesunden Menschenverstand, 
der sie damals regierte. Sie wahlten eine kleine Schizophrenie, ein bifi- 
chen Paranoia, ein Quantchen Grofienwahn, eine harmlose dementia 
praecox statt einer vorgeschriebenen staatsbiirgerlichen Gesinnung, 
eines Assessorenberufs, einer Kadettenschule, einer Dozentur. Der 
Ausbruch des Weltkriegs gab ihnen recht. Draufien im Felde, wenn ich 
Wachtposten stand, dachte ich neidvoU an jene Gliicklichen, die eine 
Gehirnparalyse sorgsam beschiitzte vor der Gehirnerweichung eines 
Pressequartiers oder vor dem Grofienwahn eines Kaisers. 
Von den 156 Patienten leben heute im Sanatorium meines Freundes 
hundert - und alle sind geheilt. AUe sind verniinftig - nicht nur in 
Jenem hoheren Sinnc, der die Normalitat der Welt in Gansefiifichen 
setzt, sondern genauso verniinftig wie wir andern, die wir Assessoren 
sind, Dozenten, Staatsbtirger sind - und imstande waren, wieder 
Wachtposten zu stehen, die Berichte eines Pressequartiers zu verfassen 
und zu lesen und einer Kriegslyrik Bravo zu klatschen. 
In der Heilanstalt lebt heute kein einziger Kranker mehr. Sie ist eine 
Art Pension fiir Normale. Es gibt mannliche und weibHche Patienten. 
Sie veranstalten Fiinfuhrtees, sie tanzen Shimmy, sie haben ein Gram- 
mophon, sie spielen Klavier und sind, dank der vortreffHchen Kunst 
meines beruhmten Freundes, wieder dieselben stupiden Durch- 
schnittsmenschen, die sie vor ihrer Erkrankung gewesen. Sie lesen so- 
gar Zeitung. 

Ein Offizier, der im Kriege verschiittet war, arrangiert Skitouren und 
Rodelpartien. Ein Maler, der in der Zeit seiner Krankheit geniale An- 
satze zeigte, malt wieder talentlose Portrats; ein Musiker spielt jeden 
Tag im Kino, ist Montag und Mittwoch frei und stellt seine MusikaUtat 
den Fiinfuhrtees zur Verfiigung; ein Student der Rechte ist wieder zu 
seiner angeborenen Dummheit gelangt und beweist sie, indem er sich 
ftir ein Examen vorbereitet. (Er wird es bestehen!) Und der Doktor H. 
hat nur die ObUegenheiten einer Pensionsmutter zu erfiillen; er kauft 



930 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Eier und Butter und Milch, beaufsichtigt eine Wirtschafterin, schreibt 
ein Buch liber die nicht mehr vorhandene Schizophrenic und wartet 
vergebUch auf einen Geisteskranken. 

In Berhn ist keiner mehr aufzutreiben. In den anderen Privatheilanstal- 
ten leben noch ein paar uninteressante Falle - und aufierdem Gesunde, 
Normalgewordene. Wirklich Geisteskranke sind nur noch in den of- 
fenthchen Anstalten zu finden, in denen sich Gesunde nicht lange auf- 
halten diirfen und in die brutal verniinftige Welt so schnell als moglich 
zuriickkehren miissen. In den pnvaten Sanatorien Berlins leben die 
Geheilten - aus Furcht vor der inzwischen gewaltig veranderten Welt, 
in der sich nur noch ein Verriickter auskennt. Ihre Furcht ist nicht 
mehr krankhaft, sondern eben sehr normal. Sie sind so verniinftig, dafi 
sie nur im Irrenhaus leben konnen und nirgends sonst. 
Das ist keine witzige Erfindung, sondern eine statistisch nachzuwei- 
sende Wahrheit: In den privaten Irrenhausern BerHns leben nur noch 
vierzig Prozent Kranke, die andern sechzig sind gesund und konnen 
das Irrenhaus doch nicht verlassen. Grausam und grofi ist die Stadt, in 
den Wohnungen leben Schulter an Schulter die reichen Auslander, rus- 
sische Emigranten fiillen die Pensionen - wer nicht das Gliick hatte, 
vor einigen Jahren verriickt zu werden, wird es heute, wenn er zum 
Wohnungsamt kommt. Wer von den armen Auslandern vor 1914 nicht 
zufallig in Berlin gewohnt hat, bedarf einer Aufenthaltsbewilligung 
vom Fremdenamt, er wartet darauf vier, fiinf und sechs Monate und 
darf wahrend dieser Zeit keine Wohnung beziehen. (Die reichen Aus- 
lander konnen ruhig warten, sie wohnen im Hotel.) Es ist nicht leicht, 
sein Brot zu verdienen, man ist auf Gelegenheitsverdienste angewiesen 
und auf Unterstiitzungen wohlhabender Verwandten. Die Strafien 
sind des Nachts unsicher, der Passant, der dich hoflich um Feuer fiir 
die Zigarette bittet, halt ein chloroformiertes Taschentuch fiir deine 
Nase bereit. Ein Mann, der hinter dir auf der Plattform steht, stofit 
dich wahrend der rasenden Fahrt hinunter, weil er abspringen will. Im 
Verkehr von Cafe zu Cafe steigen die Aktien, aus Likorstuben werden 
Banken iiber Nacht mit der Aufschrift: Devisendiele. Der Dollar tanzt 
Jazzbands auf Himmelsleitern, Hande fuchteln durch die Luft und be- 
hindern den Straftenverkehr. Bettler kriimmen sich an den Straf^enek- 
ken, und die Gebresten, die sie dir fordernd zeigen, sind eigentlich 
Betriebskapital. Propheten durchziehen die Stadt und predigen einer 
verzweifelten Rotte Krieg oder Frieden. Menschen schlagt man ans 



1923 931 

Hakenkreuz, und die Glocken lauten: Judas ist auf erstanden ! Gymna- 
siasten fahren im Auto direkt von der Einsegnungsfeier zur Borse. Die 
Antike wird als klassisches Altmetall verhandelt. Der Kutscher auf 
dem Bock liest den Kurszettel; in der Filmbranche schlagt man agypti- 
sche Schlachten. An den Strafienecken, in der Nacht, tuscheln geheim- 
nisvolle Manner dir ins Ohr von Nackttanzen - bis morgen friih. Die 
Welt ist irrsinnig. 

Wer wundert sich, dafS man da im Irrenhaus bleiben mufi und gerne 
bleibt? Unter verniinftigen Menschen, die keine Wohnungsnot ken- 
nen, zur gemeinsamen Wirtschaft beisteuern; friedlich leben - eine Ge- 
meinschaft von normalen Dutzendmenschen, dafi heifit: Ausnahme- 
menschen? 

Berlin ist grof^ und grau und grausam, der Irrsinn spriefit aus dem 
Asphalt, er lauert in den Winkeln, er wartet auf dich hinter der, hinter 
jener Ecke. Er gliiht in den Augen des Nachbarn in der Strafienbahn, 
er ist der Motor, der die Bahn treibt, die Maschinen, die Elevatoren, 
die Staubsauger, er regiert die Behorde, die Wohnungsamter; er lenkt 
die Automobile, dafi sie dich iiberfahren; er surrt in den elektrischen 
Drahten, auf daC ihre Hochspannung dich treffe; er bewegt die Dreh- 
tiir, umschaufelt dich ins Jazzband tanzende Lokal. Er sitzt am Spiel- 
tisch und dirigiert das Roulettespiel und richtet dich zugrunde. 
Auf! flieh hinein ins Irrenhaus! 

Frankfuner Zeitung, 17. 2. 1923 



DAS SCHIFF DER AUSWANDERER 

An Bord der »Pittshurgh« 

Das Schiff der Auswanderer hei£t »Pittsburgh« und soil um 11 Uhr 
und zwei Minuten Bremerhaven verlassen. Die Auswanderer sind 
Menschen aus dem Osten, Juden in der Mehrzahl, dem Europa der 
Pogrome gliicklich entronnen, russische Bauern und junge ukrainische 
Weiber, mit bunten, leuchtenden Kopftiichern, die lebhaft an Sonnen- 
wiesen erinnern, blau- und rotgebliimt und frohlich. Die White-Star- 
Linie, der die »Pittsburgh« gehort, hat endlich mit dem langst unzeit- 
gemafi gewordenen Begriff dts »Zwischendeckpassagiers« aufgeraumt 



932 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

- indem sie das Zwischendeck abschaffte und Kajiiten dritter Klasse 
einfiihrte. Verschwunden ist die ganz proletarische Romantik der rat- 
ios herumkoUernden Menschen und Koffer. AUe sind wohl verstaut in 
den schmalen Kabinen, die wie versperrbare Facher in die Wande ein- 
gebaut sind. Juden, bartige, und Kinder, russische Bauern, deren Ge- 
sichter zerfurcht sind wie Acker, und leuchtende ukrainische Bauerin- 
nen sind eingeschachtelt. Ihre ganze Emigrantenarmlichkeit verbor- 
gen, nicht wie bisher preisgegeben forschendem und iibermutigem 
Aug'. Dennoch gibt es viel sichtbares Elend, ehe es auf Deck verladen 
wird. Das Gepack, seltsame, abenteuerliche Stiicke, in alte Sacklein- 
wand genahte Bettkissen, Matratzeniiberziige, rot und weifi leuch- 
tende Intimitaten, hundertfach gekniipfte Biindel und Strohkorbe, mit 
vorsintflutlichen, groben Schlossern versehen. - AUes wird auf klei- 
nen, rasch rollenden, mit Elektromotoren betriebenen Wagelchen an 
den Hafen geschafft. Die Emigranten haben trotzdem noch viel zu 
schleppen. Es gibt Dinge, von denen sich der Mensch nicht trennen 
kann — auch nicht fiir eine halbe Stunde. Deshalb schwitzen die alten 
Juden unter den teuren Lasten, die sie auf dem gekriimmten Riicken, 
in steifgefrorenen Handen bis zu dem pausbackigen, behelmten 
Schutzmann schleppen. Dieser Schutzmann ist ein prachtvoUes Ex- 
emplar einer halb landHchen, halb seemannischen Behorde. Seine run- 
den Wangen sind rot und gleichsam von innen heraus leuchtend, als 
ware in seinem Mund eine Kerze angeziindet wie in einem Lampion an 
Sommernachtsfesten. Alte Schiffskoche sehen so aus. Der Helm, der 
dunkle Mantel, der Sabel passen nicht zu diesem Salzluftgesicht. Eine 
grofie Ruhe geht von diesem, unwahrscheinlich leuchtenden, breiten 
Antlitz aus und eine sanfte Giite, die alle Strenge der blinkenden 
Helmkuppel verleugnet und den Sabel desavouiert. Der Schutzmann 
steht am aufiersten Ende der schmalen Briicke, die das Festland mit 
dem grofien Meer verbindet. An ihm vorbei miissen die Auswanderer 
mit ihrem schweren Gepack. Sie stellen mit grof^er Umstandlichkeit 
ihre Biindel auf den Boden, sie suchen nach einer moglichst sauberen 
Stelle, sie mochten am liebsten zuerst eines ihrer grofien rot- und blau- 
karierten Taschentiicher auf die Erde breiten, ehe sie ein Packchen nie- 
derlegen. Das alles dauert gute fiinf Minuten, schon ertont ein Gong 
auf dem Schiff, eine Mahlzeit verkiindend, in zehn Minuten soil die 
»Washington« einlaufen, und die »Pittsburgh« muf^ den Hafen rau- 
men. Aber der Schutzmann leuchtet rothche Ampelruhe und Besanfti- 



1923 933 

gung; wenn man ihn ansieht, hat man sehr viel Zeit, mag das Schiff 
noch so grol^e Eile haben. Man kramt aus unwahrscheinlich verborge- 
nen, in Unterhemden eingenahten Brusttaschen Passe und Schiffskar- 
ten hervor und zeigt sie vor. Der Schutzmann studiert sie eifrig im 
Lichte seines eigenen Angesichts. 

Das Schiff (es hat einen Tonnengehah von 16000) fafit 1800 Passagiere. 
Von diesen besteht ein Drittel aus Auswanderern. Sie kommen aus 
RuCland und den Randlandern, aus Polen und Litauen, der Osten Eu- 
ropas schiittet sie aus. Seit Jahrhunderten wandert dieses Volk der Ost- 
juden, der armen Bauern, westwarts, Heimat verlassend, Heimat su- 
chend. Eine grofie Traurigkeit geht von ihnen aus, ihren grauen Bar- 
ten, ihren zerfurchten Gesichtern, ihren riihrenden, unbeholfenen 
Biindeln. Eine FamiUe aus Kowel ist hier, eine ahe Mutter, in schwar- 
zen Tiichern vermummt, zwei junge Tochter mit kurzgeschnittenem 
schwarzem Kraushaar und ein zwanzigjahriger Sohn, ein Kerl mit 
breiten Schultern und roten Handen, die wie riesenhafte Werkzeuge 
aus seinen Armeln baumeln. Er lacht und schiittelt seine starken Schul- 
tern, seit zwei Jahren wandert er mit seiner FamiHe durch den sterben- 
den, traurigen Westen Europas, seinen Vater suchend, der vor zehn 
Jahren aus Kowel ausgewandert ist - Gott weifi wohin. Sie waren in 
Budapest, sechs Monate in standigem Schreck vor der Tag und Nacht 
erwarteten Ausweisung, endlich von ihr erreicht, nach Wien getrieben, 
wo sie ein Jahr lang in einem gemieteten Kellerloch in der Kleinen 
Schiffergasse wohnten. Auch hier erschienen sie der Behorde eine Last 

- der Sohn trieb unerlaubten Kleiderhandel-, sie wurden verweht nach 
dem traurigsten Osten Berlins, in die Hirtenstrafie, wo die schwarze 
Borse ungeahnte Gewinne verspricht und nicht beschert. EndUch mel- 
dete sich ein Vetter in New York, der dort auf der StraEe Zitronen und 
Orangen feilbietet, er schickte Schiffskarten und zehn Dollar pro Kopf 

- Gott hilft dem Verlassenen. Jetzt reisen sie nach Amerika, eine 
grofie, schone Freiheit winkt den Kindern, ein Grab der alten Mutter, 
aber diesem Europa sind sie entronnen, dem Festland der Pogrome, 
der Polizei, der schwarzen Borse, des unerlaubten Kleiderhandels. Die 
ukrainischen Bauern fliehen vor Hunger, Pest und einer langsamen 
Wohltatigkeit. Der hat einen Schwager dort - Nikita heiEt er - und 
jener einen Neffen namens Timofej. Die Adressen stehen verzeichnet 
auf alten, zerknitterten Umschlagen, sind kaum zu entziffern, seit vie- 
len Wochen tragen die Bauern diese Kuverts in verborgenen Westenta- 



934 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schen, in Schnupftabakdosen und m ungebrauchten Pfeifenkopfen aus 
Weichselholz, Die Bauerinnen sehen mit den furchtsamen, flackernden 
Augen erschrockener Tiere Getreibe und Tumult, grofie Krane, die 
wie lebendige Wesen Kohlenmengen schopfen, sich langsam in der 
Luft drehen, Schopfloffel wie grofSe schwarze Riesenhande offnen, um 
die Last auszuschiitten. Sie horen den fremden, schweren Klang einer 
Schiffsglocke, die warnenden Rufe der Hafenarbeiter, das Donnern 
oder Poltern der rollenden Lastwagen. Sie sehen, wie der Hafen sich 
weitet, dem offenen Auge Grenzenlosigkeit des Meeres darbietend 
und eine nie geahnte blaue Ewigkeit. 

Hoch oben flattert das Sternenbanner der Vereinigten Staaten iiber der 
internationalen Schiffsfahne, die blau ist wie Meer und Himmei mit 
einem weifien Kreis in der Mitte, der wie ein kleines Wolkchen aus- 
sieht. Auf der Kommandobriicke steht ein Mann, den Riemen seiner 
Miitze um Kinn und Ohren geschnallt, er erteilt Befehle in unver- 
standlicher Fachsprache, geheimnisvoll wie das Meer sind Fremden 
seine Befehle. Ein kleiner Schlepper zieht mit meterstarkem Tau an 
dem grofien Schiff, wie eine willige Triumphpforte offnet sich langsam 
und feierHch die Schleusenbriicke. Die Auswanderer stehen an Bord, 
sie rufen dem verschwindenden Land etwas zu, obwohl sie niemand 
hierher begleitet hat, sie winken fremden Menschen, dem leuchtenden 
Schutzmann, den Hafenarbeitern, den Tragern. Oben, auf dem Rand 
eines riesigen Schornsteins, erscheint eine schwarze Figur, ein Schorn- 
steinfeger, er sieht aus wie das Spielzeug dieses Riesendampfers, so 
winzig und schmal ist seine Silhouette auf dem unendhch blauen Hin- 
tergrund. Aus den kreisrunden Fenstern der Kabinen sehen die Ge- 
sichter der Emigranten Europa zum letztenmal. 

Prager Tagblatt, 18.2. 1923 



DER DEUTSCHE DICHTER KANTOROWICZ 



In der Reklame verrat sich der Geist des merkantilen Biirgertums. In 
der verschamten und schamlosen, verborgenen und offenen, miihsam 
umschriebenen und laut herausgeschrienen Anpreisung der »Ware« 
offenbart der handelnde Burger alle seine moralischen und geistigen 



1923 935 

Qualitaten: seine Schlauheit und seine Halbbildung; seine »Menschen- 
kenntnis« genannte Bauernfangerei und jene Art von »Psychologie«, 
die in dem mit Recht biirgerlichen Strafgesetzbuch nicht behandelt 
wird; seinen Hang zum Untertanentum; seine Fahigkeit, sich empor- 
zuhandeln - er nennt es: »Hinaufarbeiten«-, seinen Stil und seinen 
Geschmack. Im Inserat verrat der Kramer, was er weifi und was ihm 
gefallt. Die Abfassung der Reklame ist seine einzige, sozusagen geistige 
Tatigkeit wahrend eines jahrzehntelangen Handelns. Hier mufi er 
krampfhaft alle Energien mobilisieren, alle Hirnreste zusammenfas- 
sen . . . 

War die deutsche Bourgeoisie kennen will, lese - nicht die Artikel der 
biirgerlichen Blatter. Sie werden doch nur vom geistigen Mittelstand 
geschrieben, einer Art Verlegenheitsbourgeoisie, die aus Mangel an 
Charakter und aus Uberschufi an billigem Talent iiberlieferte und 
nicht mehr vorhandene biirgerliche Ideologic in Druckerschwarze um- 
setzt. Wer die Bourgeoisie kennenlernen will, der lese die Inserate, 
sehe sich Schilder, Litfafisaulen, Schaufenster an. Und er wird das An- 
gesicht des deutschen Kramers sehen, der imstande ist, seine Biisten- 
halter und Suspensorien, sein Konfekt und seine Heringe nach Goethe, 
Schiller, Klopstock, Bismarck zu benennen und sie uberdies »gesetz- 
lich vor Nachahmung« zu schiitzen; dieses Volk der Reklamedichter 
und Prozentedenker; dieses Geschmeifi von grofimauligen Agenten, 
Schnittmusteranpreisern und Hoflieferanten, das die Superlative der 
Sprache und der Preise in die Hohe treibt. (Es ist ein und derselhe 
Geist, der die Margarine »allerbest« und die Majestat »Allerhochst« 
nennt.) Man wird diese Nation der Alphabeten kennenlernen, in der 
jeder seinen Walter Bloem lesen und schreiben kann - und diese ty- 
pisch biirgerUch-deutsche Verbindung von geistigem KUschee und 
kauflichem Material . . . 

Auf einer Studienfahrt, die mich an den Schaufenstern Berlins vorbei- 
fiihrt, ierne ich den Dichter Kantorowicz kennen. In der Auslage einer 
seiner Likorstuben liegt ein Buch, dessen Rucken zwei goldene In- 
schriften zieren. Die erste lautet: »Kantorowicz' Werke«; die zweite: 
» Geistige Lekture«. Ich lasse mir das Buch zeigen. Es ist - ein Etui in 
Buchform und enthalt eine flache - Likorflasche »fur die Reise« (also 
das Niveau eines Ullsteinbuches). 
Ist das etwa eine »Kleinigkeit«? 



93^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Nein! - ein Symptoml - Eine Weile noch, und Kantorowicz ver- 
zichtet auf die Autorschaft und schreibt auf die Riicken seiner 
Buch-Etuis: »Goethes Werke« und eroffnet eine Buchhandlung mit 
»geistiger Lekture«. Wo in aller Welt ward noch in dem MaCe der 
Geist durch Spiritus verhohnt? Ich weifi, dafi die Buchform der 
Schnapsflaschen-Etuis eine iacherliche Geschmacklosigkeit ist. Aber 
sie wachst dariiber hinaus - bedeutungsvoU - und ist der Korper ge- 
wordene Ausdruck jenes Zustandes, in dem sich der deutsche Biir- 
ger befindet und in dem er den geistigen Arbeiter notgedrungen 
mifihandeln muC, Der verhungert, weil der Burger die Werke von 
Kantorowicz liest. 

Also bleibt dem deutschen Schriftsteller nur iibrig, Biicher in 
Schnapsflaschenformat zu erzeugen. Dann wird er endlich von den 
Gasten des Kantorowicz getrunken werden . . . 

Die Glocke, 19. 2. 1923 



DER AUFERSTANDENE MENSCH 

Ein halbes Jahrhundert im Xuchthaus 

Am Rande der Hauptstrafie in Rummelsburg, wo das Griin einer fa- 
briklosen Welt bereits heriiberzuschimmern beginnt, steht das Al- 
tersheim der Stadt Berlin. Es leben dort alte Menschen, wie man 
weifi. Die Alten haben ihre Vergangenheiten abgelegt . wie eine 
schwere Last, die man bis zum Ziel der Wanderung geschleppt hat, 
um sie endlich loszuwerden. Zwischen dem Altersheim und dem 
Grabe gibt es kaum noch eine Etappe. 

Viele dieser Alten kehren eigentlich zurUck in ihre Versorgungsan- 
stalt. Sie waren schon als junge Korrigenden dort, wurden entlassen, 
gingen in die Welt, wurden aufgegriffen und heimgeschickt und ka- 
men wieder dorthin, woher sie ausgezogen waren. An schonen 
Abenden sitzen die Alten auf den Banken im groKen Park und er- 
zahlen von fremden Welten, von Mexiko, Spanien und den vielen 
Kaps der Guten Hoffnungen, die es in der Welt gibt, den ungeogra- 
phischen, denen man entgegensegelt und an denen man zerschellt. 
Das Altersheim ist Schicksai. Der Mensch kann noch so weit her- 



1923 937 

umgewandert sein, am Ende landet er in Rummelsburg. Es liegt am 
Ziele jedes Abenteurerlebens. Dem Schicksals-Rummelsburg entrinnt 
man nicht. 

Ein Mann lebt im Rummelsburger Altersheim, der hat fiinfzig Jahre 
Tod hinter sich. Was fiir andere das Ende, ist hier Anfang. Das Alters- 
heim ist sozusagen sein Jugendheim. Nach fiinfzig Jahren steht er, ein 
Siebzigjahriger, vor einer neuen Welt. 

Der Mann heifit Georg B. und ist vor einundfunfzig Jahren wegen 
Beihilfe zum Raubmord zu lebenslanglichem Zuchthaus verurteilt 
warden. Vor kurzer Zeit gelangte er, dank einer guten Laune einer 
hoheren Macht, begnadigt in die Rummelsburger Freiheit. Und zum 
erstenmal nach einundfiinfzig Jahren kam er wieder in die Weltstadt 
Berlin. 

Die Schilderung dieses auferstandenen Lebens mag hier stehen, weil 
die Seltenheit des »Falles« die anstofiige Vergangenheit des Mannes 
zwar nicht aufwiegt, aber in den Hintergrund riickt. Seine Missetat ist 
nach gesetzUchen Begriffen gesuhnt; und das Interessante seines 
Schicksals ware ohne Siinde und ohne Siihne nicht gut mogUch. 
Georg B. kannte die Stadt Berlin, wie sie vor fiinfzig Jahren ausgesehen 
hatte. Gedachte er wahrend seines langen, dunklen Lebens dieser 
Stadt, so sah er eine von Fuhrwerken befahrene Strafie, sah er das Ende 
der Stadt am Potsdamer Platz, erschien ihm Wagenrasseln wie grol5- 
stadtisches Getose. Fiinfzig Jahre trug B. das Bild dieser Stadt im Be- 
wuEtsein. Verstieg er sich manchmal, an Fortschritt zu denken, las er 
in irgendeiner aufgegriffenen und zufalHg in die Abgeschlossenheit 
hereingeflatterten Zeitung von technischen Erfindungen, so zauberte 
ihm die Phantasie ein vierstockiges statt eines dreistockigen Hauses 
vor, und sein Auge erblickte, ohne die Hilfe wachsender Wirklichkei- 
ten, ein Vehikel vielleicht, das sich selbst fortbewegte. Ein Vehikel, 
dessen Schnelligkeit der eines von vier, hochstens sechs Pferden gezo- 
genen Wagens entsprach. Denn woran soUte sich sein Bewuf^tsein 
klammern als an den ihm vertrauten Mafistab? Ein Zugtier bedeutete 
ihm SchnelHgkeit - nie hatte er gesehen, dafi Menschen behender $lih 
konnten als Hasen, Hirsche und Gazellen. ,;■ 

PlotzHch entstieg B. der Stadtbahn und stand mitten im zwanzigsten 
Jahrhundert. Im zwanzigsten? Es miifite das vierzigste sein. Minde- 
stens das vierzigste. Wie pfeilschnell, als waren sie abgeschossen wor- 
den, lebendige Geschosse flitzten junge Menschen mit Zeitungen auf 



938 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

seltsam befliigelten Radern aus blinkendem Stahl die Strafien kreuz 
und quer! Schwarze und braune, groEe und ganz winzige Wagen glit- 
ten laudos liber die Strafie. Ein Mann safi im Fond und lenkte ein 
Steuer, als befande er sich im Boot. Und drohende, tiefe und helle, 
klagende und warnende, quietschende, groUende, heisere, hafivolle 
Stimmen drangen aus den Kehlen dieser Wagen. Was riefen sief Mit 
fremden Stimmen? Was befahlen sie den Fufigangern? AUe verstanden 
es, nur B. nicht. Eine ganz neue Sprache war auf der Welt, ein Verstan- 
digungsmittel so selbstverstandlich, als ware es Deutsch - und es wa- 
ren doch qualende, erschiitternde Urlaute wie aus den Anfangen der 
Menschheit, aus entschlafenen Urwaldern und Tertiarzeit. Der blieb 
stehen, und jener rannte rasch, sein Leben gleichsam an der Brust ber- 
gend, mit eingeklammerten Armen quer iiber den Damm. Am Potsda- 
mer Platz war nicht Ende mehr, sondern Mitte. Ein klagender Ton, der 
Trompete eines Schutzmanns entstromt, befahl Halt und Vorwarts, 
eine Volksversammlung von Strafienbahnen, Wagen, die einander ihre 
Brustkorbe platt driickten, ein GefUmmer von Tonen, eine gerausch- 
voUe, rauschende, brausende Buntheit, rote und gelbe und violette 
Schreie. 

Und ein Netz von Drahten iiber den Hauptern aller, ein kreuz und 
quer bestrichener Himmel, als hatte ein Ingenieur seine verriickten 
Plane auf einen Bogen Ather gezeichnet. Legte man das Ohr an eine 
Stange, summten fremde Stimmen darin, Gespensterstimmen, als 
schrien irgendwo in Afrika ganze wilde Volkerstamme im Taumei 
eines Blutrausches oder eines gottlichen Festes, und hier, in Berlin, 
horte man sie. 

Georg B. bekam eine Untergrundbahnkarte, stand ratios auf einem 
Perron, liefi sich hineinschieben in einen Zug und glaubte, die Unter- 
welt ware verriickt geworden. Schliefen die Toten noch ruhig? Schep- 
perten nicht tote Knochen in den Grabern? Teilte sich das Getose eines 
Zuges ihrer Stummheit nicht mit? Wie kam es, daiS die Oberwelt nicht 
einstiirzte? Mufite nicht jedesmal der Asphalt zersplittern und tausend 
Menschen, Wagen, Pferde, Drahte und alle Seltsamkeiten hinabstUrzen 
lassen? 

Georg B., der Siebzigjahrige, geht wie ein Jiingling durch die Welt. Er 
will arbeiten. Energie, die fiinfzig Jahre schlafen mul^te, drangt aus 
dem Korper. Wer wird's ihm glauben? Mitten in der Ratlosigkeit darf 
man nicht stille stehen. Stirbt er? Steht er vor dem Grabe? Das Erlebnis 



1923 939 

des Jahrhunderts spottet menschlicher Gesetze. Das Erlebnis besiegte 
den Tod. Der Eroberung der Stadt folgt Eroberung der Arbeit. Der 
Mensch, zwischen Maschinen gestellt, mufi Maschine werden. Die gal- 
vanisierten siebzig Jahre zappeln, trommeln, schiittern, B. mufi arbei- 
ten. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 24. 2. 1923 



PHILOSOPHIE DES PANOPTIKUMS 



In der Lindenpassage ereignet sich jetzt die historische Auktion des 
letzten Berliner Panoptikums. Eine ganze Welt aus Wachs, Kuriositat, 
tauschender Lebensimitation, plastischen Grauens ist zersplittert. Sie 
war ein wachserner Polizeibericht, eine materialisierte Chronique scan- 
daleuse - und verewigte gleichzeitig jene Hohepunkte der Weltge- 
schichte, in deren Wesen panoptikales Geschick schon vorbestimmt 
war: Paraden, Kronungen, gallonierte Ereignisse. Dank einer symboli- 
schen Innenarchitektur trennte ein Schritt nur die Schreckenskammer 
vom Marchensaal und ein Vorhang die Fiirsten Europas vom Lachkabi- 
nett. Die paradoxale Philosophic des Panoptikums fiigte es, dafi irdische 
Grofie und Schrecklichkeit just durch ein wachsernes Verewigtsein la- 
cherlich wurden. Noch nie hatte eine Denkmalsindustrie ihre Objekte 
so aller Feierlichkeit entkleidet wie die panoptikale. Sie schuf Denkmale 
ohne das Pathos der Pietat. Ein Goethe aus Wachs besaE naturgemafS 
nicht die majestatische Gewichtigkeit eincs marmornen. Die billige Ma- 
terie konnte nur lebensechtc Gcsichtsfarbc vortauschen, nicht der Be- 
deutung des Genius gerecht werden. Das einzige Verdienst des Panopti- 
kums war die ungewolite Lacherlichkeit, durch die es das Pathos dieser 
Welt ausglich und sie in eine Art Lachkabinett verwandelte. 
Denn die Tendenz des Panoptikums: LebensahnHchkeit bis zum Er- 
schrecken, mufi zur Lacherlichkeit fiihren. Es ist die kunstfeindliche 
Tendenz, aufiere Wahrscheinhchkeit statt innerer Wahrheit darzustel- 
len: die Tendenz der naturalistischen Photographie und der »Kopie«. 
Ein Massenmorder aus Wachs ist skurril. Aber lacherHch ist auch ein 
Rothschild aus Wachs. Jener verlor an das Material seine Grausamkeit, 
dieser seine Wiirde. 



940 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Das Panoptikum fiel der Zeit zum Opfer, ihrer erwachten Freude an 
der gesteigerten Bewegung, die im Film ihren Ausdruck findet. Im 
Zeitalter des Kinos hat das Panoptikum nichts mehr zu erfiillen. Im 
Zeitalter des intensiven Betriebs ist eine Starrheit unmoglich, die ihr 
Totsein durch peinliche Lebensahnlichkeit nicht verhiillen kann. Ein 
Schatten in Bewegung ist uns mehr als ein Korper in starrer Ruhe. Ein 
Anthtz, das immer lachelt, tauscht uns nicht mehr. Wir wissen: Ewig 
lacheln kann nur der Tod. 

Zum letztenmal gewinnen die Puppen jetzt eine aktuelle Bedeutung. 
Die Versteigerung findet - o Ironie! - in den Raumen der »Weifien 
Maus« statt. Im Vorraum haufen sich die Wachskopfe. Man trennte sie 
der Bequemlichkeit wegen von den Riimpfen, loste sie aber nicht voll- 
kommen von ihrem friiheren Leben los. Hier hat ein bartiges Manner- 
haupt noch seine Krawatte unter dem Bart, dort hangt eine Hemdbrust 
an einem amputierten Hals. Es lachelt ein nacktes Wachsmadchen, 
dessen Unterleib wahrend des Transportes in jammerliche Scherben 
zerschlug, und so grausam hohnisch ist der Kontrast zwischen lacheln- 
den Lippen und zerschmettertem Schofi, dafi jetzt zum erstenmal ein 
Hauch grotesken Lebens von der Figur ausgeht. Es sieht aus, als hatte 
man ein Massengrab konservierter Haupter aufgedeckt, eine grausige 
Walstatt toten Lebens. Alle diese Wesen sind in der Bliite ihrer Tage 
gekopft, es ist, als hatte ihre Seek knapp vorher noch eine Freude ge- 
nossen und der gleich darauf eingetretene Schmerz keine Zeit mehr 
gehabt, die Gesichter zu verzerren. Neben den 200 Kopfen handeln 
und feilschen die lebendigen Menschen, loffeln die massiven Mobeltra- 
ger heifie Suppen mit platscherndem Behagen. 
Im Nebenzimmer stehen Affen, ausgestopfte, und Affenskelette, der 
verstaubte Plunder einer popularen Naturwissenschaft, die nur das in- 
teressante Resultat zeigt und die Zusammenhange verschweigt. Mine- 
rale und seltsame Pflanzen und eine kulturhistorische Romantik, Ko- 
cher, Lanzen und Pfeile der Indianer: alles gleichsam eine Illustration 
menschlicher Halbbildung und wahlloser Belesenheit, die Welt des 
wifibegierigen Broschiirenmenschen, der immer irrt, indem er immer 
strebt. Die Dinge erfordern eine sentimentale Beschaulichkeit, und 
auch sie sind, wie jene Puppen, Opfer dieser Zeit, die den einseitigen 
Fachmenschen gebiert und bildet und hoffentHch den Menschen der 
Tiefe vorbereitet, im Gegensatz zu dem des breiten und halben Wis- 
sens. 



1923 941 

Im Versteigerungssaal verkauft man Elefantenzahne, zwei Menschen 
erhitzen sich zwecklos im Streit urn eine Holzschnitzerei und ein kup- 
femes Gefafi von iiberirdischen Dimensionen, ein Gefafi aus der Zeit 
der Ichthyosaurier. Erstaunlich, dafi em Mann 100 Millionen und 
mehr an einem Tag ausgibt fiir Blech, Holz, Messing, zerbrochene Ti- 
sche, Thronstiihle, Glaskasten. Wahrend ich ihn betrachte, erkenne ich 
den Sinn dieser Versteigerung: Der Mann kauft nicht aus Sentiment. 
Es ist, im Gegenteil, der Typus der neuen Zeit, im kurzen Pelz, die 
Zigarre zwischen Zahnen aus Edelmetall, gesammelte Ruhe und Be- 
rechnung; ein Kalkulierender, ein Mann der Zinsen, sicher seines 
Siegs. Gott wei£, was seine Hande aus jenen Topfen, Tellern, Holz- 
schnitzereien machen, wie sich die abscheulichen Ungetiime in seinem 
Magazin verwandeln werden. Dukaten schlagt der Mensch dieses Jahr- 
hunderts aus jedem Pofel. 

Und so ist eigentlich der hohere Zweck des Panoptikums erfuUt. 
Der Goldmacher der neuen Zeit, der moderne Alchemist, schlagt Ka- 
pital aus der Sensation der Vergangenheit. Er findet den Stein der Wei- 
sen in jedem Kochtopf des Mittelalters - nicht auf dem Wege des Ex- 
periments, sondern auf dem der Spekulation. Was er beriihrt, verteuert 
sich. 

Also steht er da. Sieger iiber die vergehende Welt, Goldmacher, Meist- 
bietender, Alleskaufer. In seinen geraumigen Leibesumfang wandert 
das ganze Panoptikum, Kopfe und Kessel, Lanzen und Affen, Morder 
und Fursten, Monstroses und Winziges. Raum fiir alles hat er - er, des 
panoptikalen Daseins Endzweck und Sinn. 

Berliner Borsen-Courier, 25. 2. 1923 



REISENDE MIT TRAGLASTEN 



Die Reisenden mit Traglasten sitzen in den letzten Wagen der endlosen 
Zugschlangen, hart neben den »Reisenden mit Hunden« und den 
»Schwerkriegsbeschadigten«. Der letzte Wagen schlenkert am heftig- 
sten, seine Turen schlieEen schlecht, seine Fenster lassen Fugen frei, 
sind manchmal zerbrochen und mit braunem Papier beklebt. 
Man wird nicht durch Zufall ein Reisender mit Traglasten, sondern 



942 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

durch Schicksal, Schwerkriegsbeschadigt wurde man durch eine Gra- 
nate, deren verwiistende Wirkung nicht Tucke war, sondern eine Sinn- 
losigkeit, so unermefilich, dafi sie grausam sein mufite. Einen Hund 
mitzufiihren liegt im Bereiche unseres Willens. Aber ein Reisender mit 
Traglasten hat sein Gepack seiner Bestimmung zu verdanken. Er ware 
auch ohne Gepack ein Reisender mit Traglasten. Er gehort einer be- 
sonderen Menschengattung an - und jene Inschrift am Abteilfenster 
des letzten Wagens ist keine bahnamtliche Bestimmung, sondern eine 
philosophische Definition. 

Die Coupes fiir Traglasten sind von einer dicken Luft erfiillt, einem 
physikalischen Kuriosum, einer Art Atmosphare in festem Aggregat- 
zustand. Sie riecht nach totem Pfeifentabak, nach feuchtem Holz, Blat- 
terleichen und herbstlichem Waldboden. Das kommt von den Holz- 
biindeln der Insassen, die geradewegs aus den Waldern fahren, den 
Flinten fleifiiger Jager entronnen, die feuchte Kalte der Erde in Kno- 
chen und Stiefelsohlen. Griine Moosreste liegen auf den Kleidern wie 
auf altem Gemauer. Rissig sind ihre Hande, der Alten Finger gichtisch 
und absonderlich gekriimmt und eigenwilligen Wurzelformen ahnlich. 
In dem sparlichen grauen Haar der alten Frau haben sich diirre Blatter 
verfangen - so kranzt ein armer Tod seine Opfer. In den wuchernden 
Barten der alten Manner konnen Schwalben nisten . . . 
Die Reisenden mit Traglasten legen ihre Walder nicht ab, auch wenn 
sie sitzen. Der Entschlufi, eine Last wiederaufzunehmen, nachdem das 
Riickgrat eine halbe Stunde lang sich frei fiir alle Ewigkeit gefuhlt hat, 
mag schwerer wiegen als ein ganzer Tannenforst. Ich weifi, dafi wir 
Soldaten, wenn nach stundenlangem Marsch eine minutenfliichtige 
Rast winkte, unsere Tornister nicht lockerten, sondern weiterschlepp- 
ten wie ein qualvoU treues Ungluck einen ewig verbiindeten Feind. So 
sitzen diese alten Biindeltrager, nicht Reisende mit Traglasten, sondern 
Traglasten mit Reisenden. Und auch darin offenbart sich das Schick- 
salsmafiige des Lastentragens, das keine Tatigkeit ist, sondern ein Leid. 
Wovon sprechen die Waldmenschen? Sie sprechen halbe Satze und 
verkriippelte Laute, sie sind schweigsam, nicht aus Klugheit, sondern 
aus Armut, sie antworten zogernd, weil ihr Gehirn langsam arbeitet, 
Gedanken zaghaft gebiert und die kaum geborenen schon begrabt in 
heimlicher Tiefe. In den Waldern, in denen sie arbeiten, herrscht ein 
grofies Schweigen, das man nicht unterbrechen kann mit sinnloser 
Rede und Widerrede; wenn ein Specht in einen Ast hackt, so ist das der 



1923 943 

einzige Laut. Man lernt in den Waldern, dafi die Worte nutzlos sind 
und den Nichtstuern nur zum Zeitvertreib mitgegeben. 
Aber in dem halben Satz, den die Menschen sagen, liegt das grofie Leid 
einer ganzen Welt. Sie sagen nur: die Butter - und schon weifi man, 
dafi Butter etwas sehr Femes, Unerreichbares ist - kein Nahrungsmit- 
tel, mit Messer auf Brot zu streichen, sondern ein Geschenk des Him- 
mels, in dem die Delikatessen der Welt wachsen wie in einem Schau- 
fenster. Sie sagen: Es wird ein friiher Sommer sein - und das bedeutet, 
daE man dann in die Walder fahrt, um Schneeglockchen zu sammeln, 
dafi die Kinder aus den Betten in die Strafie kommen diirfen, dafi die 
Ofen kalt stehen diirfen bis zum nachsten Herbst. 
Die Schauspieler, die auf den Biihnen viele geistreiche Satze sprechen, 
ehe sie ihr Leid dargelegt haben, und viele prachtvoUe Bewegungen 
vollfiihren, Pfauenrader mit Armen und Augen schlagen, miifiten in 
den Abteilen fiir Reisende mit Traglasten fahren, um zu lernen, dafi 
eine leise gekriimmte Hand das ganze Elend aller Zeit fassen kann und 
das Zucken eine Augenwimper starker erschiittern als ein Abend mit 
Tranenbachen. Vielleicht miif^ten die Schauspieler nicht in Schulen 
studieren, sondern in Waldern arbeiten, um zu sehen, dafS ihre Auf- 
gabe nicht das Reden, sondern das Schweigen ist, nicht das Gestandnis, 
sondern das verschwiegene Gestandnis. 

Es wird Abend, die Lampe entziindet sich an der Decke, olig und fett 
ist ihr Licht, sie brennt in einem Dunstkreis wie ein Stern in einem 
Nebelmeer. Man fahrt an leuchtenden Reklamen vorbei, an einer Welt 
ohne Traglasten, kommerzielle Hymnen auf Waschseife, Zigarren, 
Schuhpasta und Schniirsenkel brennen plotzUch hell am dunklen Fir- 
mament. Das ist die Zeit, da die Welt in die Theater fahrt, um die 
Schicksale auf den teuren Biihnen zu erleben, und im selben Zug fah- 
ren die herrlichsten Tragodien und die tragischen Lacherlichkeiten, 
fahren die Reisenden mit Traglasten. 

Von all den sachlichen Formeln und Inschriften, epigrammatischen 
Gesetzen, die das Getriebe der grofien Stadt regulieren, Auskunft und 
Befehl erteilen, Rat spenden und Recht zur Wirkung bringen - von 
alien unpersonlichen Bestimmungen in Bahnhofen, Wartehallen und in 
den Zentren des Lebens - beriihrt diese einzige menschlich, kiinstle- 
risch, in knapper Form Gewaltiges bergend und enthiillend. 
Der redliche Mann, der die »Reisenden mit Traglasten« zu praktischen 



944 I^A-S JOURNALISTISCHE WERK 

Zwecken erfunden hat, wufite nicht, dafi er mit einem Schlag einen 
Namen fand fiir eine grofSe Tragodie. 
So entstehen Dichtungen. 

Berliner Borsen-Courier, 4. 3. 1923 



WIE WERDE ICH ADLIG? 

Das Adoptivhiiro - »Filmabend« in der Tiergartenvilla - Baron mit 
allem Zubehor - Der Preistarif 

Der biirgerliche Mensch der Berliner Gegenwart, gewohnlich auf den 
Namen Kubinke horend, empfindet mit steigenden Dividenden das 
Bediirfnis, seine Ahnen zu verbessern und sie der Umgebung anzupas- 
sen, die ihm ein gunstiges Hausgeschick beschert hat: der Villa, dem 
Reitpferd und dem Lakai. Der Mensch edlen Gebliits aber, durch die 
Baisse in Pietat zu einem bedeutungslosen Visitenkartenornament de- 
gradiert, nutzt die Sehnsucht jenes Burgers nach Stammbaum und Ah- 
nengalerie und zeugt mit gerichtlicher Hilfe adlige Geschlechter - den 
notariellen Akt an Stelle des medizinischen setzend. - Er adoptiert Ku- 
binkes, die nach dem Gebot: Du soUst deinen Adoptivvater ehren! 
diesem eine einmalige, aber ansehnliche Subvention bescheren, auf dafi 
sie geadelt leben auf Erden . . . 

Es gibt in Berlin sogenannte Adoptivbiiros, sie arbeiten mit einem gro- 
fien Apparat von Ehevermittlern, distinguierten Damen der Gesell- 
schaft, Lebemannern, Spielklubinhabern, Inseratenagenten. Sie veran- 
stalten Gesellschaften und Tees, Tanze und Filmabende, die den 
Zweck haben, die Vater mit den gewonnenen Sohnen bekannt zu ma- 
chen, das Niitzliche mit dem Unangenehmen zu verbinden. Sie haben 
ihren Sitz in prachtvoUen Hausern aufgeschlagen, deren Treppenauf- 
gange mit Marmor, Gold und Perserteppich den Aufstieg der gelade- 
nen Kubinkes zu hoherer Rassigkeit symbolisieren. Sie haben Ritter, 
Barone und so gar Graf en »an Hand«, sie sorgen dafur, dafi die Stamm- 
baume ihrer Klienten in den Himmel wachsen, Wappen und edle Pfer- 
degesichter zieren ihre Villenwande, altkonservative Zeitungen liegen 
auf den kleinen Tischchen ihrer Salons und Zeitschriften, die von ed- 



1923 945 

lem Waidwerk handeln, von Pferdezucht und Waldrodung, von jenen 
agrarischen Gebieten, in denen sich die sozusagen posthumen Ahnen 
der Kubinkes fortab zu tummeln haben. 

Ich sandte eine Zuschrift an eine Chiffreadresse und bekam dann eine 
Einladung zu einem »Filmabend« in eine Tiergartenvilla. Unterschrie- 
ben war von einem Herrn mit dem biblischen Vornamen »Armin«, wie 
sich dann herausstellte ein Cherusker aus Leitmeritz, ehemals in der 
Stoffbranche tatig und jetzt auf Zuchtpferde umgesattelt. Ich kam in 
einem Mietauto, vor dem Eisengitter der Villa warteten drei schwarz- 
lackierte Privatautomobile mit gelbgraulivrierten Lenkern, die Schein- 
werfer erfiillten die stille Gasse mit larmendem Licht. Ein Herr, in 
schwarze Diskretion gekleidet, nimmt mir Mantel und Hut mit zartli- 
chen Gebarden ab, ich besteige eine Treppe aus Marmor und Rot, die 
stolz ist, als fiihrte sie direkt zu Konigsbaronen empor - dieweil oben 
im Gegenteil Herr Armin wartet, Er tragt ein freundliches Lacheln wie 
eine Schnurrbartbinde in der Lippengegend und geleitet den Gast in 
einen kleinen Salon. Sechs Herren verschiedenen Alters offerieren sich 
hier bestens, man lafit sich gewissermaEen nach den Prinzipien der 
Zuchtwahl adoptieren. 

Unter den Gasten befand sich ein Herr v. S., dessen Name in der deut- 
schen Literatur bekannt ist, ein Baron v. Z., mehrere unscheinbare 
Von-Manner, zwei Bankbeamte, ein Borsenmensch in den Vierzigern, 
ein Jockei, ein Dompteur und zwei Zigarrenhandler. Man gab einen 
Kammerspielfilm, in dem Miederleibchen und Hemden jede Unziich- 
tigkeiten verhinderten, einen Film mit gehemmten Nacktheiten, ver- 
borgenen Pointen, mit einem versohnlichen Schlufi. Ein Klavierspieler 
massakrierte die Barkarole, Likor in geschliffenen, schlanken Glasern 
entschadigte nicht ganz, die unbefriedigten Parteien bestellten Sekt. 
Vater und Sohne fanden sich schnell und schmerzlos, eine hier und 
dort bemerkbare Schiichternheit eines Gastes iiberwand Herr Armin, 
der, Vollwind in den Cutfliigeln, alle Tische umsegelte. 
Die Geschafte verHefen glatt. Visitenkarten »in gediegenstem Druck« 
verspricht eine geschickte Firma - man liest ihr Inserat vor dem Spie- 
gel, in der Garderobe, an den Wanden der »Toilette«-, Auftrage 
nimmt auch Herr Armin entgegen. Er liefert den » Baron mit allem 
2Hheh6r«^ das Dokument und die Zacken, er ist ein tiichtiger Ge- 
schaftsmann, er hat's in der Stoffbranche gelernt, und fur seine Pfiffig- 
keit spricht der Umstand, dafi er selbst bei seinem biirgerlichen Leit- 



94^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

meritzer Namen geblieben ist und bei seiner liberalen Gesinnung, ein 
Schuster, der barfufi lauft, ein Adelsfabrikant mit biirgerlicher Be- 
scheidenheit. 

Armin hat etwa zehn Adlige (zum Teil friihere Stabsoffiziere), die in 
seinem Hause verkehren wie in einem Klub und schon mindestens 
hundert Kubinkes ihren Namen verkauft haben diirften. Nicht alle 
Adoptionen werden in BerHn getatigt - Stuttgart, Mannheim, Konigs- 
berg, Hamburg, Erfurt kommen auch in Betracht, Notare wohnen 
iiberall in alien deutschen Stadten, um die Adoptionen unauffallig zu 
gestalten. Inserate erscheinen in vielen Provinzzeitungen, es »rentiert 
sich«. Ein simples »von« mit jungem Stammbaumchen kostet andert- 
halb Millionen, ein alter Grafentitel fiinf, Prinzen sind noch nicht en- 
gagiert. Die »distinguierten« Damen, geschickte Agenten, erhalten 
Prozente, strafbar ist eine Adoption nicht, also braucht man Tiergar- 
tenviertel, Offentlichkeit und Inserat nicht zu scheuen. 
Es ist anzunehmen, dafi sich die Adligen in Deutschland vermehren 
werden wie der Sand am Meer. Jede Borsenhausse bringt reichgewor- 
dene Seifenhandler und verarmte Aristokraten. Die Geschlechter »de- 
rer von« errichten sich Denkmaler aere perennis, mit unerhorter 
Fruchtbarkeit sind ihre Legenden gesegnet. Es fiillen sich die Tatter- 
sale und die Waidgriinde, die Metzger werfen ihre Messer fort und 
greifen nach Hirschfangern, und den Enkeln erzahlen sie von den 
Kreuzziigen ihrer Adoptivraubritten 

Vor Mitternacht sagt Armin im Tiirrahmen: Ich werde mir erlauben, 
Sie zu benachrichtigen. Die Seifenhandler und Bankbeamten driicken 
seine Hand, die Adoptivvater nicken nur mit dem Wipfel ihrer Stamm- 
baume. Die Sohne steigen in die Autos, die alternden Vater kehren zu 
Fuf5 heim. Sie fliichten vor den blendenden Scheinwerfern, mit denen 
jene in ihre adUge Zukunft rattern, und »verHeren sich im Dunkel des 
Tiergartenviertels« - wie es in einem Roman von Rudolf Herzog heiEt. 
Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 5.3. 1923 



DIE SCHWARZEN IM RUHRGEBIET 



In der Nachtausgabe des »Tag«, die der Reklamechef Scherls »das 
schneidigste Abendblatt« nennt und vor dessen Stil und Gesinnung 
sogar die schwarze Schmach schamrot wird, beschreibt ein weifier 
Schmock den Boxkampf zwischen einem Neger und einem Italiener 
mit jenem grinsenden Behagen, das eine Stileigenheit deutschnationa- 
ler Reporter ist, und tritt fiir eine Ausschaltung der Schwarzen aus 
deutschen Boxkampfplatzen ein. Ich, der ich nichts vom Boxkampf 
verstehe, kann mir die Niederlage des Negers nur aus der Tatsache 
erklaren, daf5 er, als er den Vertreter Scherls am Pressetisch erblickte, 
von einem energie- und nervenlahmenden Schrecken vor der weifien 
Rasse erfafit ward und jeden Widerstand gegen Spalle von vornherein 
aufgeben mufite. 

Nicht alle Scherls von Berlin sind gegen Neger auf Boxkampfplatzen. 
Jene Lokalanzeiger, die in jiidischen Verlagen erscheinen, sind nur im 
politischen Teil Anhanger der Theorie von der Minderwertigkeit der 
schwarzen Rasse - im Sportteil lassen sie den farbigen Breitenstraters 
Gerechtigkeit widerfahren. Es ist nicht der einzige Widerspruch, der 
den Charakter und das Geschaft dieser Blatter ausmacht. Augenblick- 
lich machen sie in schwarzer Schmach. Und ihre Entriistung iiber die 
Anwesenheit schwarzer Truppen im Ruhrgebiet ist noch spationierter 
als ihr sensationsliisterner nationaler Zorn iiber die Ruhrbesetzung 
iiberhaupt. Es ist Zeit, die Schuld der Schwarzen auf jenes Mafi zu 
reduzieren, das ihnen zukommt, und die weifie Rasse an ihre unend- 
lich grofiere Schuld zu erinnern. 

Worin besteht die Schuld der Schwarzen am Rhein und an der Ruhr? 
Sie schanden, schiefien und verbreiten die Syphilis, Alle drei Angele- 
genheiten sind Erfindungen der weifien Rasse. Die Schwarzen sind 
nicht etwa aus Eroberungssucht nach Deutschland gezogen - Franzo- 
sen haben sie verschleppt. Die Schwarzen haben nicht das SchiefSpul- 
ver erfunden - von den Weifien haben sie Gewehre erhalten. Von wei- 
fien Missionaren haben sie das Zwangsjackenchristentum, von weifien 
Bordellmadchen die Syphilis, von wei£en Handlern den Spiritus. Nur 
eine Verlogenheit, wie sie der weifien Journalistik eigen ist, kann die 
Inkonsequenz iibersehen, die darin liegt, dafi man in einem Atem den 
Franzosen Hafi schwort und mit ihnen eine Einheitsfront herstellt, in- 



94^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

dem man die Anwesenheit der Schwarzen als eine der ganzen weifien 
Rasse angetane Schmach bezeichnet. In diesem Augenblick erklart sich 
namlich der deutsche Schmock mit dem Erbfeind solidarisch. Indem er 
den Franzosen Verrat an der weifien Rasse vorwirft, begeht er Verrat 
an den Deutschen; denn er beschwort den Feind bei einer Gemeinsam- 
keit; der Hautfarbe, und sucht sich mit ihm auf Kosten der Schwarzen 
zu verstandigen. Das ist eine Art Volksverrat, begangen im Dienste der 
Nation. 

Nur der biii^erhche Leser empfindet einen tieferen Schmerz, wenn er 
von den schwarzen Posten in den Strafien Essens hort. Mir ist der 
letzte syphilitische Mohikaner als Schildwache sympathischer als ein 
impotentes nationalistisches Mitglied der Academic frangaise. Uner- 
hort ware der Schimpf, wenn Poincare selbst in den Strafien Essens 
defilieren wurde. Die Journalisten aber glauben, dafi es mit diesem 
Poincare, weil er weifi ist, eher eine Gemeinschaft gabe als mit Schwar- 
zen, die kein Schiefipulver erfunden, keinen Generals tab hervorge- 
bracht, keinen Kaiser, keine Akademie, keinen Ludendorff, kein Pres- 
sequartier und - was das wichtigste ist - keine Nachtausgabe des »Tag« 
haben. 

Die Glocke, 5.3. 1923 



ICH SUCHE DIE EINHEITSFRONT 



Ich suche die nationale Einheitsfront, die lebende Mauer aus Zeitungs- 
papier und Briiderlichkeit, in der Bahn, in der Diele und am Kurfiir- 
stendamm. 

In den Bahnen Berlins sehe ich Reisende mit Traglasten und Reisende 
mit Dollarsorgenlasten. Jene verstaute die soziale Verkehrsgerechtig- 
keiten in besonderen Abteilungen dritter Klasse, so dafi sie ohne das 
peinhche Gefiihl, andere belastigen zu miissen, unbequem reisen diir- 
fen. Diese konnen inzwischen unbehindert die voriibergehende Baisse 
Schulter an Schulter durchhalten, mit Hilfe Gottes, der Eisenaktien 
wachsen lafit. 

In den Dielen verursacht der Alkohol, ein ganz besonderer Saft, ein 
einig Volk von Briidern, seitdem die patriotischen Wirte Franzosen 



1923 949 

und Belgier zur Enthaltsamkeit erziehen und nur einheimische Betrun- 
kenheit dulden. Seit einiger 2eit erweist der Likor eine Eigenschaft, die 
bis jetzt an ihm noch nicht bemerkt worden war: die Fahigkeit nam- 
lich, gleichgesinnte Elemente zu binden. Er ist der Kitt der Dielen- 
Einheitsfront. 

Ihr akustischer Ausdruck ist das Lied: Heil dir im Siegerkranz, das die 
Anwesenden, sofern sie's noch konnen, stehend anhoren. Bei den 
Klangen ihrer Nationalhymne: Wer wird denn weinen . . ., setzen sic 
sich wieder. 

Hier ist zwar eine Einheitsfront vorhanden, aber eine aus physiologi- 
schen Griinden wankende, auf die man sich nicht verlassen kann. 
Am Kiirfurstendamm bilden gallonierte Automobile mit glanzenden 
Scheinwerfern eine rasende Einheitsfront auf dem glatten Asphalt, die 
kein Fufiganger durchbrechen kann. In den Autos sitzen die Gotter 
der Banken und Filmgesellschaften mit ihren Gottinnen, der ganze 
Olymp dieses Jahrhunderts; Merkur, der gefliigelte Reichsbankbote, 
an der Spitze. 

An den Fassaden der Hauser aber kauern die Bettler, ihre bresthafte 
Einheitsfront der Barmherzigkeit darbietend. 

Manchmal kehrt hier ein milder Arbeiter heim, geblendet vom Schein- 
werfer seines Unternehmers, ein Heimatloser zwischen den zwei Ein- 
heitsfronten: jener rasenden der Automobile und der hockenden der 
Bettler. 

Aus seinen Erf ahrungen ergibt sich, daf5 in dieser Stadt einige Einheits- 
fronten bestehen, getrennt durch die Abgriinde sozialer Gerechtigkeit. 

Der rote Joseph 
Vorwarts, 7. 3. 1923 



BEGEGNUNG MIT DEM LETZTEN AZTEKEN 

Ein Uberlebender aus dem Panoptikum 

Die letzten Azteken leben vertraut in der Welt, im Panoptikum, im 
Zirkus und in jenen Anstalten, in denen menschliche Seltenheiten ge- 
schatzt wird und von ihrer eigenen Seltenheit lebt. Sie fiihren die be- 
neidenswerte Existenz von Wetterfroschen, Kanarienvogeln und ge- 



95° DAS JOURNALISTISCHE WERK 

zahmten Eichhornchen, die ihre erfreulichen Eigenschaften zu einem 
Betriebskapital gestalten, mittels dessen sie sich das tagliche Brot, ein 
Glasdach iiber dem Kopfe und dergleichen Alltagsnotwendigkeiten 
mehr besorgen. Die Azteken sind gewissermaften menschliche Kana- 
rienvogel. 

Was bei den Kanarienvogeln das Zwitschern, ist bei den Azteken der 
Kopf. Ein Aztekenschadel ist langlich und lauft oben in eine sanfte 
Spitze aus wie ein lieblicher Hiigel. Die Stirn ist kurz, die Augen sehr 
glanzend und dennoch schlafrig, ein Feuer, das nicht lange brennt. Ein 
Azteke ist eine auffallende Erscheinung, also ein Wesen, das eines Im- 
presarios bedarf. Ein Azteke, der seinen Impresario unterwegs verliert, 
kann von seiner Auffalligkeit nicht mehr leben. 
Von etwas anderem leben kann er erst recht nicht. Darin gleicht er den 
Menschen prinzlichen Gebliits, die aber, wenn sie entthront sind, eine 
Apanage beziehen. Uber den Azteken ruht Gottes Gnade nicht wie 
iiber den europaischen Fiirstenhausern, obwohl jene viel alteren Ge- 
schlechts sind. So alt sind sie, dafi sie iiberhaupt nicht mehr sind. Sie 
pflanzen sich nicht mehr fort. Sie sind unfruchtbar, sie waren zu an- 
standig, um sich in dieser Welt zu behaupten, und sie gingen zugrunde. 
Den letzten Azteken lernte ich vor zwei Jahren im Berliner Panopti- 
kum kennen. Ein Impresario mit einer goldenen Uhrkette und einem 
Elefantenzahn fiihrte ihn aufs Podium. Zugleich mit sieben Zwerg- 
madchen, die ihre Biographic piepsten. Der Azteke sprach nicht, er 
neigte nur seinen Kopfhiigel und sah mit seinen traurigen Flackerau- 
gen auf die Rund- und Flachschadel, die unten safien und den Daseins- 
kampf so siegreich bestanden und nicht von ihrem eigenen Untergang 
zu leben brauchten, Der Impresario erzahlte von den Azteken, die Me- 
xiko gegriindet hatten, von der Nahuafamilie, von Aztlan, dem »Land 
des weifien Reihers« und von Montecuzoma. Er erzahlte, dafi es aufier 
diesem Azteken keinen einzigen mehr in der Welt gebe — und dabei 
klirrte der Elefantenzahn an die Goldkette - es war ein sehr leises To- 
tengelaute fiir die Azteken, und sein Vortrag war eine Messe. 
Nun ist das Panoptikum aufgelost und versteigert. Der Impresario hat 
vielleicht die Memoiren eines Prinzen verfafit und reist jetzt mit letzten 
Fiirsten. Der letzte Azteke aber sitzt am Nachmittag im Cafe Bauer 
und entblofit kostenlos seine Sehenswiirdigkeit und lebt vorlaufig von 
Hiilsenkleben in einer jiidischen Fabrik in der Hirtenstrafie. Er ist zu 
schwach, um harte und lohnende Arbeit zu finden, und zu anstandig. 



1923 951 

um von Schiebungen zu leben. Denn seine Tugend ist eigentlich seine 
Not - und wenn sie hatten schieben konnen, waren die Azteken noch 
da und Impresarios die letzten europaischen Dummkopfe. 
Der letzte Azteke spricht mit einer hohen Stimnae und kann das »R« 
nicht aussprechen. Er sagt »leisen« und meint: reisen, er sagt: Labatt 
und meint; Rabatt - und es ist, als ob er zu anstandig ware, um ein 
grausames »R« auszusprechen; dieser barbarische Laut ist nichts fiir 
eine aztekische Zunge. Die hohen weichen Flotentone entsprechen sei- 
nem sanften Gemiit. Die Musik begeistert ihn, er lauscht der Barkarole 
hingegeben, zumal es fiir ihn eine Balkalole ist- und eigentUch nur der 
Musik und der Zeitungen wegen geht er ins Cafe. Er Hest die Feuille- 
tons mit VoHiebe und Nachrichten aus dem Theaterleben. 
Ich bat ihn, mir von seiner mexikanischen Heimat zu erzahlen, aber da 
wufite er gar nichts. Dieser letzte Azteke ist namhch nicht in Mexiko 
geboren, sondern in GablonZy wie die Kanarienvogel, die sich seit Ge- 
nerationen in Europa fortpflanzen und nur aus Prestige noch keine 
Sperhnge geworden sind. Mein Azteke ist in einem Gablonzer Hotel 
zur Welt gekommen, seine Eltern waren im Zirkus ausgestellt, es ist 
ein mitteleuropaischer Azteke, und er ist gar nicht der letzte, sondern 
der vorletzte: Seine jungere Schwester lebt in Amerika und wird viel- 
leicht heiraten, wenn sie kann, und dann wird es neue Azteken auf der 
Welt geben. 

Der Azteke ist vierundzwanzig Jahre alt und wird wohl noch zehn 
Jahre leben. So sagt er, mit einem traurigen Mund, und lafit seinen 
Langschadel hangen. Er hat eine schwache Lunge, einen »Blonchiaika- 
tal« und kein Vermogen. Vielleicht findet er hier, in diesem Cafe, in 
dem die Artisten verkehren, ein Engagement, einen Impresario. Seine 
Schwester schickt ihm vorlaufig Geld, zwanzig Dollar fiihrte er in der 
Brieftasche, als waren es die letzten Dollars der Welt. 
Es gehort wirklich ein Impresario zu einer Auffalligkeit. Ich beobachte 
die Menschen rings um uns, die in der nachsten Nachbarschaft eines 
Azteken sitzen und sich so wenig daraus machen, als ware ein Azteke 
ihresgleichen. Die Menschen haben keinen Bhck fiir die Abnormitat, 
wenn sie umsonst ist. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 13. 3. 1923 



DIE FRAUEN NEBBE UND KLEIN 



Die Frauen Nebbe und Klein stehen als Giftmorderinnen vor Gericht. 
Frau Klein hat ihren Mann umgebracht, Frau Nebbe ist es nicht gelun- 
gen. Frau Nebbe war die Aktive, die vielleicht unbewufit Treibende, 
Frau Klein die Getriebene, Schwachere, die »Horige«. Jener Starken 
gelang das Attentat nicht, die Schwache vergiftete mit Erfolg. Das 
Werkzeug war eifriger, leidenschaftHcher, mehr verses sen. 
In der Frau Klein wirkte die Kraft der Nebbe, potenziert durch die 
Leidenschaft der »Horigen«. 

So sonderlich dieser »Sensationsprozefi« und so merkwlirdig beide 
Frauen sind - ihre Ehe und ihr Leben sind typisch fiir die Frauen der 
kleinbiirgerlichen Kreise, denen die Nebbe und Klein entstammen. 
Deshalb gewinnt der Prozefi eine besondere soziale und psychologi- 
sche Bedeutung. In der grausamen, grofien Stadt ereignen sich tagUch 
tausend Ehetragodien, ein Zufali nur verhiitet das Verbrechen oder 
verhiillt das wirklich begangene - und das Grauenhafte wirkt sich im 
stillen aus, und das Gesetz erfahrt nichts davon. 
Psychologisch sind die Morderinnen deshalb interessant, weil sie den 
Beweis dafiir liefern, dafi in diesen primitiven Frauen, die man so gut 
2u kennen glaubt, wenn man ihnen in der Bahn, in der Strafie, im 
Laden begegnet, die komphziertesten Vorgange sich abspielen: Perver- 
sitat und Raffinement, Ratselhaftes und Unentwirrbares sind nicht un- 
bedingt Folgen einer geistig iuxuriosen Dekadenz. Sind nicht die Er- 
gebnisse einer durch andauernde Ziichtung entstandenen Nervenreiz- 
barkeit, sondern natiirUch-unnatuHiche seeUsche Gewitter, deren Vor- 
bedingungen uberall, in jedem Menschen gegeben sind - in der 
»schlichten« Bauernseele, im »verfeinerten« Organismus des geistigen 
Menschen. Waren Zuhorer und Miterleber dieses Prozesses reif genug, 
um das Spannende und Lusterne der Vorgange auszuschalten und aus 
den Begebnissen zu lernen, so miil^ten sie zu der Erkenntnis gelangen, 
dafi in uns die Engel und Teufel mit gleichen Kraften ausgeriistet sind 
und gleiche Gewinnchancen haben; dal^ die unnaturliche Veranlagung, 
die von Anbeginn vorhanden war - vielleicht in jedem vorhanden ist-, 
geziichtet wurde durch die Befolgung der gesellschaftlichen RegeL 
Tausende Frauen leiden genauso in der Ehe, wie die Frau Klein un- 
zweifelhaft geUtten hat. Sie leiden unter dem Sadismus der Mannchen, 



1923 953 

deren schwache Brutalitat gewohnlich im umfangreichen Riesenkor- 
pus eines Berserkers sich verbirgt. Es ist eine hohnische List der Natur, 
Schwachlinge in monumentale Leiber zu stecken, denen die Inhaber 
nicht gewachsen sind. Ihr Geist ist zu schwach fiir dieses Ubermafi an 
Muskelkraft, und das nutzlose Geschenk der Natur lebt sich in der 
Brutalitat aus, die das Heldentum der Feiglinge ist. 
Tausende Frauen leiden und schweigen. In den Fallen Klein und 
Nebbe aber weckt die Grausamkeit des Mannes die Hinneigung zum 
Gegensatz des Mannlichen: zum Weibe. Die Neigung wuchs zur Lei- 
denschaft - und nicht dies allein, sondern der Frauen Wissen um das 
Gesetzwidrige und Verbotene dieser Leidenschaft fiihrte zum Verbre- 
chen. Nicht von der leidenschaftlichen, sondern von der verponten 
Handlung, von der »Sunde«, geht es hinunter zum Giftmord. 
Die allgemeine Auffassung scheint im iibrigen gerade den Giftmord als 
besondere moralische Belastung auszulegen. Es wird in den Zeitungen 
die banale, unoriginelle und billige Ansicht wiederholt, dafi Gift die 
Waffe der Tiickischen, der Frauen ist, der »schleichenden Rache«. Die 
Emporung iiber die Art des Mordes erinnert an jene wahrend des Krie- 
ges oft laut gewordene liber eine feindliche Kriegshandlung, die den 
Gesetzen des Volkerrechts widersprach, aber eine notwendige Konse- 
quenz des Krieges ist. Man entriistet sich zum Beispiel iiber die Ver- 
wendung von Dum-Dum-Geschossen, wahrend man Handgranaten 
gern verzieh. Es spricht fiir die Wachheit menschUchen Gewissens, 
aber gegen die Logik der menschlichen Vernunft, dafi man auch von 
der Bestialitat noch Menschlichkeit fordert. Im Grunde gehort die- 
selbe Feigheit dazu, jemanden aus dem Hinterhalt mit dem Beil zu 
erschlagen, wie ihn durch Gift zu toten. Es gibt keine humane Art des 
Mordes, auch die sogenannte »elektrische Hinrichtung« in Amerika ist 
nicht human. Die Frauen Klein und Nebbe wurden Morderinnen aus 
Liebe zueinander und erst in zweiter Linie aus Ha£ gegen die Eheman- 
ner. Die Beseitigung der Manner war nur ein Mittel - der Zweck war 
die Erfiillung der Sehnsucht. Sie mufiten schlau toten, um ihre Liebe in 
Freiheit zu verkaufen. Sie muEten das Gift wahlen, weil es am wenig- 
sten verraterisch ist. 

Das Mittel erforderte allerdings langwierige Verschlagenheit und eine 
dauernde Komodie. Aber ungerecht ist auch die herrschende Ansicht, 
dafi eine zeitlich lange Verstellung eine Belastung des Morders bedeu- 
tet. Die menschliche Seele kennt die dauernde Wollust, die Leiden- 



954 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schaft auf lange Zeit, das chronische Geliist - und es ist nicht besser, 
nicht schlimmer als das akute und sekundenkurze. Der Haf5 nahrt sich 
von seiner eigenen Kraft, er wird leidenschaftlicher, je langer er dauert, 
und jede Tat, die er gebart, geschieht im »Affekt«, auch die lang und 
sorgfaltig vorbereitete. Denn auch die Vorbereitung gehort schon in 
den »Komplex« des »Affekts«. 

Vielleicht ware der Mord nicht geschehen, wenn die Frauen in ihrer 
naheren Umgebung Hilfe und Ausweg gefunden hatten. Allein das 
eigentliche Ungliick der Schichten, die man ohne Gewissensbisse die 
»unteren« zu nennen pflegt, ist nicht so sehr ihre Unwissenheit und ihr 
Mangel an Humanitat wie ihre unbedingte Abhangigkeit von Gesell- 
schaft und Sitte. Der alte Vater der Klein hielt an dem iiberlieferten 
Vorurteil fest, dal5 die einmal gliicklich unter die Haube gebrachte 
Tochter nicht mehr ins Vaterhaus, sondern zum Manne gehore. Diesen 
verfiihrt die herrschende Auffassung zu dem Glauben, dafi der Mann 
Herr iiber die Frau ist, auch wenn er seine Macht nicht verdient. Und 
die Frau, die von den moralischen Grundsatzen der Menschen so iiber- 
zeugt ist, dafi sie selbst heute das einzige Mittel verschmaht, das sie 
retten konnte, und viel lieber den Mord zugibt als das lesbische Ver- 
haltnis, diese Frau furchtet sich, leidet, hafit - bis der Hafi ihre Seele 
fiillt, iiberschaumt, unnatiirliche Begierde weckt und Mordgeliist, 
Grausamkeit, Verstellung, Vernichtung und Selbstvernichtung. 

Berliner Borsen-Courier, 17.3. 1923 



DER KLUB DER VERKANNTEN 

Harmloses Schiefipulver - Die »kHnstliche Fata Morgana^ - Der 
automatische Schutzmann 

Das Genie ist dem Irrsinn am nachsten verwandt, wenn es unvoUkom- 
men oder erfolglos ist. Die Verbitterung treibt es in die Regionen des 
Wahnsinns und der fixen Idee. Viele verkiimmerte, verlorene und ver- 
bitterte Genies leben in dieser Welt, vereinzelt und einsam unter den 
gesunden MittelmaEigen. 

In Deutschland aber, dem Lande der eisernen Organisation, wo das 
Vereinswesen das Dichten und Denken abgelost hat, konnen nicht ein- 



1923 955 

mal die verkannten Genies allein leben. In diesem Berlin, in dem die 
Bettler organisiert sind, die Vorbestraften, die Kinderreichen, die Kin- 
derlosen, in dem die Hauser nicht schlechthin in einer Strafie stehen, 
sondern sozusagen Mitglieder eines Hauserzeilenverbandes sind, in 
Berlin durften nicht einmal jene zur absoluten Einsamkeit Pradesti- 
nierten - die Genies - unvereinigt bleiben. Sie griindeten Vereine, dar- 
unter einen »Klub der verkannten Erfinder«, mit einem Prasidenten, 
mit Statuten - eine geniale Vereinsmeierei. 

Mitglied des Klubs kann jeder werden, dessen Erfindung entweder 
keine Patentierung erlangen konnte oder trotz einer Patentierung nicht 
anerkannt wurde. 

Die Erfindung mufi nur vom Klubausschufi auf Genialitat gepriift und 
anerkannt werden. Zweck der Vereinigung ist die Propaganda fiir die 
Erfindungen der Mitglieder, »sind gemeinsame Aussprachen«, Vor- 
trage, Vergniigungen. 

Der Klub der verkannten Erfinder tagt einmal in zwei Wochen in 
einem Restaurant im Osten Berlins. Er zahlt etwa sechzig Mitglieder - 
und das sind noch lange nicht alle verkannten Erfinder des Deutschen 
Reiches; wohl aber ihre charakteristischen Reprasentanten. 
Alle sind ein bifichen absonderlich. Passive Helden einer Tragikomo- 
die, treten sie charakterisiert aus den Kulissen der Lebensbiihne, in 
einer Kleidung und in einer Maske, die ihnen von der Schicksalsregie 
vorgeschrieben sind. Sie tragen RoUchen und Plastrons, die Leibv^a- 
sche der Abseitigen, ZuriickgebHebenen, von der Zeit tJberholten. 
Ihre Haartracht stammt aus einem verflossenen Jahrhundert, in dem 
noch die Frisur zu den Abzeichen der Geistigkeit gehorte. Vom Glau- 
ben an die eigene Wichtigkeit erfiillt, strahlen sie ein kleines Feuerchen 
aus, das fiir die Erhaltung der Eigenwarme geniigt. Wenn sie nicht 
selbst leibhaftige Erfinder waren, konnte man sie fiir Erfundene halten. 
So unwahrscheinlich wirken sie, die unheilbar Genialen, die hoffnung- 
los Glaubigen, die so unerschiitterlich auf die Nachv^^elt vertrauen, als 
hatten sie von ihr ein a conto auf Unsterblichkeit bekommen. Sie ver- 
achten Gegenwart und Zeitgenossen - nach beriihmten Mustern - und 
hadern mit Gott, der sie um ein Jahrhundert zu friih in die Welt ge- 
schickt hat. Sie sind die unbezahlten Glaubiger des Jahrhunderts, vor 
das sie ihre Perlen geworfen haben. 

Diese ihre Perlen sind sehr sonderbar. Es sind harmlose Erfindungen 
oder sehr komplizierte - immer grotesk, wenn nicht in der Struktur, so 



95^ DAS JOURNALISTISCHE WERK 

doch in ihrer eventuellen Nutzanwendung. Ein Mann, der von der 
Vorsehung den pazifistischen Namen Gottfried erhalten hat, ist der 
Erfinder eines Schiefipulvers, das keine todliche Wirkung hervorrHft, 
nur kampfunfahig macht. Ein Heilbringer der Menschheit, der den 
halben Krieg predigt, ein Halbheilbringer, ein Wilderer des Grauens, 
der die Bestialitat mit Humanitat verbindet wie das Volkerrecht. Die 
Verwirklichung seiner Idee wiirde die Schlachtfelder zu Spielplatzen 
avancieren lassen. Wer weifi, ob es dann noch »Feld der Ehre« heifien 
konnte, wenn niemand daran stiirbe. 

Ein Illusionstechniker erf and eine »kunstliche Fata Morgana^, einen 
kunstvoUen Spiegel, in dem die Vorgange eines nachbarlichen 2im- 
mers zu sehen sind - eine Art »Spion«, wie er friiher an Fenstern ange- 
bracht war. Der Mann ist iiberzeugt, dafi gespiegelte Vorgange schoner 
sind als ihre Originale. 

Sein KoUege erfand die »Landkarte als TaschentHch«y die im Krieg eine 
Zeitlang zu sehen und als Liebesgabe verwendet war. Es ist eine beru- 
higende Vorstellung, dafi man sich gleichsam in die Welt schneuzen 
und auf sie spucken darf. Es kann ein Schnupfen sehr lehrreich und 
unterhaltend werden, wenn man ihn so bequem mit dem Geographie- 
studium verbindet. Der Erfinder versichert, dafi die Schnupftiicher 
waschbar sind, »auch mit Chlor«, und dafi sich dabei bestimmt »kein 
Meridian und kein Parallelkreis verwischt«. 

Ein »haltharer Regenschirm« ist ein Paraplui mit doppeltem Dach, so- 
zusagen ein zweckstockiger Schirm. Beide Dacher sind gleichzeitig 
aufzuklappen. Der Gegenstand sieht aus wie das Sinnbild eines 
potenzierten Philistertums, 

Der »Taxameter~Selbstr€chner« ist eine Maschine, die den Fahrpreis 
auf eine Kane fein sauberlich druckt und beim Halten des Wagens 
automatisch dem Fahrgast in die Hand spuckt. »Alle Meinungsver- 
schiedenheiten zwischen Fahrgast und Chauffeur haben aufgeh6rt«, 
verkiindet der Erfinder, »Eingreifen der Polizei ist uberflussig.« 
Derselbe Mann erfand den » automatisch en Schutzmann^. Es ist die 
einzige Erfindung, in der eine unbewufite, fast philosophische Ironie 
hegt: eine Behorde, die ihr Automatentum zugibt und so aussieht, wie 
sie arbeitet. Wirkung und Form entsprechen einander. Der automati- 
sche Schutzmann wird einmal in sechs Stunden aufgezogen - genau 
wie der lebendige-, und dann kann er die rechte Hand alle zehn Minu- 
ten heben und senken. Er ist fiir den Potsdamer Platz bestimmt, wo die 



1923 957 

Gefahrte zu regulieren sind, er kann in Sturm und Regen dastehen und 
wird hochstens bis aufs Holz durchnafit. Er versagt niemals, er kann 
Tag und Nacht dastehen, er braucht keinen Schlaf und keine Gage, er 
ist unerbittiich, wie eine Polizei sein soil, und so mechanisch, wie sie 
ist. Er hat kein Gehirn, weil die Behorde nur ein Uhrwerk braucht, er 
tragt nur eine Uniform, wie ein Mensch, und einen Helm, aus autorita- 
ren Griinden, und da nur diese beiden Attribute den Respekt erzeu- 
gen, ist ein Mechanismus aus Fleisch und Blut, wie er jetzt verwendet 
wird, fiir die behordliche Tatigkeit zu schade. 

Ich sprach mit dem Erfinder iiber die Moglichkeit automatischer Re- 
gierungen und Parlamente. Vielleicht fallt meine Anregung auf frucht- 
baren Boden, und der Mann erfindet Abgeordnetengrammophone, 
Obstruktionsmaschinen, eine mechanische Opposition und holzerne 
Minister, die nach Einwurf einer Gagenmarke zu regieren anfangen. 
Eine genaue Beschreibung aller Erfindungen liegt auf dem Biifettisch 
des Gasthauses, der Wirt kann Einsicht gewahren, Man liest, dafi der 
Kronprinz Protektor des Vereins ist - weil er einmal den beriihmten 
Manschettenknopf erfunden hat. Es liegt ein historischer Witz in die- 
sem Protektorat, das den Kronprinzen zu einem verkannten Erfinder 
stempelt. Der Vorsitzende des Klubs wird einmal im Jahre gewahlt; es 
ist ein Ehrenamt. Das dlteste Mitglied ist 84 Jahre alt. Der Greis heiEt 
Cooper, ist engHscher Abstammung und behauptet, der eigentliche Er- 
finder der »leuchtenden Uhr« zu sein. Leider ist er zu spat gekommen. 
Er beschaftigt sich jetzt mit der Herstellung leuchtender Klingel- 
knopfe. 

Die verkannten Erfinder leben nicht von ihren Erfindungen, sondern 
von praktischer Berufsarbeit. In Freistunden erfinden sie. Sie sind Mu- 
siklehrer, Buchhalter, Bankbeamte, Notariatsschreiber und, abgesehen 
von ihren Erfindungen, ganz verniinftige Leute. Sie spielen Skat. Sie 
trinken Bier. Man sieht, wie das Geniale dem Normalen sich nahert. 
Wie das Unsterbliche mittelmaiSig funktioniert. Sie haben Weiber, 
Kinder und Enkel. Sie sind verkannte Burger. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 17. 3. 1923 



BESUCH BEI GOETHE 



Frankfurt a. M. 
Die Franzosen befinden sich in bedrohlicher Nahe Frankfurts, aber 
man hofft noch immer, dafi sie historische Renainiszenz bleibt. Im 
Goethehaus erinnert dieses an die Besetzung Frankfurts. Noch stehen 
im zweiten Stock die Bilder, die der Leutnant Thorane malen liefi. 
»Thorane hat gleich gewufit, dafi der kleine Wolfgang ein Genie ist« - 
erzahlt der Fiihrer - »und er hat ihm Theaterbilletts verschafft.« Man 
wird in alien besetzten Stadten des Ruhrgebiets wahrscheinlich keinen 
franzosischen Leutnant finden, der sich Bilder malen liefie und Genies 
entdeckte - selbst wenn sie vorhanden waren. 

Der Fiihrer im Goethehaus ist elne Sehenswiirdigkeit, und er erinnert 
starker als ein Gegenstand oder ein Bild an die Atmosphare des Hau- 
ses, die von der »Frau Rat« geschaffen wurde. Er hat jenen Witz, der in 
den Briefen der Mutter Goethes lebt, einen heitern griechischen Witz, 
der trifft, ohne zu verletzen. Von dem Fragment einer Tischdecke sagt 
er: »Das ist eine Decke gewesen. Was daran fehlt, ist nicht mehr da!« 
So heiter verspottet er sich selbst, die humoristische Figur des Mu- 
seumsfiihrers, und kommt dem Spott des Zuhorers zuvor. Lacht je- 
mand iiber einen Ausspruch, so fiigt er sofort hinzu: »Das hab' ich 
schon oft gesagt.« Der Mann hat selbstverstandlich alle Werke Goe- 
thes gelesen. Er zitiert mit einer unheimlichen Sicherheit, die nicht 
Folge haufigen Wiederholens ist, sondern einer natiirlichen Sonderver- 
anlagung. Er konnte, hatte Goethe nicht fiir jede Lebenslage einen giil- 
tigen Satz geschrieben, selbst goethesche Satze erfinden. Diese Satze, 
die, ohne Pathos, eine heitere Feierlichkeit besitzen und in der scharfen 
Formulierung paradoxal kUngen und es nicht sind, in denen eine einfa- 
che Weisheit noch pointiert ist - und eine komplizierte leuchtend und 
klar. Mit mir zugleich besichtigte eine Madchenschule das Goethe- 
haus. Der Fiihrer sagt: »Hier ist ein Lodderbett.« Und fragt ein Mad- 
chen: »Wie heifit das heute?« »Chaiselongue«, sagt sie. »Allewei] 
Deutscher!« antwortet der Fiihrer. - Er bekommt leider wenig Trink- 
gelder, weil man ein ganz verruchter Barbar sein muEte, wer diesem 
Menschen ohne jede verfallende Form Geld schenken konnte. Man 
muft erfinderisch sein, um ihn zu beschenken. 



1923 959 

Er ist nicht mehr jung, und wenn er einmal stirbt, wird es nicht leicht 
sein, einen geeigneten Nachfolger zu finden. Es wird genauso sein, wie 
wenn jene Decke voUkommen zerfiele. »Was daran fehlt, ist nicht 
mehr da . . .« Wie wenn ein Gegenstand abhanden kame, aus der Kiiche 
der Frau Rat, einer jener metallenen Napfe, eine gebuckelte Kuchen- 
form aus Blech, die in mehreren Spielarten vorhanden ist und an denen 
man sieht, dafi es eine wahre Koch- und Backkunst geben kann, dafi 
zur Formung eines Kuchens Liebe und Leidenschaft und Phantasie 
gehoren - die drei Vorbedingungen flir die Schopfung eines Kunst- 
werks. 

Frankfurt a. Main ware nicht die »Goethe-Stadt«, wenn die Erinne- 
rung an den grofien Sohn sich auf den Hirschgraben beschrankte. Cha- 
rakteristischer als die bekannten historischen Denkmale und Wahr- 
zeichen sind die unbekannten, verborgenen, die Wahrzeichen ohne 
Baedekerstern, Kleinigkeiten, die von der grofien Historic unbeachtet 
bleiben, wichtige Nebensachen, Symptome, gering an Umfang, be- 
scheiden in der tieferen Wirkung und Kultur enthiillend, wo niemand 
sie vermutet hatte. 

Beispiele: Frankfurt ist die einzige deutsche Stadt, in der die Hunde 
ohne Maulkorbe herumlaufen. Die Tollwut ist Schicksal, es zu verhan- 
gen ruht in der AUmacht Gottes, der die Frankfurter Hunde vaterhch 
Uebt und schont. Die Tiere bellen, dafi es eine Lust ist, manchmal wird 
ein Frankfurter gebissen, aber in BerKn wird man auch gebissen, ob- 
wohl die Hunde Maulkorbe tragen. Die Stadt ist frei von der Kultur- 
schande des mittelalterhchen Schinders oder »Wochenmeisters«, der 
wochenthch durch die Strafien kutschiert und hafiHche Schlingen aus 
prophylaktischen Griinden um ahnungslose Tiere wirft. 
Man kennt in jeder Stadt die Institution: Schlachtbank genannt, und 
weifi, dafi der Geruch geronnenen Blutes hafiHch und morderisch ist. 
In der Nahe der Frankfurter Schlachtereien aber werden moi^enlandi- 
sche Gewiirze verkauft. Und in dem betaubenden scharfen und siifien 
Duft erstirbt der blutige Dunst - und die Gegend duftet wie ein geseg- 
neter Garten des Orients. (Es sind iibrigens die Fleischbanke diesel- 
ben, vor denen der kleine Goethe spielte.) 

Man kennt leider in Deutschland die Erfindung der Gummikniippel, 
welche ein Fabrikat des Herrn Kunze sind, die »Totschlager«, der Ha- 
kenkreuzler Leibwaffe, das Pogrominstrument. Nun, diese »Totschla- 
ger« sind auch in Frankfurter Waffenhandlungen zu sehen. Aber sie 



960 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

heifien hier »Lebensretter«. Das Kulturgewissen dieser Stadt verwan- 
delt den morderischen Namen In einen versohnlichen und verleiht der 
Waffe nur defensive Bedeutung. Und man hort in dieser Stadt, in der 
kein Kunze geboren werden kann, kein hetzendes Wort, sieht kein 
geschmackloses Plakat, liest in den Zeitungen aller Parteien keinen 
Schimpf. 

Frankfurt a. Main besteht aus einer Stadt und einem Traum. 

In der Stadt Frankfurt erheben sich auch geschmacklose Monumente 

und plumpe Flauser, und moderne Kaufladen offenbaren Talmi und nur 

»Preis-Wertes« in grofSen schamlosen Schaufensterscheiben. Blond- 

oxydierte Madchen stelzen am Strafienrand und modern gegiirtete Ka- 

valiere. 

Aber der Traum Frankfurt ist uralt und deutsch, ist Heimlich und ver- 

sonnen, er hat Giebei und Erker und verwitterte steinerne Stufen vor 

den Hausern, und in den Winkeln Hegen noch die verwehten Wort- und 

Gesprachsreste und die verlorenen Geheimnisse der Verstorbenen. 

Die Gafichen sind launisch und eigenwilHg, sie machen hier eine sanfte 

Biegung und horen dort unvermutet auf, und hinter jeder Ecke wartet 

ein Wunder auf den Spazierganger, der ein Lustwandler ist. 

Es ist wie eine Heimkehr zu alien durch schlechte Poesie billig geworde- 

nen Lyrismen der Sprache: Ein Spaziergang ist wirkHch ein »Lustwan- 

deln«; ein Haus »zauberumsponnen«; eine Turmsilhouette »wunder- 

bar«; und ein Giebei »zierlich«. 

Ich lerne jenes Haus mit den Karikaturen kennen, von dem nur wenige 

Frankfurter wissen - mein Fiihrer, ein junger Alt-Frankfurter, weifi die 

Geschichte: 

Ein Architekt will ein vierstockiges Haus bauen. Die Ratsherren gestat- 

ten ihm nur drei Stockwerke. Und der Architekt racht sich: An der 

Front des Hauses bringt er die steinernen Ratsherren an - in einer 

blamierenden, aber sehr menschlichen, sehr heimlichen Situation. Und 

sich selbst in derselben Lage - uber dem Kopf des Blirgermeisters. 

Er war ein mutiger Architekt, aber es miissen auch spatzige Ratsherren 

gewesen sein, die einen derben Witz begriffen und schmunzelnd in Kauf 

nahmen fiir den Preis der UnsterbUchkeit, in die sie so blamabel hinein- 

kauern, lacherHch, aber ewig . . . 

Und eine Gasse heifit: »Hinter dem Lammchen« - und eine zweite: 

»Rapunzelgaf^chen . . .« 



1923 ^61 

Aber man fiihlt die bedrohliche Nahe der Franzosen: Vor dem Bahn- 
hof steht ein Autobus fiir Fahrgaste nach Wiesbaden. Die Fahrt kostet: 
zwanzigtausend Mark fiir eine Person. Es gibt keine Bahnverbindung 
mit den nachsten Nachbarstadten, mit den lieben Stadten aus dem Fa- 
milienkreis sozusagen. Und eine halbe Stunde vor beziehungsweise 
hinter Frankfurt fordert eine »2ugrevision« Pafi und Ausweis, etap- 
penmafSig, zwecklos und etappenmafiig.- 

Berliner Borsen-Courier, 22. 3. 1923 



DER FRUHLING, DIE SCHONSTE JAHRESZEIT 

Eine Hausarbeit 

Der Friihling, auch »Lenz« genannt, ist die schonste Jahreszeit, die 
Saison der Kuckuckskonzerte und des Lerchengesanges, der griinen 
Welt- und Wiesenkostiime und der gottlichen Bliitenfabrikation. Es 
ereignet sich, von Lyrikern in Reimen begriif^t, die bekannte Auferste- 
hung der Natur, w^elche den Agrariern gehort, aber von diesen sehr 
menschenfreundlichen Besitzern den Ausfliiglern ohne Unterschied 
der Partei umsonst zur Verfiigung gestellt wird. 

Die Sonne, ein radikal sozialistischer Leuchtkorper, eines der wenigen 
Objekte dieser Welt, deren private Ausbeutung deshalb noch nicht ge- 
lungerfi ist, weil es keine Grofi-Himmels-Grundbesitzer gibt, diese 
Sonne nimmt sich die Freiheit, alien Menschen gleich zu leuchten und 
die diirre Haut des Hungernden ebenso zu warmen wie den fetten 
Bauch des Satten. 

Zu den Objekten in Kommunalbesitz gehoren auch noch die bekann- 
ten Friihlingswolken, die »Hnden Lufte«, von denen die deutschen 
Dichter leben, und der blaue Himmel, hinter dem sich der liebe Gott 
verbirgt, um ungestort die Bittgesuche der Menschen der Reihe nach 
zu erledigen. 

Die sogenannten Zugvogel, lebendige Symbole der menschlichen 
Sehnsucht, kehren, unbelehrbar, wie Zugvogel sind, und einem unver- 
niinftigen Drange gehorchend, aus den sudUchen Landern nach Eu- 
ropa zuriick, das sie eigentUch gar nicht notig haben. Bei diesen Tieren 
sind Instinkt und Uberlieferung so machtg, daft sie Konferenzen, Re- 



962 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

daktionen, Produktenborsen gar nicht merken und in harmloser Ah- 
nungslosigkeit dort lieblich zwitschern konnen, wo der Mensch wei- 
nen mufi. Diese Vogel zwitschern sogar in der Berliner Siegesallee. 
Auch am Kurfiirstendamm offenbart sich der Anbruch des Friihlings: 
Die Bettler enthiillen ihre Gebrechen und die vornehmen Spaziergan- 
ger ihre Friihlingstoiletten. Auf den Kopfen der Damen erbliihen die 
neuen Strohhiite in verschiedenen von den Modeberichten vorge- 
schriebenen Formen. Die FriihHngsluft verursacht Plane fiir die Som- 
merreise, welche die bedeutendste Friihjahrssorge der spekulierenden 
Menschheit ist. 

In den Fabriken und Biiros sind die Fenster geoffnet, und die Men- 
schen des Achtstundentages diirfen den Lenz in gesetzlich zulassigen 
Kubikmetern genieCen. Der unbegrenzte Genufi der linden Liifte ist 
nur den Auserwahlten gestattet und den Arbeitslosen. Jenen behagt es, 
diese sterben infolge des ungewohnten Vergniigens. Es ist nicht jeder- 
manns Sache, in voUen Ziigen zu geniefien. So mancher stirbt dahin, 
weil er Freuden ohne Mittagessen nicht vertragt. 
Sorglos aber leben die Auserwahlten, der Aprilregen befruchtet die 
Felder - und Gottes Segen ruht auf ihnen. Sie leben wie die Lilien im 
Felde, fiir sie wachsen die Anziige bei den Schneidern, und alle Muhlen 
mahlen hygienisches Weifibrot, das der Hausarzt vorschreibt . , . 
Deshalb ist der Friihling die schonste Jahreszeit. 

Vorwarts, 24.3. 1923 



DELINQUENT SCHAPER 



Der fiinfzigjahrige Uhrmacher Schaper hat bei der Frau Conrad als 
Aftermieter gewohnt. Man wei£ nicht genau, ob sie ein Liebesverhalt- 
nis oder nur die gemeinsame Wohnung miteinander verband. Jeden- 
falls glaubte der Uhrmacher eines Tages, daf5 ihm Frau Conrad, eine 
Witwe, Mutter eines siebenjahrigen Madchens, die Liebe schuldig 
bleibe und sich einem anderen Mann zuwende. Hierauf blieb er ihr die 
Miete schuldig und mufite ausziehen. Er kam noch einmal wieder, bat 
um Aufnahme fiir eine Nacht und gelangte in sein Zimmer. Am nach- 
sten Morgen bHeb er, als Frau Conrad das Haus veHiefi, mit ihrer sie- 



1923 9^3 

benjahrigen Tochter m der Wohnung. Er spielte mit dem Kinde. Dann 
erhangte er es. Die Schlinge rifi. Er versetzte dem kleinen Madchen 
noch einige Schlage. Dann erstickte er das Kind unter einer Decke. 
Hierauf ging der Uhrmacher Schaper einige Tage spazieren. Unter- 
wegs trat er in ein Konzertcafe, um sich zu beruhigen. Es gelang ihm 
nicht. Er begab sich also in die nachstgelegene Polizeirevierstube und 
liefi sich verhaften. So selbstverstandHch und kiihl, wie einer in einen 
Friseurladen tritt, um sich rasieren zu lassen. - Gestern wurde der 
Uhrmacher Schaper zum Tode verurteilt. 

Ich habe den Morder im Landesgerichte vor den Richtern gesehen. Er 
ist ein kleiner Mann. Er sieht geduckt aus, aber er ist es nicht. Sein 
Angesicht ist gelbgrau und faltenreich. Seine Augen hegen tief und 
glanzen nicht. Er wackelt manchmal unbewufit mit den Ohren. Er hat 
keine »Morderphysiognomie«. Er sieht aus wie ein Uhrmacher, ob- 
wohl er ein kleines Madchen unmenschhch gemordet hat. Er hat schon 
in seinem Leben viele kleine und grof^e Uhren unmenschhch gemor- 
det. Er hat sie seziert, mit Pinzetten und allerlei geheimnisvoUen und 
sehr glanzenden Instrumenten auseinandergenommen. Die kleinen 
Schrauben; die tickenden Raderchen mit den spitzen Zahnen; die blau- 
glanzenden zuckenden ineinandergeroUtcn Federn aus diinnem elasti- 
schem Stahl; die winzigen diinnen Sekundenzeiger, die sich mit Fin- 
gern gar nicht greifen lassen. Bei all dem trug der Uhrmacher Schaper 
eine schwarzgefafite, sehr scharfe Lupe, bald im rechten, bald im lin- 
ken Auge. Davon wurden die Augenhohlen so tief. 
Wahrend der Verhandlungen stand der Morder so aufrecht, als es ihm 
moglich war. Seine Verantwortung: »Ich weifi nicht, weshalb ich es 
getan habe. Ich gabe sofort mein Leben, wenn es mir mogUch ware, 
das Kind lebendig zu machen.« 
Der Vorsitzende fragte: »Bereuen Sie?« 
»Ja«, sagte der Angeklagte. 

Aber er, der Uhrmacher, sagte es kiihl, und es klang verstandesmafiig. 
Andere Morder, die keine Sezierer von Beruf sind, sondern nur aus 
Leidenschaft, bereuen so, dal5 man ihren tiefen Schmerz im Klange 
ihrer Stimme liegen sieht. Der Uhrmacher spricht wie einer, der Ursa- 
chen und Wirkungen versteht. Er hat gemordet, einen Mechanismus 
vernichtet, er bereut. Kann man ihn nicht ersetzen? Er hat es doch 
selbst erlebt, wie tote Uhren lebendig wurden! Konnen es tote Kinder 
nicht! Andere Morder, ohne Vernunft, von der grausamen Urkraft des 



964 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Triebs auch dann nicht verlassen, wenn sie ihm nicht folgen, sind zu- 
sammengebrochen, verwirrt, und die Psychiater konnen ohne Gewis- 
sensbisse urteilen: nicht normah Bei diesem Uhrmacher ist die Zucht 
der Vernunft starker als der dunkle Triebwahn. Andere Morder er- 
tranken ihr Schuldbewufitsein im Alkohol. Dieser gab sich in Repara- 
tun Nur einmal hatte ihn die Vernunft verlassen. Er weifi, wie traurig 
es war. Und ohne dafi er es selbst ahnt, arbeitet sein Gehirn mit Eifer, 
damit ihn der Verstand nicht wieder verlasse. Deshalb hat es den An- 
schein, als besafSe er kein Herz! Aber wie? Kann man ohne Herz He- 
ben? Ohne Herz eifersiichtig sein? Ohne Herz Rache briiten? 
Hatte er doch Arbeit gehabt! Er ware hingegangen zu den Uhren, wel- 
che die Vernunft wach erhalten. Aber er fand keine Arbeit. Vielleicht 
kann ein Eisendreher viel leichter eine andere Arbeit annehmen als ein 
Uhrmacher. Dieser versteht unter »Arbeit« Wachheit der Kritik. Alle 
andere Handarbeit ist Einschlaferung der Kritik. Eine andere »Arbeit« 
hatte ihn auch gar nicht beruhigt. 

Ach! Wie sind doch die Menschen auf aufierliche Symptome einge- 
stellt! Der sichtlich Gebrochene erlangt ihre Verzeihung. Mit dem 
Weinenden haben sie Mitleid! Im kiihlen Klang horen sie Harte. In der 
Disziplin horen sie nur Herzlosigkeit! Dem starken Kontrast sind sie 
preisgegeben. Hier schrie die Mutter wahnsinnig auf, als sie den Mor- 
der erblickte. Dort safi der Morder und riihrte sich nicht. Was Wun- 
der, dafi sie ihn fiir den Tod reif befanden? 

Er brach auch nicht zusammen, als er es hone. Er sperrte nur den 
Mund auf und hielt ihn eine lange Weile offen. Er wollte seufzen und 
konnte es nicht. Er zwinkerte ein paarmal schnell mit den Augen. In 
diesem Augenblick ahnte man in diesem Saal, dafi es draufien eine 
Marzsonne gibt. Die Stare sind angekommen und bauen ihre Nester. 
Irgendwo wohnt ein Henker. Irgendwo gibt es einen Block und ein 
Beil. 

Prager Tagblatt, 25. 3. 1923 



DIE TANZER GOTTES UND DIE STRASSENBAHN 

Reuige Sunder -Das Gewissen der Welt 

Die Tdnzer Gottes haben einen heiteren Namen und ein trauriges Ge- 
miit. Ihr Tanz ist Beten, und ihr Gott ist ein gestrenger Siinderegistra- 
tor, ein metaphysischer Staatsanwalt, der Himmel ein Strafgericht, 
letzte und hochste Instanz, die Erde eine seelische Badeanstalt, das 
diesseitige Leben eine Reinigungskur. Den Tanzern Gottes geniigt das 
Leid nicht, das ihnen vom Leben und von den Mitmenschen zugefiigt 
wird. Sie tun ein iibriges und qualen sich selbst, Sie machen Fleifiaufga- 
ben in Peinigung. Sie sind Vorzugsschiiler in der Schule der Schmer- 
zen. Sie tragen sozusagen in Kasteiung immer eine Eins davon. Sie sind 
Priigelmusterknaben. Sie verfertigen sich selbst die Zuchtruten fiir ih- 
ren Korper. 

Ich glaube nicht, dafi Gott mit seinen Tanzern zufrieden ist. Sie aber 
glauben es. Ich hege den Verdacht, dafi sie sich so nennen, um den 
Ueben Gott irrezufiihren. Um in ihm die Vorstellung von siindhaftem 
Tun zu erwecken und ihn durch das Gegenteil zu iiberraschen. In jener 
Registraturabteilung des Himmels, in der die neuen Sekten der Glaubi- 
gen alphabetisch eingetragen werden, mufi der Verein mit dem sinnH- 
chen Namen Kopfschiitteln und Verwunderung erregt haben. Die 
himmhschen Behorden konnen sich jetzt tagHch davon iiberzeugen, 
da£ die Tanzer Gottes loyale Burger sind, Stiitzen der Glaubigkeit und 
von revolutionarer Gesinnung ebenso weit entfernt wie ein Nackttan- 
zer vom Himmel. 

Die Tanzer Gottes leben und beten im Norden der Stadt Berlin, in 
jenem Viertel, in dem die menschliche Verzweiflung das Verbrechen 
gebart und den Fanatismus, die Raubmorder und die Propheten, die 
Prostitution und die Priesterinnen, den Diebstahl und das Gebet. In 
jenem Viertel der grofSen Stadt sind die Menschen ratios und wissen 
keinen Weg, wenn sie nicht den Mut haben, freiv/illig zu sterben. Ihr 
Hunger ist grofi und die Mahlzeit klein, und auf dem Grunde ihrer 
Seele ist die Hoffnung verdorrt. Ihnen bleibt nur Emporung iibrig 
oder schmerzhafte Demut. In den anderen Teilen der Stadt diirfen die 
Menschen in Under Gleichgiiltigkeit dahinleben, und ihr Daheim ist 
wie ein lauwarmes Bad. Ihr Magen ist gesattigt, und regelmafiige Mahl- 
zeiten befruchten die Hoffnung und erhalten die menschliche Seele in 



^66 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

einem unbedeutenden, wohltatigen Gleichgewicht. Ein sauberes Ru- 
hekissen verursacht vollige Gewissensstille und federnde Matratzen 
einen sanften Schlaf. Aber die alten Strohsacke im Norden der Stadt 
lassen die Leute nicht einschlafen, und die Ruhelosen geben nicht dem 
mangelhaften Lager die Schuld, sondern forschen, weil sie nach dem 
Katechismus der Sprichworter erzogen sind, in ihrem armen Innern 
nach einer Schuld. Und sie finden, die Tanzer Gottes, dafi cine grofie 
Schuld auf ihren schwachen Seelen lastet: die hinterzogenen Fahr^el- 
der namlich. Und sie gehen hin und schreiben eine Geldanweisung und 
sparen sich ein paar tausend Mark vom hungrigen Munde ab und 
schicken sie an die Direktion der Berliner stadtischen Strafienbahn. 
Seit einigen Wochen fUefien der Strafienhahn von alien Seiten kleinere 
und grofiere Summen zu, von ehemaligen Schwarzfahrem, von denen 
einige eine Rate ihrer Schuld einsenden mit dem Versprechen, den Rest 
spater zu zahlen. Manche schicken mehr, als sie schuldig geblieben 
sind, denn sie berechnen ihre Schuld nach der Markentwertung und 
nach dem Index. Zuerst hatte es den Anschein, als ware eine Epidemic 
ausgebrochen, eine Art Gewissensgrippe, eine Reinigungspsychose. 
AUmahlich erfuhr man, dafi die Schwarzfahrer sich weifiwaschen woll- 
ten, weil sie einer neuen Sekte angehoren, deren Priester jede kleinste 
Siinde verbieten - ein Siindenverbot mit riickwirkender Kraft. Die 
Glaubigen blattern in ihrem Gedachtnis zehn Jahre zuriick und tilgen 
jeden Fleck ihrer Vergangenheit mit viel Sorgfalt. Dafiir erwarten sie 
bestimmt, in den Himmel der Seligen aufgenommen zu werden. Sie 
geloben einen Lebenswandel ohne Arg und Fehle mit Psalmengesangs- 
begleitung und Bibelzitaten. Blank und leuchtend ist ihr Erdensein, 
eine fromme und demonstrativ bezahlte Pilgerfahrt auf den StralSen- 
bahnen der Tugend. Und Mittwoch und Freitag haben sie Predigt und 
Gottesdienst. 

Die Tanzer Gottes versammeln sich in einem Saal, der gelegentUch 
auch an weltliche Tanzer, Witwenkranzchen und Ballkomitees vermie- 
tet wird und in dem manchmal noch siindiges Konfetti verstreut ist, 
eine weltHche Girlande aus Papierbliiten hangt und in dessen Winkeln 
ein hartnackiger Bier- und Schnapsduft schlaft, der nachsten Gelegen- 
heit zu frohlicher Wiederauferstehung harrend. Die Tanzer Gottes 
sind hungrig und blutleer. Manner und Frauen, kleine Beamte und 
Handwerker, erkennbar an Kautschukkragen und loser Chemisette, 
gestreiften Brustpanzern, die den Zweck haben, einsturmende Versu- 



1923 ^(^7 

chungen abzuhalten. Riickwarts klettern vorwitzig die Enden altmodi- 
scher Krawatten zum Rockkragen heraus, und die Stiefel sind sauber, 
genagelt, geflickt und zerrissen. 

Diese Menschen kommen an den linden Friihlingsabenden aus Fabri- 
ken, Werkstatten und Biiros, mit abgewandten Sinnen wandeln sie 
durch das weltliche Getriebe der Strafien, der Larm der Vehikel und 
die lebendige Geschaftigkeit der heimkehrenden Menschen gleitet an 
ihnen ab wie Regenrauschen an gefetteten Flachen. Dann fallen sie wie 
Tropfen einzeln in den Saal, nehmen Platz mit ergeben gesenkten Kop- 
fen. Wie Sommerwind iiber ein Feld geneigter Ahren streicht die Rede 
des Priesters iiber sie bin. Der steht auf erhohtem Platz, in einem 
schwarzen Rock mit griinem Patinaschimmer, er hat einen langen Hals 
mit ruhelos auf- und abkletterndem Adamsapfel und eine diinne 
Stimme, gewissermaEen eine magere Stimme, die sich keinen einzigen 
starkeren Laut gonnt und aus Mangel an stoffhaltigen Worten taglich 
ein paar Pfunde abnimmt. Er sagt: 

»Unser Tanz ist heilig, heilig ist unser Tanz, Wir sind das Gewissen 
der Welt. Wer eine Siinde hat, trete vor und bekenne.« 
Und hervortreten die armen Glaubiger, die nicht wissen, dafi die Welt 
an ihnen mehr siindigt als sie an der Strafienbahn. Es tritt ein alter 
Mann hervor mit zitternden Handen, blaue Aderchen bilden dichte 
Netze auf seinem rotlichen Gesicht. Er bekennt mit schwacher Stimme 
ein Siinde, legt zwei Finger auf die ausgestreckte Handflache des Pre- 
digers. Wie ein sachter, ferner Landregen rinnt seine Beichte, und ihm 
folgt eine Frau und noch eine, und alle haben dieselben straffen Frisu- 
ren, die wie eine Kasteiung des Haares aussehen. Die schmerzUch ge- 
strafften, gelbe, blutlose Ohrmuscheln freilassenden Frisuren und die 
billigen gelben Kamme, die eine Verhohnung der weltlichen Eitelkeit 
sind, 

Sie haben einmal eine Nachbarin beleidigt oder ein Kind geschlagen 
oder eine Ratte getotet - es sind wuchtige Siinden. Gott sieht mit giiti- 
gen Augen auf das Elend der Menschen, er lafSt die Siinde geschehen, 
auf dafi die Bufie nicht ausbleibe. 

Aber draufien in demselben Hause befindet sich eine billige Bar mit 
rotlich geschminkten Lichtern und Madchen. Und drinnen leben die 
Tanzer der Welt. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 29. 3. 1923 



BERLINER AQUARIUM 



Das Aquarium tragt dunkelgriines Lichtunterfutter. Ich durchwandere 
es mit gedampften Blicken, als triige ich Bierflaschenglas vor den Au- 
gen. 

Ich weifi allerdings nicht, woher das Licht kommen mag. Vielleicht 
kommt es aus den vielen Gewassern des Aquariums, die eingesperrt 
sind in glasernen Kafigen wie animalische Wesen. 
Ich glaube sogar, dafi jedes Wasser sein eigenes Licht hat und, um zu 
leuchten, keiner Sonne bedarf und keiner Lampe. AUe Gewasser 
leuchten so, als lagen in ihnen ein paar ertrunkene Sonnen. 
Von den Gewassern aber wollte ich ja gar nichts sagen, sondern von 
dem » Megalobatrachus maximus^ aus Japan, dem Riesensalamander. 
Er ist anderthaib Meter lang, und er lebt im Wasser und steigt nur 
gelegentUch an die Oberflache, um Atem zu schopfen. Und das Was- 
ser, in dem er lebt, ist Gebirgswasser. Und er ruht unter einem bemoo- 
sten Steinbaldachin. 

In dies em Aquariumkafig hat er ewig denselben Stein und ewig das 
gleiche Wasser und tote Fische zur Nahrung. Wenn er wiifite, dafi nur 
eine Glaswand ihn umschlief5t, er konnte sie zerschmettern: peng, 
peng, megalobatrach! 

Man mufS sehen, wie der Megalobatrachus mit kurzen Handen nach 
dem bemoosten Stein greift, um hinaufzurutschen. Und zufrieden 
wird, wenn er nur den halben Weg zuriickgelegt hat: mit dem Schweif 
den Sandboden streichelt und ins griine Oberflachenlicht blinzelt. Al- 
les ist hier seinetwegen da, und er ahnt es wahrscheinlich. In Japan ist 
er ein Salamander unter Salamandern, die iiberragenden Steine sind 
zufaUig und die Gebirgsfliisse auch. In Japan mufi er sich eine Umge- 
bung selbst suchen, im Aquarium sucht man ihm eine. Wenn er mit 
dem Schwanz das Wasser betastet, erfahrt er, wieviel fiir ihn und durch 
ihn in diesem Glaskasten lebt und stirbt: kleine Fische, Moos, Algen, 
Regenwiirmer. Luft steigt in dlinnen Glaskiigelchen zehntausendfach 
an die Oberflache. Der Riesensalamander reibt sich den weiEen Bauch. 
Fiir ihn sind komplizierte Rohrenleitungen angelegt. Fiir ihn arbeiten 
taglich zehn oder zwanzig Menschen. 



1923 9^9 

Zehn Tage und langer konnte kh vor Seerosen stehen. 
Was ist ein Megalobatrachus dagegen? Ein dummes Tier, zufrieden, 
aufgeblasen und trage. Die Seenelken und Seerosen aber sind keine 
Tiere und keine Pflanzen und auch nicht Ubergange von Pflanzen zu 
Tieren (sagen die Naturforscher). 

Sic wachsen aus dem Meeresboden, auf einer Klippe, einem Stein. 
Aber es ist so, als waren sie von weither angekommen, um sich auf 
jener Klippe, Jenem Gestein anzusiedeln. Pflanzen wachsen aus samen- 
befruchtendem Boden hervor, Seenelken und Seerosen aber waren da 
vor allem Samen, vor der Erschaffung der Welt. Das sind die ersten 
Lebewesen des Kosmos. Der Stein, den sie kolonisierten, ist nur ein 
Vorwand. Weil in dieser Welt jedes seine Heimat und seine Zustandig- 
keit haben muf?, suchen sie sich ein Zuhause. Gewissermafien nur der 
Dokumente wegen. Fiir den Fall, dafi ein grausamer Naturforscher 
nachforschen sollte. 

Die Blatter der Seerosen sind Arme. Tausende, Zehntausende, MilHo- 
nen weicher Arme, Fadenarme, weifie Regenwiirmerarme. Seit Ewig- 
keiten bewegen sich diese Arme, unermiidlich gierig, schlank, elegant, 
weich und bestialisch, bittend und grausam, schmeichelnd, frauenhaft 
und teuflisch. 

In dem Glaskasten, in dem die Seerosen sind, wickelt sich das ganze 
Weltgeschehen ab, aus seiner durch die Jahrhunderte gewordenen 
Kompliziertheit zuriickgefiihrt in die einfachsten Urformen. Was hier 
geschieht, sind zehntausend Keimzellen grofierer Tragodien. Hier ist 
Anfang und Ende, hier ist Ziel und Zwecklosigkeit, Inhalt und Ten- 
denz des Lebens. 

Miicken schwirren durch das Wasser, glaserne Miicken, ihr Leib ist aus 
Wasser, und ihre Fliigel sind Flossen aus Wasser. Diese Miicken sind 
fiir die Seerosen da. Und die Seerosen fiir die Miicken. 
Ich sehe eine halbe Stunde lang eine Wassermucke gegen die Zauberge- 
walt der Seerose kampfen. Sie schwebte etwa zehn Zentimeter iiber der 
Wasserrose, deren Arme sehnsuchtig, gefrafiig, unermiidlich sich 
dehnten, ineinander verschlangen, auseinanderreckten* Die Fliigel der 
Mucke wurden miider, sie konnte nicht aus dem Banngebiet der See- 
rose mehr kommen. Sie sank immer tiefer. 
Was wiirde sich im nachsten Moment ereignen? 
Eine leise Bewegung des Rosenarmes, und die Miicke ist verloren. AUe 



9/0 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

weichen, feinen Rosenblatter offnen sich, um sie zu begraben. Oh, 
Endziel alles Miickenlebens ! Uberzugehen in den Wasserrosenkorper, 
den wunderbaren, betaubenden. 

Aber der Miicke gelang es hochzukommen. Und die Seerose, gar nicht 
enttauscht, wissend, dafi ihr alle Miicken der Welt geweiht sind und 
nicht entgehen konnen, ruderte waiter mit ihren Schlingarmen. 
Solch eine Seerose rudert einen ganzen Tag, ehe eine Miicke ihre Beute 
wird. Eine einzelne Miicke! Und so viel Aufwand an Zeit, Tempera- 
ment, Energie! 

Weshalb gehen die grofien Dichter nicht gelegentHch ins Aquarium? 
Und die Schauspieler? Und die Tanzer? Wenn sie irgendwo Bewegung 
lernen konnen, dann sicherUch nur bei den Tieren der Gewasser. Man 
mufi den sanften Schleiertanz des Nagelrochens sehen {Raja clevata 
heifit er. »Raja«, Name einer indischen Tanzerin), dessen Schwimmen 
Schwebeflug ist, trauriges Schweben, nicht sonnensehnsiichtiges, auf- 
wartsbewegtes. Sondern leises, resigniertes, sonnenfernes Wasser- 
schweben. 

Ich wiinschte mir, einen Tag lang eine Seerose zu sein, Mit vielen, 

vielen Armen. Schlingarmen der Sehnsucht. 

Ich tate den ganzen Tag nichts als mit den Armen rudern. 

Es miifite mir gelingen, alle Miicken eines Bassins anzuziehen. 

Und im letzten Moment, im allerletzten - ich hore schon der Miicken 

diinnes Wasserherzchen klopfen, peng, peng, ein MiUionstel eines 

Wassertropfens klopft so - lasse ich meine Arme gerade in die Luft 

ragen — 

Und warte noch einen Moment und koste ihn ganz aus, diesen Augen- 

blick zwischen Sehnsucht und Erfiillung, Hunger und Sattsein, Leben 

und Tod. 

Ich schwore, ich ware eine Seerose, um die sich alle Meere und Aqua- 

rien rissen. 

Aber ein grausamer Gott beherrscht die Welt, und er hat mich zum 

Menschen gemacht. Ein Megalobatrachus war' ich lieber! . . . 

Frankfurter Zeitung, i. 4. 1923 



EWIGE OSTERN 



Ich hege den kindischen Wunsch, ewige Ostern zu geniefien, Ich 
mochte eine unaufhorliche Kette von Auferstehungen erleben und den 
trostenden Gesang der Osterglocken in einen Dauerchoral verwandelt 
wissen. 

Ich mochte ein ganzes Leben lang sehen, wie die schiichternen Knos- 
pen an den jugendlichen Weidenruten ihre Miederleibchen sprengen 
und wissen, dafi morgan oder iibermorgen die weifien Kastanienker- 
zen sich entziinden und der goldene Goldregen zu bliihen anfangt, 
dem die Sonne ihre gliihende Farbe verleiht. 

Ich wiinschte, dafi die grofie Natur ewig eine Ausflugsgegend bHebe; 
dafi die Biische an den Zaunen die Verbotstafeln verhiillten und der 
Hnde Regen die Strafandrohungen wegschwemmte, die uns das Betre- 
ten der schonsten Wege unmoghch machen. Ich stelle mir vor, dafi es 
den kleinen Madchen aus den Biiros und Fabriken nicht schaden 
konnte, wenn sie Tag fiir Tag in ihren weiEen Blusen, aller Sorgen 
ledig und auf das Wunder wartend, das sie verdienen, durch sonnige 
Strafien schlendern diirften, wie Schneeglockchen, die gehen konnen. 
Lasterhaft genug bin ich, um den Schmerz zu entbehren und die Theo- 
rien des frommen Lesebuches in ihr Gegenteil zu verwandeln. Ich 
weifi, dafi eine ganze Anzahl Menschen so iebt, als gabe es immer 
Ostern, und dafi es ihnen gutgeht. Sie haben den ewigen Glockenklang 
in den Ohren. Sie kiimmern sich nicht um Verbotstafeln. Es sind die 
chronisch Feiertaghchen, die dauernden Spazierganger, und sie sehnen 
sich nicht nach der Miihsal. 

Es miiEten wunderbare Tage sein, denen kein schaler Morgen mehr 
folgte, erfullt von der Hast des Erwerbes und von der Arbeit, die ein 
Segen ist fiir die Arbeitgeber. 

Ich mochte, dafS unsere Morgen Gold im Munde haben, unsere Mit- 
tage festlich und stolz werden und unsere Abende nicht miider Ab- 
schluE eines Tages, sondern friedliche Dammerpause zwischen Wa- 
chen und Schlaf. Dai^ der Friihling nicht eine entlehnte Freude fiir 
schnell verrinnende Stunden bliebe, sondern kosthcher Besitz. 
In den groEen und schonen Gotteshausern der Welt vernimmt eine 
glaubige Menschheit Trost und Verheifiung fiir eine Zukunft, die es 
nicht mehr auf Erden geben soil, sondern im Himmel. 



9/2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich sehe mir den Himmel an und stelle fest, dafi er unendlich ist und 
blau und durchsichtig. Und ich mochte nicht gerne die ewigen Ostern 
dieser Erde gegen ein jenseitiges Osterfest tauschen. Denn ich weifi 
nicht, ob in den himmlischen Gefilden die liebe Sonnenblume wachst 
und ob die Primel in den metaphysischen Waldern bliiht und der blafi- 
blaue Fiieder an den Gartenzaunen Gottes. 

Es ist ein siindhafter Irrtum, dafi man gekreuzigt werden mufi, um 
aufzuerstehen. Aber wunderbar ist die Legende von der Auferstehung 
der Lebendigen . . . 

Vorwarts, i. 4. 1923 



DAS LACHELN DER WELT 



Gesetzt, es kame (dank einer treffUchen Reklame) auf dem Mars einem 
Ueben Leser der Einfall, eine BerUner Illustrierte Zeitung zu abonnie- 
ren, was erfiihre er da von der Erde? 

Dafi sle der amiisanteste Planet ist, der je um eine Sonne kreisen durfte. 
In die Illustrierte Zeitung gelangt nur Weltgeschehen in gesiebtem Zu- 
stand. Die Ereignisse laufen durch einen Heiterkeitsfilter in ihre Spal- 
ten, Triibe Erdenreste fangt ein Sieb auf und halt sie zuriick. 
Es leben - orientiert man sich aus der Illustrierten Zeitung iiber die 
irdischen Zustande - lauter Biihnenstars, Operettensanger, Steptanzer, 
beriihmte Gelehrte, Feldherren und Dichter auf diesem Stern. 
Raffinierte Erfinder sinnen tagaus, nachtein iiber die technische Voll- 
endung des Luxus und die Herstellung reizender Novitaten. 
Die Konige regieren mit weiser Milde ihre Volker und schenken ihnen 
Memoiren, wenn sie zufallig entthront werden. 

Prinzen feiern Hochzeit mit Prinzessinnen, und die Frauen aller Lan- 
der schwimmen in Freudentranen. Und sogar der Krieg nimmt sich 
aus wie ein Generalfest mit Kotillonverteilung. 

Raubmorder mit Seltenheitswert stehen da mit lachelnden Starphysio- 
gnomien. Der Mordprozesse tiefdunkler Hintergrund ist mit leisem 
Sensationsrotel nachgezeichnet. Der Staatsanwalt flattert mit der be- 
nachbarten Lil Dagover fiotten Nasenfliigeln. Hurtig im Bilde, sozusa- 
gen lockergehalten, des beriihmten Rechtsanwalts Pladoyer in der hu- 



1923 973 

schenden Robe. Revolutionen haben den Stil konfettiiibersater Volks- 

feste, Erdbeben werden veranschaulicht durch Purzelbaum schlagende 

Hauser, Zugzusammenstofie ereignen sich, wenn zwei Ziige aneinan- 

dergeraten und mit einem entschuldigenden Pardon sich wieder losen. 

Ein Asyl fiir Obdachlose in der Illustrierten Zeitung sieht aus wie ein 

Klub launig verkleideter Millionare. 

Der Hunger ist aus der Perspektive des Wohltatigkeitskomitees nach- 

empfunden und die Kalte aus der Erinnerung Reicher an einen Besuch 

bei ungeheizten Verwandten. 

Invalide Bettler simulieren Gebrest und Armut eigens fiir den Photo- 

graphen der allezeit fixen Illustrierten Zeitung. 

Die Welt ist ein lUustrationsobjekt. Das Jahr zahlt zweiundfiinfzig 

Nummern, ein Faschings-Doppelheft mit eingerechnet. 

Der liebe Leser auf dem Mars wundert sich nur iiber die humoristische 

Ecke, die in knappe zwanzig Zeilen den ganzen Jammer des Planeten 

fafit- 

Das Blaue Heft, 1.4. 1923 



DER FLIEGENDE BUCHHANDLER 

Intellektuelle an der Strafienecke - Botaniker und Philologen 

Der fliegende Buchhandler heifit so, weil er den ganzen Tag auf einem 
Fleck steht. Er steht an einer belebten StraEenecke, auf seinem Wagen 
tiirmen sich literarische Abfalle, Kehricht der Wissenschaft, von der 
Zeit und von Herrschaften abgelegte Buchbande, wahllos der Kitsch 
neben Ewigkeitswerten, die Dichter mit den Vornamen Hanns Heinz 
und Rudolf Hanns neben Gotthold Ephraim und Johann Wolfgang. 
Umweht von Wind und Zugluft und dem letzten Schimmer der ver- 
flossenen Buchhandlerromantik, immer noch Anziehungspunkt fiir 
bedachtig bebrillte altere Herren in braunen Pelerinen, steht der flie- 
gende Buchhandler, heute nicht mehr wie einst mit seinen Biichern 
verwachsen, sondern zufailig in seinen Beruf verirrt, nicht mehr selb- 
standiger Unternehmer, sondern Filialleiter eines Sortimenters, auf 
Prozente bedacht, nicht mehr Preise nach freier Laune bestimmend, 
sondern gebunden an das Diktat des Buchhandlers. 



974 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Oh, was war das fiir eine Zeit, in der ein Buchladen auf Radern sicht- 
bares Sinnbild bibliophiler Leidenschaft war, dem suchenden Kenner 
ungeahnte Schatze versprach und liisternes Kramen gestattete. Dann 
gelang dem geduldigen Sammler nach stundenlangem Wiihlen ein 
gliicklicher Griff, wie ein triumphierender Angler zog er den Fund 
heraus und hob ihn in die Hohe, ein Angler, der gleichsam selbst ange- 
bissen hat, und sein Hstiges Lacheln verriet, dafi der geforderte Preis 
eine Lacherlichkeit war und weit hinter dem Wert des Buches zuriick- 
blieb. Der Konjunktursinn unserer geschaftstiichtigen Zeit zog das 
psychologische Moment ins »Kalkul« und erfafite den Wert der Ro- 
mantik fiir den Gang und das Gedeihn des Geschafts. Heute liegen auf 
dem Biicherkarren die schwer verkauf lichen Bande des Buchladens 
und sind eher teurer als biUig. Daneben steht der fliegende Buchhand- 
ler und tragt, als ob er Hosenknopfe feilbote, eine dicke Uhrkette mit 
Elefantenzahn auf der Weste, das Abzeichen des kleinbiirgerlichen 
Materialismus. 

Allmahlich aber geht eine Wandlung im »fliegenden Buchhandel« vor, 
den meisten unbekannt und dem fliichtigen Passanten auch schwer be- 
merkbar. An verschiedenen Strafienecken des Berliner Westens stehen 
nicht mehr die Beauftragten der Sortimenter, sondern selhstdndige 
Buchhdndler, nicht mehr Manner mit Schnurrbart und Elefantenzah- 
nen an den Uhrketten, sondern schmachtige Gestalten in diinnen Rok- 
ken, Gesichter, von Geist und Hunger zu gleichen Teilen gezeichnet - 
Intellektuelle, die ihre eigenen Bibliotheken feilbieten und denen ge- 
nauso zumute sein mufi, als triigen sie ihre eigene Haut zu Markte. 
Studenten, Wissenschaftler, Schriftsteller gehen mit ihren Bibliotheken 
auf die StraCe. Fiir den kunftigen Historienschreiber mag die Tatsache 
festgehalten sein, dafi es eine Zeit gab in Deutschland, in der die geisti- 
gen Arbeiter ihr Handwerkszeug an den Strafienecken verkauften und 
sich tagelang miide stehen mufiten, von einem Bein aufs andere tre- 
tend, eine schmerzliche Leere im Magen und die kiimmerliche Hoff- 
nung im Herzen, dafi der oder jener Passant, der neugierig stehenblieb, 
einige Biicher aufzuschlagen, der langstersehnte Kaufer sei, Suppen- 
spender, Seelentroster, Daseinsverlangerer. 

Ach! Der war es nicht und jener auch nicht. Das kleine Madchen nicht, 
das stehenbheb und nach einer verbotenen Lektiire suchte mit schnup- 
perndem Naschen, und der modern gegiirtete Gent auch nicht, dessen 
pornographische Sehnsucht befriedigt werden sollte. Hier liegen Bii- 



1923 975 

cher, meine Zeitgenossen, deren Lektiire sich mit dem Studium des 
Kurszettels nicht vertragt, sorgfaltig nach einem System gesammelte 
Biicher, der gedruckte Ernst des Lebens, geistige Verkehrshindernisse! 
Um sie zu kaufen, miifite man die Veranlagung der Besitzer und Ver- 
kaufer haben. 

Mir sind zwei »Geistige« bekannt - ein Naturwissenschaftler, Botani- 
ker, und ein Philologe -, sie standen langer als eine Woche in einer 
Seitenstrafie des Kurfiirstendamms. Der hatte Werke iiber Staubfaden 
und Pollen ausgelegt und der andere tiefgriindige Forschungen iiber 
den attischen Dialekt. Und als Kaufer kamen in Betracht: geschnie- 
gelte Jiinglinge und flanierende Damen, trippelnde Seidenpinscher und 
alles menschliche und vierfiissige Luxusgetier der westlichen Gegen- 
den. Mit jener erstaunlichen Geschaftsuntiichtigkeit, die Botaniker 
und Philologen in Deutschland kennzeichnet, batten die beiden die- 
selbe Strafie gewahlt, sie standen sich an den zwei Ecken gegeniiber 
und verdoppelten ihr Leid; indem sie es teilten. Den Philologen frafi 
der Neid, wenn jemand sich dem Botaniker naherte und umgekehrt. 
Sie hatten auch Geschaftspausen - ihr ganzer Handel bestand aus Ge- 
schaftspausen, und da standen sie in der Strafienmitte und sprachen. 
Sie kamen Tag fiir Tag mit zwei Stiihlen und zwei Kisten und merk- 
wiirdiger Weise storte sie kein GesetzvoUzieher. 
Sie froren - der Philologe hatte blaue Lippen, der Botaniker Frostbeu- 
len -, aber eines Tages kam da ein Schwede, ein gottgesandter Schwede 
vorbei, strich von einem Wagen zum andern, bin und zurlick, sprach 
mit beiden, bot jedem eine halbe Million Mark und befreite sie von 
ihren Buchern und ihrer Miihsal. Wenn Botaniker und Philologen 
iiberhaupt verniinftig werden konnten, so wiirde ich hoffen, dafi die 
Leute mit ihrer Million einen gemeinsamen Handel mit Druckknopfen 
angefangen haben. 

Insofern die intellektuellen Buchhandler mit dem Ausland in Beriih- 
rung kommen, mag es ihnen gelingen, einige Biicher abzusetzen. Es ist 
moghch, dafi da und dort ein bekannter Schriftsteller steht und seine 
eigenen Werke zu verkaufen versucht und sich bei dieser Gelegenheit 
iiberzeugt, wie zwecklos es eigentlich ist, fiir die Menschheit Biicher 
zu schreiben. In der Stille seines Arbeitszimmers - wenn er iiberhaupt 
noch eine Miete aufbringen kann-, mag er sich ein gefalliges Bild von 
seinem »Ueben Leser« gemacht haben. An den Strafienecken aber tritt 
ihm der Mensch entgegen, wie er wirkhch ist, und der Autor kann sich 



<)■](> DAS JOURNALISTISCHE WERK 

iiberzeugen, daf? Perlen vor die Saue werfen noch lange nicht so 
schlimm ist wie Biicher fiir die Leser schreiben. 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 3.4. 1923 



PHILOSOPHIE DES SCHAUFENSTERS 



Das Schaufenster ist grofi und breit und von einer verschwenderi- 
schen Freigebigkeit, lockend, spendebereit und dennoch verschlossen. 
Hinter dem edlen, sacht gewolbten Scheibenglas breitete die verstan- 
dige Hand des Handlers die kostlichen Dinge aus, die in irdischen 
Paradiesen leben und wachsen: die zart-rosa getonten Schinken, ge- 
bettet in breite Rahmen aus weifSlichem Speck, die prallen Wiirste, 
den leuchtenden Lachs, die fetten Kase in kostbaren silberpapierenen 
Gewandern, die milchgefiillten Kokosniisse, kuriose Seltenheiten der 
Delikatessenwelt, die blutroten goldenen Orangen und die glanzen- 
den Tiroler Apfel, die wie tauschende Wachsimitationen der Natur 
aussehen . . . 

AUe diese Dinge sind mir, dem Betrachter, raumlich nahe, mein Blick 
greift nach ihnen, meine Netzhaut verzehrt sie, zehnmal, tausendmal, 
ich habe sozusagen ein Wiederkauerauge, Ich segne die Gnade des 
mit Recht biirgerlichen Strafgesetzbuches, das meinen hungrigen Au- 
gen wiederholte Sattigung erlaubt und Genufi aristokratischer Lek- 
kerbissen. Meine vollgefressenen Pupillen weiten sich, um den Rie- 
senumfang der Geniisse fassen zu konnen. 

Allein, je mehr meine Augen verschlingen - der Inhalt des Schaufen- 
sters verringert sich nicht um den Bruchteil einer Speckrinde, nicht 
um das Tausendstel einer Nufischale. Unversehrt und in ewiger 
Ganzheit bleiben Lachs und Schinken, Orangen und Kase. Und je 
ausgiebiger meine Netzhaut sich sattigt, desto verlangender werden 
Nase, Gaumen und Magen. Ach, daf^ doch das ewig Irdische die Seele 
des Menschen im himmUschen Geniefien hindert und brutal ideale 
Freuden des Betrachtens zerstort! Welch ein unbarmherziger Gott 
hat uns mit uberfliissigen inneren Organen ausgestattet! Wufite der 
AUwissende nicht, daf^ die Handler vor die Waren die Preise setzen? 



19^3 ^7l 

Und dafi die Menschheit eines Tages das kostbare Glas erfinden 

wurde, um daraus Schaufensterscheiben zu machen? 

Diinn und sprode ist eine glaserne Scheibe, und ein Faustschlag konnte 

sie zerschmettern. Dennoch lahmt sie taglich zehntausend gierige Fau- 

ste und verwahrt die Giiter, die man ihr anvertraut, besser als eine 

Mauer. Mein Auge schllirft den Blutsaft der Orangen, aber in meinem 

Hirn lebt gleichzeitig die Vorstellung von einem Kerkergitter. Und 

darin liegt eigentlich die unheimliche Macht eines zerbrechlichen Fen- 

sterglases. 

Denn zu den Materien, die diese Welt beherrschen, gehort das Glas, 

das die Menschen scheidet als solche, die vor^ und andere, die hinter 

den Fenstern leben. 

Wir konnen einander sehen, erkennen und griifien. Aber wir konnen 

nicht zu einander gelangen. Dem Blick ist die Beriihrung der kostbaren 

Dinge gestattet, den Handen ist sie verboten. 

Also sinnend, vergafi der Philosoph vor dem Schaufenster seinen Ap- 

petit und ging befriedigt von dannen . . . 

Josephus 
Vorwarts, 3.4. 1923 



VERGEBLICHE RUHRPROPAGANDA 



Uns Deutschen blieb es vorbehalten, das historisch erhartete Gesetz 
von der propagandistischen Wirksamkeit eines Opfers zu desavouie- 
ren. Jede religiose, politische, nationale Stromung gewinnt Anhang 
und Ausmaf^, sobald sie dem unbekannten Moloch, der die Geschicke 
der geistigen Bewegungen lenkt, ein Opfer dargebracht hat. Nur wir 
erwecken nicht einmai, wenn wir gekreuzigt werden, Mitleid. Der har- 
teste Siinder kann auf den Freispruch der Mitwelt hoffen, wenn er, 
vom Richter verurteilt, zu bluten anfangt. Wir aber bluten, und keine 
Hand riihrt sich, und kein Herz wird geriihrt. 

Das Ausland hat - wie man aus seinen Zeitungen sieht, von deutschen 
Reisenden hort - wichtigere Sorgen als die Besetzung des Ruhrgebiets 
- und das Ungliick Deutschlands bildet nicht den Mittelpunkt seiner 
Interessen. Der geringste Pogrom im fernsten Osten erweckt eher lei- 



9/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

denschaftliche Parteinahme in der zivilisierten Welt, als es eine unge- 
rechte Besetzung eines halben Deutschlands vermochte. Klingt ein 
deutscher Wehruf anders als ein georgischer, armenischer, jiidischer? 
Wirkt eine franzosische Roheit freundlicher als eine tiirkische, zaristi- 
sche, antisemitische? 

Die Welt ist taub. Aber grower noch als ihre Taubheit ist unsere Unfa- 
higkeit, uns horbar zu machen. Ich mochte hier nicht den billigen und 
beliebten - allerdings auch gerechten - Tadel wiederholen, dafi unsere 
Auslandspropaganda untalentiert und borniert ist. Die wirksamste Pro- 
paganda wiirden fiir uns die Franzosen besorgen, wenn wir sie nicht 
storten. 

Wir storen sie, indem wir auf jeden Angriff, jede Ungerechtigkeit, jeden 
Schmerz schablonenhaft reagieren. Wir haben ein System des Duldens 
und der Auflehnung, das wir immer wieder anwenden, eine Brigade von 
Schlagwortern, die wir immer wieder mobilisieren - auch wenn wir es 
erlebt haben, dafi jenes System und diese Brigade uns viele Verluste 
eingebracht haben. Wir haben KHschees fiir jede Lebenslage: fiir den 
Zorn, fiir die Emporung, fiir die Abwehr. Wir haben fiir jeden neuen 
Text die gleiche alte Melodic, die Welt kennt sie schon zum Uberdrufi 
und hort nicht mehr hin. Jedes historische, poHtische Ereignis erregt in 
uns wie ein Kommando eine ganz bestimmte exakte Bewegung. Wir 
haben Gemiitsexerzieren gelernt. 

Und die Welt, auf die wir angewiesen sind, ist die Welt der auslandi- 
schen Presse. Sie wird meist von Intellektuellen gemacht (das heifit fast 
mehr als beherrscht). Nichts ist dem Intellektuellen Amerikas und Eng- 
lands widerlicher als der Hakenkreuzler, der Kniippelkunze, der hoch- 
miitige Monokeltrager. Und der Gedankengang des Intellektuellen ist 
ungefahr der: Deutschland leidet? Aber in einer »Einheitsfront«! In 
einer Front mit Helfferich! Es gebraucht dieselben Phrasen wie 19 14. Es 
rasselt. Es bereitet Pogrome auf Juden von Ich habe kein Mitleid mit 
Deutschland. 

Weshalb wundern wir uns eigentlich? In unserm Lande wird die Gei- 
stigkeit totgeschlagen, und die Geistigkeit anderer Lander soUte sich fiir 
uns einsetzen? Es gibt so etwas wie eine Internationale der Intellektuel- 
len - es ist keine Organisation, sondern mehr: ein unsichtbares Biindnis. 
Und wir brauchen diese Internationale. Und wir schmahen sie. 



1923 ^7^ 

Deshalb erinnern diese Tage so stark an jene der grofSen Zeit. Nicht 
nur uns Sehende im Lande, sondern auch die ganze neutrale Welt. Auf 
den Ruhreinmarsch der Franzosen 1923 antworteten wir mit der Geste 
von 19 14. Wir hatten nichts Eiligeres zu tun, als aus der alten Riist- 
kammer der nationalen Phrasen den pathetischen und verlogenen Be- 
griff »Einheitsfront« hervorzuholen. Ohne » Front « geht es nicht 
mehr. Von all den Opfern, die der Ruhreinmarsch erfordert, von den 
Arbeitern, Angestellten und Beamten, erfreut sich bei uns des grofSten 
Ansehens und des propagandastarksten Mitleids ausgerechnet der In- 
dustrielle, den die Welt nicht liebt und der deshalb - nicht well sein 
Opfer das geringere ist - ein untaugliches Propaganda-Ob jekt darstellt. 
Aber die Welt krankt nicht an jener Sentimentalitat, die den Deutschen 
ergreift, wenn er einen Angehorigen der »besseren Stande« leiden 
sieht. Sie liest in unsern Zeitungen den dreispaltig aufgemachten 
Schmerz Thyssens und das in einer Notiz mehr verheimlichte als ver- 
offentlichte Weh des kleinen Mannes. Die Welt hort vor allem das 
Wort »Einheitsfront« - und das Echo wiederholt: »Front«. Sie sieht 
nicht die schwarzrotgoldene Fahne als das Symbol der neuen deut- 
schen Republik, sondern die schwarzweifirote und das Hakenkreuz. 

Die Glocke, 3.4. 1923 



ZOO IM FRUHLING 



Den lieben Menschen zum Wohlgefallen hat man den Zoo wiederer- 

offnet und das intime Familienleben der Tiere enthiillt: 

Der Wolf lauft rasend das Gitter entlang, auf und ab, verzweifelt, dafi 

er kein Stiickchen Brot hat, um es den hungrigen Leuten zuzuwerfen, 

die ihn besichtigen. 

Der Bar, ein gemiitlicher Mensch mit schwarzpolierten Fingern'ageln, 

sitzt in Bitte-recht-freundUch-Pose da. Er halt den Kafig fiir ein pho- 

tographisches Atelier. 

Ein raudiges Kamel lauft vorderhand in blamablem Neglige herum - es 

hat seine Garderobe zum Friihjahrsschneider gegeben. Es tragt seinen 

Buckel mit hochwichtigem Ernst, sieht die Leute an, denkt ein wenig 

nach und sagt: langweiliges Leben . . . 



980 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Der Bison hat eine Schnauze wie ein Wachtmeister. Manchmal roUt er 

ein blutunterlaufenes Auge nach rechts, wo ein weifigekleideter Knabe 

steht, Der Bison mochte ein bifichen Kinder zerfleischen. Die Beutel- 

tiere haben immer noch Behalter fiir Nachkommenschaft bereit, ob- 

woHl sie eigentiich wissen miifSten, dafi man heutzutage etwas auf Kin- 

derheime und dergleichen gibt, Sie verlassen sich nicht auf die soziale 

Fiirsorge. 

Sie sind sehr lustig, die Beuteitiere. Sie hiipfen auf den Hinterbeinen 

und gebrauchen den Schwanz wie einen Spazierstock, der an der riick- 

wartigen Hosennaht befestigt ist. Ihre Vorderpfotchen fiihren sie von 

Zeit zu Zeit zum Munde, um sich die Nagel zu manikiiren. 

Der Straufi hat nicht so schone Federn wie jene Dame, der ich beim 

Eingang begegnet bin. Ich bin enttauscht, Herr Straufi! . . . 

Der Schwan ist soeben aus der Lohengrin-Vorstellung gekommen, er 

schwimmt leicht im Teich umher, gllicklich, dafi er den Tenor losge- 

worden ist. 

Der Oberlehrer hat ein Geiergesicht. Er stelzt hier studienhalber 

herum. Sein Fach ist Naturlehre. 

Ein Menschenpaar im mittleren Lebensaher hat sich auf einer Bank 

niedergelassen. Es tragt sdne Jungen nicht in Beuteln, sondern lafit sie 

mit Kieselsteinen nach den Adlern zielen. 

Gouvernantenpapageien fiihren kleine Saugetiere in weifilackierten 

Kinderwagen spazieren. 

Eine Ameisenbarfamilie mit Uhrketten, Spazierstocken, Regenschir- 

men begibt sich ins Kaffeehaus - im Voligefuhl ihrer durch den zoolo- 

gischen Besuch erhebHch gesteigerten Menschenwiirde. 

Ein Habicht mit griinem Pluschhutchen, kariertem Kragen und sonsti- 

gem Pohzeiagenten-Zivilfell spaht nach Beutemenschen . . . 

Der Mensch ist gut . . . 

Vorwarts, 7. 4. 1923 



IN DER BOXERAKADEMIE 

Die grofien Meister der Boxkunst trainieren am Nachmittag in der 

Boxakademie in Schoneberg. 

Gestern machten sie vor Sportsfreunden kleine Kraftproben, und ich 

ging in die Boxerschule zusehen. 

Ich sah zwei gekreuzte Degen hoch an der Wand, von einer Studenten- 

kappe am Kreuzungspunkt verdeckt und versohnlich verbunden. Da- 

neben hangen eine alte Fechterausriistung, eine Maske und grofie 

Handschuhe und sonst noch manche von den Requisiten, die merk- 

wiirdige Kompromisse darstellen zwischen der menschlichen Mord- 

lust und der menschlichen Furchtsamkeit. 

So ist von der Wand her gleichsam der historische Zusammenhang her- 

gestellt zwischen Vei^angenheit und Gegenwart, ein unsichtbares 

Band getreuer Tradition schUngt sich von den Stricken der Arena hin 

zu jenen gekreuzten Degen. 

Im iibrigen ist, von dem Historischen abgesehen, Gewicht, sozusagen 

Schwergewicht gelegt auf die Triumphe moderner Technik, 

Man sieht also zum Beispiel ein Zweiradj das fix und ewig im Boden 

wurzelt und mit Schraubenfasern aus dem Dielenbrett wachst. Es ist 

ein lustiges Zweirad, es bewegt sich nicht, man kann auf ihm tausend 

Meilen gewissermafien zusitzen, unermiidUch die Pedale drehen und in 

einer Stunde fiinfhundert Kilometer Fufimuskelertuchtigung gewin- 

nen. 

Indes schweift ungehindert iiber Land und Meer die Phantasie. 

Oder: Ein grofSes Lederkissen an einem Strick. Es fingiert einen Geg- 

ner. 

Es empfangt unerhorte Hiebe und wehrt sich nicht dank Jener dicklei- 

bigen Unempfindlichkeit, die nur ein Kissen aufzubringen vermag. 

Der Boxer, der es ziichtigt, schwitzt bereits, das Kissen hat die be- 

riihmtesten Gegner personifiziert, die weifien und auch die schwarzen. 

Sie sind alle geschlagen - und immer noch pendelt es, bald lebhaft und 

bald schwacher, getreu dem Rhythmus der Jewells empfangenen Lei- 

denschaft. 

Wenn der Boxer genug hat und das bedauernswerte Kissen einem Kol- 

legen mit frischeren Kraften iiberlafit, kommt eine Art Ruhelager in 

Funktion, auf dem nicht geruht wird. 



982 IN DER BOXERAKADEMIE 

Es sieht wie ein Sofa aus, und ich stelle mir vor, dafi ich - lage ich 

darauf- in einen genufireichen Schlaf verfallen konnte. Der Boxer aber 

hat sich nkht zu solch torichten Zwecken hingelegt: Kaum liegt sein 

Korper, und schon atmet er aus tiefsten Brusttiefen. Er zieht die Luft 

ein wie einen fasten Gegenstand, er macht sich freiwiHig das Atmen 

2ur Quai und verbittert sich das Leben, indem er den Oberkorper auf- 

und niederschwingt und mit hocherhobenen Armen Beschworungsbo- 

gen durch die Luft zeichnet. 

Indessen trat sein KoUege in die Arena. Der steUt sich vor den Spiegel 

und fangt an, fiirchteHich gegen sich selbst zu Felde zu ziehen. Es ist, 

als wenn zwei Seelen in einer Brust ihren Boxkampf nach aufien proji- 

ziert hatten. Uber diesem Einkampf steht das Motto: Sich selbst besie- 

gen ist der schonste Sieg. 

Dieser Sieg gelingt hier zum ersten Male in der ganzen Weltgeschichte, 

und es ist schon, wie Sieger und Besiegter gleichzeitig und in einer 

Person vereinigt abtreten. Hier ist die Niederlage ad absurdum gefiihrt 

und der Sieg eine Farce. Der Sieger, der sich kronen wollte und nach 

Verdienst, kann's nicht, weil er ein Geschlagener ist . . . 

Andere Boxer aber treten zu zweit auf, und es wird eine richtige 

Probe, mit Schadelgedrohn und Rippengekrach. »Kontern« und 

»krossen« nennt man so was. Alle Boxer sind iibrigens sehr personli- 

che Naturen und nehmen einander gar nichts iibel. Zwischen Blut und 

Herzstocken glanzt noch die Bewunderung des Geschlagenen fiir den 

Gegner und riihrende Dankbarkeit fiir einen Nasenstiiber. Weiter geht 

die christliche Nachstenliebe nicht. 

An den Wanden der Schule sind Kranze zu sehen, mittels goldener 

Lettern dem Sieger geweiht. Wer widersteht ihnen? Rote Farbenfanfa- 

ren rufen sie zum frohlichen Sieg im Turnier. 

Hinter mir sagt ein Sportsfreund: »Gott, wie der landet!« 

Und ich dachte, er ware gescheitert . . . 

Frankfurter Zeitung, 6. 4. 1923 



POLIZEIBERICHT 



Vor ein paar Tagen starb Im Wartesaal vierter Klasse des Schlesischen 
Bahnhofes der zweiundvierzig Jahre alte ukrainische Bauer Oleksa So- 
lonenko. Ein Paket Briefe aus der Heimat, einen Pafi mit zweiunddrei- 
fiig Sichtvermerken und Stempeln und eine Halskette aus amerikani- 
schem Doublegold fand bei ihin die Polizei, Aus den Papieren des To- 
ten - so berichtete sie - gehe hervor, dafi Oleksa Solonenko nach zwei- 
undzwanzigjahrigem Aufenthalt in Brasilien in seine ukrainische Hei- 
mat, nach Ostgalizien, zuriickkehren wollte. 
Dieser Bericht ist aber unvoUkommen. Ich mochte ihn erganzen. 

Oleksa Solonenkos Dorf ist eine Straf5e mit sechsundsiebzig Hiitten 
und einer Dorfkapelle, die wie ein Spielzeug aus der Knabenzeit eines 
Heiligen aussieht. Hinter dem Walde allerdings blinkt das Schlofi wie 
ein Punkt, den der liebe Gott mit echter, weifier Sonnentinte hinge- 
tupft hat, nachdem er die beiden Hauserzeilen des Dorfes fertigge- 
schrieben hatte. Im Schlofi wohnt der polnische Graf und in einer der 
sechsundsiebzig Hiitten Oleksa Solonenko. In Oleksas Hiitte leben 
zwei Schweine, ein Grof^vater, eine graugesprenkelte schwarze Katze, 
Frau Katharina und zwei Kinder, Nikita und Jossip. Oleksa Solo- 
nenko ist erst zwanzig Monate verheiratet. 

Oleksa hat fiinf Morgen mit Weizen, Mais, Riiben und Klee. Den Wei- 
zen tragt er zur Miihle, die Maiskolben hangt er iiber den Winter am 
Dachrand seiner Hiitte auf. Dann sieht das Dach aus wie eine grofie, 
kantige Narrenkappe aus Stroh mit vielen Kukuruztroddeln. Von den 
Riiben nahren sich die Schweine, der Grofivater und die Kinder. Und 
den Klee verkauft Oleksa an den Wirtshausjuden. 
Oleksa ist ein bescheidener Mensch: Wenn der Inspektor mit blanken 
Spiegelstiefeln voriiberzieht, halt Oleksa den Hut in der Hand; wenn 
ein Gendameriewachtmeister vorbeirasselt, halt Oleksa den Hut in der 
Hand; wenn der Graf trab, trab durch die Felder reitet, halt Oleksa 
den Hut in der Hand, so lange, bis Ro8 und Reiter nur noch wie ein 
grofie, schwarze Hummel am Horizontrand kleben. 
Manchmal hat der Graf den verbliiffenden Einfall umzukehren. Halt 
Oleksa nicht immer noch den Hut in der Hand, heult des Grafen 
Rohrstabchen durch die Luft und trifft Oleksas Backe. 



984 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Gefallt dem Graf en Oleksas Schwein, so wird es fiir die Schlofikiiche 

geschlachtet. 

Gefallt dem Grafen Oleksas Schwein aber nicht, so gefallt ihm Oleksas 

Frau. 

Und aufierdem mufi Oleksa jahrlich soundsoviel Weizen an das polni- 

sche Schlofi liefern. Dafiir bekommt er eine Quittung. Die darf er sich 

aufheben. Der Agent von der amerikanischen Gesellschaft hat rote 

Haare und ein gesprenkeltes Gesicht. Er sieht aus, als hatte der Him- 

mel auf ihn Sommersprossen regnen lassen. Der Agent spricht mit 

Oleksa Solonenko. Oleksa beschliefit, nach »BransoUa« auszuwan- 

dern. Die Schiffskarte gilt nach Pernambuco, Brasilien. 

In Brasilien trifft Oleksa auf Nikita Kolohin, Iwan Lafzcuk und Panta- 
lemon Petriw. Sie arbeiten bei einem Plantagenbesitzer, der »Sennor« 
heifit. Sie bauen Mais und Weizen, und die Maiskolben hangen nicht 
an den Dachrandern wie Troddeln, sondern an Stangengeriisten. Sonst 
sind keine Anderungen zu bemerken. AUe, die hier arbeiten, sind 
ukrainische Bauern. Sie haben eine griechische Kirche wie daheim. 
Oleksa ist ein bescheidener Mensch: Wenn der Schreiber vom Amt 
voriibergeht, halt Oleksa den Hut in der Hand; wenn der Hausverwal- 
ter mit breitem Strohhut, lang und diinn wie ein lebendig gewordener 
Regenschirm, den Weg beschattet, halt Oleksa den Hut in der Hand; 
wenn der Aufseher zu schimpfen beginnt und Fluchdampf prustet, 
halt Oleksa den Hut in der Hand; wenn der Sennor trab, trab durch 
die Felder reitet, halt Oleksa den Hut in der Hand, so lange, bis Rof5 
und Reiter nur noch wie eine grofie, schwarze Hummel am Horizont- 
rand kleben. 

Funfzehn Jahre lebt Oleksa in Brasihen. Brief e nach Hause schreibt 
Pantalemon Petriw, der etwas gelernt hat. In den Brief en steht, dafi 
Katharina die Schweine pflegen soil und die Jungen priigeln. Er, 
Oleksa, wiirde bald nach Hause kommen und ihnen schon zeigen. 
Darauf erwidert Katharina: Ein Schwein ist bereits erstickt, die Kinder 
wachsen, der Grofivater lebt hochstens noch zwei Wochen, und 
Nastja, die Tochter des Schusters, hat ein Kind vom Grafen bekom- 
men und ist in die Stadt gegangen, als Amme. 

Diesen Brief liest Pantalemon Petriw, der etwas gelernt hat, dem 
Oleksa siebzehnmal vor, und dann kann Oleksa Wort fiir Wort den 
ganzen Brief auswendig. 



1923 9^ 

Um sich zu iiberzeugen, dafi dem wirklich so sei, lafit sich Oleksa den 
Brief noch einmai vorlesen. 

Dann bekam Oleksa keine Briefe mehr, und die Zeitungen schrieben, 
es sei Krieg, 

Nach fiinf Jahren erzahlt der Verwalter, daf5 zwar der Krieg aufgehort, 
aber die Revolution begonnen habe. Die Bauern hatten das Land auf- 
geteilt, und die polnischen Grafen waren futsch. 
Da bekam Oleksa Sehnsucht nach Katharina, dem Schwein und den 
Buben. Er woUte wissen, ob wenigstens einer von ihnen im Kriege 
Gefreiter geworden. 

Am Abend desselbigen Tages kommt Pantalemon Petriw mit einer 
Mundharmonika daher und blast eine alte Kolomeika. 
Also packt Oleksa Solonenko seine Ersparnisse - achthundertsechs- 
undvierzig Dollar - zusammen und klettert in Pernambuco aus dem 
Zug. 

Wenn ich nach Hause komme, denkt Oleksa, ziehe ich in des polni- 
schen Grafen Schlofi und rede portugiesisch: »No, Sennor«, werde ich 
sagen. 

Damit die Leute sofort wissen, daf5 ich Portugiesisch spreche, kaufe 
ich mir einen neuen Anzug. 

An eine silberne Kette mit Herzanhangsel heftet er eine riesige Zwie- 
beluhr, die so laut hammert wie ein fleifiiger Dachdeckergehilfe. 
In die Unke obere Rocktasche schiebt Oleksa ein schones rotes Ta- 
schentuch mit dem amerikanischen Sternenbanner in der Mitte. 

In Berlin mufi Oleksa Solonenko sich nach einem Pafi visum umsehen. 

Er steht zwei Tage vor fiinf Amtern, dann zwei Stunden vor einem 

Herrn, der genauso aussieht wie der polnische Graf. 

Dann kann er weiterfahren; vom Schlesischen Bahnhof aus. 

Wer weil$, ob man ihn dort wird fahren lassen, denkt Oleksa. 

Sein Zug geht erst in fiinfeinhalb Stunden. Also kann er noch einen Tee 

trinken. 

Wahrend er den Tee schliirft, hort er plotzlich Pantalemon Petriw die 

Kolomeika spielen. Und er sieht ein totes Schwein. Und sein Sohn ist 

wirklich Gefreiter. Und der Graf reitet durch die Felder und hat den 

verbliiffenden Einfall umzukehren. Oleksa hat aber den Hut nicht ab- 

genommen, weil er ja soeben aus »Bransoha« gekommen ist. 

Davon wird dem Oleksa so zum Sterben heif^, dafS er stirbt. 



986 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Er steht im Himmel, und der Himmel ist eigentlich em riesiges blaues 

Taschentuch mit einem amerikanischen Sternenbanner. Und die Sterne 

sind aus rotem Dubleegold. 

Da nimmt Oleksa den Hut ab und halt ihn in der Hand. 

»Warum haltst du so den Hut in der Hand?« fragt ihn der liebe Gott. 

»Lieber Gott«, sagt Oleksa, »vielleicht reitet der Herr Graf vor- 

iiber. . .« 

Vorwarts, 11. 4. 1923 



SCHAFFRANIT2 



Wie stand er da, verirrt in diese Zeit, ein Gast im geordneten Betnebe 
der Gegenwart, hilflos und fremd in dem niichternen Gleichmafi unse- 
rer Tage, die das Abenteuer nicht kennen und deren Auf und Ab gere- 
gelt ist wie der Pendelschlag der Uhren. Schaffranitz ist sein Name, 
vom Schicksal fiir den Mann ausgesucht, ein komischer, ein trauriger 
Klang, ein Name, den das Leben erdichtet. 

Schaffranitz stand vor den modernen Richtern, die unter den Talaren 
Westen, Kragenknopfe und Krawatten tragen, das Biirgerliche unter 
dem feierlichen Berufsgewand, und denen das Schicksal, in das sie ein- 
zugreifen hatten, sehr fremd, sehr unbekannt vorkam. Dennoch mufS 
Schaffranitz' Leben wohl an ir^endein Unbewufites, Unterbewufites in 
den Richtern geriihrt haben, wie die Melodic eines Volksliedes, und sei 
es auch vom billigen Leierkasten an die Welt gebracht, an irgendeine 
Stelle unserer geregelten Seele riihrt und, sie verstehend, das Unver- 
standliche lafit. 

So kam es, dafi Schaffranitz, der zu sieben Jahren verurteilt war, dank 
einer neuen Verhandlung nur ein Jahr und einen Monat bekam. Es war 
nicht moghch, eine Schuld im Leben dieses Menschen (Schuld im 
Sinne der Siindigkeit) zu finden, in diesem Leben, das in seinem gan- 
zen Verlauf eine unaufhorliche Siihne war und sein wird, wenn Schaf- 
franitz wieder aus dem Gefangnis herauskommt. 
Es begann bei Schaffranitz mit der Fahnenflucht. »Fahnenflucht!« Es 
ist ein pathetisches Wort aus der Riistkammer unserer Kriegsbegriffe, 
um eine kleine, aber maEgebende Nuance falscht dieses Wort den Tat- 



1923 9^7 

bestand, den es ausdriicken soil. Fahnenflucht ist nicht ein Verbrechen 
an sich, sondern in ihrer Bedeutung und in ihrem Umfang abhangig 
von der Personlichkeit, die sie begeht. Immer bestimmt die Starke des 
Menschen die Starke seiner Tat. Schaffranitz aber, der kleine August 
Schaffranitz, ware kein Held geworden - selbst wenn es ihm gelungen 
ware, eine feindliche Festung zu erobern. Und er ist ebenso kein »Fah- 
nenfluchtiger«, wenn er sich mitten im Krieg aus dem Staube machte. 
Wozu das grofie Wort: Auch zur Fahnenflucht gehort ein starkerer 
Mensch als Schaffranitz. Von ihm aber kann man hochstens sagen: Er 
hat den Weltkrieg geschwanzt . . . 

Es war keine »Vaterlandslosigkeit«, keine »antinationale Tat« und kein 
»Verrat«. Es geschah einfach mit Schaffranitz. Es ist ein Gesetz seines 
Lebens, dafi er die Ordnung nicht einhalten kann, dafi er nicht festsit- 
zen darf im Gefiige einer Gesellschaft, eines Regiments, einer Kompa- 
nie. Wie soUte auch Schaffranitz, der es in einer Stadt nicht aushalten 
kann, bleiben konnen im langweiligen »Abschnitt«, mit den wohlbe- 
kannten Drahtverhauen und Schutzwallen, mit denselben Kameraden 
und dem ewigen Feind vor den Augen? Der Krieg war keine Angele- 
genheit fiir Abenteurer, es war ein biirgerlicher Krieg, er erforderte 
Sefihaftigkeit. So verliefi Schaffranitz eines Tages den Krieg um des 
Abenteuers willen. 

In einer Stadt kauft er ein kleines Kinotheater. Nicht etwa einen Le- 
bensmittelladen, wozu das Geld wohl gar nicht gereicht hatte, sondern 
ein Kino. Da kann man sich selbst und die Welt amiisieren und auf der 
Leinwand Geschichten sehen, die man selbst zu erleben im Augenblick 
leider nicht imstande ist. Es gibt Tausende Kinobesitzer in der Welt, 
sie sind biirgerlich, als batten sie einen Kramladen, sie heiraten und 
vermehren ihren Besitz und handeln mit Amusement wie andere Men- 
schen mit Kase. Schaffranitz aber heiratet auch - eine Tanzerin nam- 
Uch, verfiihrt von seinen eigenen Kinodramen. Und diese Tanzerin be- 
triigt den guten Schaffranitz und verlafit ihn, um die gesetzmai^ige 
Abenteuerlichkeit im Leben des Unsteten vollenden zu helfen. Schaff- 
ranitz hat nicht nur ein Kinotheater erworben, sondern auch ein Kino- 
schicksal, er verUert sein Theater, und er wird, was er werden mufi: 
»dummer August« in einem Wanderzirkus. 

Es werden nicht die besten Witze gewesen sein, die Schaffranitz als 
dummer August erffnden muf^te. Er konnte jedenfalls von den Witzen 
nicht leben. Er mufS einen Nebenerwerb suchen. Und da das Geschaft 



^^S DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

bei ihm immer in irgerideiner Verbindung mit der Liebe stehen mufi, 
verfiihrt er ein junges Madchen zur Liebe, zur Flucht und zum Dieb- 
stahl und beginnt ein neues Leben. 

Die Schaffranitze dieser Welt konnen kein neues Leben beginnen. Im- 
mer pfuscht ihnen das alte in das neue Beginnen hinein. Und Schaffra- 
nitz - ehrlich von Natur und nur vom Geschick zum Gaunertum ge- 
zwungen - schickt das Madchen ins Elternhaus zuriick, er macht sei- 
nen Diebstahl wieder gut, erstattet das Geraubte wieder. Merkwiirdig 
nun, dafi ihn deshalb die Behorden verfolgen. 

So, arm und nicht verantwortlich fiir das, was er verbrochen, stand 
Schaffranitz vor den Richtern. Irgendeine Macht verbrach unaufhor- 
lich fiir ihn, er selbst ist unschuldig. Infolgedessen hatte er es auch 
nicht-notig, sich zu verteidigen. Er mufite nur erzahlen. 
Schaffranitz bekam nicht sieben Jahre, sondern nur ein Jahr. Was fangt 
er an, wenn er wieder aus der Zelle kommt? Oder: Was fangt es mit 
ihm an? Das Leben, die unheimliche Macht, die bis jetzt seine Verge- 
hen beging? Was macht Schaffranitz in dieser Welt, in der die Normal- 
uhren die Zeit angeben, piinktUch und gewissenhaft, in der die Gren- 
zen die Geographie ausmachen und der Pafi erst die Freiziigigkeit? 
Schaffranitz miifite zuruckversetzt werden in jenes verschollene Jahr- 
hundert, aus dem er gekommen ist. In das Jahrhundert des SimpHzius 
SimpUzissimus, in dem der Schalk und der Ungliickliche, der Heimat- 
iose und der Irre zu Hause und beheimatet sind. 

Berliner Borsen-Courier, 15.4. 1923 



DER FRUHLINGSZIRKUS 



Am Rande der Allee, wo die Stadt anfangt, locherig zu werden, und 
die Hauserzeilen Zahnliicken bekommen, ist iiber Nacht auf bretter- 
umsaumtem Platz ein Wanderzirkus sefihaft geworden. Der Inhaber 
heifit »Busch«, ohne mit dem grof^en Zirkus Busch verwandt zu sein, 
der, langst schon biirgerlich geworden, die Romantik eingetauscht hat 
gegen Kapital und gesellschaftlichen Rang. Rudolf Busch dagegen, der 
Besitzer des Wanderzirkus, ist ein kleiner Busch, ein Busch immerhin, 
Meilensteine stehen auf seinem Weg, sein Leben ist Landstrafie. Der 



1923 9^ 

Wanderzirkus ist ein Erbstiick, nun schon im Besitz der dritten Gene- 
ration. Die Familie der kleinen Buschs wandert also seit drei Genera- 
tionen, hat Wiegen und Grabsteine an vielen Orten Europas stehen 
und die Erde zur Heimat und den hauslichen Herd in einem Waggon. 
Was ist ein grofSstadtischer, aus soliden Ziegelsteinen gebauter Zirkus 
dagegen? 

Des Tags ist der Bretterzaun um den Friihlingszirkus mil Kinderlei- 
bern bewachsen. Grofie, kleine, blonde, braune Kinder kleben zap- 
pelnd an den Bretterwanden wie Insekten auf Fliegenleim und konnen 
nicht los. Der Eingang ist mit Brettern queriiber verlegt. Eine kleine 
riickwartige Pforte vermittelt zwischen Berlin und dem Wanderzirkus. 
Denn der ist eine Welt fiir sich. Eine Art reisender Vatikan. Ich glaube, 
innerhalb dieses Hofes herrschen auch eigene Gesetze, und Herr 
Busch senior ist Herr iiber Leben und Tod seiner Akrobaten, Auguste, 
Lakaien und Pferde. 

Die kleine Pforte steht nicht eine Welle still. Kinder tragen Wasserei- 
mer bin und zuriick, fiir die Pferde und um bei der Abendvorstellung 
»ganz umsonst« dabeisein zu konnen. Zweimal gekuppelt, spannt sich 
graue Zeltleinwand iiber dem Zirkus. Links ist der Wohnwagen^ die 
Tiir ist offen, Duft fremder Hauslichkeit dringt heraus, ein Zipfel Fa- 
milienintimitat flattert in die Offentiichkeit. Riickwarts die Stallungen; 
Pferdewiehern, Hufescharren, Kettenrasseln und scharfer, satter Ge- 
ruch von Riemenzeug und Juchten. Trockene Wasche weht leichtsin- 
nig auf ausgespannter Schnur, und ein Hund unbestimmter Rasse sam- 
melt sich seinen Pelz voll Sonne. Es ist eine Lust zu leben! 
Um sechs Uhr abends entfernen zwei Manner den Brettervorschlag 
vor dem Eingang, und das Schiebefenster des Kassawagens rutscht nie- 
der. Es ist, wie wenn ein Ventil an einem Kessel geoffnet worden ware: 
Eine Wolke von Kindern stromt in den Hof. Oh, hatte man doch nur 
ein paar Mark! 

Die Preise sind billig, wie es sich fiir einen echten Wanderzirkus ge- 
hort. Fiir siebzig Mark kann man schon in einer Loge sitzen, einer 
echten viereckigen Loge mit Samtrandern, roten und vornehmen, an 
denen die Pferde greifbar nahe voriibersprengen. Reservierte Platze 
heifSen einzelne Stiihle aus Holz; und die Platze, die Platze schlecht- 
hin, sind eben Banke, einfache Banke. Und riickwarts ist noch Steh- 
parterre fiir jene, die nicht viel Geld haben. 
Sie stehen seit sieben Uhr abends mit der Ausdauer, die naive Gemiiter 



990 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

aufbringen, wenn Grofiartiges zu erwarten ist, Stehen da und klat- 
schen, indes oben die Musik Geigen stimmt und Bratschen prusten. 
Man sitzt in Manteln. Die Musik sitzt oben in Manteln, denn es ist 
kalt. Heu ist auf dem Boden genug, aber es warmt nicht. Das er- 
wachsene Publikum besteht aus sehr vielen »Reservierten«. Was dar- 
unter ist, sitzt riickwarts, und »darunter« sind: Taglohner mit Frau 
und Kind, Markthelfer und kleine Arbeitermadchen aus der Fabrik. 
Nur jene, die sich liebhaben, die Parchen, sitzen in den Logen fiir 
siebzig Mark, in den Logen mit den samtenen Armbriistungen. 
Wenn man liebt, ist man freigebig und leichtsinnig und will Abge- 
sondertheit und Alleinsein um jeden Preis, und deshalb sitzt man in 
der Loge. 

Da es um acht Uhr anfangen soil, klatscht man schon dreiviertel 
acht in die Hande, vor Schaulust und Kalte. Der Direktor hat, wie 
er sagt, eine goldene Taschenuhr, er behauptet auf Grund dessen, es 
sei erst dreiviertel - »was wollt ihr also?« - und die Musik spielt 
einen Marsch zur Beruhigung, Bis Punkt acht Uhr irgendwo im 
Hintergrund eine Glocke hell hineinfallt in Geigenton und Fliigel- 
horn und der Mann mit dem zahmen Biiffel kommt. 
DrauCen poltert der elektrische Motor, der die Beleuchtung her- 
stellt, und zwei rote, grofie Bogenlampen schaukeln wie seltsame, 
iibersinnliche Glasfriichte im Winde. Und Besitzlose stehen und 
warten auf die Pause, wahrend der man vielleicht doch unbemerkt 
und kartenlos hineinkommen wird. 
Gott steht ihnen bei . . . 

Frankfuner Zeitung, 15.4. 1923 



SORGEN DES KURFURSTENDAMMS 



Der Kurfiirstendamm hat auch seine Sorgen - es ist nicht zu leug- 

nen. 

Ich bin dank einem gnadigen Schicksal in jener Konditorei, die wie 

eine Bonbonniere aussieht - mit Goldzierrat und Stukkatur und der 

siifien Ornamentik aus Marmor mit Schlagsahne. 

Rings an den kleinen Tischen sitzt, in runde Kampfgruppen ge- 



1923 991 

trennt, die ganze Einheitsfront des westlichen Biirgertums, loffelbe- 
wehrt und siegreich im Krieg gegen Schokoladeneis, das auf dem 
schliipfrigen Schlachtfeld aus Porzellan strategische Riickziige voll- 
fiihrt. 

Man sieht: Gattinnen mit Perlenbesatz; Schwiegertochter in mittlerem 
Alter, den Ansatz verraterischen Doppelkinns durch gestreckte Kopf- 
haltung bekampfend; Manner mit Haarausfall infolge Dividendenstu- 
diums; angehende Schwiegersohne (d.h. Schwiegersohne, die es ange- 
hen), auf Taille genaht, die Silhouette des modernen Mannes wahrend, 
oben breit, unten schmal, eine umgekehrte Pyramide; die jungen 
Tochter, Zielfiguren der trefflichen Schiitzen, heute noch in duftigem 
Kleidchen, morgen schon jene Gewichtigkeit andeutend, zu der die 
Mitgift verpflichtet; ferner befreundete Junggesellen, die beharrlich auf 
die Sicherung eines behaglichen fremden Heimes hinarbeiten mit ga- 
rantiertem Suppen- und Liebesgenufi; und hier und dort auch eine 
feine Gouvernante, als Stiitze der Hausfrau attachiert und erbar- 
mungslos der ganzen Gutherzigkeit der Gesellschaft ausgeliefert. 
Diese Menschen haben auch ihre Sorgen - es ist nicht zu leugnen. 
Da ist zum Beispiel der kleine Dagobert, zu Hause gelassener Sprofi 
jenes Mannes, der mit gespitzten Fingern iiber die Glatze streicht und 
dabei gahnt. Wahrend des Gahnens erinnert er sich, dafi man die Hand 
vor den Mund halten soil - aber dann ist es schon zu spat. 
Dieser Dagobert - hore ich-, zu Hause »Dago« gerufen, ifit partout 
keine Hiilsenfriichte. Er hat was gegen Hiilsenfriichte, der kleine 
Dago. 

»Meiner Lucy schiitte ich zwei Eier in die Schokolade - so merkt sie's 
nicht !« - sagt eine Dame mit blonden Lockenornamenten. 
»Mein Madchen geht jeden Nachmittag mit den Kindern spazieren«, 
auf^ert eine Mutter mit nackten Armen, 

»Man muf^ sehr achtgeben auf diese Madchen - haben Sie jetzt ein 
gutes, meine Beste?« 

Ich erfahre unter anderem, dafi die Frau Griinberg zu Lahmann nach 
Dresden gefahren ist. Sie hatte »Summen im Kopf«, die Arme. (Oh, 
was fiir eine prachtvoUe Ironie der Sprache, die fiir den Besitz dasselbe 
Wort hat wie fiir das Leiden.) 

Der Mann der Frau Griinberg hat sie begleitet. Nun spricht er jeden 
Tag mit BeHin, der Arme, mit der Borse, um Summen gegen das Sum- 
men zu verdienen. 



992 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Auch die kleine Frau in Griin aspiriert auf Lahmann, drei Wochen 
wiirden ihr geniigen. »Ich weifi noch nicht, mein Kind«, sagt ihr 
Mann. Er hat schwarze Borstenharchen an den Fingern. 
Frau Nerz (sie heifit kostbar wie ein Pelz) war gestern mit ihrer Tame 
bei Friderlcus Rex, »Der vierte Teil ist pyramidal«, sagt ein Mann mit 
ungarischem Akzent - er konnte Cserepy heifien. »Diese Schlacht ist 
fabeihaft herausgekommen«, lobt der Glatzkopfige, ein Sachverstandi- 
ger in Strategie. Sein Angesicht schreit nach dem Korps Rofibach. 
Und ein angehender Schwiegersohn trommelt den Fridericus-Rex- 
Marsch mit dem Loffei auf die Porzelianschale. 
Herr und Frau Bormann kommen eben aus dem Theater. Herr Bor- 
mann hat einen geroteten Nacken. Wenn er sich geistig anstrengt, au- 
fiert es sich in einer Farbung des Hinterkopfes. Herr Bormann tragt 
einen Smoking. Frau Bormann hat ein Stilkleid und ein langstieliges 
Lorgnon. Wenn ihr der Kellner Kaffee bringt, priift sie das Getrank 
durch das Glas. Das erweckt den Anschein, als hatte sie einen kurz- 
sichtigen Gaumen. 

Herr und Frau Bormann waren in »W.U.R.«. Sie stammen aus Rut- 
land, wie man an den Konsonanten horen kann. Aber sie haben sich 
mittels deutscher »Harpener« kuhurell assimiliert. 
»Wir fahren zu Lahmann« - sagt Frau Bormann. 
Das hat mir noch gefehk - denkt der Gatte der griinen Frau. 
Er erhait einen Rippenstofi, offenbar, damit er ein starkeres Bediirfnis 
nach einem Sanatorium verspiire. 

»Wir geben das Silber zu den Schwiegereltern«, sagt Frau Bormann - 
und das nicht etwa, um mit dem Besitz von Schwiegereitern zu prot- 
zen. 

Und, da alles schweigt, sagt Frau Bormann laut: 
»Silber wird jetzt so gestohlen, man liest nur von Silber !« 
In den Zuhorenden, die auch Silber besitzen, macht sich ein leiser Wi- 
derstand geltend. 

Der Glatzkopfige gahnt und fahrt zu spat mit der Hand nach dem 
bereits wieder geschlossenen Mund. 

Auch ist der Gedanke an Einbruch nicht angenehm. Man ruft: »Zah- 
len!« 

Die Gouvernante hilft so vielen Damen in den Mantel, wie ihr moghch 
ist. Gott hatte den Gouvernanten sechs Hande mitgeben miissen. 
2um Schlufi schliipft sie selbst in ein dunkelblaues diinnes Fahnchen. 



1923 993 

Sie geht neben den Herrschaften einher wie ein Gebrauchsgegenstand, 
der zufallig Beine bekommen hat. Auf der Strafie ist es kiihl geworden, 
ein Wind geht, und es ist leider Gottes kein freies Auto zu finden. Man 
steht am Rande des Biirgersteigs und spaht nach leeren Wagen. 
»Nicht einmal ein Auto«, sagt Frau Bormann. 

Und die armen, braven Burger zerstreuen sich zu Fufi, und der ganze 
Kurfiirstendamm widerhallt von den Sorgen seiner Geschopfe. 
Morgen wird der PoHzeibericht meiden, wie viele Menschen in dieser 
Nacht aus dem Leben gefliichtet sind statt zu Lahmanri. Es hat jeder 
seine Sorgen in dieser Welt . . . 

Vorwarts, 15.4. 1923 



RUHR-TOTENFEIER MIT SHIMMYKLANG 



Hart an das UT-Kino am Kurfiirstendamm grenzt der grof^e Tanzpa- 
last, in dem die Einheitsfront des Biirgertums dreimal in der Woche ihre 
patriotische Betriibnis an der Garderobe ablegt, um unbeschwert von 
traurigen Ruhrgedanken das gefliigelte Shimmybein zu schwingen, 
Nur eine diinne Wand trennt den Palast vom Vorfiihrungsraum des 
Kinotheaters - und wenn in diesem die Kapelle nicht spielt (in der 
Pause und wahrend der Mef^terwoche), horen die Besucher des Kinos 
die gedampften flotten Shimmyklange. 

In diesen Tagen geschieht es nun, dafi die MeEterwoche, die noch aus 
der traurigsten Angelegenheit ein patriotisches Geschaft zu machen 
versteht und deren nationales Empfinden sich auf alie Ereignisse in 
Deutschland erstreckt, angefangen vom Tod eines deutschen Proleta- 
riers bis tief hinunter zu einer Parade Hindenburgs - daf^ die Me£ter- 
woche also das Begrabnis der Ruhropfer im UT-Kino abroilen laf^t. 
Und weil bei diesem Bilde die Kinomusik nicht spielt und es gerade 
einer jener drei Tage in der Woche ist, an denen der NationaHsmus mit 
dem Amusement einen Burg-, will sagen: Tanzpalastfrieden schliefit - 
hort man als Begieitmusik zu dem Begrabnis der Ruhropfer - kling, 
klang - den Shimmy von nehenan; gedampft, aber deutlich genug, um 
symbolisch zu sein: fiir diesen Kurfiirstendamm; 
fiir diese MeEterwoche; 



994 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

fiir dieses nationale Bur^ertum, das mit einem heiteren Bein und einem 
nassen Aug* Miterleber des schrecklichen Proletariertodes ist. 
AUe, die Augen haben zu sehen und Ohren zu horen, erkennen in solch 
einem zufalligen Zusammentreffen von Shimmy und Tod den Sinn die- 
ser Zeit, die sich beinahe zu einer »Grofien« ausgewachsen hat . . . 

Der rote Joseph 
Vorwarts, 21. 4. 1923 



FRUHLING AN DER DREHBANK 



In der grofien Fabrikhalie sind die Gerausche der Maschinen eingefan- 
gen, die Gerausche und ihr verzehnfachtes Echo. 
Wenn man in der Mitte der Halle steht, ist es, als befande man sich im 
Mittelpunkt dieses technischen Jahrhunderts, im Herzen dieser Welt, 
deren Leben vom Radriemenschwung der Maschinen erzeugt und er- 
halten wird . . . 

Blaugekittelte Zyklopen, stehen die Arbeiter an den Maschinen. Im 
unerbittlichen Gleichmafi ihrer Welt heben sich ihre Arme und senken 
sich wieder wie Hebel aus Fleisch und Blut und Knochen. Die Maschine 
hat ewig die gleichen Bewegungen und ewig den gleichen Klang. Und 
der Mensch, ihr gleich geworden, in seinem Bewufitsein das Bild ihrer 
Bewegung und den Laut ihres Lebens festhaltend, erhalt die straffe, 
sparsame Geste des Mechanismus und das konzentrierte Antlitz eines 
Wesens, das mit dem geringsten Aufwand die grofite Wirkung erzeugen 
soil. Wer zweifelt daran, dafi sie Briider sind? Als hatte sie ein Schofi 
geboren, ein Briistepaar gesaugt: Sohne eines Geschlechts, Briider ge- 
worden durch das gleiche Leben, den gleichen Tag, denselben Gang, 
dieselbe Halle, In ihren Augen der Abglanz des ratselhaften Metalls, 
unterirdischer Materie - und ihre Seelen durch das Objekt ihres Tuns 
verwachsen mit den unergriindlichen Urgriinden der Erde, so stellen sie 
den Zusammenhang her zwischen dem Anfang alles Seins und der Ent- 
wicklung komphzierten Menschengeistes; Mittler zwischen den Tiefen 
der Erde und den Hohen des Gedankens. 
Es ist Friihling draufien. Hier aber ist die Welt ohne Griin, eine Unter- 



1923 995 

welt sozusagen, fortgesetzt auf der Oberflache der Erdkugel. Das 
matte Milchscheibenglas ist hier der einzige Zusammenhang der HalJe 
mit dem Friihlingslicht der Unterwelt. Es dampft die Helligkeit des 
Tags und das profane Licht des Lebens. Hier hat sich der Gott des 
Metalls sein eigenes Reich errichtet. Seine Scheiben hahen den Sonnen- 
schein auf und lassen - glaserne Filter gleichsam - nur seine unbedingt 
notwendigen Bestandteile durch. Hier und dort gliiht eine elektrische 
Birne auf, ewige Lampchen der Maschinengottheit. Und ein brausen- 
der barter Choral steigt aus dem Innern der eisernen Leiber. Eine un- 
erbittliche Oi^el, zum Preise des Werktags klingend und des geban- 
digten Chaos. 

Aber mitten in der Welt der blauen Zyklopen lebt eine Frau, ein Mad- 
chen, aus der Aufienwelt verirrt und ein Zeichen des siegreichen Friih- 
lings. Sie tragt eine dunkelblaue Schiirze und ein Haubchen. Sie tragt 
grobe Mannerschuhe. Aber ihr Hals ist blofi und von einem ganz diin- 
nen silbernen Kettchen geziert, Und sie heifit: Lieschen. Sie ist da und 
dort, sie biickt sich, um Feilspane zusammenzukehren, und man sieht 
verstohlene kleine Nackenharchen. Sie ist blafi und verstaubt wie 
manchmal ein junger Baum in der Mitte eines steinernen Fabrikhofs. 
In der Pause schliirft sie aus einer Tasse ohne Henkel Friihstiickskaffee 
und spreizt den kleinen Finger der rechten Hand vornehm, wie die 
Damen tun, die jetzt, unter Schlafdecken liegend, ebenfalls Friihstuck 
schliirfen. Und manchmal schickt sie ein Zyklope um etwas, und sie 
rennt leicht und die Schwere der Stiefel besiegend iiber die gestrengen 
Steinfliefien, einen Ubermutssprung wagend, ein freigelassenes Reh. 
Und sie ist achtzehn Jahre alt und drei Monate. 

Vorwarts, 24.4. 1923 



STUNDE IM RUMMEL 



Hinter der Halenseer Briicke erhebt sich der Rummelplatz, bewufit 
von einem Gott der Sensationen hingesetzt an den Ausgang einer Al- 
lee, die wie ein langes Versprechen von Vergniigungen anmutet. Es 
spotte kein »Geistiger« des unsinnigen Amusements, des hyperboh- 
schen Widersinns in einer harmlosen, aber miihseligen Lustbarkeit. 



()<)(i DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Wo diese, sich selbst persiflierend, einer HoUenmaschine entstammt, 
die bittern Schweifi verursacht, eh' sie Freude weckt, darf sie erwarten, 
dafi in ihr nach einem verborgenen Sinn gesucht werde. Es gibt so eine 
Art Philosophie des Rummelplatzes, des pyramidalen Unsinns, der 
seine eigenen Gipfel gewissermafien noch zu iiberklettern versucht. 
Hier hort die geistig voUkommen anspruchslose Heiterkeit auf, weil 
sie zu ihrer eigenen Karikatur wird. Sie schamt sich des Banalen nicht, 
sondern - im Gegenteil - treibt es so weit, daf5 es zum Lacherlichen 
wird. Hier wird Karikatur des Vergniigens und der Genufisiichtigen 
vollendet gegeben. GottUch der Anblick eines Mannes, der, von seiner 
Sehnsucht nach Gelachter getrieben, schwankenden Schritts eine pol- 
ternde Jazzbandtreppe besteigt, in der Mitte hilflos besteigt, weder 
vor- noch riickwarts kann und zum Gelachter der andern wird, die 
ihm unerschrocken folgen werden. Was wie ein Phihsteramiisement 
aussah, wird merkwiirdig einer witzigen Geistigkeit ahnhch, die sich 
biode stellt, um erfolgreicher zu wirken. 

Wer hat diese Maschine ersonnen? Elektrische Kraft treibt sie, ein Mo- 
tor poitert unaufhorhch, um sie in Betrieb zu erhaiten, und ihr ganzer 
Zweck ist der, die voUkommene Maschinerie des menschlichen Kor- 
pers in ihrer ganzen tragikomischen Unzulanglichkeit blofizustellen, 
den Wiirdigen zu verspotten, dem Ernst des Lebens die Kothurne von 
den Fiifien heimlich wegzuschnallen. Wehe dem Eingebildeten, dem 
Pathetiker, dem jambisch Erhabenen, der sich einmal iiber die Periphe- 
rie des »Teufelsrads« wagt, vielleicht gar in der frevlen Uberzeugung, 
durch die Macht seiner pathetischen Fiille als Sieger die kreisenden 
Wahnsinnsbretter zu verlassen, Haltung zu bewahren inmitten losge- 
lassener Lachorkane. Er tritt, der Gute, mit vielen andern auf einen 
kreisrunden Boden und sieht sich lachelnd um. Aber plotzhch ertont 
das Signal. Festes wird locker, Bleibendes unsicher, der Boden rotiert, 
rast mit jedem Umkreis wiitender, alles, alles scheint zu drehen, die 
Gesichter der Umstehenden verschwimmen in einen einzigen weil^U- 
chen Brei, aus dem viele Augenpaare sekundenweise, kleinen Fiink- 
chen gleich, aufglimmen und wieder erloschen. Leiber prallen aneinan- 
der, vergebens schwanken hilflos ausgestreckte Arme, suchend nach 
einem Festen. Ein Sicherer in dieser kleinen wilden Welt rasender 
Fliichtigkeiten, greifst du die Barriere selbst - auch sie rotiert-, der 
Rock deines Nachsten fliegt im Kreise, der Stock entpoltert, auf 
schwankenden Boden aufgestiitzt, deiner zitternden Faust, haltst du 



1923 ^^7 

den Hut fest, schwankt dein Oberkorper hinteniiber, von einem Luft- 
zug wurdest du am Genick gepackt, und riickwarts schlenkerst du 
Jahrhunderte zuriick, dafi du vermeinst, in grauer Vorzeit zu landen. 
Noch nie hat Eile der Bewegung solche Langsamkeit der Zeiteinheiten 
verursacht, alles fliegt, nur die Sekunden bleiben stille, oder gar, es 
gehen die Zeiger zuriick. Bis die kreisende Bewegung langsamer wird 
und schliefilich im Stillstand erstirbt, der Gesichterbrei sich wieder 
auflost in einzelne Kopfe und der befreite Mensch vergessen hat, dafi 
er eigentlich fur eine Freude bezahlt und eine Todesfurcht gekostet 
hat. Ihm ist, als ware er noch billig genug mit dem Leben davonge- 
kommen. 

Geringer schon ist seine Furcht vor den Spiegeln des »Lachkabinetts«, 
die aus seiner tauschenden gottlichen Ebenbildmaske die wahre veran- 
derliche Fratze seines Wesens machen. Hier hangen konkave und kon- 
vexe Spiegel, halbkonkave, halbkonvexe, ihre optischen Wirkungen 
sind, wie aus der Schulbank erinnerlich, physikaUsch erklarbar, aber 
im Augenblick erschreckend. Diese Spiegelungen haben ihre eigene 
Philosophie, eine tiefere, als der Versucher ahnt, der sich selbst auszu- 
lachen gezwungen ist. Objekt und Subjekt in einer Person. Zwei Stun- 
den eingesperrt zwischen Spiegeln verschiedener Wolbungen, und der 
Zweifel an der Richtigkeit des iiblichen und normalen Spiegelglases 
wird lebhaft. Wer weifi, ob nicht gerade jenes konvexe Glas mir die 
Wahrheit sagt? Jenes Konkave? Hier bin ich schmal und wachse uner- 
miidhch in die Lange, die Gliedmafien dehnen sich, als waren sie aus 
Gummi, das Gesicht verfliichtigt sich, seine symmetrischen Halften 
komprimieren sich in der Gegend der Nase, und iibrig bleibt eine 
menschliche Zaunlatte. Driiben aber quillt Korper in die Breite, 
Fleisch schwillt an in den Kleidern und diese mit ihm, breiig zerfliefSt 
die Gestalt im Glase. Wo ist die Wahrheit? Wer fand, dafi der normale 
Spiegel meine Wirklichkeit wiedergibt und nicht jener angeblich ver- 
zerrende? Kommt nicht gerade hier mein tief geborgenes Wesen zur 
Schau? Bin ich wirklich kein Brett, diinn, hager, gespenstisch, mochte 
ich nicht wirklich himmelan freventUch wachsen, babylonische Zaun- 
latte in Menschengestalt? 

Bildete ich mir ein, segeln, steuern zu konnen? Seht den Wellblechsee! 
Seine Wellen sind aus Metall, das sich ewigUch wolbt, Schwellungen 
gebart und Flachen, Hohen und Tiefen; der Teil, der eben Hiigel war, 
wurde jetzt zum Tal, es sind stagnierte Wellen, von der Stofi- und 



998 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Hebekraft unterirdischer Motoren unermiidlich bewegt. Sitzt man im 
Kahn und glaubt, jetzt fange ein sanftes Schaukeln an, siifier Rhythmus 
ruhiger Gewasser? Oh, wie dumpf poltert es aus der Tiefe, wie tiirmt 
sich vor dir plotzlich eine Woge gar nicht veranderlich, elne Woge, die 
sich gewissermafien stabilisiert, niemals weicht, ewig dich im Tale lafJt. 
Bis dich ein zum Forthelfen angestellter Bedientenarm weiter iiber die 
aufgeregte Oberflache schaukelt. Und fiir dieses Gefiihl, schlimmer, 
fiirchterhcher als jenes, auf einer wirkHch wilden See zu segeln und 
dem Tode nahe zu sein, zahlt man gern und willig, arbeitet man miih- 
sam und schweifibeladen. Diese Energie hatte geniigt, einen wirklichen 
Sturm auszuhahen. 

Ach! und niemals werde ich eine Schweizer Uhr gewinnen! Nie wird 
es mir gelingen, mit sechs Hartgummischeiben eine kreisrunde Flache 
so zu bedecken, dafi von ihr kein Piinktchen sichtbar wird. Die Flache 
ist nahe, ich werfe eine Platte nach der andern, kaufe neue, schleudere. 
Lust zu gewinnen packt meinen Arm, Furcht zu verlieren halt ihn zu- 
riick, und zwischen dem Willen zu schleudern und der Gelahmtheit 
des zittrigen Arms, der plotzlich Sitz des Geizes und der Spartriebe 
wurde, schlenkert das BewuEtsein. Menschen stehen da und werfen, 
kaufen neue Scheiben und bekamen fiir diese Anstrengung eine 
Schweizer Uhr in einem Laden. 

Hier aber geht es um die Persiflage menscUicher Anstrengung. Ich sah 
einen Mann vor einem eigens zum Zerbrechen bestimmten Porzellan- 
laden stehen und alles Geschirr mit Ballen zerschmettern. Dafiir zahlte 
er. Er wufite selbst nicht, dafi ihn der Klang zertriimmernden Materials 
zu neuen Wiirfen erhitzte, er schmetterte zwecklos Ball um Ball, die 
Leute traten zuriick, bildeten einen Halbkreis und bestaunten ihn gro- 
fien Auges. Vielleicht ging ihnen ein schreckliches Licht auf, und die 
Frage, ob dies Zertrlimmern der Sinn des Lebens sein konnte, schwieg 
auf ihren Lippen ... 

Frankfurter Zeitung, 30.4. 1923 



DIE BOXER (II) 



Die Boxer stehen, schwarz und wei£ gestreift, im Ring, der ein Viereck 

ist. Dort, wo andere Menschen ihre Hande haben, schwellen bei den 

Boxern rotbraune Fausdinge - man stelle sich vor, dafi Hande ge- 

schwollene Backen haben konnen. 

Ferner haben die Boxer nackte Waden wie Knaben im Sommerpark. 

Auf ihren strammen Unterschenkeln wachsen blonde gekrauselte Har- 

chen, eine iippige Vegetation, verursacht durch Mannhchkeit, sichtbar 

gewordenes Strotzen der Kraft. 

So werden die Boxer dem PubUkum namenthch vorgestellt, und sie 

verneigen sich artig, als waren sie im Gesellschaftsanzug. Die Schofie 

ihrer nicht vorhandenen Cutaways ragen gewissermafien hinten in die 

Luft. 

Ein ganz besonderes Geschlecht von Scheinwerfern hiillt die Boxer in 

eine unerhort weifie Lichtflut. Die Scheinwerfer verursachen einen 

grauenhaften Tag ohne Schattenmoglichkeit, weil ihr Licht von alien 

Seiten gleichmafiig kommt. 

Ein Gong nimmt sich in dieser westlichsten aller Welten direkt blama- 

bel orientalisch aus. Er bedeutet Beginn des Kampfes. Die feindhchen 

Boxer kreuzen ihre Fauste, ritterlich, wie Kampfer sind. 

Die nachste Folge dieser Verbriiderung ist der Schlag eines Boxers ge- 

gen die Brust des andern. Es drohnt hohl wie der Schlag gegen ein 

Eisenschild. Es war das eiserne Herz in des Streiters Leibe. 

Darauf erfolgt ein dumpfer Laut. An der Tonung erkennt man, daf^ 

eines Boxers Gehirn getroffen ist. 

Eine Nase blutet - rot und leuchtend fliefit der ganz besondere Boxer- 

saft liber Mund und Kinn auf die Brust. 

Dann schlagt ein Korper hin, auf die Bretter. Ein Mann in Hemdsar- 

meln, mit der Totenuhr in der Hand, tritt vor und zahlt: eins, zwei, 

drei . . . Bis »neun« hat der Boxer Zeit wiederaufzuerstehen. Bei »sie- 

ben« erhebt sich der Boxer. Da ertont auch schon ein Auferstehungs- 

gong, die Osterglocke des Boxsports. 

Nun lassen sich die Streiter in Stiihle fallen, von ihren Sekundanten 

massieren, mit Genesungswasser waschen, Marke: Gesundbrunnen. 

Und dann wiederholt sich alles - und nur die Kenner sehen die Nuan- 

cen und belegen jede Ohrfeige mit einem Spezialausdruck. 



1000 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Das geht so lange, bis man glaubt, einer sei tot. 

Er ist aber nur besiegt - und erhebt sich, wenn der Photograph kommt 

fiir die Ewigkeit knipsen. 

Das Pubhkum verursacht einen Beifallsplatzregen und die Blechmusik 

ein Tuschgewitter. 

Die feindHchen Boxer stehen Hand in Hand, ein Propagandabild fiir 

den internationalen Pazifismus . . . 

Das Blaue Heft, i. 5. 1923 



DER FEIERTAG 



An unserem Feiertag schweigen alle Glocken, und der offizielle Gott 
der biirgerlichen Priester, der Herr der auserwahlten Klassen, der 
Menschen mit gesellschaftUchem Rang und Ansehen, der Gott des 
Gottesgnadentums und der Krupp-Kanonen tragt sein wochentagli- 
ches Angesicht und tut so, als ware keine Sabbatruhe in unserer Welt. 
Seine Geschopfe, die Biirger, die Offiziere mit den schleppenden 
Schiirhaken an den Hiiften, die schwergepriiften Fabrikanten in den 
lackierten Automobilen, die rlickwarts gewendeten Regierungs- und 
Landrate, die der Strahlen majestatischer Gnadensonne bitter entbeh- 
ren, empfinden diesen Feiertag als eine Lasterung gottUcher Gebote, 
die das besagen, dafi wir arbeiten miissen, auf dafi jene unbehindert 
den Amtern, dem Geld und der Ehre naher kommen. Der erste Tag 
ihres volkischen Wonnemonds ist ihnen unangenehm gemacht. An 
einem einzigen Tag im Jahr merken sie, daft die Welt verkehrt sein 
kann und dennoch nicht untergeht: daft solche minderwertigen Ge- 
schopfe wie Kellner aufhoren dlirfen zu »bedienen«; daft so neben- 
sachliche Attribute der Industrie wie Fabrikarbeiter auch einmal auf- 
horen konnen, ein Rad in Bewegung zu setzen. Und siehe da: Diese 
Welt besteht weiter, als hatte sich nicht das Ungewohnliche ereignet: 
dieses Ungewohnliche, daft die unbekannten Menschen aus den Tiefen 
emporsteigen und plotzUch dutch die hellen Straften marschieren; daft 
ihnen das Sonnenlicht so gut scheint wie alien andern; daft sie Luft 
atmen mit genauso konstruierten Lungen wie die konzessionierten 
Pachter der freien Liifte. 



1923 lOOI 

Denn wenn sie*s nicht mit eigenen Augen sehn, glauben sie, dafi ihnen 
der ganze Friihling gehort wie die Garten und Walder, in die er einzieht; 
glauben sie nur an jene Feiertage, an denen die von ihnen bezahlten 
Kuster die Glocken in Bewegung setzen; an denen die Priester beten fiir 
das Seelenheil jener, die sich bereits des leiblichen Wohls erfreuen. Und 
sie sind immer wieder erstaunt, dafi ein Feiertag sein kann ohne Not im 
Kalender, ohne biirgerliche Weihe und ohne die Erlaubnis der Herr- 
schenden. Ein Feiertag aufierhalb der biirgerHchen Gesellschaftsord- 
nung. 

Und also kein Feiertag in iiberUeferten Formen. Sondern ein Tag der 
Ruhelosigkeit und der Bewegung. Nur jene, denen ein giitiger Klassen- 
gott Feste in den gliicklichen Schofi wirft, diirfen rasten. Dieser Feiertag 
ist keine Rast, sondern Arbeit am Aufstieg und Kampf um den Mai. 
Denn in ihren Garten bliiht der blaue Fheder, duften die Rosen, ihrer 
sind die sonnbeglanzten Tage und die unrationierten Kuckucksrufe in 
den griinenden Waldern; die Liebe, nicht beschrankt auf fllichtige Stun- 
den vor einbrechender Dunkelheit; die Wanderung in wiirziger Mor- 
genluft und der Jubel der Lerchen. Ihnen gehoren die Exprefiziige, die 
gen Siiden fahren, in die Lander der fremden exotischen Friichte, ihnen 
die Flora und Fauna der ganzen Erdkugel, ihnen die Meridiane und 
Parallelkreise, der Aquator und das blaue Meer, die Kabine erster Klasse 
und die Essenzen und Ole aus den miihsam geziichteten Blumen. Indes 
wir durch die Strafien schreiten, sitzen sie auf dem Balkon und erholen 
sich von unserem AnbUck durch das Studium eines Fahrplanes. Ihre 
Phantasie befliigelt der Besitz - und zwischen ihrem Wunsch und seiner 
Erfiillung Uegt nur das Geld. 

Wir aber haben nur das Heute. Morgen ist wieder der Larm der 
Schwungrader, der Staub des Abfalls, der Trost der frommen Sinnsprii- 
che: Bescheidenheit ist eine Zier der Armen; Morgenstunde schiittet 
Gold in den Mund der Schlafenden; Arbeit ist ein Segen fiir die Arbeit- 
geber; Lohnerhohungen, die heute besorgt warden konnen, verschie- 
ben wir auf morgen; liebe deinen Nachsten, wenn er fiir dich arbeitet. 
An diesem Feiertag lauten ganz andere Glocken: Kein Kiister bewegt 
sie, kein Priester predigt, und ihr Klang ist nicht golden, sondern eisern, 
denn es sind die Klange von iibermorgen und nicht jene von gestern. 
Wer sie nicht hort, ist taub. 

Vorwarts, i. y 1923 



DER MENSCH AUF DER VERANDA 

Ein Friihlingsgedicht 

Das ist die Zeit, in der ein Drang ins Freie den von Intimitaten ver- 

schalten Menschen in die glaserne Unverfrorenheit der Veranda 

grausam hinausstofit. 

Des Morgens platschert ein Sonnenstrahl oder eine Regenstrahne in 

seiner Kaffeetasse. Und am Abend verblutet weihevoU eine Ampel. 

Auswarts gekehrt und alien sichtbar hangt der Schof5 der Familie 

und alles, was er Winter iiber geborgen hatte. Im Angesicht der 

nachbarlichen Welt vollzieht sich die Traulichkeit behiiteter Ge- 

barde. 

In der Dammerung erknattern, Strafien entlang, im Kufi explodie- 

rende Lippen - und zartlich zerschmetterte Gabeln sterben von der 

Hand ungebandigter Familienvater mit leise weinendem Geklirr. 

Wande haben Augen. Der Mensch auf der Veranda, preisgegeben in 

Ohnmacht, Zorn und Hemdsarmeln, von Blumentopfen sparlich be- 

schattet, hangt, als ware er sein eigener Kanarienvogel, zum Biirger- 

steig hinaus. 

Der Tau netzt sein nach Wolken auslugendes Nasenbein - und der 

Abendwind streicht kiihl iiber die behaarte Brust, das Jagerhemd 

wie ein Segel blahend. 

Ein lauer Dunst, von geliifteten Betten und privaten Angelegenhei- 

ten, kampft siegreich gegen den schiichternen Duft eines etwa erblii- 

henden Fliederstrauchs, der im Hinterhof, von Windeln beschwert, 

ein niitzliches Dasein flihrt . . . 

8-Uhr-Abendblatt, 5.5. 1923 



DIE PARADE 



Die Parade ereignet sich immer dann, wenn die armen, leider schon 
wehrlosen Gefallenen eines Regiments eine schone Gedenktafel be- 
kommen, mit oratorischen Ornamenten geziert, die das Regiment 
von der bekannten rhetorischen Kunstgewerbefirma »Hindenburg, 



1923 i°03 

Prinz Eitel Fritz und Co.« bestellt, piinktlich lieferbar, franko und 
gratis (»Karte geniigt - Komme sofort« !). 

Der Schmock des »Lokal-Anzeigers« ist auch dabei. Er hat die Auf- 
gabe, der aus den geistig Minderbemittelten der Reichshauptstadt be- 
stehenden, auf die »Scherl-Blatter« abonnierten Mitwelt zu verkiin- 
den, was die Generale, denen die Gefallenen ihren Tod zu verdanken 
haben, iiber eben diese Gefallenen reden. 

Ich bin immer sehr neugierig, wenn ich erfahre, dafi so ein General 
reden will. Ich stelle mir vor, dafi ihm im Angesicht einer marmornen 
Todesliste die Haare zu Ber^e stehen und dafi er sich bemuht, sich vor 
den Toten zu entschuldigen. 

Dann aber lese ich, was der Schmock berichtet, und sehe, daf5 die Ge- 
nerale selbst im Angesicht des Todes, den die anderen erlitten haben, 
nicht Reue empfinden, sondern vom Hochmut besessen sind. Und 
langsam gewinne ich die Uberzeugung, dafi die Generale nur deshalb 
die Grofie Zeit iiberlebt haben, weil sie vom Gott, der Eisen und Re- 
den wachsen hejK, dazu ausersehen sind, Gedenktafeln rhetorisch zu 
verunzieren und die Toten mit der Erinnerung an den Kaiser zu beun- 
ruhigen. 

Das ist das Traurigste an so einer Gedenkfeier: dafi ein General, der die 
Soldaten selbst in den Tod geschickt hat, diese seine Handlung noch 
nachtraglich mit einer Rede vervollstandigen mufi und die noch leben- 
den und im Andachtsdrill erschauerten Soldaten an ihre PfUcht ge- 
mahnt, ebenfalls auf eine solche Gedenktafel zu kommen - bei deren 
Einweihung noch einmal ein General eine Rede halten wird. Und so ist 
der Kreislauf des militarischen Lebens : Der General befiehlt den Hel- 
dentod, dann kommt man auf eine Gedenktafel, dabei halt der General 
eine Rede fiir den neuerhchen Heldentod, und dann kommt wieder die 
Gedenktafel. 

Aber manchmal erschiittert mich eine schaurige Vision: Ich sehe, wie 
die toten Soldaten, aufgeschreckt durch die Erinnerung an den Kaiser, 
aus ihren Grabern auferstehen und des Nachts, wenn die Generale 
schlafen, zu der Gedenktafel marschieren. Voran trommelt der Tod 
den Fridericus-Rex-Marsch. 

Die gefallenen Soldaten lesen ihre goldenen Namen auf der marmor- 
nen Gedenktafel und loschen sie aus und schreiben in den Stein den 
Namen eines lebenden und rednerisch begabten Generals. Und stellen 
sich auf, und der Tod riihrt die Trommel, und es findet eine Gedenk- 



1004 ^^S JOURNALISTISCHE WERK 

feier fiir den lebendigen General statt. Und ein toter Infanterist halt 

cine Rede. Und er ruft zum Schlufi: »Es sterbe der General !« 

Aber dann graut der Morgen iiber Deutschlands Leichen- und Exer- 

zierfeldern, und die Toten kehren zuriick in die Graber zu den Regen- 

wiirmern. 

Urn diese Zeit erwachen die Prinzen und Generale und lassen sich die 

neuen Paradeuniformen reichen und die Schleppsabel und ziehen aus 

eine neue Gedenktafel einweihen . . . 

Der rote Joseph 
Vorwarts, 13. 5. 1923 



DAS VARIETE DER BESITZLOSEN 



Die Annenstrafie ist lang und grausam gleichformig wie eine schlaflose 
Nacht. Die Hauser stehen da wie herbefohlen, so herzlos und zweck- 
mafiig, als wohnte man nicht in ihnen, sondern ware nur einquartiert. 

Das ist das Viertel der Besitzlosen und der Fronenden. Derer, die von 

der Schwielenhand in den Mund leben. 

Am Wochentagsmorgen schiittet dieser Stadtteil Tausende, Tausende 

in den Betrieb der Welt. Sie tappen durch den Friihdammer, Sehnsucht 

nach abgebrochener Bettruhe in den Gliedern und mit einem Stiick 

Gestern beschwert, das an ihren Kleidern haftet. 

Heute aber ist Sonntag. Die grausamen Strafien selbst haben eine Art 

sauer-siifien Lachelns wie bei einer vorgeschriebenen offiziellen Feier. 

Am Engelufer, in einem Lokal, in dem zu manchen Stunden politische 

Reden vom Podium auf heifie Kopfe regnen, ist heute Vergniigungs- 

abend, von einem Arbeiterverein veranstaltet. 

Die Tiir ist schwer und wuchtig wie ein Proletenschicksal. Die Tiiren 

zu den Vergniigungsstatten des Westens sind leicht und zuvorkom- 

mend, und uberdies werden sie von einem Mann mit Goldknopfen 

und Tressen gehandhabt, den man Portier nennt und der eigentlich ein 

Automat ist mit einem beweglichen Armhebel zwecks Griifiens und 

Pfortenoffnens. 

Hier ist kein Automat engagiert. Die Garderobezettel sind nicht bunte 



1923 1005 

Konfettischnitzel, sondern haltbarer Pappendeckel. Am Biifett be- 

kommt man Bier und Sodawasser, allerdings auch Schokolade. Aber 

keine Friichte mit wachsern glasierten Wangen und nicht Siifies mit 

lockerem Leichtsinnschneeschaum. 

Der Saal ist weit und allumfassend. Wenn man in der Mitte steht, dam- 

mern seine Wande wie feme Horizonte. 

Die kleine Biihne ragt quadratisch in den Saal hinein, f orciert und absicht- 

lich. Ein schwerer Vorhang aus dunkelrotem Peluche verhiillt Erwarte- 

tes. Wunderbares. 

Inzwischen trinkt man Bier und Limonade. 

An den Tischen sind gesunde, reinliche Menschen. Sie haben Wochentag 

und Sorge abgewaschen und wollen sich freuen. Sie woUen sich nur 

freuen. In den Vergniignungsstatten des Westens amiisiert man sich 

dagegen. 

Ritsch! geht der Vorhang auseinander. Die Bogenlampe in der Mitte der 

Biihne ist mit violettem und rosa Papier bekleidet. So einfach ist das 

Problem des Stimmungsmachens hier gelost! Im Westen I'i&t man vio- 

lette Stimmung aus hintergriindlichen Scheinwerfern iiber Kahlkopfe 

zischen. 

Der Conferencier ist ein Mann mit einfacher Sprache, er erlautert die 

Vorgange und witzelt nicht iiber sie. Etwas von der Urspriinglichkeit des 

mittelalterlichen Theaters umhaucht ihn. 

Kleine Arbeitermadchen in einfachen dunklen Kleidern tanzen. Es ist ein 

Reigen. Ein wirklicher »Reigen« ohne Spur von gemachter Naivitat. Es 

ist so natiirlich, daf5 man tanzt, wenn man sich freut! 

Dann Madchen in leichten Kleidern, aus Tiill und Seide vielleicht. Violett 

und rosa. Mit nackten Fiifien tanzen sie. Kein briinstiges Lorgnon reckt 

sich. Es ist so selbstverstandhch, barfuf^ in leichten Kleidern zu tanzen. 

Ein junger Mann tragt Walt Whitman und Nietzsche vor. »An den 

Mistral*. Vielleicht rauschen Wort und Vers an den meisten vorbei wie 

unbegreiflich schone Gewitter. Viele lauschen doch. Und ein kleines 

Arbeitermadel in einer bliihweiEen Bluse mit rotem Schlips, mit einem 

siifien, blassen Gesicht, das Gott am siebenten Tage zu seinem eigenen 

privaten Sonntagsvergnugen modelliert hat, ist hingerissen zu fremder, 

unerhorter SeHgkeit. 

Wenn dann die Tanzmusik spielt - die Operetten des Westens, nach 

denen immer noch Norden und Osten tanzen -, kehrt die Kleine zuriick 

zur Erde und bewufitem Vergniigen. 



I006 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Vielleicht sammelt sie morgen, Montag, Eisenabfalle in einer Fabrik zu 
weiterer Verwertung. Heute noch besteht die Welt aus bliihweifier 
Bluse, Mistral und Walzer. 
Am Montag setzt sich die Welt immer aus Eisenspanen zusammen. 

Vor warts, 19. ^. 1923 



DIE FREMDEN BURGER 



Die fremden Burger kommen nach Deutschland, Kohlendunst ferner 
Bahnhofe umwittert ihre Koffer, die mit bunten Zetteln, Zeugnisse fiir 
wohlbestandene Zollexamina, beklebten. 

Die fremden Burger nennt man kurz: die Fremden - und die sind etwas 
anderes als die Auslander. 

Die Auslander stammen gewohnlich aus dem Osten, haben eine staats- 
gefahrliche Gesinnung und wenig Geld und fiihren diesen Namen nur 
bis zur nachsten Dollarhausse, jenen geheimen Gesetzen gemafi, nach 
denen die Valutaverhaltnisse mit den Einbiirgerungsgepflogenheiten 
iibereinstimmen. 

Ein Auslander soil sich innerhalb 24 Stunden bei der Polizei melden - 
die Fremden werden koUektiv vom Hotelportier gemeldet. Der Auslan- 
der ist dem Staat eine Last - den Fremden ist es fast der Staat. Die 
Auslander sind aus eigener Not im Lande, die Fremden sind wegen der 
Not des Landes da. Diese sind Sieger und jene die Besiegten. 
Man sieht bereits, worauf das hinauslauft: Die Fremden sind Burger, die 
Auslander nur Proleten. 

Die Fremden lagern in den grofSen Lederfauteuils der Hotelhallen, be- 
sichtigen ihre Fingernagel oder benagen sie - jeder nach seiner Veranla- 
gung. Die BilHgkeit deutschen Manikiirgerats verfuhrt sie gelegentlich 
zum Gebrauch von Nagelfeilen, bei Tisch oder im Cafe. Die Hygiene ist 
iiberhaupt eine Angelegenheit der Valuta. 

Von Kellnern umwedelt, von Direktoren lachelnd begriifSt, von roten 
Liftboys umsaumt, horchen sie auf die Fiinfuhrtee-Musik. Sie lieben ein 
frohlich Lied, die Fremden, und bestellen beim Kapellenober akustische 
Leibleckerbissen; ein Vorspeisepotpourri; eine Lehar-Cremetorte; eine 
Robert-Stolz-Konfitiire aus Wien, der Stadt der Sacheroperetten. 



1923 100/ 

Die Fremden lieben die Frauen und fordern durch eine giinstig ent- 

wickelte Freigebigkeit die Luxusproduktion des Landes und einheimi- 

sche Ehemanner-Selbstmorde. 

Eigentlich, es fallt mir gerade ein, heifSen sie »Fremde« nach dem 

Aroma der Fremdheit, das sie ausstromen. Als ich Knabe war, roch ich 

denselben Duft an den Oktoedern aus rotem und griinem Pei^ament, 

in denen die Teeblatter aus China schlummern; oder an ausgestopften 

Koiibris; und an den fremden Schmetterlingen im Kasten, an den 

Abendkleidern aus buntem Veloursamt. 

Die fremden Burger aber tragen Covercoats aus englischen Stoffen. Sie 

kommen iiberhaupt nicht so sehr aus fernen Landern wie aus Waren- 

hausern. Deshalb machen sie immer den Eindruck frischgetiinchter 

Villen im Frlihiingsglanz. 

Im Gasthaus begriifien sie einander mit kraftigem Weidmannsheil und 

wahlen den giinstigsten Stand. Geiibten Augs erspahen sie der Kiiche 

bestes Wild und zieien nach ihm mit dem Speisentrager. Lassen sie ein 

Besteck fallen, so stiirzt ein Piccolo darauf, die Gabel mit seinem Leib- 

chen deckend, 

Wenn alles fliistert, larmen sie; wenn alles kniet, stehen sie; wenn alle 

spekulieren, warten sie; wenn alle schlafen, wachen sie; wenn die Mark 

fallt, steigen sie. 

Chauffeure, an die sie herantreten, surren mit angekurbeltem Dienst- 

eifer. 

Zigarrenhandler, die ihnen Tabak zeigen, greifen mit Handlerpolypen- 

armen gleichzeitig in alle Facher ihrer Wande. 

Der Portier an der Drehtiir schaufelt sie mit der emsigen Trinkgeld- 

rechten ins Innere. 

Der Photograph, bei dem sie sich portratieren lassen, wird zu der ver- 

grofierten Aufnahme seiner eigenen Freundhchkeit. 

Wenn sie aber heimkommen, die Fremden, warden sie Obsthandler, 

Schweineziichter, Gummiabsatz-Erzeuger, Reisende in Irrigatoren. 

Alle diese Menschen leben in Deutschland auch. Daher ist eine weitere 
Beschreibung iiberfliissig. 

Der rote Joseph 
Vorwarts, 27. 5. 1923 



DER PROZESS VOM NORMALMENSCHEN 



Die beiden jungen Berliner Maler Georg Kobbe und Erich Godal sind 
gestern von der Strafkammer des Berliner Landgerichts I wegen Ver- 
breitung unziichtiger Darstellungen (§ 184 des Strafgesetzbuches) zu 
Geldstrafen von 60000 bzw. 100 000 Mark verurteilt worden. Es han- 
delte sich hierbei um vier Zeichnungen, die die Kiinstler auf der jury- 
freien Ausstellung im vergangenen Jahre ausgestellt hatten und die das 
Argernis des Staatsanwalts in dem Mafie erregt hatten, dafi er sie 
beschlagnahmte. Es handelt sich um zwei sehr skizzenhaft hingewor- 
fene vi^eibliche Akte, einen Halbakt und eine Liebesszene zwischen 
Mann und Frau. Bei diesem Prozefi kommt es nicht auf den Kunstwert 
der inkriminierten Zeichnungen an, der sowohl von den Sachverstan- 
digen wie auch von dem Gericht uneingeschrankt anerkannt wurde, 
sondern es kommt auf die Urteilsbegriindung und auf das sogenannte 
sittHche Empfinden des »Normalmenschen« an, der angeblich an die- 
sen Zeichnungen Anstof? genommen hat, wobei bemerkt sein soil, dafi 
alle die, die sich fiir einen Normalmenschen halten (darunter auch 
meine Wenigkeit), alien Grund hatten, scharf gegen dieses Urteil der 
Strafkammer zu protestieren. 

»Normalmensch«, das war das Schlagwort, um das sich die Verhand- 
lung drehte und das auch in der Urteilsfallung die wichtigste RoUe 
spielte. Die beiden jungen Angeklagten vertraten den Standpunkt, dafi 
ein Kiinstler das bilden diirfe, was er woUe. Ein Kunstwerk konne nie- 
mals pornographisch sein, es sei denn, dafi es iiberhaupt kein Kunst- 
werk sei. Pornographie babe eben mit Kunst nichts gemein. Aber da- 
mit war das Gericht nicht einverstanden. 

Ein Beisitzer gab den Angeklagten den guten Rat, doch so wie Hans 
Mackart zu malen, ein anderer meinte, wenn Kobbe seinen Akt mehr 
»en reliefs gezeichnet hatte, ware das Anstofiige vermieden worden. Er 
hatte »die Diagonale eben auch mehr von der Seite nehmen konnen«. 
Die beiden Maler wanden sich unter diesen Ratschlagen wie Mordbu- 
ben in der Folter. Aber auch die Sachverstandigen teilten die Anschau- 
ungen des Gerichtes nicht. Als der Vorsitzende erklarte, dafi fiir die 
Normalmenschen nicht Form und Farbe eines Bildes, sondern nur das 
gelten konne, was das Bild darstelle, schlug der Sachverstandige Dr. 
Max Osborn dem Gericht vor, unter diesen Umstanden schleunigst 



1923 1009 

einige Kunstwerke, die in den Berliner Museen hangen - darunter 
Corregios »Leda mit dem Schwan« im Kaiser-Friedrich-Museum -, 
sofort beschlagnahmen zu iassen. Natlirlich fiihrte auch der Staatsan- 
walt in seiner Anklagerede den Normalmenschen als mafigebend an 
und betonte, dafi dieser Normalmensch fiir ihn die grofie Mehrheit des 
Volkes sei, die Anstofi an diesen Bildern nehmen miisse. Zwar wider- 
legte der Verteidiger, Dr. Wolfgang Heine, in seinem Pladoyer die An- 
schauung des Staatsanwalts und wies nach, dafi ein normaies Urteil in 
irgendeiner wissenschaftlichen oder kiinstlerischen Angelegenheit nur 
der fallen konne, der etwas von der Sache verstlinde und der die notige 
Schulung und Bildung zu diesem Urteil habe. Zwar betonte er, dafi 
sich auch die Klinstler und diejenigen, die keinen Anstofi an Kunst- 
werken nehmen, die ein erotisches Thema behandeln, zu den reinUch 
empfindenden Normalmenschen rechneten . . . Alles das verpuffte wir- 
kungslos. Das Gericht verurteilte. Und in der Urteilsbegriindung heifit 
es, dafi die Zeichnungen zwar auf Klinstler und kiinstlerisch empfin- 
dende Menschen anders wirken konnten als auf den Durchschnitt des 
Publikums. Aber auf das normal empfindende Durchschnittspubii- 
kum, auf eben das, das von Kunst nichts verstehe und dem sich das 
grob Sinnliche und krafi Sexuelle aufdrange, komme es an. Dieses (so 
sagt das Gericht) normal empfindende Publikum sei derjenige Teil des 
Volksganzen, der Landessitte, sittliches Empfinden und biirgerUche 
Moral bestimme. Es konnten ja auch zum Beispiel Leute in Kunstaus- 
stellungen gehen, die keine kiinstlerischen Neigungen hatten, sondern 
nur allgemein interessiert seien und die aus diesem Grunde ein starke- 
res Gefiihl fiir Sittlichkeit und Schamverletzung hatten, 
Aus diesen Ausfiihrungen des hohen Berliner Gerichtshofes geht also 
hervor, dafi der kiinstlerisch empfindende, ja sogar der ganz allgemein 
gebildete Mensch ein hochst raffiniertes und gegen »Sinnenreize« ab- 
gebriihtes Individuum ist, dem eine Mehrheit von solchen Menschen 
gegeniibersteht, die keine nackt dargestellten Menschen, ganz gleich, 
ob Plastik oder Gemalde, sehen konnten, ohne infolge eines sofort 
eintretenden Sexualreflexes automatisch daran Anstofi zu nehmen. - 
Und diese Beschimpfung des normalen und gesunden Menschen soil 
man sich gefallen Iassen? 

Frankfurter Zeitung, 4. 6. 1923 



BALLETTPROBE IM STAATSTHEATER 



Im Probesaal, der nackt ist wie ein Klassenzimmer, tanzt das Ballett! 
In der Ecke rechts steht das Klavier, der einzige dunkle Fleck in dieser 
padagogisch-hellen Umgebung. Selbst der Klavierspieler ist blond. Ich 
sitze auf dem Podium neben dem Katheder. Jawohl, neben dem Kathe- 
der. 

Das Katheder ist ein Pult, mit klassenbuchahnlichen Heften belegt. 
Die Hefte enthalten verschiedene Rubriken, in denen steht: »i.Mini- 
ster«; »2. Minister«; und ahnUche Wiirdentragerbezeichnungen. Er- 
staunUcherweise heifien die Minister zum Beispiel: Elsa mit Vorna- 
men. Es sind Staatsposten des Balletts. Der Dienst derer, die sie beklei- 
den, ist Tanzen. (Eine Politik, die in den FuEspitzen liegt.) 
An der linken Pultwand befinden sich drei Druckknopfe. Es sind Klin- 
geln. Wenn sie der Herr Ballettmeister Hoffmann driickt, erscheinen 
entweder Tanzer oder die Tanzerinnen oder die »Solodamen« oder 
auch alle. Nach Belieben bitte. 

Oben lauft die Wande entlang ein Balkon, mit Vorhangen leider. Hin- 
ter den Vorhangen kleiden sich die kleinen Tanzerinnen aus und um. 
Die ganz kleinen Tanzerinnen sind siebenjahrige Kinder. Es gibt hier 
eine Schule, in der sie tanzen, um Lesen, Schreiben, Rechnen zu ler- 
nen, und andere Dinge, die Tanzerinnen brauchen. 
Diese kleinen Tanzerinnen verursachen ein grofies Gesumm auf dem 
Balkon, just, wenn die Probe beginnen soil. Drei Stockschlage des 
Herrn Ballettmeisters, mit einem Rohrstabchen auf den Boden getupft, 
horen sich an wie das Aufstofien mit einem Marschallstab vor Beginn 
eines konigHchen Zeremoniells, Drei Locher sind in das Gesumm ge- 
schlagen. 

»Mignon!« ruft der Herr Ballettmeister. Der Klavierspieler lafit einen 
Tanz den Tasten entrasen. 

Eben noch standen die Herren im StraEenanzug. Die Damen safien 
und standen in den Ecken. Sie haben weiEe Wirbelwindkleider an und 
nackte Beine. Die Flifie stecken in weifien Schuhen, die biegsam sind 
mit Sohlen wie aus Brieftaschenleder. Wenn es nicht so unsinnig 
klange, mochte man sagen, die Fiifie stecken in Handschuhen. 
Eben noch standen, wie gesagt, die Herren im Strafienanzug. Jetzt ha- 
ben sie plotzlich hergezauberte Pauken in der Hand, in die sie jubelnd 



1923 lOII 

schlagen. Sie schlingen sich durch die weifien Madchenreihen wie noch 
nicht fixierte, graue Zasuren durch Verse aus weifier Weiblichkeit. Von 
Melodiewinden geschaukelt, wiegen sich die Korper. 
Plotzhch verfangen sich irgendwo die Takte im Gestriipp. »Aufho- 
ren!« pocht der Stock des Herrn Ballettmeisters. Die Musik bricht ab. 
Ein halbzerrissenes Tonbiindel war noch eine Weile in der Luft. 
»Noch einmal!« Der Tonbiindelrest ertrinkt in den Anfangsklangen. 
Das war glatt. Die Trommeln klangen iiberall wie ordnungsgemafSe 
Punkte, sauber hinter die Rhythmen gehauen. Die Herren treten ab. 
Dann ist Pause. Die Damen trippeln in die Ecken. Sie erhalten Thea- 
terbillette von einem umherziehenden Herrn. 

Die kleinen Tanzerinnen summen schon wieder. Ein Biindei brauner 
und blonder Madchenkopfe ragt iiber das Gelander herunter, von fort- 
wahrendem Getuschel geschaukelt. Der Herr Ballettmeister ruft die 
Kinder, und dann trippeln sie, tripp, trapp, mit dem Gerausch eines 
Sommerregens die Stiege entlang in den Saal. 

Dann driickt der Herr Ballettmeister auf den Knopf, auf dafi die Solo- 
damen herfurtreten. Die Kinder ergreifen Palmzweige, die auf dem 
Klavier liegen, und umrahmen die Gruppe der Tanzerinnen wie ein 
kleiner Gartenzaun aus Kinderkorpern. 

Hier sieht man die unmittelbare Wirkung der Musik: wie ein Ton 
einen Korper elektrisch durchfliefit und eine Geste hervorruft. Wie die 
Melodic sich zum Korper wandelt und plastische Ausdrucksform 
wird. Wie nahe verwandt die Kiinste sind: Musik und darstellende 
Kunst. Ich habe die zwingende Vorstellung, dafi ein Bildhauer model- 
Ueren miifite bei Musikbegleitung. 

Es ist ein freudiges Exerzieren. Die militarische Exaktheit besanftigt 
sich in den weichen Bogen runder, schleifender Bewegungen. Das 
Kommando ist spharisch. Man gehorcht ihm nicht aus Not, sondern 
aus innerem Zwang. 

Ich mul^ noch vom Herrn Ballettmeister erzahlen: Er ist nicht mehr 
ganz jung, der Herr Ballettmeister. Aber ich sehe, wie in seinem Kor- 
per die Rhythmen tanzeln. Wenn er rasch hintereinander ta-ta-ta sagt, 
hiipfen seine FiifSe sozusagen innerlich. Manchmal stellt er sich in die 
Mitte und zeigt: Die Damen miissen eine Schulter zurlickbiegen. Und 
er biegt, wahrhaftig, eine Schulter geschmeidig zuriick, dafi er aussieht 
wie eine Tanzerin. Nur in der Ruhe ist er Herr und Ballettmeister. 
Hier ist er endlich einmal eine Autoritat ohne Steifheit. 



I0I2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Ich liebe den Herrn Ballettmeister. Er hat einen Rohrstab, aber der 

dient nur zu Illusionszwecken. (Der Rohrstock meines Rechenlehrers 

war keine Illusion.) 

Er kommandiert und befiehlt, aber sein Befehl ist durch Musik gemil- 

dert und seine Strenge von Melodien umrahmt. 

In diesem hellen Klassenzimmer fiillt sich dank der Musik die Luft mit 

Rampenlichterglanz. Die Tanzerinnen tragen nur weifie Wirbelwind- 

kleidchen, aber wenn sie wirbeln, bekommen sie einen Regenbogen- 

glanz. Es ist, als ob die ganze Theaterpracht in den Korpern, in den 

Bewegungen und in den Klangen verborgen ware. Und des Nachts, in 

der Vorstellung, ist die Kulisse nur Staffage, die Rampenlichter sind 

Behelf. 

Ei, wenn sie auf die Biihne kommen, diese Madchen! Hier sehe ich sie 

aus dem Alltag und vom Balkon hertanzen. Ich sehe ihre Nummern im 

Klassenbuch, die Thyrsosstabe, die Rohrstabchen sind, die Engelsflii- 

gei, wie sie sozusagen angenaht werden. Ich bin in der Werkstatt der 

Traume. Ich sehe die Entstehung des Zaubers, seine chemischen Be- 

standteile. 

Ich weifi, daf5 es etwa ein halbes Hundert Tanzerinnen gibt. Dafi die 

meisten aus FamiUen stammen, die kein Geld haben. Daf5 die kleinen 

Engel auch rechnen lernen miissen. Dafi sehr viel Anmut aus sehr viel 

Armut kommen kann. 

Ich weif5, dafi am Abend die Mutter im Sonntagskleid im Parkett sitzen 

und unter fiinfzig wirbelnden Zehenspitzen nur zwei ganz bestimmte 

Zehenspitzen sehen, die ihren Tochtern gehoren. Und ich sehe, wie die 

Kinder, die eben noch Palmblatter in himmlischen Handchen trugen, 

mit der Stadtbahn heimfahren und mit dem Vater im Norden Berlins 

Mittag essen, aus einfachen Gefafien mit Loffeln aus Zinn. 

Frankfurter Zeitung, 9. 6. 1923 



ANNAWITTE 

Anna Witte verkauft Papier und Schreibgerate in der Hardenberg- 
strafie 42, in der Nahe der Technischen Hochschule, in einem beschei- 
denen, aber reichUch mit Waren versehenen Laden, den man einen 



1923 I0I3 

»gutgehenden« nennen kann. Sie packt Papier, Reifizeug, Umschlage, 
Bleistifte, Stahlfedern und Ansichtskarten in alte Nummern der 
»Deutschen Zeitung«, der »Deutschen Tageszeitung«, bestenfalls der 
»Deutschen Ailgemeinen Zeitung«. 

Also hangt an der Glastiir ihres Ladens eine schwarz-weifi-rot umran- 
dete Einladung zu einem Vortrag des Herrn Jiirgen von Ramin; also 
sind im Schaufenster Ansichtskarten nationalen Charakters zu sehen, 
angefangen vom Bild einer patriotischen Alt-Heidelberg-Ruine bis tief 
hinunter zur Photographic des Kronprinzen. Der ist iibrigcns in ver- 
schiedenen Situationen vorhanden: wie er zum Beispiel, das Land der 
Sehnsucht mit der Seele suchend, am Strande sitzt und auf das Meer 
sicht; und wie er, in schUchtem Zivil, mit redHchem Aug' in eine von 
Rosner komponierte Wirklichkeit bUckt, durch Memoiren gelautert 
und Rcpublikanern der Deutschen Volkspartei sogar sympathisch. 
Anna Witte verkauft auch Photographien von Prinzessinnen, riihren- 
dcn Hohenzollernkindern, rhcinischen Bergwerken, deutschen Flug- 
zeugen und im Heeresbericht der Kriegsjahre genannten Flugzeugfiih- 
rern. Die Gesinnung der Mefiterwoche erfiillt das Schaufenster der Pa- 
pierhandlerin Anna Witte. 

Sie arbeitet redlich von neun Uhr friih bis sieben Uhr abends - mit 
einer mittaglichen Unterbrechung von anderthalb Stunden. Ich sagte: 
redlich - weit und breit fand ich keinen Papierhandler, der Faber-Stifte 
noch zu 350 M. verkaufte. Die meisten Papierhandler haben sich an die 
neuen Preise rascher gewohnt als an die neue Staatsform. Wenn Be- 
schranktheit die Voraussetzung reaktionarer Gesinnung ist - Anna 
Witte entschuldigt zumindest der Mangel kaufmannischer Pfiffigkeit, 
schlief51ich ist sie eine Papierhandlerin. 

Frauen dieser Art tragen immer diese Kleidung: ein dunkles, hochge- 
schlossenes Kleid mit Potsdamkragen, einfach geglattetes Haar und 
eine freie Sittlichkeitsstirn. Es ist eine betonte Abkehr von Eitelkeit 
und den Torheiten weibHchen Wesens. Es ist ein Protest gegen die 
siindhafte Verirrung der modernen Frau und die Tendenz, sozusagen 
ein nichtleuchtendes Beispiel deutscher Frauentugenden zu sein. Nur 
die Prinzessinnen diirfen Abendkleider mit Ausschnitt tragen. Der 
schlichten Biirgerin ziemt der Stehkragen. Solche Frauen kenne ich: 
Ich sah sie in den Vortragssalen, in denen Professor Brunner sprach, in 
den SonntagnachmittagsauffUhrungen der Calderon-Gesellschaft und 
manchmal in den Ziigen, die nach Potsdam fahren. Nur in Deutsch- 



I0I4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

land sieht man diese Kleider, diese Frisuren, diese Moral auf Kosten 
des guten Geschmacks. 

Es stecken meist anstandige Menschen in diesen Kleidern. Sie haben 
nur das Ungliick, auf Grund unseliger Verwechslungen unsympa- 
thisch zu sein. Sie glauben, Ruckstandigkeit ware deutsche Treue; 
Stolz auf eigene Untertanigkeit ware natfonaler Stolz; Antisemitismus 
ware Vaterlandsliebe; em nationalistischer Morder ware ein Siegfried. 
Und so geschah es mit der Papierhandlerin Anna Witte. Sie sammelte 
fiir den Rathenau-Morder Ernst Werner Techow. Sie wurde verurteilt, 
und sie wird wahrscheinlich vom Prasidenten Ebert begnadigt warden. 
Denn sie ist eine Papierhandlerin, sie lebt von den Ansichtskarten, von 
den Horern der Technischen Hochschule, sie liest die »Deutsche Zei- 
tung«, sie tragt eine entstellende unweibliche, antiweibliche Mode - sie 
ist bestraft genug. 

Gewifi tat ihr der junge Techow leid, der zu ihren Stammkunden 
zahlte. Sie ist eine einsame Frau, sie hat sich nie vorteilhaft angezogen, 
ihre Moral hat sie immer gezwungen, Propaganda gegen ihre eigene 
Weiblichkeit zu treiben. Sie hat nicht viel Liebe erlebt, spat und ganz 
anders entwickelten sich ihre Gefuhle fiir die Horer der benachbarten 
Technischen Hochschule. Eine spate, karge Romantik. Sagen wir: Es 
war Miitterlichkeit. 

Sie spricht nicht viel, sie ist mifitrauisch gegen fremde Besucher, sie 
lebt mifitrauisch und verbittert, beschrankt und ehrlich, arbeitsam und 
enge in dieser neuen Welt. Man lasse sie weiter, zur Strafe, Ansichts- 
karten des Kronprinzen verkaufen. Einen Vortrag des Jiirgen von Ra- 
min ankiindigen. Und an dieser falschen Romantik zehren, die heute 
die deutsche Studentenschaft mit schabigem Glanz umhiillt. 

Das Tagebuch, i6. 6. 1923 



DIE ANDERE WELT 



Erhebende GewiEheit, dafS die Armlichkeit irdischen Menschenlebens 
vom Lauf der Gestirne abhangt, dafi der Kosmos sich ausgerechnet um 
mich kiimmert und da£ meine Liebesangelegenheit mit dem »Aspekt« 
der Venus zu tun hat. DafS der zweite Juni zum Beispiel ein ganz her- 



1923 I0I5 

vorragender Tag war zum Saen und Pflanzen von »Ruben, Zwiebeln 
und Knollengewachsen«; der dritte dagegen kritisch fiir »Kinos und 
Spekulationen« ; der vierzehnte gut fiir »Deutschland, Verwaltungen, 
Obere, Lehrer, Richter und fiir Operationen«. 

Erlauben sich die Gestirne Witze? Steht es wirklich schon in den Ster- 
nen geschrieben, dafi Tage, die fiir Deutschland giinstig, es auch fiir 
Oberlehrer sind? Und ein und dieselbe »Konstellation« regiert des 
Deutschen Reichs Geschicke und jene des Oberlehrers? Zweifelte ich 
je an der Astrologie - hier offenbart sich mir iiberzeugend (weil iro- 
nisch) die Glaubwiirdigkeit der Gestirne, welche die gleichen Gesetze 
fiir Beamte und Deutsche wirksam sein lassen. 

Wahrend des ganzen Monats sind uns beschert: heftige Prefifehden, 
Sexualkrankheiten, Schwierigkeiten der Regierungen und der Finan- 
zen, Lohnbewegungen unter den Angestellten. 

Es stimmt. Will man aber wissen, woher die ewigen Gestirne so gut 
orientiert sind iiber die Verhaltnisse des europaischen Kontinents - die 
Losung ist leicht und einfach: Der Herausgeber der »Anderen Welt«, 
einer astrologischen Zeitschrift, die sich aus kosmischen wie kosmopo- 
litischen Griinden auch »La altra Mondo« nennt, der Goppinger 
Astrologe Chr. Osterreicher - ein Gattungsname fiir Leichtglaubige - 
liest mit Eifer die irdischen Zeitungen und versendet komprimierte 
Leitartikel ins Weltall zur Aufklarung der analphabetischen Planeten. 
Aus Dankbarkeit erweisen sich dann die Sterne gefallig und prophe- 
zeien, was geschieht. 

Der Herausgeber der Zeitschrift aber verdient Geld. Nicht nur weil er 
Abonnenten findet und sogar Referate in der Zeitung (wie dieses hier), 
sondern weil anzunehmen ist, daf^ er mehr weifi, als er sagte, und dafi 
es ihm ein leichtes ist, kosmische Tips auf der Borse anzuwenden. Viel- 
leicht gar spekuliert er, prozentual beteiligt, fiir Mars und Jupiter in 
Bankaktien. 
Man kaufe sie! 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 18. 6. 1923 



MAZDAZNAN 

Die » V€rdrdngHng« der Erotik - Knoblauchkur - Etwa 200000 
Anhdnger in der Mark Brandenburg - Die Alten und diejungen 

Die ersten Mazdaznaner begegneten mir in Ilfeld im Harz bei Nord- 
hausen. Es waren herumschweifende »Bruder und Schwestern«, alle in 
Sandalen, alle mit knoblauchgefiillten Sacken an der Hiifte und in 
lichten Gewandern. 

Sie zogen schweigsam, in zwanglosen Reihen, zwei und drei und vier 
in einer Reihe, wie es sich traf, und verbreiteten einen weit spiirbaren 
Knoblauchgeruch. Es war Friihling, noch dunstete der Waldboden 
grau, und die Mazdaznaner schlichen durch die wallenden Nebel wie 
ein Zug Auferstandener, lange begraben Gewesener, die ihre Sprache 
verloren haben. 

Spater, in der Stadt Ilfeld, lernte ich einen Mazdaznaner in Zivil ken- 
nen. Es war ein Biirstenbinder und Korbflechter, ein stiller Mensch 
mit jenem Flackern in den Augen, das in deutschen kleinen Stadten 
manchmal die Kleinbiirger haben und das sie auf den zweiten Blick als 
Angehorige irgendeiner Sekte kennzeichnet. An der Tiir des Korb- 
flechters hing eines jener Instrumente, die zum Gebiet der Medizln 
ebenso gehoren wie zur Einrichtung jedes hygienischen Hauses und 
die bei Magenerkrankung wertvoUste Dienste leisten. Zu den Geboten 
der Mazdaznaner gehorte die haufige Benutzung dieses Spiilinstru- 
ments. 

Die Sekte der Mazdaznaner ist persischen Ursprungs^ sie bezieht ihre 
Gebrauche auf die hochstpersonlichen Anweisungen Zoroasters. Ihre 
Lehre befiehlt ihnen »Reinigung von innen<(, Geringschatzung, sogar 
Verachtung jeder Sexualitat. Verdrdngung der Erotik durch Sonnenbe- 
strahlung, ermiidende Wanderung, kalte Bader. Sie mlissen taglich - an 
Sonnentagen - vier Sonnenbader nehmen und zwei Sitzbader. Nur 
jene Eier diirfen sie essen, aus denen der sogenannte »Hahnentritt« 
entfernt ist, das ist jener weifie Faden, der angeblich den Dotter mit 
dem Eiweifi verbindet und sozusagen als standige Erinnerung an die 
blamable Tatigkeit des Hahnes in der Frucht zu sehen ist. Zum Friih- 
ling, wenn die Blumen zu sprielJen beginnen, fangen die Mazdaznaner 
mit ihrer Knoblauchkur an. Sie verpesten die schonen thiiringischen 
Walder mit dem Knoblauch, die kleinen und grofieren Stadte mit ihrer 



1923 I0I7 

Lehre, welche die Liebe aus der Welt schaffen soil. Die Mazdaznaner 
glauben namlich eifrig daran, dafi bei peinlichster Verfolgung der 
Zoroasterschen Gebote eines Tages die Menschheit es nicht mehr notig 
haben wird, sich auf die iibliche Weise fortzupflanzen, sondern es wird 
die Sonne gewissermafien die Kinder an den Tag bringen. 
Diese Lehre verurteilt ihre eigenen Anhanger zum Aussterben - und 
sie ware allein schon dadurch ungefahrlich, daf5 sie die Erzeugung jun- 
ger Mazdaznaner auf dem mehr oder weniger garantiert sicheren Wege 
zu verhindern trachtet. Allein, immer mehr Ehepaare, die ihre siindige 
Jugendzeit schon hinter sich und um sich die lebendigen Folgen jener 
Zeit haben, fallen den Mazdaznanerweisheiten anheim, und die Kinder 
sind ebenso glaubig wie die Eltern. Besonders verbreitet ist diese Sekte 
in Thiiringen, aber auch in der Mark Brandenburg leben Mazdaznaner, 
und im Norden Berlins spriefien sie in den Friihpromenaden auf, den 
Knoblauchduft verbreitend. 

Es gehoren meist Kleinbiirger zu den Mazdaznanern: kleine Schuster- 
meister, Tischler, Topfer und sehr viele Frauen. In Brandenburg diirf- 
ten etwa zweihunderttausend leben, sonst ganz verniinftige Menschen, 
normal mit ihrem Beruf beschaftigt und, abgesehen von der schonen 
Liebe, alle Ideale der MenschUchkeit hochhaltend. Sie helfen einander 
briiderlich auch mit Geld; ihr Vertrauen zu der Anstandigkeit der 
Menschen ist ebenso grofi wie ihr Glaube an die Heihgkeit ihrer Ge- 
bote. Es gibt auch fromme Christen unter ihnen, fleiEige Kirchenbesu- 
cher, piinktHche Steuerzahler. Sie sind iiberhaupt bestrebt, sich so we- 
nig wie moglich von den andern zu unterscheiden. Freilich niitzen 
diese guten Vorsatze nichts, sie zerschellen sozusagen am Knoblauch- 
geruch. 

An stillen Nachmittagen machen die Mazdaznaner einander gegensei- 
tig Besuche. Sie vergessen bei diesen Gelegenheiten nicht, jene vorher 
erwahnten Instrumente mitzunehmen. Und so kann man die Mazdaz- 
nanerfrauen in schonen Kleidern mit weiten Markttaschen sehen, 
manchmal auch mit umfangreichen Papiertiiten. Unterwegs verteilen 
sie gelegenthch Propagandaliteratur. Kleine Broschiiren, gedruckt zu- 
meist in thiiringischen Stadten, mit dem Phantasiebildnis Zoroasters 
auf dem Umschlag. Ein- oder zweimal im Monat veranstalten sie Pro- 
pagandaabende in Schulraumen und laden Strafienpassanten durch 
kleine Handzettel ein. Da versammelt sich alles, die armen, alten, abge- 
arbeiteten Frauen mit ewigtranenden Augen in schwarzen armseligen 



I0l8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Kleidern, die Haare straff nach oben gekammt und bestrebt, den Ein- 
druck einer ohnehin glaubwiirdigen Menschheit hervorzurufen. Man- 
ner mit den typischen Ziigen jener, die man bei jedem okkultistischen 
Schwindelvortrag sehen kann. Das Podium steht nicht an der Wand, 
sondern in der Mitte. Eine Sonne, triefend von Fett, cine schmelzende 
Buttersonne, in gliihenden Oifarben gemalt, liegt auf dem Tisch. An 
den tritt ein bartiger Mann im Biifierhemd und liest das mangelhafte 
Deutsch einer Broschiire vor. 

Ich fragte ihn, was das Wort Mazdaznaner bedeute, und er schwieg, 
auf die Decke weisend, mit glaubig gestrecktem Zeigefinger, Er wei& 
kaum etwas von Zoroaster. Er ist ein arbeitsloser Schmied und nahrt 
sich von gespendetem Knoblauch und Eiern ohne »Hahnentritt«. Er 
fiihrt eine Registratur - darin sind die Namen aller Berliner Mazdazna- 
ner verzeichnet und aller Mazdaznaner-Zentralen im Deutschen 
Reich. Sehr stolz erzahlte er mir von der Zugehorigkeit eines im We- 
sten BerHns lebenden Professors, eines Mediziners, zum Mazdazna- 
nertum. . 

Die junge Generation der Mazdaznaner scheint ihre Gebote nicht so 
ernst zu nehmen. Ich sah sie parchenweise in das Dunkel der nachtli- 
chen Straf5e davonschleichen. Offenbar glauben sie nicht recht an die 
Moglichkeit einer Fortpflanzung dutch Sonnenstrahlen. Sie ziehen die 
vertrauenswiirdige Verschwiegenheit nachtlicher Gestirne vor. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 27. 6. 1923 



BERUHMTE HUHNERAUGEN 

Aus den Memoiren des Wiener Operateurs Dornauer 

Am Graben, also mitten in Wien, lebt seit vielen Jahren ein Mann, der 
ein Wohltater der Menschheit genannt werden mufi, obvi^ohl er sie nur 
von einem der kleinsten Ubel zu befreien vermag. Wenn er dennoch 
Gegenstand einer offentlichen Erorterung wird, so geschieht es mit 
Riicksicht auf jenes Gesetz, demzufolge die geringsten Ursachen die 
grofiten Wirkungen hervorzurufen imstande sind; ferner dank dem 
Umstand, dafi zu des Wohltaters und seiner Vorfahren Patienten ne- 
ben vielen unbedeutenden Menschen auch beriihmte und historische 



1923 10 19 

Personlichkeiten gehorten, von deren Leben und Wirken zwar man- 
ches iiberliefert ist, von deren kleinen Schmerzen die Nachwelt aber 
keine Ahnung hat. 

Der Mann am Graben (Im »Grabenhof«) ist ein HuhneraHgenopera- 
teur. Er heifit Wilhelm Dornauer - ein Name, der es jedem leicht 
macht, die Beziehungen zum Gev^^erbe des Hiihneraugenoperierens 
festzustellen. Was diesen Dornauer von seinen Kollegen unterscheidet 
und vor ihnen auszeichnet, ist die Tatsache, dafi er ein historischer 
Dornauer ist, ein Hiihneraugenoperateur, der sozusagen beriihmte 
Huhneraugen entfernt hat, ein Mensch, der von der und jener Person- 
Uchkeit genau weifi, wo sie der Schuh driickt, und vor dem bekannte 
Wiener Frauenschonheit jenes Geheimnis eingesteht, das sie selbst 
dem geliebten Manne verbirgt, Abte, Klosterfrauen, Schauspielerin- 
nen, Prinzen standen, will sagen: saEen und sitzen in Dornauers Be- 
handlung. Er selbst betreibt sein wohhatiges Geschaft schon an die 40 
Jahre. Seine Grofimutter, die aus Miinster in Tirol stammte und eine 
heilkundige Frau war, erfand jenes segensreiche Pflaster, das ein Ge- 
heimnis und eine Erwerbsquelle der FamiUe wurde und mit dem sie 
durch viele deutsche Stadte reiste, eine fahrende Hiihneraugenschnei- 
derin. Sie sammelte Dankschreiben von Patienten »hoheren und niede- 
ren Standes«, und so entstand das Stammbuch der Familie Dornauer, 
aus dem zu ersehen ist, wie das iiber die Menschheit gesate Unheil des 
Hiihnerauges keine Unterschiede kennt, den Proleten und die Durch- 
laucht mit gleichen Schmerzen treffend. 

Aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammten die ersten Eintragun- 
gen. »Nachdem die Residenz das Beispiel gegeben, so hat auch das 
Physikat nichts gegen den Aufenthalt der Familie Dornauer - Offen- 
bach 1833. « Wir lesen, dafi in demselben Jahre in der Stadt Mannheim 
die »Frauleins von Drais« - die Zahl ist nicht genannt - ihre Hiihner- 
augen losgeworden sind, ebenso wie der dankbare »Hofschneidermei- 
ster Heyd«. 1836 wurden die prinzlichen »Elsteraugen« des Prinzen zu 
Solms-Braunfels kuriert - in Diisseldorf - und 1840 in Munchen die 
graflichen 'des »Grafen Arco-Valley, Reichsrats der Krone Bayern« - 
wie man weifi, ein Vorfahre des Eisner-Morders. Der Aht Barnabas 
von Augsburg und die Klosterfrau Franziska Riesen sind als Vertreter 
der geistlichen Macht genannt. Dann kommt ein beriihmter Patient - 
auf den ich die Professoren der deutschen Literaturgeschichte beson- 
ders hinweise: namlich Franz v, Dingelstedt, iiber dessen Hiihnerau- 



1020 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

gen noch keine germanistische Doktordissertation vorhanden sein 
diirfte. Dingelstedt bewies seine Zugehorigkeit zur Literatur, indem er 
der Familie Dornauer einen zwei Seiten langen franzosischen Dank- 
brief schickte. Kurz und stolz setzten ein paar Habsburger ihre Unter- 
schrift hin: Erzherzog Karl Ludwig, Franz Karl und der ermordete 
Thronfolger Franz Ferdinand, Man mag - liest man dfese Unterschrif- 
ten - an geheimnisvoUen Zusammenhang denken zwischen hoher Poii- 
tik und privatem Huhneraug'; und daran, wie die Geschicke der Vol- 
ker abhangen konnen von einem launenverderbenden Schmerz in 
einem kleinen grofien Zeh . . . 

Vergebliches Bemiihen, an den beriihmten »Wolterschrei« nicht zu 
denken, wahrend man den Namen der grofien Tragodien in diesem 
Buche sieht - Heldin auch in den kleinen, allzumenschlichen Trauer- 
spielen. Die Wolter ist nicht die einzige Vertreterin der Biihnenkunst: 
Der Schauspieler Robert hatte auch Hiihneraugen. Und Lewinsky 
ebenfalls (sein Portrat hat er den Dornauers geschenkt). Und hatte je- 
mand geahnt, dafi an der gottHchen Heiterkeit Girardis und ihrer un- 
gehemmten Entfaltung der Hiihneraugenoperateur keinen geringen 
Anteil hatte? Wer weifi: Wenn Girardis Stimme in schmelzender Weh- 
mut zitterte und die Zuhorer in Ruhrung schwammen, ob dieser 
machtigen Wirkung kleine Ursache nicht in einer vers aum ten Ordina- 
tionsstunde zu suchen ware? . . . 

De viventibus nil nisi bene: Uber die Lebenden kein boses Wort. Es 
gehort noch mancher zu Dornauers Patienten, der bestimmt in die 
Weltgeschichte kommt. Manche, die als Frauenschonheit in den Anna- 
len dieser Stadt fortleben wird. Dariiber schweigt das Buch. 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 2. 7. 1923 



DER NACHTLICHE ZEITUNGSARTIKEL 



In den Cafes und Bars des Kurfiirstendamms kennt man ihn. Ein unge- 
wohnUch hoher Schadel zeichnet ihn aus. Als berge sich darinnen alle 
Weisheit der Blatter, die er feilbietet, so stolz tragt er auf unverhaltnis- 
mafiig diinnem Halse den machtigen Kopf. Weit, auf bereits unsicht- 
barem Hinterkopf, traufeln sich blonde Haare. 



1923 I02I 

Dieser Mann stottert. Und er iibt einen Beruf aus, in dem nichts so 
gebraucht wird wie Zungenfertigkeit. Der Mann ist aber auch zungen- 
fertig. Sein Stottern ist nur ein aufierliches Gebrechen. Er hat die selt- 
same Fahigkeit, in fiinf Minuten so viel zu stottern, wie ein Normal- 
ziingiger niemals sprechen konnte. Er erinnert in dieser Beziehung an 
den jungen Demosthenes, als dieser noch nicht die Methode, mit dem 
Kieselstein auf der Zunge das Stottern zu vertreiben, geiibt hatte. 
Der Mann verkauft Zeitungen. Und zwar nicht wie ein gewohnlicher 
Berliner Zeitungshandler jene Blatter, die in Berlin erscheinen - nein ! - 
er hat eine Spezialitat: Er bietet nur auslandische Zeitungen feil: engli- 
sche - die Ruhrbesetzung verbietet ihm das Feilhalten franzosischer 
Blatter-, spanische, bohmische, jugoslawische. 

Er weifi nicht nur die Preise seiner Blatter, sondern auch ihren Inhalt. 
Denn er stottert in mehreren europaischen Sprachen. 
Einmal sprach ich mit ihm. Ich interviewte den Handler mit Inter- 
views. Und ich erfuhr, da{5 er es eigentlich gar nicht notig hat, des 
Nachts mit einem Pack Zeitungen durch die Kaffeehauser zu wandern. 
Er ist reichy und seine Frau fdhrt im eigenen Auto. Von Beruf ist er 
Artist und Erfinder einer Spezialitat: namlich des Radfahrens auf run- 
dem Plafond, mit abwarts gekehrtem Kopf, schnell, immer schneller. 
Ein verbliiffendes Kunststiick. Das Geheimnis besteht darin, dafi am 
Plafond ein runder Magnetstreifen lauft, das Rad andrehend und fest- 
haltend. Es ist immerhin eine kiihne Fahrt. 

Der »Wintergarten«, der den Zeitungshandler und Artisten engagieren 
woUte, konnte ihm die verlangte Gage nicht bezahlen. Er forderte 
fiinfzehn Millionen im Monat. Er hat Geld genug. In Amerika, wo er 
vor dem Kriege aufgetreten ist, warten seiner zehntausend Dollar. In 
stilien Stunden sinnt er iiber neue Patente. 

Mit Zeitungen handelt er, weil es seine Menschenkenntnis bereichert. 
Oft ist ein Gast, an dessen Tisch er tritt, versucht, ihm ein Trinkgeld 
zu geben, ein Ablosungsgeld fiir die nicht gekaufte Zeitung. Mit kiih- 
lem Stolz weist er dergleichen Angebote zuriick. Damen, die eine Zi- 
garette in den Mund stecken, auf ein Streichholz des Kellners wartend, 
eilt er dienstbeflissen mit stets exakt funktionierendem Feuerzeug zu 
Hilfe. Ich mache mich nur einer kleinen Ubertreibung schuldig, wenn 
ich behaupte, dafi dieser Zeitungshandler der einzige Mensch ist, des- 
sen Feuerzeug noch nie versagte. 
Er ist ein seltsames Gemisch aus Skurrilitat und philosophischer Welt- 



1022 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

anschauung. Eine Menschengattung, die in der Niichternheit Berlins 
selten zu finden ist. Ein Mann, befreundet mit den mehr oder weniger 
dunklen Existenzen des nachtlichen Berlin. Von Kellnern gonnerhaft 
angesehen, von den Gasten mit Bewunderung. 

Neue Berliner Zeitung - u-Uhr-Blatt, 4. 7. 1923 



DIE TODESOPFER DES GROSS-STADTMAGENS 

Bilderaus dem Schlachthaus zu St. Marx 

Breit gelagert, iiber einen Umkreis von 59000 Quadratmetern, ist das 
Schlachthaus St. Marx, die blutige Wallstatt, der Ochsen und Kalber 
auenumfriedetes, von der Aufienwelt abgeschlossenes Feld der Ehre, 
auf dem sie geopfert werden fiir Mensch und Magen. Um fiinf Uhr 
morgens herrscht im St. Marxer Schlachthaus sozusagen bewegtes 
Sterben, in der Schlachthausgasse friihes Leben. Vom Viehmarkt her 
schallt das Bloken der Rinder, der gewaltigen Kehle eines Todgeweih- 
ten entgrollt von Zeit zu Zeit ein kurzer dumpfer Aufschrei. Aus der 
Strafienbahn eilen Schlachter herbei, in triigerisches Unschuldsweifi 
gekleidet, und das Messer schlenkert an ihrer Hiifte. 
Aus fiinf grofien Objekten besteht das Schlachthaus : Es sind fiinf 
grofie Schlachth alien mit kleineren Schlachtkammern, von denen die 
meisten mit Aufziigen ausgestattet sind, mit bequemen Kuhlrdumen, 
die wie grofie Banksafes aussehen, mit eisernen, dichtgeflochtenen Tii- 
ren versehen, mit Stallen, unterirdischen und ebenerdigen, in denen die 
frommen Schafe demiitig und menschergeben vor den Krippen stehen, 
mit eisernen Ketten an ihr Schicksal gebunden. In diese Stallungen 
(Vorhofe des viehischen Jenseits) gelangen die Tiere aus dem Viehhof 
durch ein breites Doppelfliigeltor. Sie schreiten, dumpf, ohne Wider- 
stand - die Ahnung des kommenden Todes iiberschattet ihre breiten 
weifien Stirnen, macht ihren Trott leichenfeierlich und langsamer - 
eine breite, sanft ansteigende Strafie empor, den Golgathaweg der 
Tiere. Begleitet von ihren Treibern, die keinen Zwang mehr anzuwen- 
den brauchen. 

Es ist ungesund, die Tiere unmittelbar nach dem Auftrieb zu schlach- 
ten, solange die Erregung in ihren Gemiitern noch nachzittert. Sie ru- 



1923 1023 

hen im Stall aus, mit breiten, mahlenden Kiefern ihre vorletzte und 
letzte Mahlzeit kauend. Die Stalle sind grofi und durch Wande in 
Kammern geteilt - eine Vorsichtsmafiregel, die das leichtere Absperren 
verseuchter Tiere ermoglicht. Nur einige unterirdische Stallungen, 
dumpf und ohne Licht, die »Stallkatakomben«, miissen vorlaufig noch 
beniitzt werden, bis (im September dieses Jahres) die Neubauten fertig 
geworden sind. Diese Keller sind schaurig und mittelalterlich und erin- 
nern an die »VerlielSe«, in denen zum Tod Verurteilte ihre letzten Tage 
zubringen miissen. In den Stallen finden 2300 Kinder Platz. 



Der Auftrieb der Tiere 

Von den Stallen fiihrt der Todesweg des Tieres zur - metaphorischen - 
»Schlachtbank«. Es ist keine »Bank« da- in der grofien Halle sind nur 
Pfosten vorhanden, an welche die Tiere angebunden werden. Hoch 
oben sind die Fenster angebracht, aus unerreichbarer Hohe dringt das 
letzte Licht einer grausamen Welt sparsam und traurig herein. Es 
riecht nach geronnenem Blut, seit 80 Jahren rinnt hier Blut, zum 
Wohle der Menschheit. Tag fiir Tag von 6Uhr friih an vergossenes. 
Den Boden deckt gleichgiiltiges Steinpflaster, glattes, glitschiges, in der 
Mitte gewolbtes. Jeden Tag flutet kaltes, reinigendes Wasser liber diese 
Steine, und sie sind sauber und in Unschuld gewaschen und sehen aus 
wie am ersten Tag. Hoch oben, vielfach gewolbt, ein steinerner Pla- 
fond, hinter dem sich Gott, unsichtbar und taub, verbirgt. 



Die Schlachthallen in Betrieh 

In diesen Schlachthallen konnen tagUch in Intervallen 1400 Kinder 
»geschlagen« werden - zu gleicher Zeit aber nur 350. Hier lassen die 
Grofiheferanten ihr Vieh schlachten, dazu verwenden sie die »Lohn- 
schlachter«, Mitglieder und Gehilfen der »Arbeitsgenossenschaft fiir 
Schlachtungen«, gepriifte Schlachter, die das Messer sicher fiihren. Die 
kleinen Fleischhauer arbeiten mit eigenem Personal. Die heiEesten 
Tage sind jene der GroEmarkte. Montag und Freitag. An 140 
Schlachtstanden rinnt das Blut unaufhorUch. An 140 Standen sinken 
die wehrlosen Tiere in die Knie, vom betaubenden Gnadenschlag be- 



1024 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wufitlos geworden. Aus 140 gutgetroffenen Kehlen schiefit der Strahl 
des roten Lebens. 

Die Luft des Schlachthofes macht die kraftstrotzenden prachtigen 
Tiere willig und ergeben. Ein sanfter Mahnruf des humanen Todesen- 
gels geniigt, eine leise Beriihrung des Opfers, und es gibt den nutzlosen 
Versuch auf und widersteht nicht mehr. Ein sanftes Wedeln mit dem 
nervosen Schweif wie ein letzter Grufi an die versinkende Welt. Der 
fromme gute Blick schweift an den Menschen vorbei - in eine kaum 
erahnte Feme dringt er durch Korper und Wande. Noch einmal strau- 
ben sich die weichen Pelzhaare, ein kleiner Schauer streicht die Wirbel- 
sauie entlang. Aber die Augen bleiben offen und traumverloren, das 
Lid zuckt nicht, das Tier scheint den Arm, der sich eben zum vernich- 
tenden Schlag erhebt, gar nicht zu sehen. Es steht einsam inmitten sei- 
ner Todesgefahrten und der totenden Menschen, nicht mehr von dieser 
Weh, bereit fiir die Ewigkeit. Der machtige Schlag gegen eine be- 
stimmte Stelle des Hirns totet schonungsvoll jede Empfindung, ehe das 
Messer angesetzt wird und das Tier, durch den ersten Schmerz zum 
halben Bewufitsein wiedergelangt, die Augen noch einmal aufschlagt, 
zum letzten Mai. Es ist einer der wenigen Augenbhcke, in denen jedes 
Tier voUkommen menschlich wird durch die Macht des Todes. 
Dann hangen sie nebeneinander, die Leiber, aus denen die wiihlende 
Hand des Schlachters Eingeweide und irdischen Schmutz entfernt; die 
sauberen Tierleichen mit den friedlichen Kopfen, mit totem Gehirn, 
erstorbenen Nerven. Sie kamen einst weit her, aus Rumdnien^ Ungarn^ 
Jugoslawien^ und nur wenige waren in dem Land geboren, in dem sie 
starben. Viele Tagereisen lagen hinter ihnen, Tage in engen, finsteren 
Waggons, in denen sie furchtsam und erschreckt durch fremdes rollen- 
des Gerausch Ihre warmen Leiber aneinander rieben, weite Fahrten 
unternahmen sie nach dem unerforschlichen Willen einer hoheren Ge- 
wait, um am Ziele ihr Leben zu lassen - wie dereinst die Marschkom- 
panien. In die sauberen 

2}} Kiihlzellen 

gelangen sie, wo das Eis vom ijSpferdekraftigen Elektromotor erzeugt 
wird. Teile, die leicht verderben konnten, diirfen hier nicht eingelagert 
werden. In diesen Kiihlraumen, die sich etwa auf 1540 Quadratmeter 
erstrecken, ist man sorgsam auf Appetithchkeit bedacht. Das Blut ge- 



1923 1025 

langt in die Fattingersche Blutverwertungsanstalt, und die Menschen 
gewinnen auch daraus allerlei chemische Stoffe. Der Diinger wird in 
Eisenbahnwagen geschiittet und zu guten Preisen verkauft. Der 
Mensch versteht die Tiere grofiartig auszubeuten. Wie viele ihm auf 
Erden anheimfallen miissen, kann man sich vorstellen, wenn man er- 
fahrt, dafi im St. Marxer Schlachthaus allein vom Janner bis Ende Juni 
1923 - 64423 Kinder, 11 518 Kalber geschlachtet wurden. Dazu kom- 
men noch Schafe, Lammer, Ziegen, Kitze und Pferde. 
Im Laboratorium, in das mich der liebenswiirdige Schlachthofleiter 
Dr. Moser geleitet, leben idyllisch Kaninchen und Hasen: Versuchs- 
tiere. Auch sit diirfen sich nicht eines ungestdrten Lebens erfreuen. 
Dr. Hennenherg nimmt ihnen Blut ab, um jenes Serum zu gewinnen, 
durch das die Zusammensetzung der Wiirste gepriift werden kann. Die 
Kinder totet man, die Kaninchen lafit man leben, und der Mensch 
bieibt - ein schlachtender Herr der Schopfung - Sinn und Zweck alles 
tierischen Lebens. 

Josephus 
Wiener Sonn- und Montagszeitung, 9. 7. 1923 



KIVIEKA IN KAGKAN 



Am Ufer der Alten Donau, jenseits der Reichsbrucke, haken die unbe- 
mittelten Menschen ihren Rivierasommer ab. Ihr bescheidener BHck 
ignoriert das andere Ufer des Flusses und ruht auf den nachstplat- 
schernden Wellen. Wenn man das phantasiebegabte Auge ein wenig 
zusammenkneift und die Geographie vergif^t, kann man den ewigen 
Wogenschlag des Meeres beobachten. Manchmal kommt unserer Illu- 
sion ein Dampfer zu Hilfe und den Fluf^ hinunter, mit rauchendem 
Schlot und abenteueHichem Mast und winkenden Insassen. Gewifi 
fahren sie jetzund hinaus in die See, die Kontinent mit Kontinent ver- 
bindet. 

Man darf nur keine libermafiigen Forderungen an die Kivieragaste stel- 
len. Im Badeanzug sind alle Menschen gleich, es tragt kein Milliardar 
sichtbare Abzeichen seiner Grofie am Schwimmkostiim. Das macht 
die ausgleichende Gerechtigkeit des Wassers. Jener dort mag in Zivil 



1026 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

ein Arbeitsloser sein. Ohne Zivil 1st er ein Badegast in besten Verhalt- 
nissen. Erst wenn er den Strand betritt, offenbart sich sein sozialer 
Grad. Unsere Gesellschaftsordnung ist eine festlandische. Am Ufer 
beginnt sie bereits. 



Promenadenkonzert 

An diesem Strande kampieren namlich Hunderte Proletarierfamilien 
mit Kindern, Hunden, Wagen, Wiegen, Sauglingsflaschen, Regen- und 
Sonnenschirmen, grofien und kleinen. Es fehlt nicht an Musik. Das 
obligate Strandkonzert besorgen Grammophone. Ich stelle mir vor, 
dafi einmal, vor Jahren, diese Melodien den Instrumenten einer Rivie- 
rakapelle entstromt sind, eingefangen wurden in den Mechanismus aus 
Blech und Hartgummi, um jetzt iiber den Badestrand der Mittellosig- 
keit zu tonen. Es rasselt ein Wagner-Marsch aus blinkendem Trichter, 
mit jener flotten Fixigkeit gespielt, die das untrligliche Kennzeichen 
einer Strandpromenadenkapelle ist. Noch weht Salzluft des Originals 
in der tausendsten Grammophonkopie. 



Kinder^ Hunde, Greise 

Die Kinder, mit iibermafiigen Bauchlein behaftet und krummen Bein- 
chen, sind nackt. Auf ihre kranken, weichen Knochen scheint giitig die 
liebe Sonne herab. Die Mutter saugt das Jiingste unter dem locherigen 
Regenschirm. Die Regenschirme sind die Strandkorbe dieser Riviera. 

Den Hunden geht es hier besser als den Menschen. Befreit vom poli- 
zeilichen Leinenzwang, rasen sie in wilden Spriingen kreuz und quer, 
graben sie mit eifrigen Pfoten Knochen aus, schiefSen sie weitgeschleu- 
derten Papierknaueln nach, kostbaren Objekten hiindischer Spiel- und 
Sehnsucht. An dieser Riviera leben die ungezogenen Hunde. Ihre 
Rasse ist niemals zu konstatieren, Pudel, Dackel, Wolf sind in einem 
vertreten. An der wirklichen Riviera trotten adelige Seidenpinscher 
hinter Damen an rosafarbenen Schniiren. Brave Pinscher, besteuerte 
Luxustiere, Nie wiirde ein Hund von Kagran mit ihnen tauschen. 
Ein altes Ehepaar, Grofivater und Grofimutter, lagert halbnackt, und 



1923 102/ 

ein Regenschirm eint sie und die Gemeinsamkeit eines langen Lebens 
und die Erwartung eines nahen Todes. Auf der warmen atmenden 
Erde liegen sie. Harmloses Getier kriecht iiber sie. Bald werden sie 
unten liegen, und die Tiere werden nicht mehr harmlos sein. Durch das 
Loch im Dach des Regenschirmes sieht der alte Mann ein kreisrundes 
blaues Stiick Himmel. Mehr braucht er nicht. Als er noch jung wahr, 
wolbte sich iiber ihn der ganze, grenzenlos blaue Horizont wie jetzt 
iiber die anderen, Jungen. 



Wo wohnen die Strandmenschen? 

Kaum funf Minuten vom Ufer entfernt ist eine neue Stadt entstanden. 
Primitive Hutten aus Lehm, Holz und Pappe, regellos nebeneinander- 
gereiht, von Griin umsaumt, von Kohl- und Krautkopfen, von klaffen- 
den Kettenhunden bewacht. Das grofie Volk der Wiener Obdachlosen 
wohnt hier. Jeder Tag sieht neue Hiitten entstehen; Hutten aus Holz, 
Pappe, Lehm; mit gutgemeinten Aufschriften: »Klein, aber mein«; 
»Eigener Herd«; »Villa am Strande«; »Hauslein am Rain«. Schiichtern 
wachst ein Obstbaum am Gartenzaun. Auf schwanker Leiter steht der 
Hiittenbesitzer und verleiht seinem Besitz die letzte malerische VoU- 
endung. Aus der Mitte des Daches ragt der Schornstein aus Blech em- 
por. Am Giebel bemiiht sich ein kleines Wetterfahnchen, die Richtung 
des Windes zu erkunden. Findige Schwalben, gar nicht pratentiose, 
nicht auf Prachtfassaden versessene, haben hier Nester angebracht. Im 
nachsten Friihjahr werden die Storche hierherkommen - die naturhi- 
storischen. Die legendarischen haben hier das ganze Jahr uber zu tun. 
Ich sah es - am Strande. Heute und morgen und solange es warm 
bleibt, sind die Kochherde leer, und die Kurgaste essen kalt, draufSen, 
am Ufer. Dort wird ihr Appetit grofier, aber sie vergessen es leichter. 
Wenn es kalt ist und regnet, ist es schwer, in diesen Hutten den Hun- 
ger, die Arbeitslosigkeit und die schlechten Kleider zu vergessen. 
Aufierdem hei£t dieses ganze Gebiet: »InundationsgebieU . Es ist ein 
Fremdwort, und die Bewohner dieser Riviera verstehen seine grau- 
same Bedeutung vielleicht nicht. Wie, wenn eines Tages die friedUche 
Donau ihnen dieses furchtbare Latein erklart? 

Josephus 
Wiener Sonn- und Montagszeitung, 16. 7. 1923 



DAS CAFE DER ELFTEN MUSE 



Das Artistencafe liegt in der Praterstrafie, nicht zufallig, sondern 
schicksalsgemafi, ein Auslaufer des Volkspraters. 
Stellungslose Artisten und solche mit Engagement verkehren im Arti- 
stencafe. Sic ruhen hier aus von den Miihen ihres Berufes. Hier diirfen 
sie sich den Neigungen, den Temperamenten hingeben. Hier brauchen 
sie ihre Natur nicht zu verleugnen. Der Clown darf sich auf einen 
Stuhi setzen, ohne vorher zehnmal herunterzufallen. Dem Schlangen- 
bandiger ist gestattet, seiner natiirUchen angeborenen Furcht vor bissi- 
gen Hunden freien Lauf zu lassen. Es darf der Seiltanzer auf ebenem 
Boden ausrutschen und der Brauchredner seine Kehle zum Sprechen 
beniitzen. Ich sah, wie ein Jongleur eine Mokkatasse fallen liefi, sah, 
daC sie zerbrach, aus gewollter Ungeschicklichkeit. Abend fiir Abend 
lafit er zehn, zwanzig Teller aus Porzellan durch die Liifte wirbeln und 
fangt sie mit zwei Handen auf. Einmal im Leben mochte er gerne un- 
geschickt sein. 

Morgens, mittags, abends - immer ist das Artistencafe besucht. Tanze- 
rinnen warten hier auf das Gliick, das ein Varietedirektor zu sein 
pflegt. Tief in die wohltatig schattende Nische gedriickt, harrt eine 
altliche Zirkusreiterin ihrer ritterlichen Auferstehung in der Manege 
entgegen. Und ein Telepath, kurzsichtig, mit doppeltem Augenglas, 
einen Zwicker vor die Brille haltend, greift zur Zeitung, um den Leit- 
artikel zu erraten. Und ein Dresseur hat seinen Affen mitgebracht, ein 
kleines Affchen. 

Am Abend kann es Mokka trinken aus zierlich mit Daumen und Mit- 
telfinger gehaltenem Tafichen. Hier in diesem Kaffeehaus iibt diese 
Kiinste der Dresseur aus. Der Affe aber, im Cafe vom Kaffee beur- 
laubt, hockt auf dem Boden, jeden Gedanken an kontraktische ZiviU- 
sation hat er aufgegeben. 

Die meisten Besucher sitzen nicht wie gewohnliche Kaffeehausgaste an 
Tischen, brav, von ihren Regenschirmen abgelegte Inhaber. Die Gaste 
dieses Kaffeehauses wandern fast unaufhorlich herum - von Tisch zu 
Tisch, auf die Straf^e hinaus und wieder zuriick. Sie haben eine Bespre- 
chung, sie erwarten einen Freund, die Besprechungen sind Konferen- 
zen in Bewegung, peripathetische Konferenzen, und die Freunde sind 
unpiinktlich. Man wartet einen halben Tag auf sie. 



1923 1029 

Man spielt auch Karten. Sie klatschen auf den Tisch, Pappendeckelohr- 
feigen. Man verliert, man gewinnt. 
So ist das Leben. 

Der Groteskkomiker, erkennbar an Runzelreichtum seines lustig-trau- 
rigen Angesichts, wie ist er hier gesucht einfach, wie naiv naturlich die 
miide Bewegung seines Knies, dessen allabendlich dreifach kom- 
plizierte Biegung zu kunstvollem Sprung eine zahlreiche Familie er- 
nahrt. 

Der kiihne Feuerschlucker, der von der Flamme in den Mund lebt - 
wie stellt er hier erschrocken die Schale, an der er kaum genippt hat, 
auf den Tisch, weil ihm der Tee fast die Lippen verbrannt hatte. 
Von vielen begriifit, tritt ein Mann ein, kein Artist, ein Conner, ein 
Gott, er kann grausam sein und giitig, er ist ein Unternehmer, er sucht 
Material. An alien Tischen geht er gleichmiitig vorbei. Die hier sitzen, 
sind vergeblich schweigsam geworden. Auf einen Neger geht der Ge- 
waltige zu, einen gliicklichen Schwarzen findet er, einen Neger, der 
auch im Kaffeehaus Neger ist, seine Hautfarbe ist eine natiirliche At- 
traktion, jederzeit und an jedem Ort wirksam, 

Wie gern mochte der Liliputaner ebenfalls seine »Stellung verandern«. 
Grofi erscheint ihm die kleine Welt und eng sein gegenwartiges Tatig- 
keitsfeld. Seit zehn Jahren lebt er im Prater. Zwanzig Jahre kann er 
noch gut leben. In diesen zwanzig Jahren konnte man Paris, London, 
New York sehen, als kleiner Zwerg in einem grof^en Unternehmen. 
Andre Zwerge, die gliicklicher waren und Weltbummler werden durf- 
ten, konnten auch nicht mehr als klein sein. 

Und leben doch besser. Und sehen die Riesenstadte der Erde, die so 
unermefilich ist. 

Manchmal, verlockt von dem beruflichen Lacheln einer wartenden 
Tanzerin, tritt ein Unbefugter in das Cafe, ein Burger, Abenteuer wit- 
ternd. Oh, der Naive! Er glaubt, das Lacheln, das dem Zuschauer gilt, 
hatte dem Mann gegolten. Diese Damen leben vom Lacheln. Von der 
Freundlichkeit ohne Zweck. Sie sind achtbar, keusch und streng gesit- 
tet wie deine Tochter, abenteuerlustiger Mann. Niemals erreichst du 
hier die erwartete Gunst. Hier sitzen (metaphorisch verstanden) Da- 
men ohne Unterleib. 

Plotzlich ertont UebHcher Nachtigallenschlag. In welcher Liisterkrone 
sitzt der Vogel der Liebe? Es lafit ein Vogelstimmenimitator seine 
Kunst vernehmen. In Pausen von fiinf, sechs, zehn Minuten schlagt 



1030 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

er an. Eine Lerche fallt ein mit schmetterndem Jubel. Ich vermute: Er 
hat einen Vorschufi bekommen, der Zwitschkerer. Also singt er, wie 
der Vogel singt. Unsereiner trinkt einen Schnaps in solchen Fallen. 
Der Vogelstimmenmensch lafit einen sommerlichen Waldeschor erto- 
nen. 

Die Gaste des Cafes schliirfen Sommerfrischenluft. Blau wie der Som- 
merhimmel breitet sich der Plafond iiber den Hauptern. Zwischen den 
Kaffeehaustischen spriefit saftiges Griin. 

Josephus 
Neues Acht-Uhr-Blatt, 19. 7. 1923 



WAS LIEST MAN IN WIEN? 

Rekord der Courths-M abler- »Rmbergeschichten« sind popular 

Seitdem das Buch im allgemeinen, das deutsche Buch im besonderen so 
kostspielig ist, dafi sein Besitz nicht mehr zu den Notwendigkeiten 
gehoren kann, die Lektiire ein Luxus geworden ist und das billigere 
Kino die Zerstreuung bietet, die einst das belletristische Buch gewahrt 
hat, ist die Frage nach dem am starksten verlangten Lesestoff mehr 
berechtigt, als sie es je gewesen. Man miifite glauben, dafi die Mehrzahl 
der Leser, die ihr teures Geld auf Lektiire anlegen - sei es durch Bii- 
cherkauf oder durch Abonnement in der Leihbibliothek -, wenigstens 
den Versuch macht, eine innere Beziehung herzustellen zwischen Preis 
und Wert, Kosten und Gewinn. Das Gegenteil ist der Fall. Man erfahrt 
durch eine Umfrage bei Buchhandlungen und Leihbihliotheken^ dafi 
von den Biicherlesern beziehungsweise -kaufern nur wenige wert- 
voUere Literatur konsumieren. Die besten Geschafte macht immer 
noch der - offensichtliche und halboffenbare - Schund. 

In den Leihbibliotheken 
ist das Verhaltnis der qualifizierten Leser verschieden und abhangig 
von dem Stadtteil, in dem sich die Bibliothek befindet. Wahrend in der 
Inneren Stadt, im neunten Bezirk und in der Josefstadt Memoiren- 
werke, historische Bucher, Quellenwerke, Gesammelte Brief e ungefahr 
zu gleichen Prozentsatzen verlangt werden wie sogenannte »sch6ne 



1923 I03I 

Literatur« mittleren und niederen Grades, leiden die Leser der Aufien- 
bezirke an einer beinahe schon pathologischen Anhanglichkeit fiir 
Werke kriminalistischen Inhalts. In den Arbeiterbibliotheken offenbart 
sich ein ernsterer Sinn: Das hangt damit zusammen, dafi diese Biblio- 
theken gewissermafSen padagogisch geleitet sind und dafi der Leser oft 
um Rat fragt, ehe er ein Buch verlangt. Zur Ehre dieser Leser sei es 
gesagt, daC in einer einzigen Arbeiterbibliothek an Favoriten in einem 
Monat zehn Ibsen-Bdnde, fiinf Werke politisch-sozialen Charakters, 
drei Gottfried-Keller-Bucher etwa sieben- oder achtmal verliehen wer- 
den mufiten. Man halte dagegen die Feststellung eines Filialleiters der 
Lastschen Leihbibliothek im ersten Bezirk : 

Zumeist werden Detektivbucher verlangt, gute und schlechte. Die 
Leihbibliothek hat etwa 30 Kriminalromane in einer Detektivgeschich- 
tensammlung vereinigt. Es gibt Abonnenten, die sich ausschliejilich 
von dieser Sammlung geistig nahren. Und diese Leser rekrutieren sich 
nicht etwa aus den Kreisen Hausangestellter, Gouvernanten usw., son- 
dern aus dem anscheinend intelligenten Mittelstand. Von den Unter- 
haltungsschriftstellern ist immer noch die beriichtigte Courths- Mahler 
der am haufigsten verlangte. Zu den Kunden einer LeihbibHothek ge- 
hort ein etwa dreifiigjahriger Mann, der in seiner eifrigen Verehrung 
fiir die Courths-Mahler gar nicht aufhoren kann: Er liest in dieser Wo- 
che nun schon den 

dreizehnten Courths-Mahler- Roman. 
Da von dieser Schriftstellerin etwa fiinfzig Bande stammen, kann jener 
Leser noch eine Weile auskommen und - wenn er spater keinen Ersatz 
fiir seinen Lieblingsautor gefunden haben wird - den Courths-Mahler- 
Kursus von neuem beginnen. 

Osterreichische Autoren, wie Bartsch, Ginzkey, Wildgans, haben ein 
kleines, aber getreues Stammpublikum. Nur so oft ein neuer Band er- 
scheint, herrscht Nachfrage. Das Interesse lafit nach, wenn bekannte 
Autoren langere Zeit geschwiegen haben. Interessant und sehr be- 
zeichnend ist die Tatsache, daf^ jetzt, kaum ein Jahr nach dem grofSen 
Rabindranath-Tagore-Rummel, seit zwei Monaten in drei Leihbiblio- 
theken kein einziges Tagore-Buch verlangt wurde. 
Von Biichern, die im letzten und vorletzten Jahre erschienen sind, 
werden am haufigsten jene verlangt, die eine unmittelbare oder mittel- 
bare Beziehung zu Wien und Osterreich haben (wie Bettauers »Stadt 
ohne Juden«). Von geographisch entlegener Literatur erfreuen sich 



1032 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Autoren wie Otto Flake und Ernst Weifi (»Mensch gegen Mensch«, 
»Nohar«) einer gewahlten und dennoch zahlenmafiig nicht geringen 
»Leserschar«. Bemerkenswert ist ferner, dafi Hermann Bahr ein ziem- 
lich ungelesener Leihbibliotheksautor ist, trotz der neuerwachten Po- 
pularitat anlafilich seines 60. Geburtstages. 

Die Buchhandlungen 
der Inneren Stadt verkaufen nun schon seit zwei Monaten fast aus- 
schliefilich Reiselekture . Unterhaltungsschriftsteller, wie Tovote, an- 
dererseits aber auch ernstere, bereits infolge Verjahrung olympisch 
gewordene Literatur »spannenden Charakters«; Edgar Allan Poe, 
Meyrink (aus Mifiverstandnis) und - wie der Kriminalromane, wieder 
Courths-M abler. 

Im allgemeinen ist die Zahl der Biicherkaufer seit den Jahren des Um- 
sturzes etwa urn die Halfte zuriickgegangen. Die unsinnige, lappische 
und bornierte »national« aufgemachte Gebarung der reichsdeutschen 
Verleger, die das deutsche Buch fiirs »Ausland Osterreich« etwa um 
ein Drittel teurer gestalten, schadigt den Wiener Buchhandel und - das 
deutsche Buch. 

In einer der grofiten Wiener Buchhandlungen wurden im letzten Mo- 
nat (Juni) im ganzen funfzehn literarisch ernste Biicher deutscher 
Autoren verkauft. Noch im Februar dieses Jahres hatte dieselbe 
Buchhandlung 120 in Deutschland erschienene Biicher absetzen kon- 
nen. 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 23. 7. 1923 



»DIESER KLEINE MANN AUS AMSTERDAM« 



befindet sich an schonen Sonntagnachmittagen an der Endstation des 
67er Wagens, an dem Wege, der zu der neuen Genossenschaftssiedlung 
mit dem programmatischen Namen »Eden« fiihrt. Der »kleine Mann 
aus Amsterdam« ist ein teuflisches Mannchen, in schwarzem Trikot 
mit roten Hornchen und feuriger Zunge, mit geringeltem Schweif und 
zappelnden Bewegungen. Der kleine Mann befindet sich in einer Glas- 
rohre, die mit Wasser oder irgendeiner andern durchsichtigen Fliissig- 
keit gefiilit ist. Er ist eine Art Aquariumteufel, ein Beelzebub in fliissi- 



1923 1033 

gem Element. Seine Tatigkeit besteht in einem fortwahrenden Auf- 
und Abwartssteigen und in zierlichen Korperdrehungen. Wahrend der 
kieine Mann sich also dreht und aufwarts schwimmt und abwarts 
taucht, spricht der danebenstehende grofie Mann folgenden schonen 
Vers: 

Dieser kieine Mann 

Aus Amsterdam 

Sagt jedem seine Zukunft an . . . 

Er dreht sich ringsherum im Kreis 

Und schaut sich seine Leute an . . . 
Der gro{5e Mann skandiert diese Verse mit einem Pathos, das in kei- 
nem Verhaltnis zum Gehalt der Verse steht. Er kiindet sie geradezu. Er 
ist ein Prophet, der Prophet des kleinen Amsterdamer Mannes. Es 
steht jedem frei, sich Gedanken dariiber zu machen, weshalb dieser 
Wasserteufel ausgerechnet aus Amsterdam und ob er iiberhaupt nicht 
aus Komotau stammt. Aber niemand denkt daran. 
Der Prophet hat den Rock ausgezogen, weil es heifi ist. Er ist ein Pro- 
phet in Hemdsarmeln. Die Dekolletage tut seinem Pathos keinen Ab- 
bruch. Es ist aufierdem ein verheirateter Prophet. Man sieht, wie seine 
Frau den umstehenden Leuten numerierte Zettel in die Hande drlickt. 
Aber auch die Ehe schadet dem prophetischen Ansehen nicht. 
Rings um den kleinen und grofien Mann stehen sehr viele Leute. Die 
heimkehrenden und die ausziehenden Ausfliigler bleiben, neugierig 
gemacht durch den skandierten Zauberspruch, stehen und sammeln 
sich um die Glasrohre. Sie sehen den kleinen Mann aus Amsterdam 
und vergessen den groEen. Wer seine Zukunft wissen will, meldet sich, 
bezahlt und bekommt eine Nummer. Sind geniigend Nummern bei- 
sammen, so verschwindet das Mannchen und macht sich an die Arbeit, 
offenbar. Es lohnt nicht, jedem einzeinen besonders die Zukunft zu 
prophezeien. Er ist ein Wahrsager en gros, 

Der grofie Mann hat inzwischen die Nummern gesehen und auch die 
Abonnenten. Dank seiner Menschenkenntnis geniigt es ihm, aus einem 
verhiillten Kastchen eine gleich grofie, gleich numerierte Zahl von Zet- 
teln zu Ziehen. »Nummer 35 !« ruft die Frau. Nummer 35 meldet sich. 
Es ist eine stattliche Rudolfsheimerin. In ihren Sternen steht geschrie- 
ben: »Sie werden mit Kindern gesegnet sein und Gliick in der Mutter- 
Hebe finden. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!« Ein junger Mann 
Uest diese Weissagung: »Huten Sie sich vor einem briinetten Freund 



1034 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

mit griinen Augen. Er ist falsch. Sie warden Gliick in der Liebe haben 
und es Ihrem bescheidenen Ehrgeiz zufolge zu einer gesicherten Le- 
bensstellung bringen,« Und so erhalt jeder, was ihm zusteht. Manch- 
mal unterlauft allerdings dem klemen Mann aus Amsterdani ein Irr- 
tum. Dann ist er bereit, den Zettel umzutauschen. 
Ich interviewe den grofien Mann, den Propheten des kleinen Prophe- 
ten: »Wozu brauchen Sie das Mannchen, wenn Sie selbst die Zettel 
mit den Prophezeiungen fabrizieren?« 
Das ist Geschaftsgeheimnis, sagt der Grofie. 

Und der kleine Vorgang am Rande einer Ausflugsstrafie wachst hin- 
aus iiber die kleine scherzhafte Bedeutung eines Zauberers. Die Men- 
schen bleiben nur wegen des kleinen Puppenmannchens stehen, das 
ein Wesen ist aus schwarzen und roten Stofflappchen. Sie miissen 
einen kleinen Mann aus Amsterdam haben. 

Neues Acht-Uhr-Biatt, 24. 7. 1923 



FAHRT AUF DER »SCHLEIFE« 



Es ist jene Schleife der elektrischen Bahn gemeint, die seit der Einfiih- 
rung der 36er und 4oer Waggons nicht vorhanden war und schmerz- 
lich vermiftt wurde, weil noch nie in aller Welt eine Schleife so natur- 
gegeben-notwendig schien wie gerade hier, in der Wipplingerstrafie. 
Vor einigen Wochen war die »Schleife« fertig, rundete sie sich in 
kiihnem Bogen rings um die Borse - und niemand achtete ihrer, mit 
Ausnahme der Strafienbahnschaffner und Motorfiihrer. Waren diese 
nicht gezwungen, aus verkehrstechnischen Griinden zu klingeln - 
man konnte sagen, die Schleife sei klanglos gekommen. 
Zugegeben sei, daf^ sie ein Lokalereignis ist. Den Schaffnern, den Mo- 
torfiihrern und mir ist sie mehr: Symptom einer Kulturevolution. 
Denn mafigebend fiir die Bedeutung der Ereignisse ist nicht der Ort, 
an dem sie sich zutragen; gleichgiiltig ist, ob etwas innerhalb des Par- 
laments oder aufierhalb der Borse sich begibt. Charakteristischer fiir 
die Entwicklung einer Gemeinschaft ist jene unscheinbare Verande- 
rung der Strafienphysiognomie als die glanzende Rhetorik eines Na- 
tionalrates, die nichts zu andern vermag. Und die neue Schleife der 



1923 1035 

Wiener Elektrischen bedeutet den Anfang vom Ende des Wiener Mit- 
telalters. 

Erinnert man sich noch des schwitzenden Schaffners, der den Wagen 
der Strafienbahn mit den Handen schob und riickte, als ware eine 
Tramway ein Kleiderkasten? Es schrie der Motorfiihrer dem Schaffner 
des »Anhangers« zu, der Schaffner des »Anhangers« dem des ersten 
Wagens. Man redete dem eingeschlafenen Motor giitlich zu, mit Hii 
und Hott, er moge endlich funktionieren - wie einem gefallenen 
Droschkengaul, der nicht aufstehen will. Es hatte niemand gewundert, 
wenn der Motorfiihrer plotzlich mit einer Peitsche zu knallen angefan- 
gen hatte, damit der Wagen sich belebe. Man wartete eine halbe 
Stunde, ehe die Schiebung gegliickt war, die in Anbetracht des Um- 
standes, dafi sie vor dem Eingang zur Borse vorgenommen wurde, zur 
bedauerlichen Symbolik wurde. 

Man sah ein, dafi die Schleife - auf »Dreh«, kann man sagen - an die- 
sem Ort angemessener war. Und jetzt fahren die Wagen glatt und neu- 
zeitlich in kiihnem, rundem Schwung um die Bdrse. Vor einigen Tagen 
fuhr ich mit. 

Und es ist von dieser Fahrt um die Schleife eigenthch nichts mehr zu 
sagen. Diese Fahrt sollte nicht um Erfahrungen bereichern, sondern 
die edle Geste eines Stadters sein, der sich der Neuerung freut und die 
Hoffnung hegt, dafi wir auf dieser Schleife metaphorisch der moder- 
nen Zukunft entgegenfahren. 

Neues Acht-Uhr-Blatt, 25.7. 1923 



RESTENAUSVERKAUF IN DER THEATERAGENTUR 



Anmelden mufi man sich beim zweiten Schalterfenster links, hinter 
dem eine oxydierte Blondine den Telephonapparat mundhabt und nur 
eine Auskunftsformel zur Verfiigung hat, wenn man sie nach dem 
Herrn Direktor fragt. »Nehmen Sie Platz!« sagt sie fiinfundsiebzigmal 
am Vormittag. Es ist anzunehmen, da{^ sie noch nie etwas andres ge- 
sagt hat, seitdem sie hinter diesem Schalterfenster sitzt. 
Den befohlenen Platz nimmt man auf einem der Stuhle ein, die rings an 
den Wanden aufgestellt sind und eine Sitzgirlande bilden. Die Men- 



1036 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

schen, die nacheinander in das Zimmer treten und die vom Schalter 
fortgehen, reihen sich nacheinander auf die Stiihle wie Korallen auf 
einem Faden, und sie bewahren eine Schweigsamkeit in den ersten fiinf 
Minuten, als waren sie wirkliche Schmucksteine, aus Meerestiefen hin- 
aufbefordert in das Vorzimmer einer Theateragentur. 
Es laKt sich aber auch nicht leugnen, dafi diese Menschen an den Wan- 
den etwas Mauerbliimchenhaftes annehmen, den Eindruck Sitzenge- 
bliebener und Sitzenbleibender hervorrufen, die nie mehr aufstehen 
werden. Ich meine ganz besonders die alteren Frauen. 
Man erkennt sie erstens daran, zweitens, dafi sie auffallende Hiite tra- 
gen, um die Aufmerksamkeit des Betrachters von ihren andern weibli- 
chen Merkmalen abzulenken, und drittens an ihrer Unfahigkeit, langer 
als drei Minuten die gebotene Mundstille zu bewahren und nicht der 
Schrecken junger mannlicher Sitz- und BerufskoUegen zu werden. 
Denn es gibt hier fast nur junge oder ansehnHch Bejahrte, wie in einem 
Musterungsvorzimmer der letzten Kriegsjahre. War jetzt noch nach 
einer Stellung am Theater sucht, findet sie nur sehr schwer. Heute sehe 
ich hier nur kampfunfahig gemachte Jungfrauen von Orleans, Iphige- 
nien ohne Tauris, Maria Stuarts, die vergebhch eine Streitgelegenheit 
mit Ehsabeth suchen; aber auch Noras, ohne Aussicht auf ein Puppen- 
heim, Lulus, die verdammt sind, sich mit ihrer GlanzroUe aufs Leben 
zu beschranken; Moderne und Mondane; entiaubte Stars; verwitterte 
Pracht; tragische Jubilare. Neben ihnen - seht! - ist die Jugend da, die 
Liebhaber und die Helden, die Brust geschwellt von verhaltenen Mo- 
nologen. Die Augen nach der Tiir gerichtet, hinter der die Entschei- 
dung sitzt und - es ist kaum zu glauben! - einen simplen Theateragen- 
tennamen fiihrt. 

Man kommt wochen- und monatelang hierher. Jeden Vormittag die- 
selben. Manchmal behangt sich ein auf Suche nach Edelwild ausgegan- 
gener Provinztheaterdirektor mit dem und jenem, und am nachsten 
Vormittag fehlen zwei wohlvertraute Gesichter, und die Sitzgirlande 
ist liickenhaft. In diesem Theaterbiiro, einem der grofiten Berlins, in 
der Nahe der Friedrichstrafie, gelingt selten eine Vermittlung mit Ber- 
liner Theatern: Die KHentel ist entweder aus der Provinz oder fiir die 
Provinz verdammt. 

Der altere Teil dieser Klientel behauptet bosziingig, dafi bei Vermitt- 
lungen des Theateragenten Sympathie ausschlaggebend sei und da{^ 
man Protektion haben miisse. Ja, jene blauschwarz Gefarbte kann 



1923 1037 

nicht umhin, zu der Blondgefarbten, die in Trauer ist, weil Schwarz 
gelegentlich auch das Molligste schlank machen konnte, zu bemerken: 
»Seitdem ich in Berlin auftrete, ist mir noch nicht dergieichen vorge- 
kommen. Vergangenen Donnerstag kommt sie her, mit mir, sie hat 
eine Karte mit, an Ihn (sie sagt es mit grofiem I), und seit Montag ist sie 
in Diisseldorf. Wer weifi, wie lang das noch dauert?« 
Die Blauschwarze blickt auf eine Armbanduhr, und die Blonde in 
Trauer nickt mit dem Kopf im Takt; wie ein Pferd vor einem Leichen- 
wagen. 

Ich habe ein halbes Leben in Vorzimmern verwartet, aber ich habe 
noch nie eines gesehen, in dem so selten die Tiir zum Herrn Direktor 
aufgeht wie hier. Die Leute sickern sparlich durch, alle zwanzig Minu- 
ten einer, wie Tropfen aus einer verstopften Wasserleitungsrohre. Und 
die Menschen sind sehr geduldig. Die jungen Madchen betrachten, 
dank einem Naturdrang, die Wirkung ihrer Seidenstriimpfe auf jeden 
Eintretenden mannlichen Geschlechtes. Die alten sind dariiber erbost 
und sehen haufig in ihre Taschenspiegel, wie um festzustellen, ob der 
Unterschied denn wirklich so gewaltig sei. - Er ist gewaltig . . . 
Je naher es auf eins geht, desto haufiger offnet sich die Tiir. Die Ab- 
stande verringern sich bereits auf zehn Minuten. Aber die Gesichter 
der Fortgehenden sind enttauschter. Eben flattert die Blauschwarze 
hinaus - sie war erbost und geladen, daft ich glaubte, jeden Moment 
wiirde hinter der Tiir eine Explosion horbar werden, der wir alle zum 
Opfer fallen miifiten. Aber es geschah nichts. Und morgen wird sie 
wiederkommen. 

Kurz vor eins - es sind nur noch drei im Wartezimmer - ein junger 
Franz Moor und zwei Lulus - tritt Er aus der Tiir. Freudig und strah- 
lend geht er auf wie ein Vollmond, ein rundlicher Mensch, triefend vor 
Giite und Menschenfreundlichkeit, entziickt von sich selbst; er klopft 
den dreien auf die Schulter, Franz Moor macht eine Bewegung, als 
wollte er in die Knie sinken, die Lulus lacheln. Aber der Dicke sagt: 
»Kinder«, sagt er - und es scheint, dal5 er, Er, alles macht, ohne Aus- 
nahme. Woher kamen sonst seine Zufriedenheit und sein offenbares 
Wohlbefinden, wenn ihm nicht jede Vermittlung gelange! . . . Die drei 
vertrauen ihm und gehen. Die Lulus haben entschieden Eindruck ge- 
macht. 

Neues Acht-Uhr-Blatt, 27.7. 1923 



THEOSOPHISCHE LAIENPREDIGT 



In Wien, der Stadt der Kongresse, tagen jetzt die Theosophen. Die 
Wiener freuen sich dariiber. Krishnanurti ist in ihren Mauern. Die 
Journalisten interviewen ihn. Sie fragen ihn, wann durch ihn (oder in 
ihm) Christus sich offenbaren werde. Darauf weifi der arme Krishnan- 
urti nichts zu sagen. 

Viel mehr erzahlen die theosophischen Redner in den popularen Vor- 
tragen - wenn sie auch nicht alies sagen. 

Die theosophischen Kongrefiteilnehmer erkennt man an den kreisrun- 
den papierenen Abzeichen, die an der Brust getragen werden. Auf dem 
Papier ist ein symboHscher sechszackiger Stern zu sehen. Dreierlei 
Dinge tragen die Laien nicht. Aber die Laien, die berufen sind, Theo- 
sophen zu werden, erkennt man ohnehin am BHck. Man kann sie, die 
Theosophen und Baid-Theosophen, im grofien Konzerthaussaale se- 
hen, wo der »allgemein zugangliche« theosophische Vortrag stattfin- 
det. Die allgemeine Zuganglichkeit verdient ihre Anfiihrungszeichen, 
weil der Eintritt in den Saal Geld kostet. Die bilUgste Kane 6000, die 
teuerste 30 000 Kronen. Daraus miifSte man schHefien, dafi die Theoso- 
phie ein Giauben ist, der Geld kostet, noch ehe man sich zu ihm be- 
kehrt. 

Unter den Entree zahlenden Gottsuchern befinden sich also keine mit- 
tellosen Menschen, befindet sich nicht einer aus jener grofien Armee 
der Armen, die am ehesten bereit waren, das Heil ihrer Seele in neuen 
Lagern zu suchen. Hier sieht man: Naturhchkeit liebende Madchen, 
Wandervogel mit einem Schufi Verziicktheit, in fliefienden Gewan- 
dern, mit Sandalen an den braungebrannten Fiifien, mit der halb mon- 
danen, halb wald- und wiesenhaften Pagenfrisur; kleine Bankange- 
stellte, Buchhandlungsgehilfen; lyrische Gemiiter in Schillerkragen; al- 
tere Ehepaare, von denen die Frau der treibende, der Mann der lei- 
dende Teil war; grauhaarige Damen vom Typus der Frauenrechtlerin, 
der alleinstehenden Frau - der weibliche Doktor. Je weiter das Auge 
nach vorn schweift, desto besser werden Anziige und Toiletten. Viele 
dieser Menschen konnten es sich leisten, in die Schule Keyserlings zu 
gehen. 

Man sieht ferner exotische Gesichter: jiingere Tagores, deren Barte 
noch schwarz sind oder schon rasiert. Mit wunderbar hellen Augen in 



1923 1039 

dunklen Gesichtern, eine Art stahlblaues Augenweifi um schwarze Pu- 
pillen-»Fakirenaugen«, wie sie sich der Bewohner vom Aisergrund 
vorstellt; beturbante Haupter, fiirstliche Kopfe, Neger, mondan und 
auf Taille gearbeitet, schone Menschen mit stolzem Gang und unnah- 
barer Haltung. Altliche Englanderinnen, denen die Taille jener mannli- 
chen Schonheiten sichtlich abgeht. Aufsehenerregend ist eine Dame in 
Weifi, die wie ein theosophischer Engel wandelt. Kurz: Der Konzert- 
haussaal macht den Eindruck, als fande in ihm nicht nur ein Vortrag 
start, sondern auch eine Modenschau, und ich hore, wie in der Reihe 
hinter mir eine Frau zu ihrem mannlichen Opfer spricht: »Wenn ich 
weifies Haar habe, werd' ich es mir nicht farben lassen. Ich werde im 
Sommer ganz in Weifi gehen wie diese Theosophin.« 
Wenn der Vortragende erscheint, begriifien ihn die theosophisch ge- 
schulten Zuhorer nicht durch barbarisch-europaisches Handeklat- 
schen, sondern durch ein lautloses Aufheben der Hand. Es ist eine 
priesterhche Gebarde, und sie hatte ihren Eindruck auf mich bestimmt 
nicht verfehlt, wenn sich ihrer nicht auch ein junger Wandervogel be- 
dient hatte. Ein Dolmetsch iibersetzt. Der Redner ist von graubrauner 
Gesichtsfarbe, glattrasiert, ein englisches Gesicht; ein eher technisch- 
moderner als philosophischer Kopf. Das leichtgraue Haar ist in der 
Mitte sorgfaltig gescheitelt. Nach den ersten Satzen zieht der Redner 
ein Kappchen an. 

Was er zu verkiinden hat, ist sehr popular. Er definiert einleitend das 
Wesen der ReHgion dahin, dafi sie in der Hauptsache auf ein Jenseits 
verweist, jenes der Wissenschaft, dafi sie einen Gott leugnet. Das 
stimmt weder fiir die ReHgion noch fur die Wissenschaft. »Gott ist in 
uns«, erzahlt der Redner - und jeder Europaer weifi, dafi Kabbala, 
Philosophic, Religionsphilosophie ganz besonders, diesen Punkt der 
Glaubigkeit ausfiihrlich und griindlich behandelt haben. Die Gottheit, 
die in und mit der Natur »waltet«, ist keine theosophische Entdek- 
kung. Ubrigens gehort zur Theosophie die Voraussetzung des Glau- 
bens wie zu jeder andern kirchhchen Konfession. 
Die jungen Madchen schreiben alle Weisheiten auf mitgebrachte 
Notizblocks. Die Ehemanner gahnen. Die alteren Damen schreiben 
auch. Die Orgel tont. Viele Lichter brennen. Es ist im ganzen »sehr 
schon«. Fiir primitive Naturen berechnet. Die Wandervogel werden 
den starksten Eindruck haben . . . 

Frankfurter Zeitung, 30. 7. 1923 



BERLIN IM TAUMEL DER VERZWEIFLUNG 

SchieberluxHS - und Hungerelend 

Die Schnelligkeit, mit der sich der Untergang - der moraiische, gei- 
stige, materielle - der Berliner Bevolkerung voUzieht, wird durch die 
Dollarkurstabelle ebensowenig veranschaulicht wie durch die lebhaft 
aufwartsschnellenden Preise. Weder die Kleidungsstiicke noch die Ei- 
senbahnen, weder die Strafienbahn noch das Automobil oder die 
Droschke kommen fiir die eingesessene Bevolkerung in Betracht. Die 
Preiserhohungen der Nahrungsmittel allein sind es, an denen der Un- 
tergang fiir den Fremden kenntlich, fiir den Einheimischen fiihlbar ge- 
macht wird. Die steigenden Preise der Nahrungsmittel, die in einem 
grausamen Gegensatz zh den Einnahmen der arbeitenden Bevolke- 
rung und des Mittelstandes stehen. 

Niemals war in Wien die Not so schroff, 

der Sturz weiter Volksschichten so jah und steil. In Wien glitt man 
verhaltnismafiig sachte abwarts. In Berlin stiirzt man, ohne die Stiitze 
des Index, rapid in den Abgrund. 

Bin Professor mit zehn Dienstjahren an der Hochschule erhdlt im 

Monat die Hdlfte dessen, was ein Arbeitsloser an Unterstlitzung be- 

zieht. 
Der Arbeitslose aber erhalt etwa 6 Millionen Mark im Monat. Die 
Staatsbeamten haben im letzten Monat einen Vorschufi fiir drei Mo- 
nate erhalten, bei den mittleren Beamtenkategorien macht das unge- 
fahr 12 MiUionen Mark. Damit reichen sie knapp vier Wochen. Schon 
sieht man beangstigende Menschenketten vor den Lebensmittelhand- 
lungen im Norden und im Osten. Auf den FrUhmdrkten ist das iibliche 
Wacheaufgebot urn das Fiinffache verstdrkt. Jeden Moment Hegt die 
Gefahr einer Priigelei in der Luft. Vor dem Obdachlosenasyl in der 
Nahe der Frankfurter Allee drangen sich in den Abendstunden 2000 
bis 3000 Menschen, die keinen Platz mehr finden. Im Tiergarten sto- 
bert die Polizei jede Nacht Hunderte auf den Wiesen Schlafende auf. 

Im letzten Monat zdhlte das Obdachlosenasyl 62000 Gdste gegen 

40000 im Vorjahre. 



1923 I04I 

Wahnwitzige Geruchte 

werden nicht nur kolportiert, sondern auch geglaubt. In Charlotten- 
burg will man wissen, dafi die Straflinge aus Moabit ausgebrochen 
sind. In Lichterfelde heifit es, dafi am Kurfiirstendamm eine Arbeitslo- 
sendemonstration stattfinde. Flir jeden Sonntag werden Krawalle be- 
fiirchtet. Ein bezeichnendes Symptom fiir die Nervositat des gutdiszi- 
plinierten Berliner Burgers ist die Tatsache, dafi er plotzlich fleifiiger 
Kaufer und Leser der »Roten Fahne« geworden ist - insofern seine 
Neugierde grofier ist als seine Furcht vor nicht lebenswichtigen Ausga- 
ben. Die sogenannten Kolportageblatter werden fast gar nicht mehr 
gekauft. In den StrafSen sieht man Rudel gutgekleideter Menschen, die 
dem beneideten Kaufer einer Zeitung iiber die Schulter blicken, um 
eine langentbehrte Nachricht, den schreienden Kopf eines Artikels zu 
erhaschen. Vor den Filialen der Administrationen, vor den Kiosken an 
den Strafienecken drangen sich diejenigen, die sich seit Wochen keine 
Zeitung mehr leisten konnen. 

Eine Unsicherheit, eine Furcht vor dem kommenden Morgen be- 
herrscht alle. Uberall wird geschimpft, gestoEen. Am Abend halten 
junge Burschen Reden am Wittenbergplatz. Jede Verfiigung der Be- 
horden wird scharf kritisiert. Man schimpft. Auf die Juden und auf die 
Antisemiten; auf Hakenkreuz und Sowjetstern; auf die Sozialdemo- 
kratie und auf Cuno. Man weifi nicht, wo man steht - rechts, links 
oder in der Mitte. Man traut den Zeitungen nicht. Man gibt langjahrige 
Abonnements auf. 

Aber in den Kinos spielt man, in den Bars trinkt man, Tausende Auto- 
mobile flitzen iiber den Asphalt, Trunkene und Prostituierte bevolkern 
die nachtlichen Strafien. Die Nachtlokale, die Spielhollen haben das 
bifichen Respekt verloren, das sie bis jetzt vor der Polizei hatten. Der 
arme Schutzmann ist hungrig, sein Wille gut, seine Kraft nicht hinrei- 
chend. Die Behorden driicken - vor Miidigkeit - die Augen zu. In den 
Lokalen des Westens spielt man den Fridericus-Rex-Marsch. Der 
Chauvinismus feiert musikalische und alkoholische Orgien. Die Opfer 
des deutschen und franzosischen Chauvinismus sterben. - 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 6. 8. 1923 



DIE HOCHSCHULE DER AUSLAGENARRANGEURE 

Der Schlips - ein Kunstwerk 

In der Hochschule der Auslagenarrangeure sieht man eine kleine weiCe 
Gipsbiiste und rings um diese viele blaue, hellblaue, himmelblaue Sei- 
denstoffe. Die Stoffe fliefien in Welien, Bogen, kleinen und grofien 
Linien, gefaltet, gerafft, mit Stecknadeln festgehalten von holzernen 
Postamenten auf dem Boden und lagern sich hier, breit, gemachlich 
und prachtig. Man sieht aufierdem seitwarts einen kleinen Glaskasten, 
vier holzerne Pfeiler und dariiber, daneben, in der Mitte Herrenhem- 
den und Krawatten, gestreifte, moderne, sommerliche, winterliche. 
Ein Auslagenarrangeur ist einer jener wunderbar begabten Menschen, 
die schone Stoffe prachtig zu entfaken vermogen, schlechte immer 
noch schon zu machen, Krawatten so zu binden, dafi in jedem Be- 
trachter der Wunsch entsteht, nur diese Binde zu besitzen. Die Devise 
des Auslagenarrangeurs lautet ungefahr: Der Schlips als Kunstwerk. Es 
gilt, aus dem AUtaglichen das Monumentale zu schaffen; aus dem Tex- 
tilgewebe das Malerische, das NiitzUche in ein Angenehmes umzuge- 
stalten, der Notwendigkeit Asthetik zu verleihen. 
In Wien, im Prater, gibt es eine »AuslagenarrangeurschHle«. Sie ist 
nicht umfangreich, erst einige Jahre alt, und Wiens Schaufenster sind 
noch geblieben, wie sie waren. In Fachkreisen erzahlt man sich nam- 
Hch, dafi in Wien die Kunst der Schaufensterdekoration nicht auf der 
Hohe sei. Die Wiener sind in Europa beriihmt als Auslagenarrangeure. 
Aber nicht in Wien. Hier konnen nur die Auslagen der Herrenmode- 
geschafte mit den westeuropaischen konkurrieren. Die Textilwaren- 
branche leidet an mangelhaft dekorierten Schaufenstern. 
In der Wiener Ausiagenarrangeurschule kostet ein i4tagiger Kurs 
zweimal hunderttausend Kronen. Nach vierzehn Tagen konnen die 
Schiiler die himmelblauen Brokatstoffe genauso falten, mit Steckna- 
deln heften, in Welien, Bogen, Zickzacklinien fallen und wallen lassen 
wie der Meister. Auch dlirfen sie Hemden und Krawatten kunstvoll 
bauschen und binden, dem Leblosen Leben verleihen, das Niitzhche 
angenehm machen. 

Die Schiiler der Ausiagenarrangeurschule rekrutieren sich aus Han- 
delsangestellten grofier Wiener Warenhauser. Die jungen Leute sind 
ehrgeizig und wollen in die Welt. Das Schaufenster ist von Natur in- 



1923 1043 

ternational. Es braucht, um zu wirken, nicht die speziellen Eigentiim- 
lichkeiten eines bestimmten Volkscharakters zu offenbaren. Es ist auf 
die Verstandigung durch das Wort nicht angewiesen. Sein Wesen ist 
die Sprachlosigkeit. Die wortlose Erscheinungsform. Ein kiinstlerisch 
gebundener Schlips wirkt auf jeden ohne Unterschied der Nationalitat 
und Rasse. 

Unter den Schiilern befand sich vor einiger Zeit auch ein wirklicher 
Student, einer, der die Hochschule fiir Geisteswissenschaften verlassen 
hatte, um jene fiir Arrangement aufzusuchen. Er wollte in die Schweiz 
wandern, und er tat recht daran, dafi er die juristische Fakultat nicht 
mitnahm. Er hatte mit dem biirgerHchen Strafgesetzbuch schwerHch so 
gut sein Ziiricher Brot verdient wie mit einer kleinen Handbewegung, 
die aus einem Gewebe eine Malerei schafft. 

Es Hegt vielieicht eine besondere Pikanterie darin, dafi in der Dekora- 
teurschule ein paar Hakenkreuzler studieren. Man sieht, dafi sie hier 
nicht umsonst den Titel »Hochschule« erhalten hat. Der Kenner deut- 
scher Hochschulverhaltnisse sieht die Analogien zwischen Universitat 
und der Akademie fiir Auslagenarrangement. Die volkischen jungen 
Leute iernen SchHpse binden. Vielieicht wenn alle nationaUstischen 
Organisationen sich dieser nutzlichen Tatigkeit hingeben wiirden - 
vielieicht wiirden sie es dann unterlassen, diese schongebundenen Kra- 
watten durch Hakenkreuze zu verunzieren. (Heute sind die noch nicht 
soweit. Sie kommen in diese Schule wie in die Vorlesungj mit Kniippel 
und Revolver.) 

Es gibt Tricks und Gefechte in der Kunst des Arrangements. Es gibt 
Arrangeure, die es mit der Phantasie halten, die nennt man dann, dank 
einem stillschweigenden gesellschaftlichen Ubereinkommen, nicht 
sehr folgerichtig: »Innenarchitekten«. Die Arrangeure gehoren zu den 
bestbezahlten Kategorien der Welt - weil sie selten sind. In Berlin ver- 
diente ein Arrangeur im Frieden 2000 Mark monatlich, in Paris ver- 
dient er heute ^000 Francs. Die grof^e beriihmte Arrangeurschule in 
Berlin zahlt uber hundert Schuler, darunter vierzehn Wiener. Bei 
einem Preisausschreiben erhielt ein Wiener fiir das beste Schaufenster 
den ersten Preis. 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 13. 8. 1923 



VORMITTAGSPROBE IM 2IRKUS 



Am Vormittag ist der Zirkus kahl und von einem vollkommenen zauber- 
losenTageslicht erfiillt, das durch die offenenNotausgange hereindringt. 
In der Arena hauft sich der Sand, nicht sauberlich gestrahk wie am 
Abend, in den runden Sitzreihen wirbelt der Besen eines Mannes Staub 
auf, fegt er Schokoladenreste, Butterbrotpapier, Pfirsichkerne zusam- 
men. 

Nackt, aller prachtvoUen Scheinwerf erf arben entkleidet, liegt sie da, die 
Arena. Sie ist kein Schauplatz verbiiiffender Wunder mehr. Am Vormit- 
tag springen die Kunststiicke nicht fix und fertig hervor, sondern werden 
miihsam gezeugt und geboren. Ich hege sogar den dringenden Verdacht, 
dafi jener junge Mann mit dem Besen zwischen den Sitzreihen - er ist in 
Hemdsarmeln und tragt eine niichterne Weste - am Abend der Clown ist. 
Der junge Mann ist sehr ernst und hat ein fahenreiches Angesicht, und er 
sieht ganz so aus, als bedriicke ihn ein tiefer, geheimer Kummer: So sind 
immer die Manner, die des Abends Witze machen miissen. 
Ach! - und der Herr Schulreiter tragt keinen Frack, und er tritt nicht mit 
elastisch federnden Knien in die Mitte, jederzeit im Begriffe, sich zu 
verneigen, nicht mehr die Peitsche knailbereit erhoben. Statt der die 
glanzenden Strahlen des Scheinwerfers hundertfach verstarkenden 
Lackstiefeletten - die den lustigen Knall der Peitsche gewissermafien 
optisch verstarken - tragt der Herr Schulreiter gewohnliche Ledersanda- 
len und braune, vulgare Hosen, und sein Gesicht ist noch unrasiert, und 
er tritt nicht mit federnden Knien herfiir, sondern gibt sich privat. 
Es gibt ein schones Pferdepaar mit silberglanzendem Fell, es hei(5t »Ro- 
meo und Julia« und kann gar nicht anders heifien. Am Abend sind 
Spriinge und Galoppaden, Walzertakt und Mazurka die natiirliche Folge 
der schmetternden Blechkapelle. Jetzt ist kein Ton zu horen, das getreue, 
zuverlassige Diktat der Trompete fehlt, und kein anstandiges Pferd weifi, 
wie man's macht. Seinen Bewegungen fehlt das musikalische Unterf ut- 
ter. 

Romeo und Julia sind so aneinandergekuppelt, dafi Romeos Kopf die 
Hinterbeine Juhas beriihrt. Romeo und Juha miissen sich immerfort im 
Kreise und umeinander bewegen. Der Herr Hofreiter zwitschert leise, 
lockend wie ein junger Vogel. Es sind so Locktone fiir Pferde, gezwit- 
scherte Schmeicheleien, Lobreden, Anerkennungen. 



1923 1045 

Dann gilt es freilich ein Rundherumkreisen ohne Halfter und Band, 
und das versteht Romeo nicht mehr. Romeo begreift nicht, weshalb er 
nicht wie jedes anstandige Pferd seinen Kopf neben dem Julias halten 
soil. Vielleicht haben sie sich was zu sagen. Angenehm und lieblich ist 
der Hauch, der aus den Niistern kommt, er streichelt Romeos Aug' 
und seine Schlafe. Aber ein unverstandliches Zirkusgesetz will es, dafi 
Pferde wie Hunde umeinanderkreisen. 

Dann sturmt das Pony herein. Es ist ein eingebildetes Pony, es iiber- 
schatzt seine eigene Wildheit und glaubt, ein gefahrliches, schnauben- 
des Schlachtrofi zu sein. Innerhalb einer Minute hat es viermal den 
Kreis durchjagt, Es blaht die zwerghaften Niistern und schiittelt die 
schiittere Mahne. Ein Peitschenknall lal^t es umkehren und denselben 
Weg zuriickjagen - von rechts nach Hnks, von Hnks nach rechts. Es ist 
der Sinn des Pferdelebens. 

Hinterdrein jagt der kostiimierte Hund. Ihr werdet sehen: ein Sprung 
- und der Hund sitzt auf dem Riicken des Pferdes. 
Es ist eine wilde, verwegene Jagd. Es ist ein mutiger berittener Hund. 
Ein kavalleristischer Hund. Er zittert nicht auf dem schwankenden 
Riicken des Pferdes. Am Abend wird er auf dem Pony Poisa tanzen 
und Mazur. Reiterblut rinnt in den Adern des Hundes. 
Bindet man einen Pudel einen kleinen Pferdeschweif an und eine win- 
zige Mahne, einen Sattel und Riemenzeug - so ist der Hund das »klein- 
ste Pferd der Welt«. Das ist so die sinnlose Tragik dieses Hundes, dafi 
er, eben noch ein edler Ritter, eine Nummer spater zum Pferde degra- 
diert ist und die Sitten und Gebrauche eines Zwergponys annehmen 
mul5. Schniirt man dem Hund mit dem Riemenzeug den Kopf ein, so 
klingt sein Versuch zu bellen wie ein kleines, zages, diinnes, marchen- 
haft feines Wiehern. (Aber niemals wird ein Pony bellen konnen.) 
Und dann ist die Probe zu Ende, und Tier und Mensch gehen zum 
Mittagessen. Durch die offenen Notausgange streicht der Sommer- 
wind. Die Banke sind kahl, der Zirkus von Leere sozusagen angefiillt, 
von einer Stille, die schreit, einer lauten Schweigsamkeit. 
In der Mitte glanzt goldgelber Wtistensand, das zufriedene Wiehern 
eines gesattigten Tieres klingt von feme her. Ein Besen lehnt an der 
Tiire. Der Hund streicht am Gitter entlang, als hatte er es einem gefan- 
genen Lowen abgesehen. Er schnappt nach einer Fhege. Er freut sich, 
dafi er nicht galoppieren muf5 und gibt sich den Geniissen eines natiir- 
lichen Hundelebens hin. Wiener Sonn- und Montagszeitung, 20. 8. 1923 



DER LAUSBUB 

Zur Psychologie Eulenspiegels 

Der »Lausbub« gehort zu jenen beschimpfenden Bezeichnungen, 
denen eln Gran Liebe beigemengt ist. »Lausbub!« steht in der 
Skala vaterlicher Schimpfworte obenan. Es ist ein nachsichtiges 
Mifitrauensvotum; eine Drohung ohne Ernst; ein Mahnwort, das 
sich selbst dementiert in demselben Augenblick, in dem es ausge- 
sprochen wird. 

Der Lausbub hat im »Till Eulenspiegel« seinen giiltigen, literarisch- 
fixierten Ausdruck gefunden. Es ist der Mann der pointierten Strei- 
che, deren Derbheit aufgehoben wird durch gelungenen Witz; deren 
Schaden geringer ist als das Gelachter, das sie anrichten; deren Hu- 
mor den Getroffenen und die anderen entschadigt. 
Dem »Lausbub« wird gestattet, was dem Pathetiker verwehrt ist. Je- 
ner hat die Berechtigung, die Majestaten dieser Welt zu beleidigen. 
Er hat alle Rechte des mittelalterlichen Hofnarren. Der Pathetiker, 
der Mann mit dem ewigen ZyHnder auf wiirdereichem Haupt, mufi 
genauso ernst sein, wie er genommen wird. Der Eulenspiegel so lu- 
stig, so fratzenhaft-komisch, wie der Pathetiker feierlich ist. Oder 
noch mehr: Denn das Pathos findet seine Grenzen friiher als die 
Clownerie, Jenes ermiidet, diese belustigt. Das Erhabene hat keinen 
Superlativ. Wo es am erhabensten ist, wird es lacherlich. Das La- 
cherUche, das sich bewufit darbietet, uberwindet dadurch seine La- 
cheriichkeit. 

Der Lausbub ist immer harmlos. Denn der Schaden, den sein Streich 
anrichtet, steht in keinem Verhaltnis zum Gelachter, das er hervor- 
ruft. Die reine Freude an seinem kiinstlerischen Witz heilt Wunden, 
die er geschlagen hat. 

Die Objekte seiner Spottlust sind die echten und falschen Heihgtii- 
mer dieser Welt. So verwirft sein Dasein die Erhaltung eines Gleich- 
gewichtes auf Erden. Er bewahrt die Erhabenheit vor Ubertreibun- 
gen. 

In den Narren der Shakespeareschen Dramen hat Till Eulenspiegel 
seine klassische VoIIendung erhalten. Er ist der ewige Gegenspieler 
der tragischen Welt geworden. Seine scheinbare Sinnlosigkeit offen- 
bart des Trauerspiels verborgenen Sinn. 



1923 1047 

Wer die Notwendigkeit der »Lausbuberei« leugnet und, auf die Un- 
antastbarkeit irdischer Wiirde bedacht, zu giiltigen Zeugen gegen die 
Existenz der Narretei die approbierten Grofien dieser Welt aufzuru- 
fen in der Lage ist, der sei auf das Leben eben dieser GrofSen hinge- 
wiesen. Er wird aus den Biographien beriihmt und unsterblich Ge- 
wordener erfahren, da£ ihr Sinn fiir Eulenspiegel immer wach, ihre 
eulenspiegeische Veranlagung fast immer stark gewesen ist. Und 
nicht selten begegnen wir dem lustigen »Lausbubenstreich« eines 
Grofien. 

Man entsinne sich der vielen Streiche des jungen Goethe in Frankfurt, 
des aiteren am Weimarer Hofe. Von Klopstock, dessen Wiirdigkeit 
schon allein die Neubelebung dts Hexameters beweist, erzahlt man 
sich in den Intimitatswinkeln der Literaturgeschichte, dafi er einmal 
durch die Stegreifrezitation einer falschen Homerstelle eine ganze 
Abendgesellschaft zwei Stunden lang in dem irrigen Glauben befangen 
hielt, dafi sie einen besonders ergreifenden Absatz der iHade zu horen 
bekamen. Nachher offenbarte Klopstock, dafi er eine selbstverfafite 
Parodie vorgetragen hatte - und einige Zuhorer safien mit Tranen der 
Riihrung in den Augen da. 

Beethoven liebte es, in Gesellschaften, in denen er aufgefordert wurde 
zu spielen, bekannte Zeitgrofien musikaUsch zu karikieren - und sich 
den Anschein zu geben, als spiele er sich selbst. Von Voltaire erzahlt 
man, dafi er einmal vor einem Priester mit dem AllerheiUgsten auf der 
Strafie den Hut abnahm. Voltaire ging in Begleitung eines braven Bur- 
gers, der sehr erstaunt war, den grofien Philosophen und Freidenker 
bei einer so glaubigen Geste ertappt zu haben. »Sie sind zu Gott zu- 
ruckgekehrt?« fragte der Biedere. »Wissen Sie«, erwiderte der Philo- 
soph, »ich stehe mit Gott sonderbar. Wir griifien uns wohl - aber wir 
sprechen nie miteinander.« 

Vom grofien Forscher Hyrtl erzahlt man sich folgenden Streich: Hyrtl 
war damals Student. Einer seiner Lehrer wollte das Verhaltnis der Ge- 
wichtsabnahme zur Nahrungsentziehung bei Kleintieren feststellen. 
Er schlofi eine Anzahl Kaninchen ins Laboratorium, gab den Tieren 
jeden Tag weniger Nahrung und mufite mit grofier Verwunderung 
feststellen, dafi die Kaninchen immer fetter wurden. 
Zwei Wochen spater stellte es sich heraus, dafi der Student Hyrtl die 
Kaninchen tagUch in den stillen Stunden, in denen niemand im Labo- 
ratorium anwesend war, gefiittert hatte. 



1048 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Man sieht, dafi die Grofie kein Hindernis ist fiir das »Lausbubische«. 
Man konnte, ohne der Gefahr einer uberspitzten Parodie anheimzufal- 
len, die Behauptung wagen: Ohne Eulenspiegel keine wahre Grofie. 
Denn im voUkommen gewordenen Menschen halten sich Ernst und 
Lustigkeit die Waage; bliiht der Lebensernst aus dem genialischen 
Leichtsinn; ist jener die Erganzung, dieser der Anfang; der Leichtsinn 
des Genies das Versprechen, der Ernst die Erfiillung. 

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 20. 8. 1923 



11000000 



Die Carnegie-Stiftung hat iiber die Verluste im Weltkrieg ein wertvol- 
les Buch veroffentHcht. Daraus erfahrt man, dafi die Zahl der Toten 
aller Staaten elf MiUionen betragt. Drei MiiHonen starben den indirek- 
ten Heldentod infoige Krankheit. Acht MiiHonen retteten sich vor mi- 
litararztlicher Behandlung und entkamen mit Hilfe der Gewehrkugeln, 
Bajonette, Schrappnells und Giftgase unmittelbar ins ruhige Oberland 
der Ewigkeit. Dem Statistiker der Carnegie-Stiftung ist es wahrschein- 
lich nicht moglich gewesen festzustellen, wie viele von den also direkt 
Gestorbenen vor ihrem letzten Atemzug noch vom Feldkuraten er- 
wischt wurden. Es ist anzunehmen, dafi nur die wenigsten dem Seel- 
sorger ihren endgiiltigen Abgang von der Kompanie gehorsamst ge- 
meldet haben konnen, obwohl bis jetzt nicht ein einziger wegen un- 
vorschriftsmafiiger Abriistung von der himmlischen Aufnahmekanzlei 
»retourgestellt« wurde. 

Aus dem Carnegie-Buch erfahrt man ferner, dafi der Weltkrieg mehr 
Tote zustande gebracht hat als alle Kriege, die in der Zeit von 18 15 
bis 19 14 gefiihrt wurden. Ich schatze, ohne Lexikon, es werden etwa 
sechs anstandige und einige kleinere Kriege in diesen hundert Jahren 
stattgefunden haben, und ermesse daran, dafi unser Weltkrieg ein 
wirklich imposanter war, ein Elf-Millionen-Toter, ein ganz patenter 
Weltkrieg. 

Wir miissen also dem Buch der Carnegie-Stiftung gewissermafien ver- 
pflichtet sein; - ihm verdanken wir es, dafi wir heme stolz von den 
noch nie dagewesenen elf MiUionen reden diirfen. 



1923 1049 

Allein - woher wissen wir, dafi sie noch wirklich nie dagewesen sind? 
Es ist kein Grund vorhanden, an der Wahrhaftigkeit jenes Carnegie- 
Buches zu zweifeln. Es ist vielmehr anzunehmen, dafi nach jedem der 
vorhergegangenen Kriege ein ahnliches Buch erschienen ist und viel- 
leicht sogar von der Carnegie-Stiftung herausgegeben. Vielleicht hat 
diese Stiftung den Zweck, nach jedem Krieg die Toten zu zahlen und 
ihre imposante Ziffer der Welt zu verkiinden. Es gibt dergleichen Stif- 
tungen. Sie haben die Aufgabe, nicht nur statistisch zu belehren, son- 
dern auch zu weiterem Toten anzueifern. Diesmal waren es elf Millio- 
nen. Vor fiinfzig Jahren weniger. Nachstens mehr. 
Es ist das Werk eines post-festum-V^ziiismviS, Er erfiillt die Aufgabe 
eines Leichenbestattungsamtes. Er sitzt im Biiro, wartet den Friedens- 
schlufi ab und begibt sich dann auf Carnegies Kosten zum Leichen- 
lokalaugenschein. Die Aufnahme des Tatbestandes dauert fiinf Jahre. 
Und wahrend dieser Pazifismus noch die alten Leichen zahlt, fangt die 
Welt an, schon neue herzustellen. Die Carnegie-Stiftung kann nicht 
zur Ruh' kommen , . . 

Neue Berliner Zeitung- 12-Uhr-Blatt, 19. 10. 1923 



DAS LAND DER SONDERBUNDLER 



Dieses Land ist ein poetisches und industrielles zugleich. Es hat ro- 
mantische Tradition und grof^artige Fabriken. In seinen Waldern wer- 
den Gedichte erzeugt seit Jahrhunderten und in seinen Stadten Lein- 
wand erschaffen. Stahl, Eisen, Chemikalien, Seifen und Zucker. Uber 
die dichterischen Fliisse wolben sich Briicken, machtige, auf tragenden 
Pfeilern, und in den Bauchen der Dampfschiffe stapelt sich unermefili- 
cher Reichtum an Waren. Aus der Feme sieht man Kirchtiirme, hohe, 
und noch hohere dampfende Schlote. Und in den Stadten liegt Tag und 
Nacht eine schleierdiinne Schicht aus Ruf^ und Kohlenstaub iiber ehr- 
wiirdigen Kuppeln, Turmspitzen, Uhren, Portalen. Tag und Nacht ha- 
sten Menschen durch die Strafien. Es ist ein grofies Gedrange zu be- 
stimmten Stunden in bestimmten alten, schmalen Gassen. Die Gassen, 
die Platze sind auf diesen Verkehr nicht vorbereitet. Die alten Kirch- 
turmglocken singen unzeitgemafi und langsam, und die StraEenbahnen 



1050 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

klingeln hysterisch, und die ungeduldigen Automobile stauen sich, 
und alle Hupen warden auf einmal nervos. 

Manchmal glaubt man, mitten in einem Bahnhof zu stehen. Die Ein- 
heimischen machen den Eindruck von Fremden. Meist sind sie auch 
Fremde. Sie arbeiten acht Stunden in der Fabrik, und ihre Wohnung ist 
aufierhalb der Stadt. Sie durchqueren die Stadt wie einen gleichgiilti- 
gen, schonen Bahnhof. 



Koblenz 

Koblenz ist eine Festung aus jener Zeit noch, da es mit C geschrieben 
wurde - und aus einer noch friiheren Zeit, da es »Covelenz« hiefi. Man 
sagt, es sei ein »wichtiger strategischer Punkt«, und es stehen wirklich 
in den Koblenzer Anlagen fiirchterliche steinerne Generale und sogar 
eine Kaiserin Augusta, nach der die schonsten Gartenanlagen der Stadt 
benannt sind. 

Koblenz besteht eigentlich aus zwei Stadten, von denen die eine unbe- 
dingt mit C geschrieben werden mufi. Es ist namlich die Altstadt mit 
ihrem Miinzplatz, dem Hospitalplatz und dem Florinsmarkt. Unter 
dem Florinsmarkt soUen iibrigens noch aus der Zeit des DreiEigjahri- 
gen Krieges grol5e Goldmiinzen begraben sein, und die altesten Ko- 
blenzer wissen davon zu erzahlen - aber nichts Genaues. Man sieht 
manchmal in stillen Nachten einen alten Koblenzer liber den Florins- 
markt schreiten und merkt, dafi er sehr vertieft in Gedanken ist. 
Aber er denkt nicht iiber die vergrabenen Schatze nach. Er hat nur ein 
wenig getrunken. Denn die alten Coblenzer, jene, die sich noch mit C 
schreiben, trinken etwas iiber den Durst und halten sich langer als no- 
tig auf dem Florinsmarkt auf. 

Dagegen gehen die jungen Koblenzer nicht mehr in ihre alten, schonen 
Kirchen, von denen eine, die Liebfrauenkirche, auf dem hochsten 
Punkte der Stadt liegt und im Anfang des 13 . Jahrhunderts errichtet 
worden ist. Sie ist von jedem Punkte der Stadt sichtbar, und es ist nicht 
einmal beschwerlich, sie zu erreichen, Dennoch besucht man sie nicht. 
Es ist eine Uebliche Kirche, sie liegt oben wie ein Volkslied, ein kleines, 
gemauertes, mit Tiirmen, die sich gleichmafiig wiederholen wie Re- 
frains, und man hat gar keinen Respekt vor diesem Gotteshauschen. 
In der Kastorkirche dagegen ist der Erzbischof Kuno von Falkenstein 



1923 I05I 

begraben, und es haben hier verschiedene Kirchenversammlungen 
stattgefunden, und man bekommt vor ihr fast mehr Respekt als vor der 
Moselbriicke, die im i4.Jahrhundert gebaut wurde und dennoch iiber 
300 Meter lang ist. Dagegen spielte man in dem kleinen Koblenzer 
Theater eine alte Operette von Lehar, und die Damen auf der Biihne 
trugen weifie Striimpfe und schwarze Halbschuhe, und alle Menschen 
im Parkett waren frisch gewaschen und rochen nach Seife. 
Unangenehm ist in Koblenz nur die Befestigung, man geht zehn 
Schritte und sieht ein Fort. Man sieht Kasematten, Kasernen, einen 
»montelambertischen Turm« und dergleichen grausame Dinge mehr. 
Aber die Kasematten sind beruhigend leer. Die Generale in den Anla- 
gen sind aus Stein. Und die Koblenzer (die mit K und die mit C) sind 
friedliche, lachelnde Menschen. 



Koln 

Da ist Koln eine andere Stadt. Ihr aufieres Bild wirkt geradezu ameri- 
kanisch, in dieser Atmosphare aus Rheinlyrik und Heiterkeit. Es ist 
etwas von Berlin in dieser unpreufiischen Stadt. Sie ist lauter, als sie 
sein miifite; hastiger, als ihr zusteht; sie iibertont die Ehrfurcht, die der 
Fremde vor ihr empfindet. Alle literarischen, historischen Erinnerun- 
gen, die ihr Name in ihm wachruft. Diese Stadt desavouiert sich; ihren 
Dom, ihre Sankt Maria im Kapitol, die Apostelkirche. Koln kann 
heute nicht mehr mit C geschrieben werden - trotz den Franzosen. 
Koln hat etwa 30 wunderbare Platze, darunter den Neumarkt, den 
schonsten. Aber Koln nennt diesen Platz Paradeplatz. 
Und der Teil des Rheins, an dem Koln liegt, ist gar nicht malerisch. Er 
ist flach und langweilig wie ein Teich. Und die Hauptstadt Koln ist 
leider »imposant«. Und es gibt einen Korso in Koln, allabendUch von 
6-8. Und eine grofSe Anzahl Kinos und Filme aus dem altesten Ame- 
rika, die fast so alt sind wie der Dom. 

Und in den Straiten spricht man Englisch, Franzosisch, Russisch und 
Jiddisch. Es gibt Stadtteile in Koln, die an Lemberg erinnern. 
Es gibt eine schwarze Borse in Koln. 



1052 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Trier 

In Trier steht das alteste steinerne Wohnhaus Deutschlands, der 
Frankenturm: Er stammt aus dem lo.jahrhundert und wird von 
Fremden besucht. Er wird jeden Tag ausgebessert. Und jeden Tag ver- 
fallt er. 

In Trier sieht man sehr viele fromme Menschen, Priester, Nonnen und 
Monche. Es gibt 11 katholische Kirchen dort, und alle sind gut be- 
sucht. 

Aber eine grolSere RoUe als die Kirchen spielen die Fabriken. Es ist 
eine sehsame Mischung von KathoUzismus und Industrie und Kom- 
munismus. Die Arbeiter sind radikal. Ihre Frauen gehen vor der Arbeit 
zum Gottesdienst. 

Am Sonntagnachmittag gehen alle ins Kino. 
Am Sonntagabend trinken alle Wein. 

Es gibt einen prachtvolien, verhaltnismaKig billigen Wein in Trier. Da- 
gegen ist die Schutzpolizei machtlos, Durch die stillen alten Strafien 
von Trier wandern lautgeschminkte Prostituierte. Und an der »Porta 
Nigra«, dem schwarzen Tor, das die Romer im 3.Jahrhundert gebaut 
haben, und an den Randern des Amphitheaters, in dem Kaiser Kon- 
stantin Tausende gefangener Franken von wilden Tieren zerfleischen 
hefi, findet man heute nachtHche Liebesszenen, fiir die sich auch der 
neue Stadtpark und der Volksgarten eignen. 



Aachen 

In Aachen erinnert auf den ersten fliichtigen Blick nur wenig mehr an 
die alte Kronungsstadt. Fabriken, Fabriken, Fabriken. Samt, Leinen, 
Feuerzeuge, Regenschirme, Schnaps, Bier, Knopfe, Glocken, Drahte 
werden in Aachen erzeugt. Aber dann sieht man das Rathaus mit dem 
gewaltigen Granusturm; dann sieht man den Miinster - an dem man 
alle Stile lernen kann wie aus einer steinernen Kunstgeschichte; sieht 
man die Glasmalerei an den breiten, behaglichen Fenstern des »Okto- 
gons«. Man besucht den riesigen Kronungssaal, der etwas mehr als 40 
Meter breit ist, und man bekommt Respekt vor Aachen. 
Man verliert ihn erst ein bifSchen, wenn man wieder in die unwahr- 
scheinlich respektlosen StralSen gelangt, in dieses Kurhaus mit dem 



1923 1053 

grofien Konzertsaal, in dem eine wahre Kaiser- Wilhelm-Pracht ange- 
strebt ist. Wahrend der Konzerte ist der Saal beleuchtet. Das fordert 
die Akustik - angeblich-, aber es zerstort und verhindert die Samm- 
lung. Es ist sehr viel Praktisches in Aachen, Man hort das Heulen der 
Fabriksirenen dreimal taglich. Und die Stimmen der neuen Zeit iiber- 
tonen alles Alter und Ehrfurcht. 



Die Putschisten 

Die Putschisten sind nicht durchwegs bezahlte Menschen. Das rheini- 
sche Kleinbiirgertum will von Preufien los. Die Kaufleute wollen - 
selbstverstandlich - eine bessere Wahrung. Franzosenfreundlich sind 
wenige. Preufienfeindlich viele. Studenten, Regierungsrate, iiberhaupt 
hohere Beamten sind Fanatiker des Reichseinheitsgedankens. Aber die 
mittleren Beamten sind gleichgiiltig. 

Die Bevolkerung ist ruhig und sachUch, Man merkt nicht viel vom 
»leichtblutigen Rheinlander« ; eher mehr vom »westfaUschen Dick- 
schadel«. Die Leute sind unpolitisch, sie lieben die Ruhe und das 
Gleichmafi. Die Fiihrer der Putschisten wie Dorten, Decker u.a. sind 
keine iiberragenden Personhchkeiten. Sie haben eine gewisse Portion 
Tiichtigkeit und sehr viel Geld. Dafiir schlechte Zeitungen und mora- 
Usch nicht einwandfreie Heifer. 

Die Bevolkerung ist mifitrauisch. Die Los-von-PreuEen-Bewegung ist 
noch keine Los-vom-Reich-Bewegung. Die Liebe zum Deutschtum ist 
stark. Als erstes Land, das sich vom Reich separiert, kommt das Rhein- 
land kaum in Betracht. 

Prager Tagblatt, 24. 10. 1923 



FRAU SACHER ENTSCHULDIGT SICH 



Ihre Majestat, Frau Sacher, die Maria Theresia der osterreichischen 
Gourmandie, hat am Dienstag, den 23.0ktober 1923, einen Kellner 
um Entschuldigung gebeten. Das Datum soil der Nachwelt iiberliefert 
werden, weil es historisch ist und den Zeitpunkt fixiert, an dem in 



I0J4 I^AS JOURNALISTISCHE WERK 

Osterreich das Kaisertum aufhorte, fiinf Jahre, nachdem es aufgehort 
hatte. 

Ein Kellner, obendrein Betriebsrat, und - Paradoxic dieser Zeit! - Be- 
triebsrat und Kellner im sogenannten »Jagdsaal«, im feudalsten Ab- 
schnitt des feudalen Speisepalais, war von Frau Sacher personlich ent- 
lassen worden. Dagegen protestierte die Organisation der Kellner. Es 
brach ein Streik aus. Frau Sacher bot dem entlassenen Kellner 25 Mil- 
lionen an - wenn er ginge. 

Aber er lehnte ab. Frau Sacher mufite sich bei ihm entschuldigen. Um 
halb acht Uhr abends nahmen die Kellner die Bedienung wieder auf. 
Aufierlich sieht es also beim Sacher aus wie gewohnlich, will sagen: 
wie aufiei^ewohnlich. Aber die Eingeweihten, mit den hofischen Be- 
sonderheiten Vertrauten werden wissen und die Gebardenspaher und 
Geschichtentrager es weiter ins Volk streuen, wie im angestammten 
Herrscherhause die Tradition verletzt, das Gottesgnadentum ge- 
schmaht und das gesalbte Haupt entkront wurde. 
Leider spielte sich alles hinter verschlossenen Tiiren des grofiartigen 
Jagdsaales ab. Die alte fiktive Revolution, bei der nur die Habsburger 
abgesetzt wurden, fand bei freiem Zutritt fiir jedermann statt. Aber bei 
diesem wirklichen Umsturz, dem Thronbruch der Dynastic Sacher, 
kennen wir weder Ursache noch detaiUcrten Verlauf... Und hatten 
doch gernc geschcn, wie dicse Hand, die den Kochloffel, durch den sic 
machtig geworden, nic bcriihrt hat, die gcbictcrische Gebarde des Hin- 
auswurfs nicht zu voUfiihren wagt einem Betriebsrat gegeniibcr: hatten 
gerne gesehen, wie diese, von Prinzen aus dem mitregierenden Hause 
Habsburg oft gekiifitc Hand auf Gchcifi einer Organisation dem belei- 
digten Kellner zogernd geboten wird. 

Ach, wir sehn dergleichcn nicht. Wir sehn die billigen Revolutionen, 
die in die Gcschichtc kommen und uns nicht die Moglichkeit besche- 
ren, bei Sacher zu essen. Aber die eigentlichen, die wichtigen Um- 
stiirze sind uns zu kostspielig. Und ihr Gelingen bereitet uns, ach! - 
nur platonische Freude durch die schwachende Mitteilung eines 
»Entre-filets«. 

Prager Tagblatt, 26. 10, 1923 



DAS OSTERREICHISCHE REISEVISUM 



Man erhalt das osterreichische Einreisevisum in Prag in der Zeit von 8 
bis II Uhr vormittags im osterreichischen Konsulat. Da aber alle Kon- 
sulate in Prag bis 2 Uhr nachmittags geoffnet sind, kommt kein Reisen- 
der auf den Einfall, dafi das osterreichische schon um 11 Uhr gesperrt 
ist. 

Er geht also um /i 12 Uhr hin und steht vor dem geschlossenen Fenster 
des Konsulats. Er pocht an die Scheibe. Es erscheint ein Diener hinter 
dem Glas und sagt: »Heit is nix mehr! - MurgenU 
Der Reisende kehrt sehr betriibt um und bleibt ratios vor dem Eingang 
stehen. Dann erscheint ein einfacher, biederer Mann und spricht: »Sie 
brauchen ein osterreichisches Visum !« 
»Ja!« sagt der Reisende erfreut. 

»Der Osterreichische Hilfsverein in Prag gibt Ihnen ein Visum, auch 
nach elf Uhr- dafiir zahlen Sie nur 15 tschechische Kronen mehr.« 
»Wo ist der Hil£sverein?« fragte der Reisende. 

»Ich fiihre Sie hin, ich bin dort bekannt«, sagte der Mann. »Aber dafiir 
zahlen Sie mir noch extra 10 tschechische Kronen. « 
So erhalt man ein osterreichisches Einreisevisum in Prag - nach 11 Uhr 
vormittags; wenn man 15 tschechische Kronen dem Hilfsverein zahlt 
und 10 tschechische Kronen dem Ratgeber und Fiihrer. 
Dieser Vorgang mufi hier geschildert werden, damit die Reisenden sich 
kiinftighin die 10 tsch. K. fiir den Fiihrer ersparen. Denn das oster- 
reichische Konsulat in Prag teilt niemandem mit, daf5 auch der Oster- 
reichische Hilfsverein in Prag Einreisevisa erteilt. 
Dagegen weigert man sich in Osterreich, die Einreisevisa aufzuheben. 
Man bedenke, was dadurch verlorenginge; i. die 15 tsch. K. fiir den 
Hilfsverein, 2. die 10 tsch. K. fiir den biederen Mann. Man mochte 
glauben: Die Existenz dieses biederen Mannes liege der osterreichi- 
schen Regierung am Herzen. 

Das tschechoslowakische Ministerium fiir AufSeres behauptet, die 
osterreichische Regierung hatte sich bis jetzt geweigert, aus fiskali- 
schen Griinden die Einreisevisa aufzuheben. Die Schuld trage Herr 
Zimmermann. Vor drei Tagen hat die tschechoslowakische Regierung 
verlautbart, dalS sie bei den kommenden wirtschaftlichen Verhandlun- 
gen die Frage der Einreisevisa beriihren werde. 



1056 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Und flugs - und ehe man sie noch gefragt hatte - erklarte die oster- 
reichische Regierung - dafS sie wegen der schlimmen Verhaltnisse - in 
Deutschland das Einreisevisum nicht aufgeben konne. 
Hierauf begab ich mich in die osterreichische Gesandtschaft in Prag 
und erfuhr, dafi die tschechoslowakische Regierung der osterreichi- 
schen noch gar keinen Vorschlag gemacht habe und dafi also noch gar 
keine VeranlassHng bestiinde, dariiber zu reden. 
Der Sach verb alt stelit sich also so dar: 

1. Die tschechoslowakische Regierung will das Einreisevisum im Ein- 
vernehmen mit Osterreich auf der Basis der Gegenseitigkeit abschaf- 
fen. 

2. Die osterreichische Regierung will es nicht abschaffen, weil die Ein- 
wanderungsgefahr aus Deutschland droht. 

3. Der Vorschlag kam nicht von der deutschen Regierung. 

4. Die osterreichische Gesandtschaft erfahrt den Standpunkt der 
osterreichischen Regierung erst aus den Zeitungen — und erklart: 

5. Dafi noch gar keine Veranlassung ist, einen Standpunkt einzuneh- 
men. 

Der biedere Mann, der die osterreichischen Einreisevisa besorgt und 
schon um seine Existenz gezittert hat, ist im Begriff, ein Dankschrei- 
ben an das Wiener Aufienministerium abzusenden. 

Neues Acht-Uhr-Blatt, 2. 11. 1923 



EBERT 



Seine personliche Tragik wachst mit dem Ungluck Deutschlands. In 
diesem Sinne reprasentiert er es menschlich, nicht nur beruflich. Er 
wurde Reichsprasident, unfreiwillig und aus Verlegenheit. Er blieb es 
aus Notwendigkeit. Niemals hat er sich selbst iiberschatzt. Immer un- 
terschatzten ihn andere. Er vereinigte in sich die besten Durchschnitts- 
tugenden des deutschen Volkes: Bescheidenheit und Tiichtigkeit; 
Eigenschaften, deren Segen sich in Zeiten gesicherter staatlicher Exi- 
stenz erweist, die in unruhigen Zeiten staatlichen Verfalls nicht zur 
Auswirkung gelangen. In solchen Zeiten kann Ebert nur ein Beispiel 
sein und kein Retter, Seine biirgerlichen Tugenden reichen nicht aus, 



1923 1057 

um scheinbare Verfehlungen vergessen zu machen, die nur ein Genie 
rechtfertigen kann. Im ersten Jahr seiner Prasidentschaft erwischte ihn 
ein geschmackloser Photograph beim Baden, und »Ebert in Badeho- 
sen« wurde das wirkungsvollste, weil pobelhafteste Argument gegen 
die RepubHk. Haute, im fiinften, schwierigsten Jahr seiner Prasident- 
schaft, fallt er wieder als Reiter durch den Tiergarten den illustrierten 
Blattern anheim. Vor fiinf Jahren lachte ihn der deutsche Spiefier aus, 
das auf den Lokalanzeiger abonnierte Kleinhirn. Heute wollen ihn 
seine Genossen aus der Sozialdemokratischen Partei ausschUeEen. 
Zwischen der rohen MifSgunst kleinbiirgerlichen Pobels und der Ver- 
standnislosigkeit des flachkopfigen Gewerkschaftssekretars spieit sich 
die deutsche Tragodie Ebert ab. 

Man kennt seine achtunggebietende Laufbahn, weifi, dafi er Sohn eines 
Schneiders ist, Sattlergehilfe war, Redakteur der » Bremer Biirgerzei- 
tung«, Arbeitersekretar, seit 19 12 MitgHed des Deutschen Reichstages, 
gegen den Willen Bebels Mitglied des Parteivorstandes. Aber obwohl 
dieser Aufstieg dank personlichem Verdienst und barter, stiller Arbeit 
gerade dem deutschen Lesebuch-Menschen imponieren sollte, wurde 
er Objekt bilHgen biirgerlichen Spottes. Der Durchschnittsmensch 
vertragt iiber sich nicht seinesgleichen. Und Ebert war »seinesglei- 
chen«. Auch er war ein Durchschnittsmensch und bUeb es, solange er 
von seiner machtigen Partei und alien klug und rechtlich Denkenden 
(ohne Unterschied der Partei) gestutzt wurde. Menschliche Grofie ge- 
winnt er erst durch die stetig um ihn wachsende Einsamkeit. Dadurch 
verliert er erst recht die Fahigkeit zu fiihren. Aber so wachst er hinaus, 
wachst iiber seine Partei, seine Stellung, sein Vaterland, wachst in die 
Region der »reinen Idee« und wird ein Beispiel leidender, grofier 
Menschlichkeit und passiven Heldentums. 

Dabei bleibt es gleichgiiltig, ob der Beschlufi, ihn aus der Partei zu 
entfernen, ausgefuhrt wird oder nicht. Er ist jedenfalls seit einer Wo- 
che nicht mehr eine »Stutze der Partei«, und sie kann seine Handlun- 
gen nicht mehr verantworten. Er ist ihr auch nichts mehr schuldig. Er 
ist als der (mittelmafiige) Politiker und Reichsprasident aus ihr hervor- 
gegangen, nicht als der vollkommene Mensch. Seine Entwicklung als 
»Individualitat« hatte sie sicherlich nur hindern konnen. Von einer 
Pflicht zur Dankbarkeit gegeniiber der Partei kann bei Ebert keine 
Rede sein. (Es ware denn ungefahr jene Dankbarkeit, die Goethe dem 
Weimarer Hofe schuldig wan) Gegen die Grundsatze der Partei, ja 



10^8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

sogar des Sozialismus hat Ebert gewifi verstofien. Aber mit gutem Ge- 
wissen, offen und offentlich, im Dienste seines Wesens und einer Idee, 
unter einem innern und aufiern Zwang. Er war eingekerkert in seiner 
Prasidentschaft wie in einer Zelle. Auch wenn er gewollt hatte - eine 
Abdankung ware unmogiich gewesen. Er mufite die ganze Zeit hin- 
durch seine Stellung behalten, wie er sie seinerzeit hatte annehnnen 
miissen. Und wie einem HaftUng nichts anderes iibrigbleibt, als Kom- 
promisse mit seiner Umgebung zu schliefien, so blieb Ebert nichts an- 
deres iibrig, als die gliickUche, opportunistische Veranlagung seines 
Wesens auszuniitzen, zu stillen, zu schlichten, zu mildern und zu ver- 
einigen, wie es ihm sein Inneres gebot und wie es seine aufSere Situa- 
tion erheischte. Er war kein Liebling des Volkes, kein Begeisternder 
und ein langsam Begeisterter. Er woUte keinen Ruhm und erwarb sich 
nur Respekt. Das war seine Bestimmung. Beamte, wilhelminische, des 
Auswartigen Amtes begegneten Ebert mit derselben Hochachtung, 
mit der sie etwa Hindenburg empfangen batten. Im Jahre 1921 gab es 
in Berlin eine Buchausstellung. Der Leiter des Komitees, ein reaktio- 
nares Vorstandsmitglied des reaktionaren Buchhandler-Borsenvereins, 
aufierte sich zu einigen Bekannten vor der Ankunft Eberts, der die 
Ausstellung eroffnen soUte: »Was soil man tun? Er mufi doch dabei- 
sein!« Dann kam Ebert, im Winterrock, den Hut in der Hand, sagte: 
»Verzeihung« zu den Leuten an der Tiir, die ihn nicht kommen sahen, 
blieb stehen, verneigte sich vor dem Komitee und sagte sehr leise: »Ich 
wiinsche Ihnen Gliick, ich freue mich iiber eine deutsche Buchausstel- 
lung in dieser Zeit, ich eroffne die Ausstellung!« Dann reichte er jedem 
die Hand, auch Leuten, die zufalUg dabeistanden, und ging von Stand 
zu Stand und lernte bei jedem, lernte Holzschnitte, Kupferstiche, Ein- 
bandkunst. Dann begleitete ihn jenes Vorstandsmitglied zum Auto 
und offnete selbst den Wagenschlag. Und Ebert lachelte bescheiden, 
froh iiber die Ausstellung und - dafi er selbst etwas gelernt hatte. 
So, mit Erfolg um Achtung werbend, wuchs er in den Augen seiner 
politischen Gegner. So konnte im Oktober 1922 sein Provisorium auf- 
horen und seine Prasidentschaft eine endgiiltige bleiben. Aber je mehr 
Ebert Gegner verlor, desto geringer wurde die Zahl seiner - Freunde. 
Je mehr er an Achtung gewann, desto mehr verlor er an Liebe. Er war 
den Parteien entriickt, nicht mehr Gegenstand ihres Haders, sondern 
ihrer Achtung, einer kiihlen Achtung, und ihres leisen Mif^trauens. Er 
hatte die einen angenehm enttauscht und sich von den anderen ent- 



1923 1059 

fernt. Und well es in diesen fiinf Jahren der deutschen Sozialdemokra- 
tie nicht gelang, die deutsche Republik zu reprasentieren, Prasident 
Ebert es aber konnte und muEte, entstand - ohne beider Schuld - ein 
deutlicher Gegensatz zwischen den grundsatzlichen Anschauungen 
der Partei und den Auffassungen Eberts von seiner Pflicht. 
Sie bestand und besteht darin, die Einheit des Reiches zu wahren. 
Wenn man ihn vor die Frage stellte, ob hundert Arbeiter erschossen 
werden soUen oder ob das Reich zerf alien solle - er miifite sich fiir die 
Erschiefiung entscheiden, Er miifite sein eigenes Leben fiir die Einheit 
des Reiches opfern, das Leben seiner Kinder. Der Prasident einer 
gliicklicheren Republik kann zuriicktreten. Ebert kann es nicht. Er ist 
an den Prasidentenstuhl gefesselt. Dem Takt des Reichskanzlers und 
der ausfiihrenden Behorden und Organe mufi es iiberlassen bleiben, 
Ebert vor Konflikten zu bewahren. AUein es fehlt den deutschen 
Reichskanzlern, Behorden und Organen an Takt, den Ebert besitzt. 
Wenn ihn jetzt die Partei verlaf^t, verlassen mufi, wird Ebert ein Hei- 
matloser sein und ein - Ohnmachtiger. Denn die Politik im Innern 
Deutschlands ist nicht durch eine menschUche Kapazitat zu beeinflus- 
sen, sondern durch einen brutal Machtigen. Aber aus dem Gegensatz 
zwischen Eberts Machtlosigkeit, Einsamkeit, Verlassenheit und den 
aufieren Widerstanden der deutschen Parteien erbliiht das tragische 
Schicksal einer einzigartigen Gestalt, eine Art traurigen Konigtums, 
das nicht von dieser Welt ist. 

Prager Tagblatt, 3. 11. 1923 



DIE OPFER DES HERRN V. KAHR 

Bayerische Fluchtlinge im tschechoslowakischen Grenzgebiet 

Die strengen Verfiigungen der tschechoslowakischen Behorden, die 
verscharfte Grenziiberwachung, die Verstarkung der Patrouillen langs 
der bayerisch-tschechoslowakischen Grenze haben es nicht verhindern 
konnen, daE viele ans Bay em ausgewiesene Juden ihren Weg notge- 
drungen iiber das Egerland nehmen und von hier aus nach Prag zu 
gelangen suchen. Die Humanitat der tschechischen Gendarmerie be- 
statigt nur die langst in ganz Europa feststehende Meinung, dafi die 



lo6o DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Biittelroheit der bayerischen Minister und ihrer Vollzugsorgane von 
seinem Gendarmeriewachtmeister der aufierhalb der »Ordnungszelle« 
befindlichen Welt iibertroffen wird - dafi im Gegenteil der ietzte Poli- 
zeidiener irgendeines beliebigen europaischen Staates den Glauben an 
den Bestand einer Kuitur alien jenen zuriickzugeben vermag, denen er 
von den bayerischen Minis tern genommen ward. Auf den Lands trafien 
des Egerlandes trifft man zerlumpte Menschen, Manner mit kleinen 
Biindeln am Arm, ohne Winterkleidung, in durchnafiten Stiefeln und 
Anziigen. Es sind aus Bayern ausgewiesene Juden, Polen und Ukrai- 
ner, die zumeist seit zehn und mehr Jahren in bayerischen Stadten an- 
sassig und beruflich tatig waren und denen die bayerische Polizei kaum 
einen Tag Zeit gelassen hatte, Geld, Nahrungsmittel oder auch nur die 
notigsten Winterkleider mitzunehmen. Die bayerische Polizei kiim- 
mert sich namlich nicht um den Weg, den die Ausgewiesenen nehmen 
soUen. Sie befordert die Juden nicht an irgendeine Grenze. Sie »weist« 
nur »weg«, 

Ich sah bei einem der Ausgewiesenen ein solches Kulturdokument der 
bayerischen Ordnungszelle. Es sieht so aus: 
Betrifft WegweisHng! 
Herm . . . in . . . M Undo en, 

Sie werden aufgefordert, heute, spates tens morgen, das Stadtgebiet 
Miinchen zu verlassen. Innerhalh 48 Stunden, vom Tage des Erhalts 
dieser Aufforderung gerechnet, mUssen Sie das Gebiet des Landes 
Bayern verlassen haben. 
In den letzten acht Tagen haben 26JHdische Familien solche und ahnli- 
che Aufforderungen erhalten. Proteste, Bitten, Besch werden, Gesuche 
um einen Aufschub niitzen gar nichts. Vor einigen Tagen haben Ver- 
treter der Munchener jiidischen Kultusgemeinde bei Herrn v, Kahr 
vorgesprochen. Die Antwort Kahrs lautete: »In einigen Wochen wer- 
den die Juden den Kahr segnen, weil sie froh sein werden, Bayern ver- 
lassen zu haben. « Er konne, sagte Kahr, keine Verantwortung fiir das 
Leben der Juden in Bayern iibernehmen. Auf den Vorhalt der jiidi- 
schen Vertreter, dafi eine Konfiskation des Vermogens der Ausgewie- 
senen ja keinesfalls die Folge der Kahrschen Sorge um das Leben der 
Juden sein konne, wufite der Diktator nichts zu antworten. Die Kahr- 
Antwort erinnert an eine Anekdote aus dem zaristischen Rutland: 
Nach dem fast genauso wie Bayern beriihmt gewordenen Kischenewer 
Pogrom begaben sich reiche Juden aus Moskau zum Gouverneur To- 



1923 io6i 

winoff und verlangten von ihm eine Zusicherung, dafi weitere Po- 
grome unterbleiben wiirden. Towinoff erwiderte: »Seid froh, daf5 400 
Juden umgekommen sind. Die toten Juden sind die glUcklichsten ]u- 
den!« 



Ausweisung aus dem Sanatorium 

In einem Miinchener Privatsanatorium befand sich die schwangere 
Frau eines jiidischen Kaufmannes aus Riga, der Prokurist eines grofien 
Miinchener Unternehmens ist. Vor einer Woche bekam der Prokurist 
den »Wegweisungsbefehl«. Der Prokurist berief sich darauf, dafi er 
seine Frau, die im Sanatorium H. ein Kind erwarte, nicht verlassen 
konne. Am nachsten Tage erhielt der Leiter des Sanatoriums eine Vor- 
ladung zur PoUzei, die ihm »bedeutete«, da£ er die Frau des Prokuri- 
sten nach Hause schicken soUe. Der Ausgang der Affare ist noch nicht 
bekannt. 



Der Deserteur aus Tamopol 

In Karlsbad traf ich einen etwa dreifiigjahrigen Juden, der vor drei 
Tagen die bayerische Grenze iiberschritten hatte und im Begriff war, 
zu Fuf5 nach Prag zu gehen. Der Mann ist in Tarnopol geboren, wah- 
rend der nachrevolutionaren Kampfe zwischen Polen und Ukrainern 
zwangsweise in die polnische Armee eingereiht worden und aus ihr 
19 19 desertiert. Er kam nach Bayern, bekam AufenthahsbewilHgung 
und Stellung in einer Bank. Er lebte mit einem ukrainischen PaR in 
Miinchen. Seine polnische Staatsbiirgerschaft hat er verloren. Auch ihn 
traf die »Wegweisung«. Dieser Tarnopoler, dem die tschechischen Be- 
horden den Aufenthalt nicht gestatten, wird nun heimatlos von einem 
Gendarmeriepostenkommando zum anderen geschickt werden, wenn 
es ihm nicht gelingt, in irgendeinem der Staaten, die er jetzt durchwan- 
dern mufi, eingesperrt zu werden. Er kann nicht mehr in seine Heimat, 
sein ukrainischer PafS wird von den europaischen Machten nicht aner- 
kannt, weder in der Tschechoslowakei noch in Osterreich darf er sich 
aufhalten. Er hat nur sein letztes Monatsgehalt - in Mark. 
Ich sah ihn zur Stadt hinauswandern. Er trug nicht einmal einen Stock. 



I062 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Er ging in einem diinnen Rock, mit hochgezogenen Schultern, mit 
langsamen Schritten, so als hatte er sein Ziel in der Nahe oder nir- 
gends, als wiifite er, dafi er sich in Gottes Hand oder in der des Teufels 
befinde, und als ware er wirklich froh, sich nicht mehr in der des 
Herrn v. Kahr zu befinden und der Hakenkreuzigung entronnen zu 
sein. 

Neues Acht-Uhr-Blatt, 8. n. 1923 



40 MANN = 6 PFERDE 



Als erster und einziger der mitteleuropaischen Staaten hat der tsche- 
choslowakische eine Formel abgeschafft, die trotz ihrer theoretischen 
Belanglosigkeit in ihrer vielsagenden Kiirze auf die einfachste Art das 
Wesen der mitteleuropaischen Staaten im allgemeinen und der gewese- 
nen Donaumonarchie im besonderen ausgedriickt hat: die Formel 40 
Mann = 6 Pferde. Ich safi einmal zehn Tage in einem Viehwagen, der 
die oben zitierte Inschrift trug und - es war Anfang 1916 - von meinen 
begeisterten Kameraden mit griinen Tannenzweigen geschmiickt wor- 
den war. Es war Marz, und wir fuhren, ohne es zu wissen, »gen« Rut- 
land, um es dem Nikolai Nikolajewitsch zu zeigen. Aus strategischen 
Griinden und damit wir unsere viehische Gleichwertigkeit besser emp- 
fanden, schob man unseren Zug zwischen Mahr.-Ostrau und Krakau 
einige Tage und Nachte lang bin und zuriick. Es schneite, und der 
Wind blies, weil zu beiden Seiten des Wagens die Tiiren schlecht 
schlossen. Wir drangten uns aneinander, lagen, wenn wir schlafen 
wollten, in unentrinnbaren Klumpen und sehnten uns nach der Warme 
eines guten Pferdekorpers, dessen hoheren Wert wir beim Anblick un- 
serer Obersten empfanden. Ach! wir waren nur 40 Mann und beneide- 
ten 6 Pferde. Wenn wir in einer Station ausstiegen, so geschah es nur, 
weil wir nach dem Gesetze der Feldtransportleitung gerade hier zu 
einer Massenfiitterung getrieben werden sollten. Es klapperte, wenn 
wir iiber den Bahnhof gingen, das Klappern der Zahne iibertonte das 
der Menageschalen, unsere erfrorenen FiiEe waren fiihllos, und wir 
horten nur den Tritt unserer genagelten Stiefel, ohne das Auftreten 
unserer Sohlen zu spiiren. Den Offizieren trug man das Essen in die 



1923 1063 

geheizte und beleuchtete zweite Klasse, dem Rechnungsunteroffizier 
und den iibrigen Buchhaltern der Weltkriegsfirma in einen Personen- 
wagen dritter Klasse. Es war in einer kleinen galizischen Station, wir 
hatten den ganzen Tag »nichts Warmes« bekommen und erhielten in 
der Bekostigungsstation nicht jene Wassersuppe, auf die wir uns ge- 
freut hatten, sondern einen Wiirfel hartgebackenen gelben Mais, der 
wie ein Pflasterstein in der Schale lag. Niemand sprach ein Wort. Wir 
kamen zum Wagen zuriick, einige begannen verzagt, den Mais zu 
kosten. Ein kleiner Einjahriger, von Beruf Versicherungsbeamter, 
machte einen Witz: Er sagte, man konnte die Tannenzweige unseres 
Wagens eher essen als den Mais. Und nun begannen fiinf, zehn, zwan- 
zig Hande den Tannenreisig abzunehmen. Es geschah mitten in einer 
volikommenen Stilie. Die Zweige bedeckten den Perron, An dem Wa- 
gen blieb nur gespenstisch weifi die Inschrift: 40 Mann = 6 Pferde, 
Wir haben es alle schon fast vergessen. Das Verdienst der tschechoslo- 
wakischen Behorde, die jene Inschrift abschafft, besteht darin, dafi sie 
uns erinnert hat, nicht nur an die Inschrift, sondern an alles, was mit 
ihr zusammenhing. Die Inschrift kennzeichnete den Viehwagen, uns, 
die wir drin safien, und die andern, die zu Hause bUeben. Sie begleitete 
uns auf unserem letzten irdischen Weg. Ihr Inhah und ihr Sinn erklar- 
ten uns Sinn und Zweck unseres Heldentodes, Sie offenbarte uns unse- 
ren Wert, den wir fiirs Vaterland reprasentierten. Sie war das Motto 
iiber dem 2ug der grofien Zeit, der zu den Leichenfeldern fiihrte. 
Leider ist die Wiederkehr der Formel mit der Wiederkehr einer grofien 
Zeit zu erwarten. Die Feststellung, dafi vierzig Mann sechs Pferden 
gleich sind, lafit sich beim Ausbruch eines Krieges wegen Platzmangels 
(weil alles sich zum Sterben drangt) nicht vermeiden. So bleibt nur der 
Trost: da£ dem Soldaten wenigstens auf einer Reise im Frieden nicht 
die Vorstellung eines Massengrabes aufgedrangt wird. 

Prager Tageblatt, 9. 11. 1923 



REISE IN KAFFEE 



Ich reise in Kaffee. Fiir meinen Freund. Von Montag friih bis Samstag- 
abend. Ich fiihre alle Sorten. Ich vertreibe Guatemala, Santos, Hondu- 
ras, Portorico auf meiner Tour, die sich iiber Lhota, Mrazice, Blado- 
witz, Romberg, Karwitz, Rakowan und Pleschin erstreckt. Man merkt 
die leise Ironie dieses Widerspruches, der zwischen den exotischen 
Namen meiner Bohnen und der desillusionierenden Geographic mei- 
ner Tour besteht. Ich mochte sagen: Es ist ein symbolischer Gegen- 
satz, der meinen Beruf iiberhaupt kennzeichnet. Die Romantik meines 
siebentagigen Zigeunertums erstickt in der geschaftlichen Niichtern- 
heit seines Z weeks. Ich bin trotz meinem ewigen Herumfahren kein 
Fahrender, kein Weitgereister, sondern nur ein Reisender. 
Dennoch bin ich gliicklicher als viele meiner Berufsgenossen. Gliickli- 
cher als Jene zum Beispiel, deren umfangreichere Ware sie zur Mit- 
nahme eines riesigen Musterkoffers zwingt. Meine Kaffeebohnenmu- 
ster befinden sich in zwanzig bis dreifiig Papiertiiten - lauter prima 
Ware - in einer Handtasche. Selbstverstandlich habe ich einen »Revol- 
ver« in der Rocktasche. Ich ziicke ihn in geeigneten Momenten. Diese 
Partie in der Rocktasche ist die preiswerteste. K. in P. (ich will den 
Namen nicht nennen) wird sicher anbeifien. 

Denn die grofie Schwierigkeit meines Berufs besteht eben darin, dem 
Kaufmann die Notwendigkeit einer Ware zu beweisen, fiir die er vor- 
laufig keinen Bedarf hat. Zwischen dem Erzeuger, der die Welt mit 
Kaffee versorgt, und dem Verkaufer, der ihn ihr verkauft, fahre ich, 
der Reisende, hin und zuriick. Ich erlebe niemals einen der grofiten 
Reize des Reisens: das sehnsiichtige Erwartetwerden. Denn selbst der 
Kaufmann, der meinen Kaffee braucht, gesteht es nicht. Und sogar 
wenn er froh ist, meine Bohnen gekauft zu haben, tut er so, als miifite 
ich froh sein, meine Ware losgeworden zu sein. Und wenn er iiber- 
zeugt ist, dafi er so giinstig wie noch nie gekauft hat, benimmt er sich 
so, als hatte er mich aus purer personlicher Freundschaft und Sympa- 
thie »etwas verdienen lassen«. So gestaltet sich der scheinbar niichterne 
Verkauf eines Sacks Kaffeebohnen zu einem ordentlichen Krieg mit 
alien seinen Phasen und Merkmalen: Defensive des Feindes, maskier- 
tes Heranschleichen des Angreifers, plotzliche Offensive, Erstiirmung 
der Hindernisse, leider auch Riickzug und sogar katastrophale Flucht. 



1923 10^5 

Die Schrecken des Krieges beginnen Montag. Um acht Uhr friih fahrt 
der Zug. Alle Reisenden fahren Montag friih. Es ist ein grofier Larm 
im Waggon. Ein Reisender - mir gegeniiber - sucht Anknlipfungs- 
punkte. Alle konventionellen Redensarten verzogern und enthiillen 
schliefilich die Frage: Koho maji? (Wen haben Sic?) Er will nur wissen, 
ob ich in seiner Branche reise. Tue ich es, so bin ich sein Gegner, und 
hinter dem personlichen Mitgefiihl, das wir fureinander empfinden, 
lauert die Furcht vor dem Konkurrenten. Dann fragt er mich, wo ich 
aussteige: Ich fahre nach Rakowitz. Er fahrt nach Karwitz. Aber 
manchmal treffen wir uns beide in Rakowitz bei derselben Kund- 
schaft. So ist es einmal. Und auch dann verstehen wir uns, und jeder 
von uns respektiert denjenigen, der friiher da war. 
Es gibt alte Reisende im Zug, die bis 20 und mehr Jahren immer die- 
selbe Tour nehmen. Man erkennt sie daran, dafi sie im Fahrplan hei- 
misch sind wie im Kupee und dafi sie alle Telegraphenstangen und 
Bahnsignale und die Nahe einer bestimmten Station an den voriiberhu- 
schenden Umrissen eines Bahnwachters kennen. Sie haben viel Gleich- 
artiges erlebt, und sie erzahlen immer dasselbe. Vor allem tauschen sie 
sich selbst iiber die naheren Umstande ihrer Tatigkeit. »Sie kennen 
doch Kurz in B.!« sagt einer. »Dort bin ich wie ein Kind im Haus. Ich 
komm' hin, und der alte Kurz sagt: >Setzen Sie sich, Herr Kanner! 
WoUen sie einen Tee? Was macht Ihre Frau?< - SelbstverstandHch - 
wenn man 20 Jahre reist. Fiirs Abhausieren bin ich zu alt!« Indessen 
weifS ich, dafi der Empfang nicht so freundlich sein kann, wie er ge- 
schildert wurde. Aber ich nicke und bestatige durch aufiere Zeichen 
des Vertrauens, dafi ich dem Alten glaube. Er ist keineswegs wie ein 
Kind im Haus, der Alte. Und 20 Jahre lang glaubt er selbst an seine 
Beliebtheit bei den Kundschaften. Und nur so wird ihm seine langjah- 
rige Tatigkeit moglich. So trostet er sich dariiber, dafi Jiingere viel- 
leicht acht Ordres im Tag bringen. Sie reisen in Kaffee. Er in BeHebt- 
heit. 

Ich weif^, dafS es zu viele Reisende gibt und zu wenig Kaufleute in der 
Provinz. Da lebt in Romberg der Kaufmann Rudolf Lang, den ich 
besuche. Er besitzt einen kleinen, unscheinbaren Laden. Aber die 
raumlichen Ausmafie des Geschaftes sind keineswegs maf^gebend fiir 
die Leistungsfahigkeit eines Kaufmannes. Rudolf Lang ist grof^ und 
stark, und er pflegte seinen blonden Schnurrbart zu Reprasentations- 
zwecken. Er gehort zu jenen Kundschaften, die grundsatzlich nichts 



I066 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

brauchen. Man muf5 wissen, dafi ich kleingewachsen und glattrasiert 
bin und dafi ich in Gegenwart des Kaufmanns Lang sehr bescheiden 
aussehe und meine angeborene Zaghaftigkeit vor gepflegten Schnurr- 
barten nur miihevoU bekampfen kann. Wenn mich Rudolf Lang ein- 
treten sieht, hebt er beide Hande mit auswartsgekehrten Handflachen 
hoch und macht verneinende Bewegungen mit dem Kopfe. »Nichts zu 
machen!« sagt Lang mit der festen Stimme eines entschlossenen, krafti- 
gen Mannes. Es ist drei Uhr nachmittags, und ich weifi, dafi heute 
schon vier, fiinf Reisende dagewesen sind. Dennoch trete ich naher. 
»Ich habe noch Ihren Guatemala vom letzten Jahr«, sagt Lang. »Ich 
kann nichts brauchen! Wirklich nichts!« Und er bedient seine Kund- 
schaften weiter, wahrend ich eine Schublade mit der Aufschrift »Zimt« 
betrachte. Dann geht die Tiir, es ist kein Fremder mehr im Laden - nur 
Lang und ich. Und ich sage so nebenbei: »Schade, ich hatte so einen 
guten Santos! 2u 22 !« »Kann nichts brauchen«, sagt Lang und betrach- 
tet einen seiner grofien, starken Fingernagel, die wie aus Schildpatt 
gemacht sind. Und wahrend ich meine Tasche an mich nehme und 
mich scheinbar zum Gehen anschicke, ziehe ich wie von ungefahr ein 
Sackchen aus dem Rock und schiitte seinen Inhalt spielerisch ver- 
traumt auf meine flache Hand. 

Und das ist meine Rettung. Denn der Kaufmann Lang sieht schielend 
auf meine Hand. »Sehn Sie«, sage ich »diesen Kaffee wiirde man fiir 
einen Guatemala halten. Aber die QuaUtat ist hochfein. Und ich 
glaube, Sie hatten schon solche Kaffees.« »Zeigen Sie her!« sagt der 
Kaufmann Lang. Und ich offne meine Handtasche. Und ich lange nach 
dem Notizbuch insgeheim. Und wenn der Kaufmann Lang nur zwei 
Sacke kaufen will, weifi ich, dafi er mit Leichtigkeit vier kaufen kann. 
Und er tut es auch. 

Aber der Typus Lang ist nicht der schlimmste. Da lebt in Bladowitz 
ein Kaufmann, der die Welt gesehen hat und durchaus unnachgiebig ist 
und der mir mit einer so sanften Hoflichkeit entgegenkommt, dafi ich 
wehrlos werde. Der Kaufmann sagt: »Es ist schade, verehrter Herr!« 
Und er bedauert die Unmoghchkeit eines Geschaftes, als ware er der 
Reisende. Er besitzt die Konsequenz der hoflichen Unnachgiebigkeit. 
Hier versagt jeder Trick. Hier sagt der Kaufmann: »Versetzen Sie sich 
in meine Lage! Ich habe Ware fiir sechs Monate! - Kommen Sie in 
mein Magazin!« Und so suggestiv ist sein Wesen, so iiberzeugend sein 
Argument, dafi ich mich wirklich in seine Lage versetze. Und wahrend 



1923 1067 

ich noch mit krampfhafter Schneiligkeit nach einem rettenden Einfall 
suche, hat sich der Kaufmann schon abschiednehmend verneigt. Und 
ich fahre zum Kaufmann Reiniger nach Pleschin, dem ich vollkommen 
gewachsen bin. 

Denn der Kaufmann Reiniger ist zuganglich jedem Wort, und wenn 
nicht zufaiiig vor mir jemand dagewesen ist - selbst wenn man persona 
grata ist, ist man nicht allein-, bin ich sicher, hier in Pleschin wenig- 
stens vier Sacke anzubringen. Der Kaufmann Reiniger tragt einen klei- 
nen, altmodischen Spitzbart, er ist schwach und selbst in seiner auto- 
matischen Abwehr liegt eine Aufforderung zum Angebot. Auch sein 
Ideal ist der »restlose« Verkauf seines gesamten Vorrats. Allein wie 
anders klingt es, wenn er sagt: »Ich habe noch viel. Vielleicht das nach- 
ste Mal!« Und diese ganz unbestimmt ausgesprochene Hoffnung auf 
ein femes nachstes Mai ist mir ein Beweis fiir gegenwartige Moglich- 
keiten. Ich sage: »So einen Portorico haben Sie noch nicht gesehen!« 
und gebe ihm Gelegenheit, auch Santos und Minas zu sehen. Und sagt 
er: »Weil Sie es sind, will ich einen Sack kaufen« - so einigen wir uns 
schliefilich auf fiinf. Und jetzt tritt die Notwendigkeit ein, schnell vom 
Niedergang der deutschen Valuta zu sprechen. Vom Steigen der Fett- 
preise. Von der Ausbreitung der Kinos selbst in solchen Nestern. Nur 
nicht von Kaffee! Denn so schwach der Kaufmann Reiniger ist, er 
konnte doch plotzlich zur Besinnung kommen. Er konnte bedauern. 
Und er soil sich im Augenblick Heber fiir die Kinoprogramme interes- 
sieren. Und er interessiert sich wirklich. 

Und so, zwischen der Hoffnung, beim Unzuganglichen etwas abzuset- 
zen, den Nachgiebigen noch schwacher zu machen, und der Enttau- 
schung, bei diesem zu spat zu kommen, bei jenem schon einen schnel- 
leren Konkurrenten anzutreffen, vergeht meine Woche. 
Zwischen Lhota, Mrazice, Bladowitz, Romberg, Karwitz, Rakowan 
und Pleschin geht mein Leben sechs Tage lang. Am Sonntag weif^ ich, 
da£ das Reisen in Kaffee miihevoU ist und Talent erfordert. Aber in 
den kleinen Orten, bei den kleinen Leuten - und wenn sie mich auch 
nicht erwarten - verbreite ich eine leise Ahnung von Landern, aus de- 
nen meine Sorten stammen: Java, Ceylon, Sumatra, Salvador. Montag 
friih werde ich iiber Bohmisch-Triibau nach Mahren fahren. 

Prager Tagblatt, 11. 11. 1923 



SCHWEIGEN IM DICHTERWALD 



Wenn der Hunger, den die Geistigen in Deutschland leiden, ihre pein- 
iiche Schweigsamkeit erklaren wiirde, miilSte man aus Achtung vor 
einem Leid, dessen Ursache eine gemeine materielle Not ist, demiitig 
sein und start der Vorwiirfe Entschuldigungen hervorbringen. AUein 
man erinnert sich, dafi seit zwanzig und mehr Jahren iiber alle Dinge, 
die Deutschlands Wohl und Wehe betrafen, die Arbeit, das Brot und 
den Tod seines Volkes, nur selten ein Dichter sprach und dafi die of- 
fentlichen Notwendigkeiten der schwachlichen Geschwatzigkeit un- 
begabter Parlamentarier, dem inhaitslosen und manchmal verrateri- 
schen Disput des Diplomaten, dem phrasenberauschten Schwadronie- 
ren der Kaiser und der Kaiserlichen anheimgefallen waren und dafi 
selbst in den Zeiten der starksten moralischen Verrottung durch den 
Militarismus und der besten Geschaftslage vorschufigabefreudiger 
Verleger der deutsche Schriftsteller seinen Zorn iiber die barbarischen 
Formen des offentlichen Lebens in die Belletristik miinden liefi. Wenn 
also heute die »Sachverwalter deutschen Geistes«, die gefeierten Jubi- 
lare, die Reprasentanten des Deutschtums, das besser ist und unbe- 
kannt, unermiidlich schweigen, so ist der Sturz der deutschen Valuta 
keine ausreichende Begriindung, die allgemeine Not ware - im Gegen- 
teil - nur ein aneiferndes Moment. 

Niemand von den Geistigen erhob sich im Lande, als der Kronprinz 
im Frieden sein barbarisches »Feste druff« depeschierte; als der Kaiser 
seine Weltherrschaft ankiindigte, das Parlament briiskierte, die frem- 
den Staaten; als an der Kranzler-Ecke Offiziere einen Burger halbtot 
sabelten. Die deutschen Dichter gaben sich stets mit Inbrunst einer 
Beschaftigung hin: Sie reisten nach ItaUen. Sie reisten metaphorisch 
nach Italien, wenn sie des deutschen Klimas miide und iiberdriissig 
geworden waren. Sehr viele lebten sich in Huldigung aus, Sie wenig- 
stens bheben konsequent. Sie zogen die Folgen aus ihrer Gesinnung, 
die Auszeichnungen, die belobenden allerhochsten Anerkennungen, 
die Medaillen. Die anderen aber - mit wenigen Ausnahmen - fliichte- 
ten in die Gefilde der Poesie und kamen sich sehr frei vor. Ein einziger, 
Heinrich Mann, hat. vor dem Kriege mitten in der schrecklichen deut- 
schen Gegenwart gelebt und sie geschildert. Er hat spater - in Aufsat- 
zen und Blichern - aus seiner Gesinnung kein Hehl gemacht. Er hat 



1923 1069 

offen bekannt, was sein Bruder Thomas, sehr spat und als das Schwei- 
gen bereits anfing, wie ein Skandal auszusehen, sehr verklausuHert und 
akademisch zugeben mufite. Thomas Mann kiindigte vor einem Jahre 
etwa ein Rede an. DaE sie ein Vortrag wurde, war die Folge seiner 
wissenschafdichen Einstellung. Aber dafi der Vortrag nichts mehr ent- 
hielt als ein kiihles, sachliches Lob der republikanischen Staatsver- 
fassung, enttauschte schwer, Damals nannte Thomas Mann den 
Reichsprasidenten: »Vater Ebert«. Dieser Terminus wurde von alien 
republikanischen Schriftstellern zitiert, wiederholt, man labte sich ge- 
radezu an der kostlichen Seltenheit eines autoritativen republikani- 
schen Bekenntnisses. Dann schwieg Thomas Mann. Und er schweigt 
auch heute. 

Da die Eisner, Landauer, Toller tot oder mundtot gemacht sind, kann 
man nichts von ihnen erwarten. Mehrere aber leben noch. Fiirchten sie 
fiir ihr Leben? Niemand erwartet korperlichen Mut von einem Schrift- 
steller, niemand nimmt ihm korperHche Feigheit iibel. In Miinchen 
sitzen sie, in Schwabing, wahrend rings um sie Hitler, Ludendorff, 
Kahr plundern. Ein Kardinal Faulhaber beschamt Thomas Mann und 
Gerhart Hauptmann. Ein Kardinal predigt die Freiheit, und ihre »San- 
ger« haben die Stimmen verloren. Niemand erwartet, dafS die Schwa- 
binger Freiheits Sanger sich von der Biirgerbrau-Diktatur zusam- 
menschiefien lassen. Mogen sie doch fliehen, um zu kampfen! Und 
selbst wenn sie die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes von vornherein 
erkennen - wie bringen sie es fertig zu schweigen? 
Gerhart Hauptmann hat sich marod gemeldet, er soil in Tirol sein. 
Unterwegs nach ItaUen? Hungert auch er? - Die Welt wartet vergeb- 
lich auf den Schrei der Geistigen, der Ludendorffs Deutschland desa- 
vouieren konnte, auf daf$ die Kronprinzen wieder feste druff treten. 
Nur dieser Tritt ist horbar. 

Prager Tageblatt, 16. 11. 1923 



BEGEGNUNG MIT HERRN V. KAEHNE 



Aus Berlin kommt die Nachricht, dafi der beriichtigte Herr v. 
Kaehne, der erst vor einigen Wochen sich vor den Geschworenen 
wegen verschiedener Gewalttatigkeiten zu verantworten hatte, wie- 
der einmal ein paar arbeitslosen Holzsammlern eine seiner »Schlach- 
ten« geliefert hat. Sein Sohn, der zu neun Monaten Verurteilte, aber 
in Freiheit Belassene, erlitt eine schwere Verletzung. 



Die Raubritter von Brandenburg 

Das ist ein Anlafi, die im Wirbel der wichtigeren Ereignisse ein bifi- 
chen verblafite, dem Ausland in genaueren Umrissen noch nicht 
bekannte Morderphysiognomie des preufiischen Landjunkers aufzu- 
frischen, Ein trauriges Geschick bescherte mir einmal eine Zusammen- 
kunft mit dem alten Herrn v, Kaehne, ein gliickliches liefi mich dem 
Tode entgehen, vielleicht weil es meine Bestimmung war, jenen von 
Kaehne einer breiteren Offentlichkeit vorzustellen und mit ihm und 
durch ihn zugleich jenes Stiick Europa zu charakterisieren, das Bran- 
denburg heifit und von den Rauhrittern beherrscht wird. 
Es war zu Jener Zeit, in der die Berliner Offentlichkeit zum erstenmal 
von der lebensgefahrlichen Existenz des Herrn v. Kaehne erfuhr, als 
mich ein Berliner Blatt auf Schick Petzow entsandte. Damals wurde 
eine Untersuchung von den Ortsbehorden gegen Herrn v. Kaehne ge- 
fiihrt. Sie wurde eigentlich fiir die Familie Kaehne gefiihrt. Man be- 
schrankte sich darauf, den jungen Kaehnesohnen zwei Maschinenge- 
wehre zu konfiszieren. Das ganze Waffenarsenal der Familie blieb un- 
versehrt. 



Die GnadenschUsse 

Es fiihren nur zwei Wege zum SchloE des Herrn v, Kaehne, und beide 
sind »verboten<(. Die Landbevolkerung warm jeden Wanderer vor 
dem Beschreiten dieser Wege. Denn irgendwo, hinter einem Baum, 
steht einer von den Kaehnes mit schufSfertigem Gewehr, komman- 



1923 lOJl 

diert: »Halty Hdnde hoch!« und schiefit im nachsten Augenblick, wenn 
man nicht sofort »pariert«. Am Waldrand links vom Schlofi stehen 
Tafeln mit liebenswurdigen Aufschriften: »Bissige Hunde«, »Fu{?an- 
geln«, »Hol2sammeln verboten«. In den umliegenden Dorfern wohnt 
so ziemlich die armste Bevolkerung der Mark Brandenburg: Fabrikar- 
beiter, Handwerker, Arbeitslose. Der Boden ist, wie iiberall in Bran- 
denburg, trostlos sandig. Die Bevolkerung wiirde, wenn sie nicht all- 
mahlich v. Kaehne totschief^en soUte, ohnehin Hungers sterben, v. 
Kaehne gibt ihr sozusagen Gnadenschusse. 

Das Schlofi ist von einem machtigen, mit Baumen bestandenen Hof 
umgeben. Vor dem Tor eine Inschrift: »Achtung! Bissige Hunde!« 



Der Besuch 

Ich kam um 9 Uhr friih. Aus dem Tor trat der alte Herr von Kaehne. 

Er trug ein griines Filzhiitchen, ein Paar hoher Schaftstiefel, einen 

blaf^griinen, verschossenen Rock. An seiner Seite baumelte ein Hirsch- 

fanger. Herr von Kaehne hat einen winzigen Kopf und graue kleine 

Augen unter sparUchen Brauen. Sein Mund ist diinn und verkniffen. 

Sein Hals hager und von einem rollenden Adamsapfel geziert. Er ist 

korperhch das Gegenteil eines Raubritters. Seine abstehenden Ohren 

geben seinem Gesicht eine leise Ahnlichkeit mit einer geakerten Klein- 

Moritz-Physiognomie. Man konnte ihn fiir einen jiidischen Land- 

hausierer halten. Und das schiefit! . . . 

Ich sagte: »Guten Morgen!« 

Herr v. Kaehne (die Hand in der Tasche): »Was woUen Sie?« 

Ich: »Nur Ihnen guten Tag wunschen!« 

V. Kaehne: »Wer sind Sie?« 

Ich: »Ein Journalist.« 

V. Kaehne: »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« 

Dann ging ich. Herr v. Kaehne sah mir nach. Ich wandte mich ein paarmal 

um. Ich hatte die Empfindung, daU der Herr Kaehne zielt. Forster kamen 

mir entgegen. Sie trugen Kaiser-Wilhelm-Gesichter. Sie sahen mich mit 

schufibereiten Augen an. Hunde sprangen iiber den Weg. Jagdgehilfen 

fletschten die Zahne. Ein alter Forster begann zu bellen. 

Ich traume immernoch von diesem Besuch. 

Neues Acht-Uhr-Blatt, 22. 11. 1923 



DER GESANG DES BETTLERS 



An einer Kurfurstendammecke horte ich emen Bettler »Deutschland 
liber alles«, die »Wacht am Rhein«, »Heil dir im Siegerkranz« sin gen. 
Der Wind fegte wiitend durch die Nacht, grausam stieg die Kalte von 
den Pflastersteinen auf, Passanten wehten, von ihr getrieben, vorbei, 
und spat war es. Welchen Sinn konnte hier, an dieser teils gemiedenen, 
teils eilig passierten Ecke, ein Betteln haben, und welchen Gewinn 
brachte es? - Es schien, als hatte der Bettler hier Dienst, um ihn war 
die Einsamkeit eines nachtlichen Wachtpostens, und nur eine Diszi- 
plin, der militarischen ahnlich und verwandt, konnte ihn hier aushar- 
ren lassen. Ja, der Bettler glich einem Soldaten, der einen undankbaren, 
harten und unhygienischen Dienst versieht, ohne die Griinde und den 
Zweck seiner Tatigkeit zu kennen. Und wie eine MiUtarkapelle, die 
Gedanken an Heldentod musikalisch zu betauben, lustige und patrio- 
tische Marsche spielt, wenn die Soldaten den Giftgasen und der Ver- 
nichtung entgegengehen, so sang die Kehle dieses Bettlers heldenhafte 
Lieder, wahrend seinem Magen der Hunger und seinen Lungen die 
todUche Entzundung drohten. Weshalb sang er nicht, wenn er schon 
durchaus singen mufite, von der bitteren Not seiner Tage? Wen hoffte 
er mit patriotischen Gesangen bis zur tatigen Barmherzigkeit zu riih- 
ren? Glaubte er, die nationale Gesinnung eines Passanten ware starker 
als Kaltegefuhl, Furcht vor Verkiihlung und Sehnsucht nach dem war- 
men Bett? Wufite er nicht, dafi gerade die nationalen Gesang hebenden 
Patrioten (wie die deutsche Industrie und ihr Gefolge) am karglichsten 
zu spenden pflegen? Und was gingen nun ihn, den frierenden, hun- 
gernden, obdachlosen Bettler der Rhein und der Siegerkranz an? Wie 
konnte er sein personliches Weh so unkennbar verbergen hinter dem 
musikalischen Ausdruck einer patriotischen Gesinnung? Ich kann 
nicht annehmen, daE der herrliche Gesang, der Schwung der Melodic, 
der mitreiiJende Text den Bettler seine traurige Situation vergessen lie- 
fien. Ich habe patriotische Lieder schon oft gehort: Studenten sangen 
sie, wohlgenahrte Burger in den Dielen, Offiziere und jene ganze 
Klasse, deren besonderes Vorrecht der akustische Patriotismus ist; die 
singen kann, weil sie essen darf. 

Dieser Bettler aber sang zu Unrecht. Er hatte ungefahr singen soUen: 
»Wer nie sein Brot mit Tranen al5 . . .« oder das HungerUed aus den 



1923 1073 

Webern oder jenes Weberlied von Heine, in dem von Alldeutsch- 
lands Leichentuch die Rede ist . . . Solche Lieder wiirden nicht nur 
der Situation des Bettlers entsprechen, sondern auch der Stimmung 
jener Strafienecke und der augenblicklich aktuellen europaischen 
Politik. 

Der Bettler ist bestimmt falsch instruiert; jemand mufi ihm gesagt ha- 
ben, dafi die Konjunktur nationalen Gesang erheische. 
Das stimmt allerdings, nicht aber an den Strafienecken. Die Konjunk- 
tur fiir patriotische Musik in den Herzen der Fabrikanten und in den 
Tanzdielen. Patriotischer Gesang ohne Sekt ist wie eine Militarkapelle, 
hinter der keine Kompanie marschiert. 

Oder soUte der Bettler wirklich aus Begeisterung singen? Fliichtet er 
vor seinem Elend in den Patriotismus? Und singt, um nicht zu 
schreien? Und wird kriegerisch, weil er kein Emporer sein darf? Dann 
ist er symbolisch. Millionen singen in Deutschland: »Heil dir im Sie- 
gerkranz«. Und ihr LeibUed miifite lauten: »Wer nie sein Brot mit 
Tranen afi. ..« 

Vorwarts, 2. 12. 1923 



HOTEL KOPRIVA 



In P, steht das »Hotel Kopnva«. Es hat 80 Zimmer in zwei Stockwer- 
ken. Es hat einen Portier, der ein Zimmerkellner ist und ein Gepack- 
trager zugleich. Er ist kleingewachsen und schmachtig und nicht re- 
prasentativ genug fiir ein zweistockiges Hotel mit 80 Zimmern. Er 
wartet am Bahnhof auf die Gaste. Wenn die Stadt P. eine grof^ere 
Bahnhofshalle hatte, wie es sich fiir eine Stadt ziemte, die im Innern 
ein solches Hotel Kopriva birgt, so konnte man den Portier gar nicht 
sehen. Seine Sichtbarkeit verdankt er nur den geringen Ausmaf^en des 
Bahnhofsraumes in P. und dem suchenden Ruhebediirfnis der Rei- 
senden, 

»Hotel Kopnva« ist fast immer besetzt. Dennoch kommt man fast im- 
mer dort unter. Denn es gibt Hotels, in denen das Gesetz von der 
Undurchdringlichkeit der Korper aufgehoben und durch ein anderes 
ersetzt ist, welches folgendermafien lautet: »In einem Raum, den ein 



1074 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Reisender ausfiillt, kann ein zweiter schlafen.« Diesem Gesetz hat der 

Wirt des »Hotel Kopnva« seinen Reichtum zu verdanken und dem 

Umstand, dafi er sich seinen Gasten nicht zeigt, seine Seelenruhe. Viele 

Hotelwirte konnten von ihm lernen. Besch warden, die man nicht vor- 

bringen kann, sind nicht vorhanden. Eine unhorbare Unzufriedenheit 

besteht nicht. Man kann deshalb sagen: Mit dem »Hotel Kopnva« sind 

alle Caste zufrieden, 

Andere Hotels haben glanzende verwechselbare Namen. Sie heifien 

Imperial, Savoy, Grand, Zentral, Paris, Metropole. Dieses Hotel aber 

heifit schlicht und gewissermaCen landesvertraut: »Kopriva«. Auch 

andere Hotels haben achtzig Zimmer, rund achtzig. Aber »Hotel Ko- 

priva« hat hundertundzwanzig Betten in den achtzig Zimmern, weil 

vierzig von den achtzig »zweibettig« sind. 

Nun sind ja zweibettige Zimmer in Stadten, in denen Verliebte oder 

auch nur Verheiratete abzusteigen pflegen, eine notwendige Einrich- 

tung. In P. aber und besonders im » Hotel Kopnva«, wo fast nur ein- 

zelne, in Konkurrenzfurcht vereinsamte Reisende libernachten woUen, 

geben zweibettige Zimmer Anlafi zu konfliktahnlichen Erorterungen. 

Die Erfahrung, dafi man selbst nicht schnarche, beruht auf der psycho- 

logischen UnmogUchkeit, sich selbst im Schlafe zu horen; der Glaube 

an des andern Schnarchfahigkeit auf einer alten Tradition. Aber noch 

starker als diese und der Zweibettigkeit feindlich ist das Vorurteil, dafi 

der wirklich vornehme Mensch allein schlaft und schlafen mufi. Es 

wiederholt sich also einige Male folgendes Gesprach: 

»Ich schlafe immer allein! - Prin-zipiell!« 

»Was sind das flir Sachen? - Sie sagen: Ein Zimmer ist da! Und Sie 

haben nichts!« 

»Es ist ja ein Zimmer da!« 

»Ein Zweibettiges bezahl' ich nicht !« 

»Ich auch nicht!« 

»Sie bezahlen es ja zusammen!« 

»Nein!« - Beide sagen es gleichzeitig. Der Portier aber, der die Nach- 

giebigkeit der menschlichen Natur kennt, sagt: »Also, Nummer j6\« 

»Unerhort!« - sagen beide Reisende. Und man miifoe glauben, dafi sie 

eigentlich beide einander unsympathisch sind. Aber wie einigte sie die 

Zumutung des Portiers, dafi sie Schlafgenossen werden konnten, zu 

willigen Schlafgenossen. Wie schmiedete sie ihre feindseUge Empfind- 

lichkeit aneinander. 



1923 1075 

»Schnarchen Sie?« fragt der erste zogernd. 
»Ich - schnarchen?« ruft der andere. 
»Ich schnarche auch nicht! . . .« 

»Wissen Sie - ich meine es nicht personlich-, das schlimmste ist das 
Schnarchen!« 

»Sag' ich auch! - Ich fahre einmal . , .« Und es folgt jene obHgate Anek- 
dote, die Freundschaften einzuleiten und Biindnisse zu befestigen 
pflegt. 

Allein gefahrUcher als jedes Schnarchen ist das rasselnde Grammo- 
phon. Unten, irgendwo im Speiseraum, krachzt es Marsche, Walzer, 
Twosteps mit der toten UnerbittUchkeit des Mechanismus. Dessen 
ganz besondere Tiicke besteht darin, dafi seine DeutUchkeit starker, 
seine ZudringHchkeit aggressiver wird, je weiter man vom Trichter 
entfernt ist. Diese physikaUsch festgestellte Eigenschaft des Grammo- 
phons ruft im Schiaflosen die Uberzeugung hervor, dafi jedes Entrin- 
nen unmoghch und nur scheinbar ware. Grenzenlos ist die Schallweite. 
Peinvolier und einpragsamer wird die akustische Verfolgung im letzten 
Zimmer des zweiten Stocks denn in irgendeinem des ersten. Vor dem 
tonenden Rachen des Trichters fande man eher Schlaf als in der enttau- 
schenden, tauschenden Feme. 

Und manchmal gibt es Jahrmarkte in P. Sie sind niemals vorauszuse- 
hen. Sie treten ein wie Naturereignisse. Sie brechen los wie Gewitter. 
Die Zimmer sind teurer. Sie sind doppelt so teuer. Auch die Jahr- 
markte sind tiickisch. Sie sind an dem Abend, an dem man ankommt, 
nicht bemerkbar. Man gerat unvorbereitet in Jahrmarkte wie in ausge- 
spannte Netze. 

Tausende Musterkoffer wandern durch das »Hotel Kopnva«. In sei- 
nen Betten Uegen Vertreter aller Branchen. An einem einzigen langen 
Tisch in der Gaststube sitzen sie. Der Reisende in Spielwaren mit dem 
tragischen Gesicht. Er sieht aus, als reise er in Pietatswaren. Er aber 
fiihrt die bunten Freuden des Lebens: rote Reiter aus Holz; gelbe Ba- 
jazzi aus Seidenstoffen; hiipfende Affen an diinnen Gummis; buntbe- 
federte Kreisel; Schornsteinfeger in Tanagragrof^e; Puppen mit roUen- 
den Augenhdern; schwarze Teufelchen mit Flammenzungen; kleine 
Rechenmaschinen mit farbigen Holzperlen, an denen die Mathematik 
ein Kinderspiel wird. Aber der Reisende in Seifen neben ihm ist froh- 
Hch. Er riecht nach Moschus, PatschuH, Puder. Der von den Papierwa- 
ren legt Patiencen. Der mit den Fiillfedern ist ein bifichen ahmodisch, 



10/6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

an Gansekielfedern erinnert er. Tabakrauch nahert den Suffit der 
Tischplatte. Und niemand hat Zeit. Und jeder lebt zwischen Ankunft 
und Abfahrt. Immer zwischen zwei Ziigen hastet das »Hotel Ko- 
pnva«. Seine achtzig Zimmer, seine hundertundzwanzig Betten wir- 
beln durcheinander. Es steht nicht, das »Hotel Kopfiva«. Es steht 
scheinbar. Das Grammophon purzelt Stiegen auf, Stiegen ab. Muster- 
koffer fliegen. Der Portier rast Zimmer ein, Zimmer aus. Der Zimmer- 
kellner lauft zum Zug. Der Gepacktrager koUert. Der Portier ist der 
Zimmerkellner. Der Gepacktrager ist der Portier, Der Zimmerkellner 
ist der Gepacktrager. Die Zimmernummern sind Abfahrtszeiten. Die 
Uhr ist eine Fahrplantabelle. Die Gaste hangen mit unsichtbaren 
Schniiren am Bahnhof. Sie schnellen hin und zuriick. Das Grammo- 
phon singt Zugsignale. Achtzig sind gleich hundertzwanzig. Hundert- 
zwanzig Zimmer rollen durch achtzig Betten. 

Prager Tagblatt, 4. 12. 1923 



REISE DURCH DEUTSCHLANDS WINTER 



Dieser Winter ist ein mehr symbolischer als ein wirkhcher. Die angeb- 
iiche Grausamkeit der Natur tritt weit zuriick hinter die unermefiliche 
Weitgeschichte. Riicksichtsvoll schmilzt der Schnee, zwei Stunden, 
nachdem er gefallen ist. Ein lyrischer, lachelnder Wind weht iiber das 
Land. Es besteht ein Kontakt zwischen den Wiinschen und der Furcht 
der Hungrigen, der Frierenden, der Schuhlosen, der Kleiderarmen und 
dem ewigen Naturgesetz des Jahreszeitenwechsels. So schwer lastete 
niemals Gottes Faust iiber uns. So milde war noch nie seine Hand, aus 
der Frost und Bitterkeit alljahrhch zu kommen pflegen. Es gibt einen 
Aus gleich. 

Ich komme aus dem gliicklichen Ausland, wo man Liebesgabenpack- 
chen fiir Deutschlands Armee zusammenstelh und wo die Zeitungen 
im offiziosen Teil Deutschlands Politiker erbarmungslos vernichten 
und im lokalen, menschlichen Teil die deutschen Opfer in Schutz neh- 
men; wo in den Auslagen der Banken und Wechselstuben unzahUge 
wertlose Reichsmarkscheine als Kuriositaten, nicht als Handelsobjekte 
ausgeboten werden; wo Deutschlands beste Schauspieler auftreten, 



1923 1077 

nicht zum Ruhm, sondern um raschelnde Valuta zu ernten; wo Geld- 
scheine noch den guten, oligen Glanz haben und weich und glatt anzu- 
fiihlen sind, als waren sie gefarbt mit dem heiligen, koniglichen Fett 
Goldener Kalben 

Aber in diesem Ausland, in dem kein Bahnwarter zu hungern braucht, 
gehen und kommen die Ziige unpiinkdich, die Heizung funktioniert 
nicht immer, die Gepacktrager haben keine Taxe, die Klosetts keine 
Wasserspiilung, die Rupees eine miserable Beleuchtung. Im deutschen 
Wagen sitzen vergramte Kaufleute, versieht ein hungriger Schaffner 
den Dienst - aber die Heizung funktioniert, und eine strahlende 
Lampe, eines gutgepflegten Wohnzimmers wiirdig, spendet sonnen- 
ahnlichen Schein. Die Gepacktrager haben bestimmte Taxen. Der 
Fahrplan ist keine fiktive Einrichtung. Er dirigiert wirkHch die Ziige. 
Hinter den Schaltern sitzen Beamte. Wasser stromt in den »Toiletten«, 
Die Uhrwerke des offentlichen Lebens sind gut und zuversichtlich ge- 
olt. In den Stadten leiten fleifiige Besen fliefienden StrafSenkot in die 
regelnden Kanalgitter. Vor den Lebensmittelladen steht ordentlich in 
Reih und GUed die grofie Armee der deutschen Not. 
In Leipzig sah ich einen Mann von einem »Leichenbestattungsunter- 
nehmen«. Er trug einen glanzenden Zylinder, Er hatte einen pomadi- 
sierten, aufwartsgezwirbelten, schwarzen Schnurrbart. Er sah aus wie 
ein Leichenbegangnis erster Klasse. Er weckte Furcht und Ehrfurcht. 
Um ihn webten die Schauer der unermefilichen Ewigkeit. Er war ein 
reprasentativer Mittler zwischen Diesseits und Jenseits; ein mitteleu- 
ropaischer Charon; ein wunderbar feierlicher Tod. Aber - er fuhr 
nicht in einer mit zwei Rappen bespannten Kalesche; und auch nicht 
in einem schwarzlackierten Auto; und nicht einmal in der Strafien- 
bahn; er ging auch nicht zu Ful5. Dieser grofiartige Tod safi auf einem 
- Zweirad. Es war ein BicykUst. Er radelte von und zu den Grabern. 
Er saE vorgeneigt und drehte die Pedale. Seine unheimlich schwarzen 
Hosen waren mit glanzenden Metallspangen versehen, am Knochel 
zusammengerollt wie Regenschirme bei gutem Wetter. Dieser feierli- 
che Mann hatte kein Geld fiir die StrafSenbahn. Seine ganze metaphy- 
sische Schauerhaftigkeit ging floten. Vor einem Reprasentanten der 
Ewigkeit auf dem Zweirad hatte ich keinen Respekt. Und selbst, 
wenn ich tot ware und begraben werden sollte - bei diesem Bestaller 
meiner eigenen Leiche verginge mir alle Furcht vor dem kommenden 
Weltgericht. 



10/8 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Am Chemnitzer Bahnhof bemerkte ich, wie ein Schaffner Pralinees af5. 
Er hatte den Rest einer Packung in einem leeren Waggon gefunden. 
Der Schaffner war ein biederer Mann, er hatte starke, behaarte Fauste, 
ein quadratisch geschnittenes Angesicht, einen kurzen, gedrungenen 
Korper und grofie, feste, wasserdichte Stiefel. Dieser Mann al5 lacherli- 
ches, mit siifiem Likor gefiilltes Zuckerwerk und verlor den ganzen 
Ernst, der ihm dank seiner amthchen Tatigkeit hatte anhaften soUen. 
Dieser Schaffner afi leichte Backfischnahrung mit einem starren Ange- 
sicht, so ais ware seine Nahrung ein seiner Personlichkeit entsprechen- 
des belegtes Butterbrot oder eine Wurst. Vor einem halben Jahr hatte 
dieser Schaffner bestimmt keine Pralinees gegessen. Heute ist er hung- 
rig. Was jenem Passagier ein Luxus war, wird dem Schaffner Notwen- 
digkeit. Wenn er trockene, aufgelesene Brotrinde gegessen hatte - der 
Effekt hatte nicht trauriger sein konnen. Es ist soweit in Deutschland, 
daf5 seine Schaffner aus Not entwiirdigende KostspieUgkeiten essen. 
Der eine vergiCt sie achtlos, dem anderen retten sie das Leben. Soweit 
ist es in Deutschland. 

In Dresden sprach ich mit einem Dienstmann. Ich gab ihm fiinf tsche- 
chische Kronen, und er wurde gesprachig, und seine berufliche und 
menschliche Diisterkeit verschwand. Er hatte sechs Kinder. Vor einer 
Woche hatte er iiberhaupt kein Geld. Er meldete sich arbeitslos. Die 
Unterstiitzung reichte nicht. Er nahm einen Rucksack und ging aufs 
Land - betteln. Er brachte Kartoffeln heim. Davon lebt er noch heute. 
Der Hund eines Bauerngehofts zerrift ihm die letzte Hose. Er flickte 
sie - mit einem Strick, weil er keinen Zwirn hatte. Der allzu starke 
Strick zerrifi ihm den Hosenstoff noch mehr. Am Ende wird der 
Dienstmann nur mit einem Strick bekleidet sein. 
Solche Dinge erlebt man in Deutschland. Im Ausland hest man nur die 
politischen Reden. Sie sind unwichtig. Es sind rhetorische und politi- 
sche kleine Unfalle. Sie konnen wenig schaden und gar nichts niitzen. 
Aber in Deutschland sieht man einen Schaffner, der PraUnees if^t; 
einen Strick statt eines Beinkleides; einen radelnden Tod. Eine grau- 
same Lacherlichkeit ist in diesen Dingen. Ihre leicht sichtbare, billige 
Symbolik sieht aus wie erfunden. Das Leben nimmt sich nicht einmal 
die Miihe, gut zu erfinden. Es macht banale Witze wie ein Variete- 
humorist. Wer lacht dariiber, dafi grofiere, gutsituierte Familien in 
Deutschland ihr eigenes Famihengeld fabrizieren? Und vom Backer 
dafiir Brot bekommen? Es ist eine groteske, biUige Unwahrscheinlich- 



1923 1079 

keit in den Erscheinungen des »offendichen Lebens«. Rings um den 
Hungertod rankt sich eine flache Trodlerladenromantik. Im Berliner 
Westen sah ich zwei Gymnasiasten. Sie gingen durch eine breite, be- 
lebte Strafie, hielten sich an den Schultern, wie Betrunkene zu tun pfle- 
gen, und sangen: 

»Nieder, nieder, nieder mit der Judenrepublik, 

Pfui Judenrepublik! 

Pfui Judenrepublik !« 
Und die Erwachsenen wichen den beiden Jungen aus. Und niemand 
gab ihnen eine Ohrfeige. Nicht etwa aus politischer Emporung. Son- 
dern weil in jedem anderen Lande die Aufdringlichkeit eines Griin- 
schnabels, der die Strafie mit seiner politischen Uberzeugung belastigt, 
zur drastischen Padagogik gereizt hatte. In Deutschland respektiert 
man die Uberzeugung der Gymnasiasten. So ordentlich ist man in Ber- 
lin, Und diese Disziplin fiihrt zu tragikomischen Situationen. Ob ein 
Gymnasiast uns seine Meinung iiber die Judenrepublik aufdrangt oder 
ob ein Schaffner aus Hunger Pralinees essen mufi - beides ist von einer 
so unendlich lacherlichen Tragik, dafi kein Fremder sie begreifen kann. 
Man versteht Deutschland nicht. Es ist das unverstandene Land in Eu~ 
ropa. 

Ein japanischer Student in Berlin erzahlte mir: Bei der Immatrikula- 
tion der Auslander an der Berliner Universitat sprach der Rektor Pro- 
fessor Roethe folgendes: »Wir haben Sie aufgenommen, obwohl Sie 
Auslander sind. Auf Ihre Freundschaft sind wir Gott sei Dank nicht 
angewiesen . . .« Sieht man den Zusammenhang zwischen jener Hyste- 
ric der singenden Gymnasiasten und dieser des redenden Professors? 
Das sind die Dokumente des deutschen Untergangs, So phantasieren 
Menschen in der hochsten Fieberhitze. Wer jemals am Bett eines 
Schwerkranken gesessen hat, weifi, daf^ die schmerzUchen Stunden 
nicht aus lauter pathetischen, erschiitternden AugenWicken bestehen. 
Der Kranke redet irren Unsinn, lacherHchen, kleinen, seiner selbst und 
seiner Leiden unwiirdigen Schwatz. Es fehlt ihm das regulierende Be- 
wufitsein. 
Es fehlt in Deutschland an einem regulierenden Bewufltsein. 

Frankfurter Zeitung, 9. 12. 1923 



BERLINER RUBENSAFT 



Einmal gab es da ein Panoptikum, eine Frau ohne Unterleib, ein Tana- 
graspiel, eine Puppenkomodie, einen Feuerschlucker, Fakire, die 
Baume aus dem Nichts wachsen liefien, letzte Azteken, Magier und 
Hypnotiseure. Ach! Es war eine Zeit, in der an alien Ecken der Fried- 
richstrafie Zaubertische rotierten und in einem Nu alle Fettflecke aus 
Kleidungsstiicken verschwinden konnten dank einer Seife, die eine 
Mark kostete. Heute sind diese Sensationen nicht mehr. 
Es war eine Zeit der uberflussigen Sensationen. Jetzt ist die Zeit der 
notwendigen Sensationen. 

Es steht ein Mann auf einem Wagen und ruft seine Ware aus. Er preist 
das Nochniedagewesene, das Uniibertroffene, das Niegesehene, das 
Wunder. Was mag es sein? Ein Zauberstein, der Glas wie Butter 
schneidet? Ein Schleifapparat, der stump fe Messer scharft? Hosentra- 
ger, die auch als Rucksacke zu verwenden sind? Gefliigelte Mause? 
Bellende Papierdrachen? Zigarrenetuis mit Weckervorrichtung? No- 
tizbiicher mit wasserdichtem Papier? Dauerfedern, mit denen man 
zwei Jahre lang ohne Tinte schreiben kann? - Ach, es ist nichts derglei- 
chen! Der Mann auf dem Wagen verkauft: Rubensaft! Riibensaft ist 
die Sensation des Tages! Riibensaft ist das nahrende Wunder! Riibens- 
aft ist die Heldenspeise der Durchhalter! Rubensaft gibt Kraft gegen 
den aufSeren und inneren Feind! Riibensaft erhoht die Leistungsfahig- 
keit des Gehirns, das mit Billionen zu rechnen hat! Riibensaft! Rii- 
bensaft! 

Es gibt zwei Arten von Rubensaft: den gemeinen Riibensaft, der aus 
der Runkelrlibe gewonnen wird und 300 Milliarden das Pfund kostet; 
und den siifien Riibensaft, der aus der siifien Rube gewonnen wird und 
800 Milliarden das Pfund kostet. Man kann den Rubensaft ohne Brot 
essen oder, weil dieses sehr haufig ist, auf dem Brot. Der Riibensaft 
kann mit Zucker bestreut werden, dann kann man seinen Geschmack 
unterdriicken; oder man kann auch zu diesem Zweck Marmelade mit 
Riibensaft mischen. Am besten aber ifit man Brot, Zucker, Marmelade 
und keinen Rubensaft. 

Man ifit aber nicht Brot, Zucker, Marmelade. Man hat kein Brot, kei- 
nen Zucker, keine Marmelade. Deshalb stehen 500 Menschen urn den 
Riibensaftverkaufer. Zwanzig, dreifiig kaufen Riibensaft. Ich habe ihn 



1923 io8i 

gesehen und gekostet. Er sieht aus wie eine harte, trockene Marmelade. 
Er schmeckt wie Rost: bitter und eisern. 

Bitter und eisern! Das sind die wichtigsten, die zeitgemafSen, die sym- 
bolischen Eigenschaften des Riibensaftes. Man konnte ein Buck iiber 
den Riibensaft schreiben, und es ware ein Buch iiber unsere Zeit. Er ist 
das Manna dieser Generation. Er kostet 800 Milliarden. Er fallt von 
einem Handierwagen. Es regnet Riibensaft in der Wiiste der Friedrich- 
strafie. Er hat jeden Geschmack, den ihm der sehnsiichtige Gaumen 
■ verleiht. Vierzig Jahre wird es Riibensaft regnen. 
Und ich sehe die dankbaren Hande, die sich dem Handler entgegen- 
strecken, die flehende Gebarde der Kaufer, die wie Beter sind. Oh! - 
wie kaufen sie demiitig! Wie ein giitiges Schicksal aus gnadenreicher 
Hand empfangen sie den Tiegel und eilen heimwarts - begliickt; und 
ihre Gedanken eilen den Zungen voraus und geniefien den gefrorenen 
steinfesten Saft der guten, nahrenden Runkelriiben, der Mutter Run- 
kelriibe. Da sind Arbeitslose und Bettelmusikanten, alte Frauen und 
kleine Kinder und Dienstleute aus der Passage und Stiefelputzer von 
der Weidendammer Brlicke. Und viele sind, die kommen gar nicht 
zum Genufi der Runkelriibe. Sie haben nicht 800, nicht 300 Milliarden. 
Sie konnen nicht heimwarts eilen. Sie miissen stehenbleiben, bis der 
letzte Tiegel verkauft ist. 

Das ist die neueste Berliner Sensation. Kein Stein mehr, der Glas wie 
Butter schneidet! Denn gabe es einen solchen Stein - wer hatte Glas, es 
zu schneiden, und Butter, sich von der Richtigkeit des Vergleichs zu 
iiberzeugen? Wir brauchen keine Fakire, die Baume aus dem Nichts 
wachsen lassen! Konnten sie doch Runkelriiben herzaubern! Riiben- 
saft her! Er ist die Nahrung dieser Zeit! 

Frankfurter Zeitung, 12.12. 1923 



DER SCHREI DES WILDEN UND DES WEISSEN 



In einem Kohlenzer Hotel horte ich den Schrei des Wilden aus Cochin- 
china. Es war spat nach Mitternacht, und ich erwachte. Der Schrei kam 
zuerst hohl und dumpf, als riefe jemand in einen grof^en Schalltrichter. 
Es war Schrei und Echo zugleich. Dann kletterte die Stimme in eine 



I082 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

hohere Tonlage und brach endlich im schlimmsten Tremolo ab. Kaum 
fiinf Minuten sparer wiederholte sich dieser Schrei. Und er wiederholte 
sich so, fast in regelmafiigen Abstanden, bis der Morgen graute. Vom 
Portier erfuhr ich, dai5 ein farbiger Soldat aus Cochinchina geweint 
habe. Er habe eine Nachricht bekommen, dafi seine Eltern erkrankt 
seien, und er bekomme keinen Urlaub. 

Ich habe diesen Farbigen aus Cochinchina nicht gesehen. Aber ich sah 
andere farbige Soldaten, wie sie in den Bahnhofen, schwerbeladen mit 
dem Gepack ihrer weifien Herren und Gotter, liber Treppen und 
Schienen stolperten. Ich sah, wie hinter ihnen eine weif5e, parfiimierte 
Gottin schritt, eine Schlafwagenkarte trug sie gewifi im Taschchen aus 
Krokodilleder, sie war die Gattin eines Offiziers, und sie reiste mit 
einer ganzen Brautausstattung und brauchte keinen kostspiehgen Tra- 
ger. Ferner Uef5 ich mir erzahlen, dafi ein farbiger Soldat der Besat- 
zungsarmee 80 Goldpfennig taglich bekommt, eine schlechte Kost und 
fiinf Zigaretten. Und er ist ein Sieger. 

Auch einen hlonden Neger traf ich im Zug. Er hatte ein Negergesicht 
und blaue Augen und blondes, leicht gekrauseltes Haar. Er sprach flie- 
fiend Deutsch mit einer wohlkUngenden, guten, ein wenig zitternden 
Stimme. Den neugierigen Insassen des Abteils erzahlte er, dafi er ein 
Deutscher sei, Sohn eines Deutschen, der in der Fremdenlegion ge- 
dient habe. Und dafi er gerne nach Hause mochte, seine Mutter lebe 
noch. Und denjenigen, die besonders zudringlich waren, zeigte er die 
Photographic seines Vaters, eines Mannes in der Uniform der Frem- 
denlegion. 

Die Reisenden sprachen noch lange von diesem blonden deutschen 
Neger, und dann kamen sie auf den »Zirkulationsstempel« , welcher ein 
griiner, runder Stempel auf den Legitimationen ist und nur nach wo- 
chenlangen Gangen, Bitten und Qualen von der Besatzungsbehorde 
erteilt wurde. Kaum aber hatte man den runden Stempel, hiefi es, man 
miisse einen neuen, quadratischen haben. Und so konnte man an 
einem Stempel zugrunde gehen. 

»Den Besiegten geht es ebenso!« sagte ein Schweizer, der nach dem 
unbesetzten Deutschland fuhr. 

Aber er hatte nicht so ganz recht, der Schweizer. Denn als ich nach 
Koln kam, sah ich, dafi es den Siegern nicht besserging. Denn vor dem 
Hotel, in dem ein grofimachtiger General wohnt und bewacht werden 
mufi wie ein orientalischer Konig in einem Spielfilm, standen zwei Sol- 



1923 1083 

daten vor zwei Schilderhauschen, der eine wandte sich rechts, der an- 
dere wandte sich links - und mit kurzen, aufstampfenden Schritten 
marschierten sie gegeneinander, bis sie fast zusammengeprallt waren. 
Darauf blieben sie stehen, machten Front, dann ging der eine links, der 
andere rechts, jeder zu seinem Schilderhauschen. Sie schritten wie auf- 
gezogene Mechanismen; der Militarismus hatte sie angekurbelt, und 
sie wurden dem Dienstreglement zufolge vorschriftsmafSig miide, 
nachdem sie ihren kindischen Marsch zehnmal vollfiihrt hatten. Der 
todhche Ernst in ihren Gesichtern wich einem menschUchen 2ug, sie 
nahmen Gewehr bei Fuf^ und lehnten am Tor der Hotelhalle. Aber 
kaum waren fiinf Minuten vergangen, blahten sich ihre Briiste, das 
Gewehr flog mit einem Ruck auf die Schulter, und der Mechanismus 
begann von neuem. Ich hatte stundenlang zusehen mogen, wie diese 
fiirchterHche Tatigkeit von lebendigen Menschen ausgefiihrt wird, in 
deren Heimat der preuftische Parademarsch verspottet wurde. Der 
preuCische Parademarsch ist geradezu eine geistreiche Beschaftigung 
dagegen. 

Ich konnte den beiden Soldaten nicht langer zusehen, weil zwei Men- 
schen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, Diese zwei 
waren weder Manner noch Frauen, sie sahen aus wie Wesen von einem 
fremden Stern oder aujSerhalb der irdischen Atmosphare Geborene - 
nein! nicht Geborene, sondern auf unerklarliche Weise Zustandege- 
kommene, Praparierte, Fabrizierte. Sie trugen Halbzylinder, hatten 
breite, holzerne, graue Gesichter, und ihre Augen blickten lebendig in 
der mafilosen, gewissermal^en anorganischen Leere dieser Antlitze. Sie 
waren grau gekleidet, hatten Gamaschen an den Beinen und genagelte 
Stiefel an den Fiif^en und kurze Rocke. So erinnerten sie von feme an 
romische Legionare oder an griechische Hopliten. Ich vergaf? zu sagen, 
dafS Patronengurte um ihre Leiber geschlungen waren. 
Diese beweghchen Teile der Besatzungsarmee patrouillierten hin und 
zuriick und waren »Sittenpolizei« , Es ist ihre Aufgabe, Madchen, die 
mit Soldaten gehen, zu verhaften. Sie lauern in Winkeln und Hausto- 
ren; von zehn Uhr abends beginnt ihr Dienst und dauert bis zum Mor- 
gen. Wo nahm man diese Frauen her? Sie sind keine Mutter, sie sind 
keine Schwestern. Wie kam es, daf? sie sich zu dieser unmenschlichen 
Tatigkeit bereit fanden, zur Wasenmeisterei fiir Straf^enmadchen, und 
die Ehre der Frau schandeten, in dem sie sich engagieren lief^en, die 
Gesundheit der Armee zu retten? Wie tief ist die Prophylaxe unter die 



1084 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Krankheit gesunken, da jene zum Biittel wird start zum Retter? (Wir 
glauben, dafi diese Frauen doch auch als Retter ausgeschickt werden; 
vielleicht glauben die Englander sogar, besonders human zu handeln, 
wenn sie den traurigen Hascherberuf Frauen iibertragen. D. Red.) 
Ich sah Lokale und Hauser, an deren Wanden, in deren Schaufenstern 
das Verbot zu lesen war: »Unteroffizieren und Soldaten ist von loUhr 
vormittags bis 3 Uhr nachmittags der Zutritt verboten.« Es waren die 
Unteroffiziere, die Soldaten der siegreichen Armee. Es waren Sieger. 
Sie gaben ihr Blut und diirfen keinen Kaffee trinken. Es geht nicht nur 
den Besiegten schlecht. 

Es geht nicht nur den farbigen Wilden schlecht. Gepeinigt ist die 
menschliche Kreatur, ob schwarz oder weifi, siegreich oder besiegt. 
Nur der Wilde aus Cochinchina schrie im Koblenzer Hotel. Die Wei- 
fien schreien nicht, weil sie nicht wissen, dafi es ebenso schmerzHch ist, 
von 10 bis 3 Uhr in dieses oder jenes Haus nicht treten zu diirfen und 
in Mauernischen auf die Geschlechtsgenossen lauern zu miissen, ge- 
stiefelt und gespornt und einen Halbzylinder auf dem Kopfe, wie kei- 
nen Urlaub erhalten und Heimweh nach Cochinchina zu haben, Der 
Farbige im Hotel schrie fiir alle Weifien, fiir jene, die fiir den Stolz, ein 
Sieger zu sein, ihre Freiheit hergeben, und fiir jene, die am Zirkula- 
tionsstempel zugrunde gehen, und fiir den Neger, der das Land seines 
eigenen Vaters »okkupieren« mufi, und fiir die zwei Soldaten, die von 
Schilderhaus zu Schilderhaus wandern. 
Es war ein Schrei fiir alle »besetzten« Gebiete der Welt. 

Frankfurter Zeitung, 12. 12. 1923 



LEMBERG IN DUSSELDORF 



Das ist keine zugunsten eines billig sensationellen Titelklangs verbro- 
chene Ubertreibung, sondern eine Formel, die gedrangt und wahr- 
heitsgemafi das »Leben und Treiben« der schwarzen Borsen in Diissel- 
dorf, Koln und anderen grofteren Stadten des Rhein- und Ruhrgebiets 
kennzeichnet. Als ich in Diisseldorf den Bahnhof verliefi, glaubte ich 
mich in die Etappe der Ostfront versetzt. Handler aller Rassen und 
Konfessionen verursachten einen Tumult mit Gliedmafien, fremde 



1923 1085 

Menschen boten mir Dollars zu 4,20 an, franzosische Francs zu 1,80, 
zu 1,50 sogar. Neben Handlern aus Litauen standen Marokkaner. Ne- 
ben Kaufleuten aus Frankreich schottische Hochlander, galizische Ju- 
den handelten mit blonden Nationalsozialisten, Matrosen, franzosi- 
sche und belgische, unterboten franzosisches und belgisches Geld und 
trieben die Reichsmark in die Hohe. 

Die schwarze Borse in Diisseldorf hat langst aufgehort, bestimmte 
Platze und Strafien zu bevolkern. Sie erfiillt die ganze Stadt. An jeder 
Ecke werden Devisen gehandelt, in jedem Cafe sitzen gebeugte Gestal- 
ten iiber Papiere und Rechnungen, die Tische sind mit Ziffern voUbe- 
kritzelt, es haufen sich alle Geldsorten der Welt in der dicken Briefta- 
sche der Kellner. Vor den Kaffeehausern warten je zehn, zwolf kleine 
franzosische Automobile, jeder kleine Divisenhandler besitzt wenig- 
stens zwei. Die franzosischen Militarchauffeure batten in den letzten 
Wochen viele Schiiler und einen ausgiebigen Nebenverdienst. Jeder 
Automobilbesitzer lernte fahren, und wer einen franzosischen Wagen 
kaufte, erhielt leicht die Fahrerlaubnis. 

Heute allerdings nicht mehr. Die Devisen gehen zuriick, und die 
Handler sind bereit, ihre leicht erworbenen Automobile mit Verlust 
abzugeben. Man kann fiir 400 his ^00 Franken Automobile kaufen. 
Aus dem unbesetzten Gebiet kommen viele zu diesem Zweck ins 
Rheinland. Die Automobile miissen allerdings liber die Besatzungs- 
zone geschoben werden. Und auch dabei verdienen die Menschen. Das 
Geld hegt sozusagen auf der GrenzstraEe, aber auch in den Strafien der 
Stadte. Man lebt und lafit leben. Es gibt unheimliche MogHchkeiten im 
besetzten Gebiet. Man kann sozusagen von Geriichten leben. Denn es 
gibt keine Arbitrage. Es gibt kein Telephon und keinen Telegraph. 
Man steht an der Bahn und erwartet den KoUegen, der von Paris oder 
Briissel oder Frankfurt am Main kommt. Der bringt die Kurse von 
gestern. Und nicht die offiziellen, sondern die der schwarzen Borse. 
Man bringt die Geriichte. Geriichte, daf^ der Ausfall der englischen 
Wahlen die deutsche Mark in die Hohe treibt und daft der Reichskanz- 
ler Marx mit dem - Papst befreundet ist und itaUenische Kredite fiir 
Deutschland beschaffen wird. Die wahnwitzigsten Erfindungen glaubt 
man. 

Man hort nicht etwa, wie man glauben sollte, Enghsch und Franzo- 
sisch. Man hort Ungarisch, Russisch, Polnisch. Man trifft Bekannte 
wieder - aus der Wiener Leopoldstadt, der Berhner Grenadierstrafte 



I086 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

wohlvertraute Klange - nicht geflustert mehr wie in den Stadten der 
erhabenen Ordnung. Das ist erne schwarze Borse, die ihren Namen zu 
Unrecht tragt. Sie verbirgt sich nicht, sie ist nicht illegal, die Inhaber 
der offiziellen Wechselstuben und Bankhauser beteiligen sich an dieser 
Borse. Ungewohnter Anblick, wie ein Polizist mitten durch die Menge 
der unbefugt Handelnden geht, nicht nur niemanden belastigend, son- 
dern sogar froh, von keinem belastigt zu warden. Wenn er nicht im 
Dienst ist, handelt er auch. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 17. 12. 1923 



DAS GRENZLOCH VON KERKRAADE 

Ohne Pafi nach Holland 

Das Grenzloch von Kerkraade kann zum Leidwesen aller Grenzbeam- 
ten - der deutschen, der hoUandischen und der franzosischen - nicht 
verstopft werden. Es ist ein Justamentsakt der Weltgeschichte, gegen 
die Grenzbehorden ersonnen und durchgefuhrt. Es kann ein Mensch, 
ohne Pafi, ohne Visum, ohne Steuer bezahlt zu haben, ein Mensch mit 
unverzolkem Gespack - kurz ein gar nicht berechtigtes, minderwerti- 
ges Subjekt - nach Holland kommen und nach Deutschland ins be- 
setzte sowohl wie ins unbesetzte Gebiet. Die Grenze zwischen dem 
besetzten Gebiet und Holland verlauft namlich so ganz ohne Riick- 
sicht auf die Grenzbehorden auf der Strecke von Herzogenrad nach 
Aachen. Dazwischen Uegt eben Kerkraade, ein hoUandischer Ort, und 
man steigt aus, weil ein hilfloser hoUandischer Zollbeamter gelegent- 
lich nach Gepack fragt und weii die Franzosen ebenfalls nach verzoll- 
baren Dingen forschen, 

Aber ein Visum und eine ordentliche Revision kann man einem Rei- 
senden nicht zumuten, der augenscheinlich ja gar nicht die Absicht hat, 
in ein fremdes Land einzubrechen, Daher kommt es, dafi Hollander 
ohne Pafi nach Deutschland kommen und Deutsche ohne Pafi nach 
Holland. 

An dem Grenzloch von Kerkraade stehen viele schlaue Bettler - deut- 
sche und hollandische. Sie -spekulieren auf die Gebefreudigkeit der 
Menschen, die froh sind, keine Visumgebiihr erlegen zu miissen, und 



1923 loS/ 

die infolgedessen viel freigebiger sind als jene ordentHchen Reisenden, 
die bereits dem Staat haben opfern miissen. Die Bettler von Kerkraade 
machen die besten Geschafte. Sie sind lahm oder blind, es sind Weiber, 
Manner, Greise und Kinder, sie zittern in der Kalte, und ihr Elend 
erscheint verhundertfacht, und sie warten bis zur letzten Strafienbahn 
auf den letzten Passagier. 

Von der Grenze zweigt ein wundervoller, sehr einladender, guterhalte- 
ner Weg ab - der fiihrt ins Innere des hoUandischen Landes, an Feldern 
und Gehoften vorbei. Ich ging eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei, 
und nur ein hoUandischer Jager oder Flurwachter begegnete mir, 
griifite und verschwand. Dann kam ein Gendarm, dessen Pflicht es 
wohl gewesen ware, mich nach einem Ausweis zu fragen. Aber der 
fragte auch nichts. Hierauf ware ich wohl so lange weiter gewandert, 
um wenigstens nach dem Haag zu gelangen, wo man gelegentlich et- 
was iiber das Recht der Volker, ihre Grenzen zu verteidigen, horen 
kann. Aber es wurde dunkel, und ich hatte kein hollandisches Geld. 
Ich kehrte um. 

Unterwegs traf ich eine Familie, die gerade nach Holland spazierte. Sie 
war bis Wiesbaden gekommen, wo man in den letzten Tagen bilUger 
einkaufen konnte als in Holland. Zwei Frauen trugen einen Korb mit 
Lederwaren. Dariiber hatten sie Polster und Kissen gelegt. 
Sie werden heute wohl schon wieder nach Wiesbaden gefahren sein. 
Vielleicht sind sie in Berlin, und kein Mensch gab ihnen ein Visum! Ich 
hoffe, dafS meine Mitteilung alle Behorden der Welt beunruhigen wird. 
Nur zu diesem Zweck schrieb ich die Geschichte von Kerkraade. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 19. 12. 1923 



LOUIS HAGEN, DER FINANZMANN DES RHEINS 



Alte Kolner Juden sagen: »Ich hab' noch den Levy gekannt!« Denn 
Louis Hagen hat einmal - es sind mehr als 30 Jahre her - Louis Levy 
geheifien. Die Feststellung dieser Tatsache wiirde auch dem Herrn Ge- 
heimrat Hagen, wenn er sie zu Gesicht bekame, nicht unangenehm 
oder peinlich sein. Denn das »grof$te Talent des Rheinlands«, wie ihn 
ein MitgHed der Deutschen Volkspartei genannt hat, ist weit davon 



I088 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

entfernt, Abstammung und Vergangenheit zu verleugnen. Er ist ein 
Levy geblieben, innerlich und in einem gewissen Sinn auch aufierlich. 
Den Namen konnte er allerdings nicht behalten, wenn er innerhaib des 
deutschen Zentrums diejenige RoUe anstrebte, die er heute fiihrt. Er 
vertritt namiich die Zentrumspartei des Rheingebietes in finanziellen 
Dingen, und er kommt oft in die Lage, sie zu reprasentieren. Aber das 
Bankhaus, in dem er arbeitet, Politiker des In- und Auslandes emp- 
fangt und sich vor Journalisten verleugnen lafit, das Biiro, in dem er 
Konferenzen iiber die rheinische Geldnotenbank abhalt und aus dem 
er zu Konferenzen iiber die nachste PoHtik der Rheinlandsvertreter 
geholt wird, ist das bescheidenste in Koln und tritt an Ansehnlichkeit 
und Fassade hinter die geringste kolnische Wechselstube zuriick. 
Louis Hagen ist der Tradition seiner Vater treu geblieben, trotz seinem 
Religionswechsel. Und auch diesen hat er nicht aus Ehrgeiz und der 
Karriere wegen vorgenommen, sondern aus Liebe zu seiner Frau, de- 
ren Madchennamen er heute tragt. Seine Frau ist die Tochter des be- 
kannten Katholikenfiihrers Hagen. Louis Levy war ein junger Bonvi- 
vant, in kathoHschen und jiidischen Hausern des Rheinlandes gerne 
gesehen und als Held interessanter Liebesabenteuer bekannt. Und da 
die Liebe zu jener Zeit noch nicht nach der Konfession, geschweige 
denn nach der Rasse zu fragen pflegte - wie es heute schon hier und 
dort geschieht-, verliebte sich die junge Tochter Hagens, des strengen 
Kathoiiken, in den flotten, jungen Juden. Es kostete einen Kampf - 
besonders mit der Mutter Hagen, die vor dem Sohn eines Bankjuden, 
der uberdies noch Levy hiefi, eine Art mittelalterlicher Scheu empfand. 
Es wurden alle Familienschwierigkeiten iiberwunden. Louis Levy 
wurde KathoHk und nannte sich Hagen. Die junge Ehe soil sich zuzei- 
ten auch unangenehm gestaltet haben, vi^eil Hagen Anlafi zur Eifer- 
sucht seiner Frau wiederholt gegeben hat. Louis Hagen war der Typus 
des jungen, geistig regsamen, romantischen, rheinischen Juden aus der 
dritten Generation jiidischer Freiheit. EigentHch kein Geldmensch, 
sondern ein Poet und Salonheld, witzig und traumerisch, klug und 
belesen und also ein LiebUng der Frauen. Diese Entwicklung mag dem 
alten Levy ebenso mil^fallen haben wie die Ehe ihrer Tochter der alten 
Frau Hagen. Heute ist freilich von dem jungen Louis Levy nur noch 
die Klugheit zuriickgeblieben. Andere als politische, okonomische 
Schriften hat der Geheimrat Hagen seit dem Krieg nicht mehr gelesen, 
und fiir andere Dinge ist er zu alt. Auch hat er keine Zeit. Er ist wahr- 



1923 1089 

lich der meistbeschaftigte Mann des Rheingebiets, immer unterwegs, 
immer zwischen vier Konferenzen, immer im Auto, er findet nicht 
einmal die Zeit, die Eisenbahn zu benutzen. Er ist aus einem europai- 
schen Idealisten der 8oer Jahre ein amerikanisch Arbeitender geworden. 
Er sieht trotzdem wiirdiger und verbindlicher aus als die meisten ame- 
rikanischen Finanz- und Industriemanner. »Verbindliche Wurde« 
kennzeichnet seine Physiognomie am besten. Sie ist unjiidisch, inter- 
national. Nur der genaue Kenner merkt an einer gewissen typischen 
Abgriindigkeit des Auges, sozusagen seinem Alter, den jiidischen 
Menschen. AUes andere, die korperliche und geistige Beweglichkeit, ist 
rheinlandisch, nicht jlidisch. Der Tonfall der Stimme hat sogar etwas 
»Gewachsenes«. Der gebildete Sohn eines rheinlandischen Winzer- 
bauers sprache auch nicht anders als dieser Sprofi einer Kolner Geld- 
judenfamihe. Es ist kennzeichnend, dafi mir ein franzosischer junger 
Diplomat, der Hagens jiidische Abstammung nicht kannte, im Ge- 
sprach beilaufig sagte: Die sympathischsten Deutschen, die er bis jetzt 
getroffen hatte, waren Louis Hagen und - Rathenau gewesen. In den 
verschiedenen Ausschiissen, die zwecks Verhandlungen mit den Fran- 
zosen gebildet werden, fiihrt Louis Hagen oft das entscheidende Wort. 
Er hat jedenfalls eine grofie diplomatische Begabung, und er ist dem 
toten Rathenau, dem er geistig lange nicht nahekommt, darin ahnlich, 
dafi er die schroffe, absolute und resolute Negation in Verhandlung 
mit dem Gegner gerne vermeidet. Louis Hagen ist, wie Rathenau es 
war, ein Mann der diplomatischen Nuance und der sicheren, sehr be- 
wufiten, aber unbewuEt scheinenden Einfachheit. 
So steht auf der kleinen, kaum sichtbaren Tafel seines Bankhauses im- 
mer noch der jiidische Name: Levy. Dieses Bankhaus hat lange nicht 
die Bedeutung seines Besitzers. Die Angestellten der Bank sind kor- 
rekt, kiihl, mifitrauisch. Ihr Chef, der Geheimrat, ist gesprachig, herz- 
lich, liebenswiirdig. Aber er verbirgt hinter einer flotten Gesprachig- 
keit mehr, als sogar ein Geheimrat sollte. Im Rheinland wissen die 
wenigsten, dafi er ein Jude ist. Nur Politiker wissen es. Ein Wunder, 
daf^ die Volkischen noch keinen Gebrauch davon gemacht haben. 
Louis Hagen, einer der bedeutendsten Manner Deutschlands, ware ein 
prachtvoUes Objekt volkischen Hasses. Allerdings - wahrscheinlich 
ein nicht zu treffendes Objekt. Denn Louis Hagens Verbindungen rei- 
chen weit hinein in die rechtesten Winkel der deutschen InnenpoHtik. 

Prager Tagktt, 19. 12. 1923 



BEI DER ARMEE DER SEPARATISTEN 



Die Bezeichnung Armee betrachtet man als den Ausdruck einer Verle- 
genheit um einen zusammenfassenden Namen fiir viele grofie und 
kleine Gruppen junger Menschen zwischen 17 und 25 Jahren. Es gibt 
auch altere Separadsten. Sie aber verteidigen ihre Uberzeugung nicht 
mit der Waffe In der Hand. Wenn sie nicht irgendeine Biirostellung 
haben, ziehen sie es vor, die Entwicklung zu Hause abzuwarten, hoch- 
stens Versammlungen zu besuchen. Aktive Separatisten sind nur jene 
Jungen Menschen, die von der Not oder ihrem Soldnertrieb zum 
Kampf kommandiert werden. Sie fallen, ohne eine iiberzeugte An- 
hanghchkeit, dem oder jenem Fiihrer anheim. Und da es drei Haupt- 
fiihrer gibt, kann man eigentlich von drei Sonderbiindlerarmeen spre- 
chen. Diese drei bewaffneten Gruppen erinnern, wie das Rheinland 
uberhaupt- an die Zeiten und Landsknechte des dreifSigjahrigen Krie- 
ges. 

Die separatistischen Soldaten tragen eine groteske Zivilkleidung, an 
der buchstablich nicht zwei Stiicke von der gleichen Farbe sind, ka- 
rierte Miitzen, tief im Nacken oder schief auf dem Ohr mit der rhein- 
landischen Trikolore griin-weifi-rot, ferner Waff en verschiedener Art: 
gewohnliche Holzstocke, kurze Holzkniippel, Gummikniittel, lederne 
Totschlager, eiserne Spiralen, Trommelrevolver altesten Kalibers und 
moderne Handgranaten, Dolche und blanke Kiichenmesser, Jagdflin- 
ten und Militargewehre. 

Ich Icam zu den Separatisten nach Bad Ems, das eins ihrer pohtischen 
und militarischen Hauptquartiere bildet. Die Separatisten kehrten von 
einer militarischen Ubung zuriick. Sie sollen nach eigenen Erzahlun- 
gen fleif^ig exerzieren. Sie wohnen in offentlichen Schulen und in Pri- 
vatquartieren, sammeln sich auf dem Hauptplatz, verpflegen sich 
selbst durch Requisitionen und beziehen eine Tageslohnung von zwei 
bis drei Goldmark. Ich sprach mit einem Unterfiihrer, der eine seidene 
Binde am Arm trug. Er behauptete, Feldwebel in der preuEischen Ar- 
mee gewesen zu sein - spater Deserteur, Er war mit seinen 27 Jahren, 
wie er selbst zugab, der alteste seiner Gruppe. Er will von Beruf 
Kunstpfeifer gewesen sein und Mitglied der internationalen Artisten- 
loge. Zu den Separatisten sei er gegangen, weil er im Augenblick kein 
Engagement finden konne. In zwei Monaten will er nach Paris gehen. 



1923 I09I 

Er will Empfehlungen mitnehmen. Ich frage: »Konnen Sie Franzo- 
sisch?« »Nein!« »Smd Sie Rheinlander?« »Nein! Kdnigsberger!« »Sind 
viele aus Ihrer Heimat hier?« »Ich bin der ein2ige.« »Die anderen sind 
Rheinlander?« »Viele. Aber auch Oberschlesier, Berliner, Bayern.« 
Die Separatistengruppen sind ebensowenig national einheitHch wie mi- 
litarisch. Man trifft Abenteurer aus alien Gegenden Deutschlands und 
Europas. Im Rheingebiet leben ja seit der Absperrung des besetzten 
Gebietes die fragwiirdigsten Existenzen: von der preufSischen Polizei 
Verfolgte, aber auch von den franzosischen Behorden Gesuchte. Die 
meisten haben falsche Papiere, falsche Namen, eine erdichtete Vergan- 
genheit. Man trifft kommunistische Spitzel und nationalsozialistische 
Agitatoren. Die Leute vom Typus des erschossenen Schlageter sind in 
der Minderzahl. Sehr haufig sind Spione, die hier viel verdienen wol- 
len. In Miilheim an der Ruhr traf ich den Budapester Leo Papp, den ich 
aus der Bela-Kun-Zeit kenne und spater aus Odenburg, wo er fiir Le- 
har Spitzel- und personliche Dienste leistete. Papp lebt seit drei Mona- 
ten am Rhein, er will hier Kunstgegenstande verkauft und vermittelt 
haben. In seiner Gesellschaft befand sich ein Herr Ruff aus Miinchen, 
der sich sehr orientiert in den Angelegenheiten der Organisation C. 
zeigte und die Rathenau-Morder personHch zu kennen vorgab. Man 
trifft hier Offiziere, die wegen ehrenriihriger Handlungen aus der Ar- 
mee entlassen sind, viele aus der alten osterreichisch-ungarischen Ar- 
mee - noch in der alten Uniform mit der schwarzen, hohen Mutze. In 
alien Cafes, in der Bahn, in Kinos und Theatern hort man Ungarisch. 
In Trier soil der katholische Geistliche Lederer aus Oberosterreich, 
der wegen eines Sittlichkeitsdeliktes Amt und Brot verloren hat, eine 
Rolle als poHtischer Agitator spielen. Russen und Polen, die aus BeHin 
kommen und angeblich auf der Durchreise nach Paris sind, halten sich 
eine Weile unter den Separatisten auf. Aber zum eigentlichen Kamp- 
fen, Schiefien und Exerzieren kommen nur die Armsten, die Arbeitslo- 
sen des Landes. Und auch sie nur dort, wo die Lebensgefahr gering ist. 
Der Unterstiitzung durch franzosische Truppen sind sie durchaus 
nicht immer gewifS. Es gibt im Rheinland keine einheitliche franzosi- 
sche Separatistenpolitik. Jeder franzosische Kommandant macht seine 
eigene, und je nachdem, ob ihm die Separatisten seiner Stadt sympa- 
thisch sind oder nicht, unterstiitzt er sie oder laf^t sie ohne Hilfe. 

Baseler Zeitung, 20. 12. 1923 



DER BLONDE NEGER GUILLEAUME 



Jenen blonden Neger, den Widerspruch seiner selbst, das lebendige 
Dementi der schwarzen Schmach, den deutlichen Neger mit den 
blauen Augen, kurz eine Dinter-Gestalt, sprach ich auf der Fahrt von 
Wiesbaden nach Koblenz. Es safien viele gute Burger im Zug, und in 
der Ecke am Fenster safi der Neger. Sagte ich Neger? Der Mann hatte 
aufgeworfene Lippen, schone weifie Zahne, starke Backenknochen, 
aber veilchenblaue Augen und blondes gekrauseltes Haar. AUe im 
Coupe sahen auf den Neger. Er trug die franzosische Uniform und las 
ein Buch. Es war ein deutsches Buch. Schliefilich konnte ein dicker 
Herr, ein AUerweltskerl, ein Reisender, hilfreicher Mann, der jedem 
mit ungewiinschtem Rat beiseite stand und das Kursbuch auswendig 
kannte, seine Neugier nicht bezahmen. Er neigte sich liebevoU zu dem 
blonden Neger hiniiber und fragte: »Was lesen Sie fiir ein Buch?« Der 
Neger sagte: »Von Sven Elvestad, ein bidder gewohnlicher Kriminal- 
roman.« Also seine Uberlegenheit dem Frager gegeniiber erweisend, 
welcher keine Ahnung hatte von Sven Elvestad und dem nach der gan- 
zen Konstruktion anzusehen war, dafi er Kriminalromane nicht ge- 
wohnlich finden konnte. 

Nun war eine Verbindung hergestellt, und der Neger begann zu spre- 
chen. Er sprach deutsch. Ein fliefiendes Deutsch mit einer tiefen, klang- 
vollen, angenehmen Stimme. Vier Monate war er schon in Europa. Er 
kannte grofie deutsche Stadte wie Koln, Frankfurt am Main, Hannover, 
Koblenz, Diisseldorf. Er fiihlte sich sehr wohl in Deutschland. Man 
wunderte sich allgemein iiber das blonde Haar. Als er fiir einen Augen- 
blick hinausging, sagte der dicke Allerweltsherr zu seinem Nachbarn: 
»Fragen Sie ihn doch, warum er blond ist. « Aber als der Neger wieder da 
war, fragte ihn niemand. 

Wir stiegen zusammen in Koblenz aus. Das Coupe hatte er mit einem 
freundlichen siiddeutschen Grufi verlassen. Er sagte: »Griifi Gott.« Ein 
Griifigott-Neger. Eine herrliche Mischung, fast rein arisch. 
In Koblenz am Bahnhof erregte er Aufsehen. Er war grofi, breitschult- 
rig, hochhiiftig, ein prachtvoUer Mensch. Vor dem Gepackschalter 
warteten wir beisammen eine Weile. Er mufite einen schweren Koffer 
abgeben. Ich liefi ihm den Vortritt. Er lehnte ab. Wir stritten fiinf Mi- 
nuten darum, wer von uns beiden den Koffer abgeben sollte. Es wuchs 



1923 1093 

sich langsam zu einer schwarzen Schmach heraus. Schliefilich kamen 
wir in ein vertrautes Gesprach, und der blonde Neger erzahlte: 
Er heifit Guilleaume. Er heifit nicht nur Guilleaume, er heifit auch 
Thieie. Er heifit also Wilhelm Thiele und ist ein Sergeant und gehort 
der Okkupationsarmee an und ist sozusagen ein Feind Deutschlands. 
Ein Neger und blond und blauaugig, aus lauter Gegensatzen zusam- 
mengesetzt. Ein politisches, ein ethnologisches Paradox. 
Sein Vater war ein Fremdenlegiondr^ seine Mutter eine Schwarze. Vom 
Vater hat er also das blonde Haar, seine Muttersprache ist Deutsch. 
Seine Mutter lebte eine Zeitlang in MUnchen und war Stenotypistin in 
einem grofien Bankgeschaft. Er blieb indessen bei seinen Grofieltern. 
Er ist nicht nur ein Deutscher, er ist ein Siiddeutscher. Gelegentlich 
sagt er »nit«. 

Wie es ihm zumute ist in Deutschland, als »Feind«, fragte ich ihn. 
Er habe sich sehr gefreut, sagte er, als er nach Deutschland kam. Unter 
seinen Kameraden hake er Vortrage. Er lese ihnen manchmal aus 
Goethe vor. Sein Liebhngsdichter ist Lenau. Und nach einer Viertel- 
stunde sah ich, dafi dieser Neger nicht nur weit mehr wu£te als Hitler 
aus dem Negerstamm der Oberosterreicher, sondern sogar, dafi er eine 
intuitiv tiefere Verbundenheit mit dem deutschen Wesen besafi als zum 
Beispiel ein Professor von Freytag-Loringhofen oder Rothe; dal5 die- 
ser Neger Guilleaume in der Reinheit seiner Seele weit iiber der angeb- 
lichen Rassereinheit Dinters stand und dafi er der blauen Augen und 
der blonden Haare gar nicht bedurft hatte, urn ein Deutscher zu sein. 
Er wohnte in einem kleinen Bauernhaus in der Nahe von Koblenz, 
und ich war bei ihm am Nachmittag. Er spielte Geige. Dabei sah ich, 
dafi er schlank war und grofie Hande und Finger hatte. Ich sah das Bild 
seines Vaters, eines Mannes mit blondem aufgezwirbeltem Schnurr- 
bart. Dieser Mann war in Frankreichs Diensten gestorben. Und dann 
sah ich das Bild eines jungen Madchens aus Miinchen, die die Braut des 
Negers werden soil. Nachher, natiirlich, wenn alles zu Ende ist. 
Ich fiirchte, es wird noch lange nicht alles zu Ende sein, zumindest 
nicht in Miinchen, wo die weifien Neger wohnen und wo man be- 
stimmt nicht die Braut eines franzosischen blonden deutschen Schwar- 
zen sein darf, ohne von Hakenkreuzlern gepeinigt zu werden. 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 28. 12. 1923 



»BLUE LAMP ROOM« 



Was ist ein blue lamp room} Nach kontinentalen Be griff en des guten 
Geschmacks eine Ungeheuerlichkeit, eine sachliche Institution von 
unverhiiliter Schamlosigkeit, eine Hygiene barbarischer Zivilisation. 
Nach englischen Begriffen eine selbstverstandliche prophylaktische 
Mafinahme. 

Die Blue lamp rooms sind eine der iiberraschendsten militarischen 
Einrichtungen in den Teilen des besetzten Gebiets, in denen Englander 
einquartiert sind. An jeder zweiten Strafienecke leuchtet das blaue 
Lampchen geschlechtlicher Gesundheit. Die englischen Soldaten sind 
verpflichtet, nach jedem Liebesgenufi die Blue lamp rooms aufzusu- 
chen. Da wird es ihnen schwarz auf weifi bescheinigt, dafi sie ohne 
Schaden geHebt haben und bis auf weiteres weiterlieben konnen. Ein 
Sanitatsfeldwebel sitzt an einem Tisch. Unteroffiziere mit Flaschchen, 
Spritzen, Jodoform umgeben ihn. Ein starker Kampfergeruch erfiillt 
den ganzen Raum. Den ganzen Tag, die halbe Nacht ist dieses Lokal 
offen. Und Stunde um Stunde kommen die englischen Soldaten, lassen 
sich untersuchen und desinfizieren, Bestatigungen schreiben und Zet- 
tel ausfulUen. Denn der Mensch kann ohne Gesundheit ebensoschlecht 
leben wie ohne Liebe. 

Ein geschlechthch erkrankter englischer Soldat, der nicht nachweisen 
kann, dafi er im Blue lamp room gewesen, wird eingesperrt. Wenn er 
es nachweisen kann, sperrt man den Sanitater ein. Denn eingesperrt 
mufi werden. Dem Militar ist die Hygiene ebenso willkommener An- 
lafi, Gefangnisstrafen auszuteilen, wie eine dienstliche Verfehlung. 
Trotzdem vergeht den Englandern merkwiirdigerweise der Appetit auf 
die Liebe nicht. 

Ich sah am Sonntagnachmittag lange Reihen der Tommies vor den 
Blue lamp rooms. Sonntag ist ein Tag der Freiheit, der Liebe und der 
Hygiene, Drinnen batten die Sanitater alle Hande voll zu tun. Drau- 
fien, am Rande des Biirgersteigs, warteten die Madchen der Soldaten - 
auch legale Braute. Nach je fiinfzehn Minuten kam der gliickUche 
Brautigam heraus. Er hatte seinen Schein in der Tasche - nun durfte er 
zur Orgie. Er wei£ jetzt, dafi ihm nichts passieren kann. Er hat den 
Geboten der Hygiene, der Kaserne und seinem Vaterland Geniige ge- 
tan. Er hatte eine Bewilligung, eine amtliche Bewilligung auf Rausch. 



1923 1095 

Natiirlich ware es seine Pflicht, nach dem Rausch den Blue lamp room 
zu besuchen. Aber da nur der Sanitater eingesperrt werden kann, wenn 
der Kranke nur nachweisen kann, dafi er die Hygiene aufgesucht und 
angewendet hat, geht der Soldat lieber vorher hin. Menschlich, sehr 
menschlich! Denn wie soil jemand orgiastisch weijden mit dem peini- 
genden Gedanken, daf^ er nachher unbedingt noch einen Schein holen 
mufi? Wie soil die grofie Liebe bliihen, wenn ein Armeebefehl zu 
Haupten des Bettes wacht? Und vom sittlichen Standpunkt ist der 
Zweifel durchaus zu verstehen, der in der aufgeregeten Brust eines ein- 
fachen Mannes sich zu regen beginnt: ob nicht doch dem Blue lamp 
room eine kleine Ansteckung vorzuziehen ware? Schwieriges Kapitel! 
Man stelle sich die Entwicklung der britischen Prophylogie in ein paar 
Jahrzehnten vor: Hinter jedem Liebespaar wird ein Sanitater mit In- 
strumenten schreiten. Die wahre Liebe kann es dann nicht sein. 
Ich habe auch fliegende Blue lamp rooms gesehen: Prophylaxen in Zel- 
ten aufSerhaib der Stadt, wo die menschliche Natur lyrisch wird, auch 
wenn sie einen grof^en Helden und [. . .] gehort, und wo man sozusa- 
gen nichts fiir seine Schwache kann. Die Zelte tragt man von Ort zu 
Ort, wo Musik ist, ein Karussell, ein Tanz und ein Wein - schwupps - 
kommt der sanitare Armeebefehl nach. 

So sorgt England fiir die Gesundheit seiner Armee auf Kosten des gu- 
ten Geschmacks, 

Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 29. 12. 1923 



ANHANG 

Editorische Anmerkungen 

Dies ist keine historisch-kritische Ausgabe. Rechtschreibung und Zeichen- 
setzung wurden heutigem Gebrauch angeglichen. Kursiv gesetzte Worte oder 
Passagen sind in den veroffentlichten Vorlagen gesperrt gedruckt, in den unpu- 
blizierten unterstrichen. Nicht lesbare Stellen (besonders nach dem Ersten 
Weltkrieg war die Druckqualitat der Zeitungen schlecht) sind mit [. . .] gekenn- 
zeichnet. Mit '■ versehene Titel stammen vom Herausgeber. 
In der Kegel sind die Artikel in der letzten Fassung zum Abdruck gekommen - 
auch dann, wenn sich die Bearbeitung nur auf einen neuen Titel beschrankt. 
Das heifit freilich, dal5 es nicht unbedingt die letzte Veroffentlichung sein muft, 
da Roth seine Texte gern mehrfach verkaufte (s.u.). Die Anordnung der Artikel 
entspricht der Entstehungsgeschichte - im vorliegenden Band mit folgenden 
Ausnahmen: Die Texte, die Roth in Wien fiir die Rubrik » Wiener Symptome^ 
des »Neuen Tag« schrieb, wurden zusammengefaf^t, um den Charakter einer 
Chronologie - verfalJt von einem kritischen Beobachter - zu erhalten. Ahnli- 
ches gilt fiir die Artikelserien »Reise ins Heanzenland«, »Der polnisch-russi- 
sche Krieg« und »Leipziger ProzelS gegen die Rathenau-M6rder«. 
Gezeichnet sind die Artikel mit vollem Namen (wobei zum Teil fiir den Vorna- 
men die Schreibweise »Josef« zu finden ist) oder mit dem Nachnamen. In ande- 
ren Fallen verwendeten die Zeitungen oder Roth folgende Kiirzel: J.R., R-th, 
R., r-th, rth, -th. All diese Zeichnungen werden hier nicht abgedruckt - im 
Gegensatz zu »Josephus«, »Der rote Joseph«, »Der Rote«, im Exil »Christine 
von Kandl« und »Hamilkar«, deren Verwendung moralische oder poHtische 
Aussagen unterstreichen sollte. 

Wie in den beiden ersten Werkausgaben von Hermann Kesten wurde auf die 
Angabe von Ausgabe-Nummer und Seitenzahl der jeweiligen Zeitung oder 
Zeitschrift verzichtet. Verzichtet wurde auch auf ein Namensregister. Roth 
schrieb iiberwiegend iiber die kleinen Leute, sehr selten nur iiber sogenannte 
Prominenz - und dann ist der Name meist schon im Titel enthalten. 

Das journalistische Gesamtwerk Roths ist mit dieser neuen Ausgabe nahezu 
vollstandig dokumentiert. Ein Teil der Kurzrezensionen, eher als Ergebnis la- 
stiger Pflichterfiillung anzusehen, ist hier nicht abgedruckt - ebenso wie einige 
wenige Texte mit Themen, derer sich Roth in mehreren anderen Arbeiten an- 
nahm. In folgenden Zeitungen sind Artikel Roths enthalten, die er mehrfach 
veroffentlichte oder nur ieicht verandert zu einer Zweit- oder Drittpublikation 
verkaufte: 

A Der Abend, Wien 

AUAB 8-Uhr-Abendblatt, Berhn 

BBC Berhner Borsen-Courier 

BH Das Blaue Heft, Berlin (spater FDB) 

BT Berliner Tageblatt 



1098 DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

D Der Drache, Leipzig 

DNT Der Neue Tag, Wien 

FDB Freie Deutsche Biihne, Berlin (ehem. BH) 

FZ Frankfurter Zeitung 

G Die Glocke, Berlin 

LTB Leipziger Tageblatt 

NAUB Neues Acht-Uhr-Blatt, Wien 

NBZ Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt 

OIZ Osterreichs lUustrierte Zeitung, Wien 

PT Prager Tagblatt 

PTZ Pariser Tageszeitung 

T Der Tag, Wien 

V Vorwarts, Berlin 

WSMZ Wiener Sonn- und Montagszeitung 

Hier die mehrfach verwerteten Artikel: 

Das Waldmdnnlein vom Stephansplatz, DNT 14. 12. 1919 - vgl. die Ubertragung 

auf Berliner Verhaltnisse »Das Waldmannlein vom Potsdamer Plat2«, FZ 27. 3. 

KonsHltation, DNT 28. 11. 1919 - vgl. unter gleichem Titel identisch bzw. leicht 

abweichend NBZ 18. 10. 1920 und FDB 30. i. 1921. 

Wiener Symptome: Line Geschichte, DNT 21. 12. 1919 - identisch FDB 31. 12. 

1920. 

Das Mdrchen vom Geiger, DNT 28. 12. 1919 - identisch BH 17. 12. 1921; vgl. 

auch die noch nicht ironisch gebrochene »Geschichte vom jungen Musikanten 

und der schonen Prinzessin«, OIZ 5. 12, 19 15. 

Cochinchina, DNT 15 . 2. 1920 - Kurzfassungen und erneute Veroffentlichungen 

PT 8. 12. 1920, 27. 11. 1922, PTZ 23. 5. 1937 sowie unter dem Titel »Weihnachten 

in Cochinchina<(, FZ 11. 12. 1927, PT 18. 12. 1929. 

Baisse, DNT 22. 2. 1920 - identisch FDB 2. 12. 1921. 

Tiere, DNT 7. 3. 1920 - vgl. FDB 7. 11. 1920. 

Eine Stunde im SchieberburOy NBZ 13.7. 1920 - vgl. die Wiener Erstfassung 

»Import und Export«, DNT 18. i. 1920. 

Aus der Berliner Unterwelt, NBZ 3. 11. 1920 - teilweise als »Der Stuhl meines 

Schneiders<s PT 3. 12. 1920. 

Der Wochenmarkt der Modelle, NBZ 3. 12. 1920 - vgl. PT 9. 12. 1920. 

tauter Jnxen, PT 6. i. 1921 - identisch »Moderne Juxartikel«, T 13. 7. 1923. 

Kunstasyl, NBZ 7. i. 1921 - vgl. »Berliner KunstasyU, BBC 9. i. 1921. 

Yu-Sbi tanzt, FDB 9. i. 1921 - vgl. NBZ 24. 12. 1920. 

Der Tod im Zirkus, 24. i. 1921 - gekiirzt »Der Clown«, V 21. i. 1923. 

Weltuntergang (II), PT 10. 2. 1921 - identisch BT 15. 2. 1921. 

Autoritdten, BBC 19. 2. 1921 - gekiirzt PT 20. 2. 1920, NBZ 21. 2. 1923. 

Literarischer Wedding, FDB 13. 3. 1921 - BBC 20. 3. 1921. 

Hellas, BBC 17. 3. 1921 - Vorfassung PT i. 3. 1921. 

Rundgang um die Siegessdule, NBZ 15. 3. 1921 - PT 17. 3. 1921. 

Rehabilitierung des deutscben FrUblings, BBC 27. 3. 1921 - gekiirzt T 30. 3. 1923. 



ANHANG 1099 

Eine Stunde Millionar, NB2 1.4. 1921 - gekiirzt als »Hotelfruhling«, PT 7.4. 

192 1. 

Derfalsche DionysoSy BBC 7. 4. 1921 - V 4. 3. 1923, PT 14. 3. 1923. 

Ahendcy BBC 27.4. 1921 - identisch »Berliner Dilettantenabende«, F2 11. 2. 

19^3; 

Rabindranath Tagore, BBC 3.6. 1921 - »Berlin und Indien«, NB2 3.6. 1921, 

»Rabindranath Tagore in Berlin«, PT 7. 6. 1921. 

Vestihal, BBC i. 7. 1921 - vgl. »Hotelfruhling«, PT 7. 4. 1921. 

Menschen am Sonntag, BBC 3. 7. 192 1 - fast identisch V 4. 2. 1923. 

Der Mann im Friseurladen, BBC 31. 7. 1921 - gekiirzt »Der moderne Berliner«, 

T 30. 1. 1923. 

Die fremde Stadt, BBC 21. 8. 192 1 - gekiirzt V 28. 2. 1923. 

Kinder, BBC 11. 9. 1921 - PT 15.9. 1921. 

Reise, 2. 10. 1921 - gekiirzt PT 5. 12. 1921, vgl. AUAB 8. 5. 1923, LTB 26. 5. 1923. 

Weltgericht, 16. 10. 1921 - gekiirzt V 29. 5. 1923. 

Schillerpark, BBC 23. 10. 1921 - gekiirzt V 5. 5. 1923. 

Lehensfreuden (IL Bar), BBC 6. 11. 1921 - vgl. »Bar« V 20. 10. 1922. 

Regen, BBC 10. i. 1922 - V 12. 12. 1922. 

Die tonende Mauer, NBZ 24. i. 1922 - PT 4. 2. 1922. 

Sechstagerennen, PT 24. 2. 1922 - »Berliner Sechstagerennen«, F2 26. 2, 1923, T 

27.2. 1923. 

Die Mutter, BBC 25. 4. 1922 - PT 27. 4. 1922. 

H-Moll-Symphonie, BBC 21. 5. 1922 - PT 23. 5. 1922, »H-Moll im Kino«, FZ 

5.3. 1923, NBZ 9. 3. 1923. 

Frau Prompteux, BBC 28. 5. 1922 - PT i. 6. 1922. 

Der Souffleur, h^C 1.6. 1922 -V 9. 5. 1924. 

Sonntagsreiter, V 2. 8. 1922 - »Berliner Sonntagsreiter«, NAUB 12. 7. 1923. 

Kleiderhandel, V 14. 11. 1922 - AUAB 28. 5. 1923. 

Die Abseits-Menschen, V 7. i. 1923 - »Abseits«, BBC 1. 1. 1922. 

Die Toten ohne Namen, NBZ 17. i. 1923 - FZ 21. i. 1923, »Die namenlosen 

Toten«, PT9.2. 1923. 

Der moderne Berliner, T 30. i. 1923 - »Der Kriegerische<s AUAB 31. i. 1923. 

PreisrattenwUrgen, NBZ 9.2. 19 23- PT 3. 3. 1923. 

Berliner Dilettantenabende, FZ 11. 2, 1923 - »Dilettantenabende«, NBZ 13.2. 

1923. 

Das Schiff der Auswanderer, NBZ 15. 2. 1923 - Bearbeitung PT 18, 2. 1923. 

Das Hans der 100 Verniinftigen, FZ 17. 2. 1923 - erste Fassung »Das Haus der 

Verniinftigen«, PT 7. 2. 1923. 

Reisende mil Traglasten, BBC 4, 3. 1923 - FZ 17. 2. 1924, PT 21. 4. 1924. 

Wie werde ich adligf, NBZ 5.3. 1923 - »Ahnenfabrik GmbH«, PT i. 3. 1923. 

Begegnung mit dem letzten Azteken, NBZ 13. 3. 1923 - »Der letzte Azteke aus 

Gablonz«, PT 16. 3. 1923, 

Die Tdnzer Gottes und die Strafienbahn, NBZ 29. 3. 1923 - »Die Tanzer Got- 

tes«, PT 13.4. 1923. 

Berliner Aquarium, FZ 1.4. 1923 - gekiirzt »Sensationen im Aquarium«, 

NAUB 17.7. 1923. 



IIOO DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Das Ldcheln der Welt, BH i. 4. 1923 - »Welt im Bild«, D Werbenummer 1924. 

Derfliegende BHchhdndler,'N'R2. }.4. 1923 -PT 7. 4. 1923, T 23. 4. 1923. 

In der Boxerakademie, FZ 6. 4. 1923 - NBZ 9. 4. 1923. 

Polizeibericht, V 11. 4. 1923 - Vorfassung, nahezu identisch PT 25. 12. 1920. 

Der Fruhlingszirkus, FZ 15.4. 1923 - »Probe im Wanderzirkus«, NAUB 16.7. 

1923. 

Das Variete der Besitzlosen, V 19. 5, 1923 - vgl. NBZ 20. 10. 1920. 

Die fremden Burger, V ij,y 1923 - kiirzere Erstfassung BH 1. 12. 1922. 

Ballettprohe im Staatstheater, FZ 9.6. 1923 - teilweise gekiirzt »Ballettprobe«, 

NBZ 14. 1. 1922, PT 23. 2. 1922, NAUB 11. 7. 1923. 

Theosophische Laienpredigt, FZ 30. 7. 1923 - »Die theosophische >Laienpre- 

digt«<, NAUB 23. 7. 1923. 

II 000 000, NBZ 19. 10. 1923 - PT 17. 10. 1923. 

Berliner RUbensaft, FZ 12.12. 1923 - »Berliner Sensationen«, NBZ 1^.12. 

19^3- 

Der Schrei des Wilden und des Weifien, FZ 12. 12. 1923 - Variante »Die Not der 

Schwarzen«, PT 27. 11. 1923. 

Lemherg in Dusseldorf, NBZ 17. i. 1923 - PT 16. 12. 1923. 

Der blonde Neger Guilleaume, NBZ 28. 12. 1923 - PT 2. 1. 1924. 



Lyrik 

Joseph Roths Weg in die Feuilletons der Wiener Zeitungen fiihrte iiber Lyrik. 
In der Zeit vor und wahrend des Krieges verfaEte Roth eine Vielzahl Gedichte, 
teils gefiihlsbetont-impressionistisch, teils grob-expressionistisch. Die meisten 
dieser Texte blieben unveroffentlicht - mit gutem Grund, wie Roth spater 
selbst meinte. Ein Grofiteil der Manuskripte, die Roth seinem polnischen 
Freund Jozef WittUn anvertraut hatte, verbrannte bei einem Bomb en an griff 
wahrend des Zweiten Weltkriegs. Ein kleiner Teil gelangte spater ins New Yor- 
ker Leo Baeck Institute (Joseph Bornstein Collection). Die folgenden, in Wien 
und Prag veroffentlichten Gedichte vermitteln einen reprasentativen Eindruck 
von Roths friiher Lyrik. 



WELTRATSEL 



Sterne gibt's, die ewig scheinen wollten 

Und doch vergluhn . . . 

Wolken gibt's, die eben weinen sollten 

Und weiterziehn . . . 

Steine gibt's, die viel zu fragen wiifiten, 

Doch keiner spricht . . . 



ANHANG IIOI 

Menschen gibt's, die sich was sagen miifiten 
Und sagen's nicht . . . 

Osterreichs Illustrierte Zeitung, 17. 10. 1915 



HERBST 



Spiirst du des Laubes nassen Moderduft? 

Sieh her: Die Welt ist gram und grau und alt . . . 

Und durch die dammerdumpfe Nebelluft 

Erklingt ein Schrei.- 

Erklingt, - Erstirbt. - Verhallt. - 

Das ist der Tod.- 

Er gilbt in Rohr und Ried^ 

Er welkt im Blatt und spielt im Sonnenschein, 

Er jauchzt im Wind und weint in jedem Lied: 

Er lebt im Sterben - und er stirbt im Sein. - 

Osterreichs Illustrierte Zeitung, 24. 10. 1915 



WO? 



Ich war einmal ein kleines Kind, 
Das angstgequalt zur Mutter floh, 

Wenn durch den Schornstein fuhr der Wind 

Ich weifi nicht, wo . . . 

Ich hab' einmal gehort ein Lied, 
Das klang so zart und miide so, 

Als ich von meiner Heimat schied, 

Ich weifS nicht, wo . . . 

Es hat einmal mein Herz gelebt, . . . 
Mohnblumen brannten lichterloh, . . . 
Ich hab* einmal ein Gliick erlebt . . . 
Ich weifS nicht, wo . . . 

Osterreichs Illustrierte Zeitung, 6. 2. 1916 



DAS JOURNALISTISCHE WERK 

MARSCHKOMPANIE 



So war es noch nie, 

Wie heute in jedem die Sehnsucht schrie, 

Wie heute in jedem das Leben sang 

Durch Trommelwirbel und Hornerklang . . . 

Sie trugen auf Kappen Blumen und Band 

Und jeder fiihrte sein Weib an der Hand 

Und sie schrien und johlten: Ade! Ade! . . . 

Doch lauter schluchzte in jedem das Weh . . . 

Und sie stampften, dafi ihnen die Ferse sprang. 

Doch die Sehnsucht jauchzte im Hornerklang 
Und in jedem, trotz Johlen und Tanz und Straufi, 
Rief es: Mein Haus! . . . 

So war es noch nie, 

Wie heute in jedem das Heimweh schrie . . . 

Sie standen scheu an die Wand gedriickt, 
Mutter und Kind, Mutter und Kind, 
Sie haben ihm schluchzend nachgebhckt, 
Als der Trommler wirbehe Wind um Wind . . . 

So war es noch nie, 

Wie heut in der Trommel die Sehnsucht schrie, 
Wie heut in der Trommel das Leben sang, 
Daf5 das Kalbfell sprang , . . 

Der Trommler war ein bleicher Mann, 

Sie sahen ihn alle erschrocken an, 

Und plotzlich wufSte die ganze Schar, 

Wer der bleiche, schweigsame Trommler war, 

Der wirbelte heute Wind um Wind 

Und dazwischen schluchzte grell auf ein Kind 

Und dann war die ganze Halle leer. . . 
Sie weinten nicht mehr, sie johlten nicht mehr. . . 
Nur der Trommler wirbelte Wind um Wind 
Und die Trommel heulte wie Weib und Kind . . . 

So war es noch nie, 

Wie heut in der Trommel das Sterben schrie . . . 

Arbeiter-Zeitung, 24. 12. 1916 



ANHANG 1103 

LIEDDERGLOCKEN 



. . . Seitdem wir die Klange des Hasses geboren, 

sind unsere Seelen krank: 

Wir haben das Lied der Liebe verloren 

und Suchen und Sehnen ist unser Gang. 

Uns ist unser silbernes Lachen geschwunden, 
seitdem unser Scho£ den Sturmruf gebar-: 
Wir wandern und wandern, bis wir es gefunden, 
Stunden um Stunden und Jahr um Jahr. . . 

Arbeiter-Zeitung, 3. i. 1917 



DER STERBENDE GAUL 



Vor Tag im feuchten Graben 
Liegt ein verendendes Pferd. 
Die Kanoniere haben 
Es von der Stral5e gezerrt . . . 

Die Batterie trabt voriiber, 
Die Kanonen, Stiick fiir Stiick- 
Den sterbenden Kameraden 
Lassen die Gaule zuriick. 

Der wiehen noch einmal so traurig 
Und hebt den Kopf so bang. 
Der Larm der Rader und Hufe 
Den Abschiedsgrufi verschlang . , . 

Sehnsiichtig blaht er die Niistern, 
Dann sinkt er zuriick und ist tot. 
In den verglasten Augen 
Bricht sich das Morgenrot. 

Illustrierte Kriegszeitung, 10. i. 1917 



II04 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

CHRISTUS 



O Herr! Oh, damals litt ich nicht- 
ich jauchzte iiber meine Wunden 
und durch den Flor der dunklen Stunden 
ging ich der Liebe Weg zum Licht- 
Doch jetzt durchwiihlt mich diese Qual 
der Briider, die einander hassen: 
Ich kann von meinem Kreuz nicht lassen 
und sterbe tagUch tausendmal. 

O Herr; diese Tage sind rot 

weil sie in heifiem Blute schwammen 

und alie Nachte sind nur Flammen 

von deren Brand der Himmel loht . . . 

ich berge still mein Angesicht 

und harre auf mein Auferstehen: 

Denn - Herr - nun will ich wieder gehen 

der Weltenliebe Weg zum Licht. 

Prager Tagblatt, 25. 2. 1917 



OBRUDERMENSCH 



Da es noch Tag war, kanme ich dich nicht :- 
Nun, da es Nacht, liebkos* ich deine Nahe 
und sinke in die Knie und rufe: wehe! 
daf^ ich nicht sehen kann dein Angesicht! . . . 

Ich driickte kaum zum GruBe dir die Hand, 
wir waren zungenfremde Weggenossen, 
nun unser Blut vereint die Flur durchflossen, 
weifi ich: Du bist mir nah und blutsverwandt. 

Weil du mich schlugst, besitzest du mich ganz: 
Um dich zu heben, mufit' ich dich erst morden ! 
O Bruder Mensch! vergib, dafJ ich erlag! 

Doch bis voUendet dieser Hollentanz 

1st Licht in uns und Licht um uns geworden- 

Sieh, Bruder Mensch: Durch Nebel wuchtet schon der Tag! . . . 

Prager Tagblatt, 5.8. 1917 



ANHANG IIO5 

DERABENDGANG 



Im Dunkel fliefSen urn mich weich und schwer 
Die letzten Traume, die das Licht mir spann, 
Nur noch ein Klang im Abendgold verrann, 
Und tagen - fuhP ich - wird es nimmermehr. . . 

Im Westen flutet Paradiesesschein. 
Ich walle demutvoll empor den Pfad, 
Und meine Seele ahnt erlost: Jetzt trat 
Der liebe Gott ans Tor und wanet mein . . . 

Osterreichs lUustnerte Zeitung, 7. 10. 1917 



SOLDATEN 



Alle haben diesen miiden 
seltsamen Zug in den bleichen Gesichtern: 
In ihren Augen zittert ein schiichtern 
taumelndes Ahnen von Heimat und Frieden . , . 

Alle tragen sie an den miiden 

Fiifien den Staub von zerwandertcn Jahren: 

Durch viele Lander sind sie gefahren 

und Kaben noch nicht nach Hause gefunden ... 

Manchmal nur roten sich ihre Wangen, 
wenn sie frohe Kunde erlauschen, 
und sie sitzen zusammen und tauschen 
fliisternde Reden von siif^em Verlangen . . . 

Ihre harten, zerrissenen Hande 

faltet die Demut, und kindheitsverwehte 

Wone fassen sie still im Gebete: 

Herr, mach ein Ende! O Herr, gib ein Ende! . . . 

Prager Tagblatt, 10. 2. 1918 



II06 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

FRUHLING 



Friihling, Deine Bliitenhande 
gleiten iiber Erdenwellen 
und aus Tiefen iiberschwellen 
Safte Tal und Hiigellande. 

An den Wegen, die ich schreite, 
lacheln alte Meilensteine, 
junge Birke lacht in eine 
gliicksumspannte Sonnenweite. 

Stunden, die ich gar nicht zahle, 
taumeln trunken von den Tiirmen, 
fallen golden in das Stiirmen 
meiner maidurchwuhlten Seele. 

Alle Graser wispern Kunde 
von dem griinen Zauberwirken — 
wie mich Strauch und Baum umzirken, 
fiihle ich mich eins im Bunde 

mit der saftdurchtrankten Rinde, 
mit dem Stein am Grabenrande, 
mit dem weifien Strafienbande 
mit der Wolke, mit dem Winde . . . 

Quillt in mir ein starker Glaube 

wie der Saft in jungem Weine: 

Alles bin ich im Vereine: 

Gott und Mensch und Wurm im Staube.- 

Prager Tagblatt, 11.5. 1918 



NERVENSCHOCK 



Seht her: In einem Zauberknaul gebannt 
schlottert und taumelt er an schwanker Kriicke, 
bald hart am Pflasterrand und bald zuriick 
prallt klappernd sein Gebein an rauhe Wand. 

Und aller Augen sind ihm zugewandt: 

der frechen Neugier und des Mitleids Blick — 



ANHANG IIO7 

ein Kind, das spielt, halt mitten still im Gliicke, 
als blick' es plotzlich in ein dunkles Land . . . 

Oh, seht ihn an! In graues Tuch gewandet, 

der Menschheit Heldentum in torkelndem Zick-Zack 

zwei Kreuzchen scheppern und zwei Bander fliegen 

Im roten Meer von Blut und Siegen 

ist des Jahrhunderts stolzes Schiff gestrandet- 

und das ist Euer Wrack! . . . 

Prager Tagblatt, 6. 10. 1918 



FRUHLING! 



Oh, einmal mocht' ich Baum am Wegrand sein 
Und Strom und Saft durch Strang und Faser fiihlen! 
Und mit dem Wipfel in den Wolkenkiihlen 
Unendhchkeiten haschen, Gott und Sonnenschein . . . 

Mich aber peitscht irdischer Ohnmacht Pein. 
Im Staub zu diingen, Leib in Rost zu wiihlen, 
Hande zu brauchen, die rastlos wie Miihlen, 
Ichtum zu schanden, Gottheit zu entweihn, 

Doch wenn Marzwinde mit der Erde spielen, 
Wenn Weidenbusch und Haselstrauch vom Wein 
Des Friihlingstaus in Gottesrausch verfielen- 

Steh' ich erschlafft - ohnmachtiges Gebein; 
Auf einem Weg, der niemals fiihrt zu Zielen. 
Ein zwecklos eingerammter Meilenstein,- 

Prager Tagblatt, 1.6. 1919 



NACHWORT 



Viele seiner Zeitgenossen kannten ihn als Journalisten, der Mitte der 
zwanziger Jahre begann, mit Erfolg auch Zeitromane zu schreiben: 
Joseph Roth. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er, 1939 im Pariser 
Exil gestorben, zunachst als Romanautor wiederentdeckt, als Chronist 
der untergegangenen k.u.k. -Monarchic, als Meister impressionisti- 
schen Erzahlens. 

Erst nach und nach kam wieder ins Bewu{^tsein, was Roths Cousin 
Fred Grubel auf einen knappen Nenner gebracht hat: Der Journalis- 
mus gab ihm »bread and butter«. Die neue Werkausgabe dokumentiert 
es - das journalistische Gesamtwerk Joseph Roths ist zumindest vom 
Umfang her gr6{5er als das erzahlerische. Und es prasentiert einen Ar- 
tikelschreiber, der »Das Antlitz der Zeit« zeichnete, so brillant und 
wortgewaltig, so betroffen und engagiert, so weitsichtig und klug, dafi 
die Texte bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben. 

Ich beschlofiy beim Militdr zu bleiben. Da kam der Umsturz. Ich haflte 
Revolutionen, mufite mich ihnen aberfiigen und, da derletzte Zug von 
Shmerinka abgegangen war, zu Fufi nach Hause marschieren. Drei 
Wochen marschierte ich. Dann fuhr ich auf Umwegen, zehn Jahre 
lang, von Podwoloczysk nach Budapest, von hier nach Wien, wo ich, 
aus Mangel an Geld, fur Zeitungen zu schreiben begann. Man druckte 
meine Dummheiten. Ich lebte davon. 

Joseph Roth Uebte es, an der eigenen Biographic zu feilen, sie je nach 
Bedarf freiziigig zurechtzubiegen - wie hier 1930 im Brief an seinen 
Verleger Gustav Kiepenheuer. So einfach aber waren die ersten 
Schritte auf dem Weg zum Starjournalisten denn doch nicht. 
Lyriker- hatte er schon als Gymnasiast im gaUzischen Brody werden 
wollen, doch kanzelte der Lehrer die poetischen Versuche des ehrgei- 
zigen Schiilers immer wieder ab. Dessen Prosa dagegen Hefi er oft als 
vorbildliche Leistung vorlesen. Der Lehrer sollte recht behalten, und 
Roth selbst schamte sich spater »seiner lyrischen Jugendwerke und liefi 
sie aus diesem Grunde nicht veroffentlichen« - so jedenfalls sieht es 
Jozef Wittlin, der Kommilitone aus Wiener Studienjahren. 
Immerhin: Mit seiner Lyrik schaffte Joseph Roth den Sprung in die 
Feuilietons der Wiener und Prager Zeitungen. 1916 zog es Roth wie so 



mo DAS JOURNAUSTISCHE WERK 

viele seines Alters als Freiwilligen in den Krieg. Sein Vorteil: Schon 
bald konnte er fiir die Kriegszeitung der 32. Infanterietruppendivision 
arbeiten - als Kriegsberichterstatter, der auch mal ein Gedicht ver- 
offentlichen durfte. Das Blatt mufite allerdings 19 17 sein Erscheinen 
einstellen, moglicherweise wegen der zunehmend schlechten militari- 
schen Positionen der osterreichisch-ungarischen Armeen, moglicher- 
weise aber auch aus Griinden der allgemeinen Pressezensur. 
Da nahm Joseph Roth Kontakt auf zu Fred Heller, Redakteur der pa- 
zifistischen Wochenschrift Der Friede. Auch Heller veroffentlichte 
Gedichte des Kriegsfreiwilligen. Damit war Roth in einen exklusiven 
Kreis hineingeraten: Richard A. Bermann und Albert Ehrenstein 
schrieben fiir den FriedeUy auch der Meister des Wiener Feuilletons, 
Alfred Pol gar, ebenso Hans Natonek, Willy Haas und Karl Tschup- 
pik. 

RegelmafSige Mitarbeit freilich war fiir Roth in den letzten Kriegsmo- 
naten nicht moglich - die politisch-militarischen Ereignisse iiberschlu- 
gen sich: Revolution in Wien, Eroffnung einer deutsch-osterreichi- 
schen Nationalversammlung, Austritt der jugoslawischen Volker aus 
dem osterreichisch-ungarischen Staats verb and, Proklamation der 
Tschechoslowakei, Bildung einer selbstandigen Regierung in Ungarn 
unter Graf Karolyi, schliefilich der endgixltige Untergang der alten Do- 
naumonarchie: der Verzicht Kaiser Karls I. auf die Macht - das Haus 
Habsburg hatte abgedankt. 

Heimkehr, Heimatlosigkeit und die vielfaltigen Kriegsfolgen fiir den 
einzelnen ebenso wie fiir ganze Volksgruppen oder Volker wurden 
nun fiir Roth Themen, die ihn nicht mehr loslief^en. Als er im Dezem- 
ber 19 18 in Wien ankam, kehrte er zuriick in die Hauptstadt einer 
kleinen Alpenrepublik, zuriick in eine aus den Fugen geratene Welt, 
zuriick in ein Chaos. 

Lange mufiten die Zeitungen der ehemaligen Metropole von Kohlen- 
not und katastrophaler Versorgungslage berichten. Tausende Arbeits- 
loser irrten durch die Stadt, der Strom der Kriegsheimkehrer ver- 
schlimmerte die Lage noch. Die wirtschaftliche Entwicklung sank auf 
einen Tiefpunkt, es kam zu einem Wertverfall der osterreichischen 
Wahrung, Die Auswirkungen der Krise waren furchtbar: Die Bevolke- 
rung Wiens schrumpfte in nur zwei Jahren bis 1920 um nahezu eine 
halbe Millionen auf 1,8 MiUionen. 
Im Marz 1919 griindete der bisherige Herausgeber und Chefredakteur 



NACHWORT nil 

des Frieden, Benno Karpeles, eine Tageszeitung mit dem programma- 
tischen Titel Der Neue Tag, ein interessanter Versuch, ohne Abhan- 
gigkeit von einem Geldgeber »an dem Aufbau einer neuen Ordnung 
mitzuarbeiten.« Man woUe, so der Herausgeber in der Vorankiindi- 
gung der neuen Zeitung, »im Dienste der Republik, der Demokratie, 
der sozialen Reform, der Erneuerung unseres offentlichen Lebens den 
Kampf fuhren«, Mittlerdienste zwischen dem Proletariat und dem 
forts chrittlichen Teil des Biirgertums leisten, 

Begiinstigt wurde diese Neugriindung durch eine allgemeine Politisie- 
rung des offentlichen Lebens, die einen Aufschwung fiir die gesamte 
Presse mit sich brachte: Chance und Herausforderung fiir Joseph 
Roth, der von Anfang an zum festen Mitarbeiterkreis des Neuen Tag 
gehorte - nun nicht mehr Lyriker, sondern vielseitiger Lokalreporter. 
Hauptthemen des jungen JournaUsten: Not und Elend im Nachkriegs- 
Wien, das Schicksal der InvaUden, Hungernden, Obdachlosen; die 
schwierigen Versuche der neuen Regierung, die alten Strukturen der 
k.u.k.-Monarchie zu iiberwinden. 

Roth schrieb nie iiber die grofie PoHtik, schilderte nur, was die alte 
Frau um die Ecke, der Mann auf der Strafte erleben, denken und fiih- 
len. »Wiener Symptome« - bezeichnender Titel der Rubrik, die Roth 
als Forum fiir seine Gedanken zum politischen und gesellschaftHchen 
Alltag dienten. Als einer der Jiingsten in der Redaktion wurde er iiber- 
all und fiir alles eingesetzt. Da durfte der Besuch beim Polizeijubilaum 
ebensowenig fehlen wie der obUgate Gliickwunsch zum Geburstag 
einer Hundertjahrigen. Da brachte er Meldungen iiber lokale Neuig- 
keiten, Veranstaltungsnotizen und auch mal kurze Rezensionen neuer 
Filme oder Ausstellungen - fiir den Tag geschrieben, und doch in den 
meisten Fallen dariiber hinausweisend. 

Trotz einer »EUteredaktion« (so Robert Musil), trotz brillanter Bei- 
trage: Nach nur 15 Monaten scheiterte Benno Karpeles mit seinem 
engagierten Projekt. Joseph Roth mufite sich eine neue Aufgabe su- 
chen. Die freie Mitarbeit beim liberal- demokratischen Prager Taghlatt 
reichte ihm nicht aus, ein Wechsel nach Prag zu den Kollegen Kisch, 
Torberg, Urzidil kam nicht in Frage. Roth wollte nach Berlin. 

In Berlin lebte und arbeitete die Avantgarde der deutschsprachigen 
Kultur, von dort kamen die entscheidenden neuen Impulse. FreiHch 
war die poHtische wie wirtschaftHche Lage in der jungen deutschen 



III2 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

Republik nicht besser und nicht schlechter als in Osterreich, Auch in 
Berlin waren die Folgen des Kriegs langst nicht bewaltigt, als Roth im 
Juni 1920 ankam: Arbeit und Unterkunft knapp, die wirtschaftliche 
Entwicklung nicht nur durch Reparationslasten beeintrachtigt, das 
neue republikanische System noch lange nicht stabil - gerade wenige 
Wochen zuvor hatte die Stadt den Kapp-Putsch erlebt. 
Berlin bot alles, was einen jungen und engagierten, neugierigen und 
tatenhungrigen Journalisten faszinieren konnte. Uber zwanzig Tages- 
zeitungen erschienen in der Reichshauptstadt, die meisten in Morgen- 
und Abendausgabe. Die grofien Verlage wie Rowohlt, Fischer, Kie- 
penheuer, Ullstein oder Wolff batten ihr Domizil in Berlin. Etablierte 
und erfolgreiche Schriftsteller wirkten hier ebenso wie unbekannte, 
Junge und talentierte Autoren - Verfechter des Expressionismus, des 
Dadaismus, der Neuen Sachlichkeit. Sie waren auf der Suche nach 
neuen literarischen Moglichkeiten und gaben dem Literaturbetrieb 
entscheidende Anstofie. 

Auch in anderen Bereichen der Kunst war Berlin einzigartig: Das Bau- 
haus konnte hier im Bereich der Architektur seine innovativen Ideen 
verwirklichen, Bildhauer, Maler und Musiker belebten die Kultur der 
Metropole - man denke an Beckmann, Grosz, Kokoschka, Bruno 
Walter oder die Philharmoniker. Auf der facettenreichen Theaterszene 
gab es neben den Inszenierungen der Klassiker ironisches Boulevard 
und bissiges Kabarett. Max Reinhardt, Erwin Piscator, Bert Brecht, 
Herbert Ibering und Alfred Kerr stachelten sich gegenseitig zu immer 
neuen Erfolgen an. 

Berlin hatte vor allem das Massenpublikum fur die grofie Neuheit der 
Zeit: den Film. Am Kurfiirstendamm wurden pompose Urauffiih- 
rungskinos gebaut, das »Marmorhaus«, das »Alhambra« oder der 
»Gloriapalast« an der Gedachtniskirche - prunkvoUer als manch gro- 
fies europaisches Opernhaus. Das neue Medium Film trug wesentlich 
dazu bei, dafi sich die Grenzen zwischen den einzelnen Sparten des 
Kunst- und Kulturbetriebes immer mehr verwischten. Da schrieb etwa 
der bekannte Autor des Erfolgsstiickes der letzten Spielzeit das Dreh- 
buch fiir ein neues »Kinodrama«, der Regisseur bat einen befreundeten 
Maler um Mitarbeit am Szenenbild, und die Filmschauspieler jener 
Tage waren meist mehr oder minder bekannte Biihnengrof^en. 
Man bheb unter sich, und niemals und nii^endwo war der Hang zur 
Cliquenbildung grofSer als im Berlin des ersten Drittels dieses Jahrhun- 



NACHWORT 1113 

derts. Sinnbild und Treffpunkt fiir solche »Grofifamilien« waren wie 
in Wien die Kaffeehauser und Likorstuben. Vor dem Krieg bevorzugt 
das alte »Cafe des Westens«, besser bekannt als »Cafe Grofienwahn« 
und in der Erinnerung Max Krells »eine immer verraucherte Bruch- 
bude mit knirschenden Holzdielen und bohmischen Keilnem.« Spater 
20 g man um ins »Romanische Cafe« oder in and ere Lokalitaten. Dort 
traf man sich, besprach Probleme, hatte eine Anlaufstation, einen Ar- 
beitsplatz, mancher gar eine Heimat. 

In dieses Berlin kam Joseph Roth. Er setzte gegen Zeilenhonorar seine 
Arbeit als Lokalreporter fort und schrieb auch iiber Filme, Theater- 
inszenierungen, Ausstellungen oder literarische Neuerscheinungen, 
die nicht gleich das Interesse der Grofikritiker auf sich zogen. Dem 
Ergebnis ist die Pflichterfiillung mitunter anzumerken: Eine ziindende 
Idee, eine brillante Formulierung - der Rest dann einfach floskelreiche 
Routine. 

Nach wie vor reizten Roth am starksten seine Wiener Themen, be- 
stimmten Pazifismus und soziales Engagement seine Arbeit. Intensiv 
recherchierte er bei Kriegsopfern und Obdachlosen, bei Armen und 
Kranken, um voUer Sympathie und Mitgefiihl iiber die harte Wirklich- 
keit der kleinen Leute zu berichten - Arbeitslose auf Stellensuche, 
Freudenmadchen, Gauner und Schieber, schlecht bezahlte Adressen- 
schreiber oder Stiefelputzer, elternlose Kinder oder Frauen, die unter 
den Bestimmungen und Auswirkungen des Abtreibungsparagraphen 
leiden muftten. 

Es paEt in dieses Bild, daf? Joseph Roth in den friiheren Jahren seiner 
Karriere ein Gespiir und Interesse fiir Bereiche der Kultur entwickelte, 
die normalerweise wenig Beachtung fanden. So entstand eine Reihe 
von Artikeln, in denen er ein Kapitel aus der Geschichte der AUtags- 
kultur unter einem Blickwinkel beleuchtet, der kaum einem Kollegen 
in den Sinn gekommen ware. Ob Roth Graffiti und Anzeigen auf Ber- 
liner Mauern, ausgefallene Wege der Schaufensterdekoration, neue 
Werbemethoden oder den Jargon deutscher Offiziere zum Gegenstand 
seiner Betrachtungen machte - stets lenkte er den Blick seiner Leser 
auf amiisante und wichtige Symptome einer Zeit des kulturellen Wan- 
dels. 

Wie zwiespaltig er diesem Wandel im Grunde gegeniiberstand, zeigt 
besonders seine Haltung zum technischen Fortschritt, den er eigent- 



III4 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

lich ablehnte und in vielen Aspekten dock wieder bewunderte. Semen 
melancholischen Nachrufen auf die untergehenden Medien Panopti- 
kum und Panorama standen die skeptischen oder euphorischen Aufie- 
rungen tiber den Film gegeniiber. Seine Bewunderung fiir Wolkenkrat- 
zer, Flugzeuge und Radios enthielt schon friih jenes Mifitrauen, das 
sich bei ihm in den spaten zwanziger Jahren in starken Kulturpessimis- 
mus auswuchs. 

Mit Optimismus hatte Joseph Roth in BerUn seine Arbeit als Journalist 
begonnen - als Mitarbeiter der Neuen Berliner Zeitung, einer Nach- 
kriegsgriindung linker Tendenz, die sich ab 1922 als 12-Uhr-Blatt 
mehr und mehr zu einem erfolgreichen demokratisch-repubUkani- 
schen Boulevard-Blatt entwickelte. Die Redaktion erkannte rasch die 
Qualitaten des neuen KoUegen, erinnerte sich seiner Erfahrung als 
Frontreporter wahrend des Weltkrieges und schickte ihn als Sonderbe- 
richterstatter ins Kampfgebiet an die neue deutsch-polnische Grenze. 
Dort kam es noch im Sommer 1920 immer wieder zu kriegerischen 
Auseinandersetzungen zwischen dem jungen Sowjetrufiland und dem 
erstarkten Polen. Auch Roths Heimat Galizien gehorte zum um- 
kampften Gebiet. 

Polen hatte im Jahr zuvor seinen Machtbereich nach Osten ausgedehnt 
und damit die innenpoUtische Schwache Rufilands ausgenutzt, die 
durch die Kampfe zwischen Weifirussen und Bolschewisten entstan- 
den war. Diese Auseinandersetzungen fielen in eine Phase der pohti- 
schen Entwicklung, die auch im Deutschen Reich aufierst spannungs- 
geladen war: Nach dem Kapp-Putsch war die Lage noch keineswegs 
entspannt. Die Arbeiterstreiks im Ruhrgebiet hatten bis Mai 1920 ge- 
dauert. Das Uefi erneute Reaktionen von rechts befiirchten. 
Besonders die linke Presse warnte vor der drohenden Gefahr: »Alarm- 
nachrichten«, »Neuer Rechtsputsch in Vorbereitung« und »Die 
Putschgeliiste der Freikorps« - Schlagzeilen, die beinahe taglich die 
Titelseiten des Vorwdrts bestimmten. Mit der Verscharfung der Krise 
im Osten kamen allerdings auch neue Angste - und damit auch neue 
Schlagzeilen. Noch zuriickhaltend formulierten die Redakteure des 
SPD-Blatts ihre Meldungen: »Russen nahe Ostpreufien« iiberschrie- 
ben sie einen Artikel, in dem unter Berufung auf russische Informan- 
ten Einmarschplane der Sowjets abgestritten wurden. Dennoch: In 
Deutschland wuchs die Furcht vor einem neuen Krieg. 



NACHWORT III5 

Roth war sich dieser Situation bewufit und versuchte in seiner Repor- 
tagereihe, sachlich iiber die Lage im Krisengebiet und die neue Rote 
Armee zu berichten. Interviews und Reportageteile trugen dazu bei, 
die russischen Soldaten und Offiziere nicht als Unmenschen erschei- 
nen zu lassen. Joseph Roth konnte seine Leser beruhigen, ihre Auf- 
merksamkeit am Ende der Reportageserie auf ein anderes Thema len- 
ken - im August 1920: »Spater, beim Aussteigen in Konigsberg, kam 
ich zufalHg an die Rocktasche des Hakenkreuzhelden [aus dem Zug]. 
Ich tastete mindestens einen Armeerevolver. In der Hand trug der 
junge Mann eine Munitionskiste. Sie war schwer. Es wird geriistet in 
OstpreuEen.« 

Die Bedrohung der jungen RepubHk kam nicht von au£en durch den 
russischen Bolschewismus, sondern von innen durch volkisch-natio- 
nale Aktivitaten. Auf diese Gefahr immer wieder aufmerksam zu ma- 
chen, wurde nun zu einem der wichtigsten Anhegen Joseph Roths, der 
sich mehr und mehr als pohtischer Journahst verstand. »Ich kann 
wahrhaftig nicht mehr die Rlicksichten auf ein burgerHches PubHkum 
teilen und dessen Sonntagsplauderer bleiben, wenn ich nicht tagUch 
meinen Soziahsmus verleugnen will«, bekannte er im Friihherbst 1922 
Herbert Ihering, dem Feuilletonchef des Berliner Bbrsen-Couriers. Bei 
dem bekannt hberalen Blatt mit dem angesehensten Theater- Feuilleton 
der RepubHk war er seit einem Jahr geschatzter Mitarbeiter - und bUeb 
es auch mit einer kurzen Unterbrechung bis 1923. 
Selbst wenn es in dem zitierten Brief auch um Honorarforderungen 
ging: Joseph Roth fiihlte sich in den ersten Nachkriegsjahren als Sozia- 
hst, ohne je einer Links-Partei anzugehoren oder gar dogmatische 
Positionen zu vertreten. Nach dem Untergang der k.u.k. -Monarchic 
suchte Roth nicht nur eine geographische, sondern auch eine weltan- 
schauliche Heimat. Daher das sozialpolitische Interesse, das Eintreten 
fiir die gesellschaftlich BenachteiUgten - schon in Wien. Konsequent 
daher auch seine Annaherung an die Sozialdemokraten. Ab Sommer 
1922 veroffentlichte er scharfe Glossen im Zentralorgan der SPD, dem 
Vorwdrts. 

Konsequent schlieElich auch, daf^ Joseph Roth immer haufiger war- 
nend iiber die gefahrHchen reaktionaren Tendenzen schrieb. Beispiel: 
seine Artikelserie iiber den Leipziger Prozef^ gegen die Rathenau-Mor- 
der. Im Juni 1922 war der judische Aufienminister Walter Rathenau im 
fahrenden Auto erschossen worden - Hohepunkt einer Reihe politi- 



IIl6 DAS JOURNALISTISCHE WERK 

scher Attentate, deren prominenteste Opfer zuvor Matthias Erzberger, 
Kurt Eisner, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gewesen waren. 
Freilich interessierten den Journalisten hier Indizien fiir die wachsende 
Bedeutung der volkischen Bewegung in Deutschland. Nach den ge- 
naueren politischen Hintergriinden zu suchen war aber seine Sache 
nicht - das iiberliefi er KoUegen. So fragte besonders die Welthiihne 
nach der RoUe, die rechtsradikale, miUtante Geheimbiinde beim Ra- 
thenau-Mord spiehen - etwa die Organisation C oder die Organisa- 
tion Escherich (Orgesch), zwei jener Gruppen, in denen ehemaUge 
kaiserliche Offiziere und Freikorpsangehorige den Kampf gegen die 
Repubhk fiihrten. 

Zur pohtischen Erschiitterung Deutschlands kam die wirtschaftHche 
Krise, die 1923 in die Inflation fiihrte. Als die Neue Berliner Zeitung 
nach dem Krieg gegriindet worden war, hatte sie 50 Pfennige geko- 
stet - Ende 1921 schon das Sechsfache. Wer im folgenden Herbst die 
Rothschen Berichte aus Leipzig lesen woUte, mufite sich das schon 150 
Mark taglich kosten lassen. 1923 beschleunigte sich die Entwertung 
der Mark gegeniiber dem US-Dollar als Leitwahrung so rasch, dafi die 
Druckereien der Reichsbank mit der Produktion neuer Geldscheine 
kaum noch nachkamen. 

Das Leben und tJberleben wurde fiir den Durchschnittsbiirger immer 
schwieriger. Joseph Roth nutzte jede Moglichkeit, Geld zu verdienen. 
Er nahm Gelegenheitsauftrage an und veroffentlichte viele Artikel in 
mehreren Zeitungen, oft nur geringfiigig oder gar nicht verandert. So 
kam Roth 1923 auch zur Frankfurter Zeitung, wo er spater als einer 
der Star journalisten der Weimarer Republik Karriere machte. Zu- 
nachst freilich bedriickte ihn die materielle Not so sehr, dafi er im Juni 
1923 wie viele seiner Landsleute nach Osterreich zuriickkehrte, um fiir 
Wiener und Prager Zeitungen zu arbeiten. 

Und in der osterreichischen Hauptstadt erschien im Herbst 1923 der 
erste Roman des Journalisten Joseph Roth: »Das Spinnennetz« - in der 
Wiener Arbeiter-Zeitung. 

Klaus Westermann